Freitag, 31. Mai 2024
Risse im Brockhaus 21

Ich mißbrauche den kurzen Brockhaus-Eintrag zum Kino, um mich entgegen früherer Absicht zum Film zu äußern. Der Film muß sehr wichtig und beliebt sein, widmet ihm das Lexikon doch in Band 7 mindestens 10 Seiten, wobei es selbstverständlich auch nicht mit Standfotos aus angeblich überragenden Filmen spart. Apropos: der Film pflegt bekanntlich nicht zu stehen, vielmehr zu laufen. Schon von daher hat er, als Informations- und Kunstmittel, eine einzigartige reißende Gewalt. Bedient er sich dann noch bildhübscher oder abgrundhäßlicher Gestalten und Szenerien – und das tut er immer – sind selbst Marxisten oder AdornoschülerInnen nicht mehr in der Lage, sich seiner Macht zu entziehen. Der Film ist ein Sog, ein Orkan; er überwältigt jeden. Ich ziehe es deshalb bereits seit etlichen Jahrzehnten vor, mir mein Heimkino aus Büchern zu bauen. Ein gutes Buch hat gewiß ergreifend zu sein – aber ich kann es nach Belieben zur Seite legen oder zur Hand nehmen. Ich kann darin verweilen. Wer dagegen versuchen sollte, im Kino einmal den Film zurückzublät-tern, dürfte auf der Polizeistation oder in der Klapsmühle landen.

Nebenbei ist es meist ähnlich müßig, den Redefluß typischer Zeitgenossen bremsen zu wollen. Der Wurm sitzt schon in der Anlage. Hirn, Zwerchfell, Zunge, Worte drängen mit Macht, gleichsam im Selbstlauf zum Ohr des Mitmenschen. Das Redevermögen erspart dem Zuhörer das Denkvermögen; er kommt einfach nicht mehr zum Denken. Ganz anders beim Buch. Ich kann den betreffenden Text nicht kurzerhand herunterlesen; ich muß ihn zuächst einmal übersetzen. Denn der gute Schriftsteller schreibt mir keine Leseart vor. Er läßt mir Spielraum. Er gewährt mir die Chance, mir meine eigenen Bilder zu machen, statt mir die seinen vor den Latz zu knallen beziehungsweise in die Gehirnrinde einzubrennen. Im übrigen weist jeder Text schon insofern Spielraum auf, als er die einzelnen Worte durch »Spatien« genannte Lücken voneinander absetzt. Entgegen einem verbreiteten Irrglauben wird dies in der mündlichen Rede überwiegend nicht so gehalten – wir alle spulen in unseren Alltags-gesprächen Filme ab. Sie liefern pro Sekunde 24 Einzelbilder. Sie sind Gewalt.

Brockhaus will mir ein Schnippchen schlagen, indem er die übliche Unterscheidung zwischen dem falschen und dem richtigen Gebrauch eines Mittels vornimmt. Gewiß sei der Film eine Zeitlang als Massenunterhaltungsmittel beschimpft oder aber in seinen aufklärerischen Möglichkeiten überschätzt worden. Doch dann habe er nach und nach als selbstständiges künstlerisches Medium Anerkennung gefunden, das mit nicht geborgter, eigener Ausdruckskraft zu Werke gehe. Das ist natürlich eine fadenscheinige Ausflucht. Denn jene von mir gebrand-markte reißende Gewalt übt jeder Film aus, er mag den mit Schuh aufs Rednerpult trommelnden Chruschtschow, ungestüm über die Maikoppel galoppierende Fohlen oder Lee Van Cleef zeigen, der mich gerade in die Mündung seines Colts blicken läßt. Der Film ist immer schlecht. Das teilt er mit vielen anderen Mitteln, die die menschliche Kultur hervorgebracht hat. Oder haben Sie schon einmal ein gutes Maschinengewehr gesehen? Eine gute Vergewaltigung? Ein Passagierflugzeug mit 200 Sitzplätzen, das nicht jederzeit vom Himmel fallen oder von sogenannten Konfliktparteien abgeschossen werden könnte?

Hier drängt sich das wichtige Stichwort Distanz auf. Der Film verhindert Distanz. Jeder Film ermöglicht Besinnung allenfalls im Nachhinein – aber dann hat sein Gift bereits gewirkt, sodaß die Besinnung eher in seinem als in unserem Sinne ausfällt. Gleichwohl singen die meisten »fortschrittlichen« KunsttheoretikerInnen Lobeshymnen auf ihn. Geben manche von ihnen das Kino für die Vollendung des Theaters aus, können sie das Theater allerdings nur mißverstanden haben. Das Theater war nie der Illusion, nämlich der täuschenden Vorspiegelung von Wirklichkeit verpflichtet. Zwar verstrickt sich Willy Loman offensichtlich in seine Lebenslüge, ein prächtiger Staubsaugerverkäufer, Vater und Gatte zu sein, woran die Gattin selber nebenbei keinen geringen Anteil hat. Vieles deutet darauf hin, daß sich Loman umbringen wird. Trotzdem bleiben die Zuschauer gefaßt in ihren Sesseln sitzen. Sie stürzen nicht auf die Bühne, denn sie verwechseln das dort gegebene Stück Der Tod des Handlungsreisenden keineswegs mit der Wirklichkeit. Sonst müßten sie eingreifen. Doch das Künstliche des Geschehens hält sie auf Distanz. Damit sei auch gewährleistet – so Alain in seinem Propos Die Tragödie vom November 1923 – daß die Handlung sie niemals mehr ergreife, als sie selber wollten.

Wer mir am Zeug flicken will, wird mich vielleicht eines Selbstwiderspruchs bezichtigen. Um das Buch zu verklären, prangerte ich die Mündliche Rede an – dabei werde doch auf der Bühne ebenfalls geredet. Ja, in postmodernen Quasselbuden leider viel zu viel! Die klassische Inszenierung dagegen arbeitet vornehmlich mit Bildern und Gebärden. Dialog setzt sie eher sparsam ein. Sofern aber einer redet, tut er es so deutlich, daß ihn der Cineast prompt der »Künstlichkeit« zeiht. Aber gerade sie sorgt für die erforderliche Distanz. Als TheaterbesucherIn vergessen wir nie: es handelt sich um ein Spiel. Loman tut so als ob. Er führt uns etwas vor, damit wir Lehren daraus ziehen. Wir sollen uns ein Urteil bilden. Was ist der Mensch? Wie sollte er sein? Darum geht es auf dem Theater. Das Kino dagegen verurteilt – nämlich uns. Es macht uns zu Gefangenen der Sicht, die es uns aufdrücken will.

Am liebsten stempelt es uns mit Plattheiten. Es flößt uns auch gern Unruhe ein, oder wahlweise Selbstgerechtigkeit. Und genau so laufen wir dann auf der Straße herum oder wandeln durch die Wohnung, in der ein Freund eine Party gibt: als Abziehbilder. Das gefällt allerdings den dada-istischen, avantgardistischen, innovativen Filmemachern nicht. Deshalb stempeln sie uns mit Belanglosigkeiten. Sie lenken uns gern von allem ab, das eigentlich wichtiger wäre. Vor allem von der Selbstbesinnung.



Als der liberale hessische Schriftsteller Heinrich Scheffer (1808–46), ein Dr.phil. mit Familie*, 1838 Kirchhainer Bürgermeister wird, ist er um 30. Schon 1843 sieht er sich freilich, »im Rahmen des Hochverratsprozesses gegen Sylvester Jordan«, zu 10 Jahren Festung verdonnert und folglich eingesperrt. Als Häftling bleiben ihm gerade noch drei Jahre.

Das Städtchen Kirchhain (bei Marburg) hatte zu Scheffers Zeit lediglich ungefähr 1.800 EinwohnerInnen. Heute sind es immerhin 16.000. Sein ganzer Stolz ist ein stattliches Fachwerkrathaus mit rundem, steinernem Treppenturm von 1562, das Brockhaus sogar in Farbe abbildet. Der Kirchhainer Webseite zufolge war das einstige Stadtoberhaupt Scheffer vor Amtsantritt Griechenland-Freiheitskämpfer und »Abenteurer« gewesen. Über sein Wanderleben verfaßte er auch Berichte; außerdem trat er mit Artikeln, Erzählungen, Gedichten hervor. Eine Bewertung dieser literarischen Arbeiten habe ich nirgends gefunden. Im bekannten Rebellenkreis Büchner/Weidig war Scheffer offenbar umstritten. Näheres dazu teilt mir, auf Anfrage, freundlicherweise Harald Pausch vom Kirchhainer Heimat- und Geschichtsverein im Dezember 2017 mit. Danach hatte sich Scheffer die drakonische Strafe durch seine Beteiligung am »Frankfurter Wachensturm« (1833) zugezogen. Mit dieser Unternehmung wollten rund 100 Aufständische, vorwiegend Studenten, einen demokratischen Umsturz in Deutschland entfachen. Sie scheiterte jedoch, nicht zuletzt durch Verrat.

Scheffer, 1832 am legendären Hambacher Fest beteiligt, hatte sich schon seit etwa 1830 bemüht, in den liberalen Kreisen um Sylvester Jordan und den revolutionären um Büchner/Weidig Fuß zu fassen, »jedoch ohne großen Erfolg«, schreibt Pausch. Wegen Scheffers unbedachten, gefährlichen Äußerungen hätten die Revolutionäre vielmehr einen kurhessischen Spitzel in ihm geargwöhnt. Nach dem Scheitern jenes »Wachensturms« sahen etliche Kämpfer (die sich nun in den Untergrund zurückzogen) in Scheffer sogar den entscheidenden Verräter des Umsturzplans. Er habe auch prompt zu einem neuen Schlag ermuntert, allerdings kein Gehör gefunden. Dann erhob der verknöcherte Staat den Vorwurf des Hochverrats. Um »seine aufrichtige, revolutionäre Haltung unter Beweis zu stellen« und so seinen Verruf bei den Revolutionären zu tilgen, habe Scheffer nun alles, was ihm seine Ankläger zur Last legten, bereitwillig gestanden. Mit der ungewöhnlich harten Bestrafung habe er wohl nicht gerechnet.

Im ganzen wurden damals gegen fast 40 Rebellen Todesurteile oder hohe Haftstrafen verhängt. Der Jurist, Politiker und maßgebliche Entwerfer der kurhessischen Verfassung von 1831 Jordan, ein eher zahmer Demokrat, kam aufgrund seiner großen Anhängerschaft mit einem blauen Auge davon. Sich entsprechenden Protesten und eingelegten Rechtsmitteln beugend, ließ ihn die Regierung (1845) nach kurzer Haft im Marburger Schloß wieder frei. »Scheffer hingegen geriet in Vergessenheit«, schreibt Pausch. Der Häftling habe die Grausamkeiten im Kassler Kastell nicht ausgehalten und sich (1846) umgebracht. Laut lagis-hessen »verfiel er« im Kastell »dem Wahnsinn« und wurde ins Casseler Landeskrankenhaus geschafft, wo er sich erhängt habe. Er starb mit 37.

Pausch ist der Meinung, eine »umfassende Biographie Scheffers« warte noch darauf, geschrieben zu werden. Ich warte mit, ist mir doch keineswegs klar geworden, ob Scheffer nun ein rechtschaffener Mann oder ein Spion war. Vielleicht weder noch, vielmehr ein Tölpel? Oder vielmehr, einer der frühen »Ankömmlinge« im Hier und Jetzt der Pfründe? Ein zeitgenössisches Frankfurter Blatt behauptet anläßlich der Vermeldung Schefferscher »völliger Geisteszerrüttung«, von allen Verurteilten des Marburger Prozesses von 1843 habe niemandes Schicksal »so wenig Theilnahme im Publikum erweckt« wie das von Scheffer – wohl deshalb, weil sich der einstige »exaltirte Demagog und Revolutionär«, »gegen alle Erwartung«, seit seinem Aufstieg zum Abgeordneten der kurhessischen Ständeversammlung (1839) eifrig bemüht habe, »reactionäre Gesinnung« an den Tag zu legen.** Man möchte dazu seufzen, heute hätte jene frohe Erwartung keiner mehr, doch in Wahrheit gefallen sich die Massen und die Medien dieses Planeten bis zur Stunde darin, immer neue »HoffnungsträgerInnen« zu feiern. Der Vorrat an Umfallern scheint unerschöpflich zu sein. Zumal ja neuerdings auch noch die UmfallerInnen berücksichtigt werden möchten.

* Gattin Julie Georgine und ein Kind. Es wäre hochinteressant zu wissen, was aus dem Kind geworden ist.
** Frankfurter Oberpostamts-Zeitung, Nr. 104 vom 15. April 1846




Den linken niederländischen Architekten Michel de Klerk (1884–1923) schlägt Brockhaus dem »Expressio-nismus« zu. Ich habe einmal nachgebohrt. Wenn es stimmt, eröffnete und beschloß der Mann sein kurzes Leben auf absonderliche Weise. Angeblich wurde er nämlich als 17. oder gar, je nach Quelle, 25. Kind eines 78jährigen jüdischen Amsterdamer Diamantschleifers geboren, und dann hauchte er sein Leben wieder genau an seinem 39. Geburtstag aus (24. November). Er wuchs ärmlich im Judenviertel der Metropole auf, die ihm einige berühmte Werke des kühnen Sozialen Wohnungsbaus verdankt. Abbildungen liefern der Lexikon-Eintrag und das Internet. De Klerk arbeitete gern mit rotem Backstein. Daneben entwarf er Möbel und Briefmarken. Seine Ehefrau Lea (Heirat 1910) war ebenfalls Jüdin – sie und ihr jüngerer Sohn Edo kamen in faschistischen KZs um. Der andere Sohn, Joost, soll das »Dritte Reich« überstanden haben.

De Klerk entpuppte sich früh als Zeichentalent; mit 14 zunächst Gehilfe bei einem Architekten und von diesem gefördert, machte er seinen Weg. Er heimste Lorbeeren ein, soll aber als Beteiligter am Amsterdamer Städteumbau nach »Plan Berlage« auch mit Niedergeschlagenheit gekämpft haben. Warum ihn dann während der Entwurfsarbeiten zum Den Haager Warenhaus De Bijenkorf (seines Freundes und Kollegen Piet Kramer) eine tödliche Lungenentzündung erwischte, wird nirgends verraten. Einige fremdsprachige Wikipedia-Einträge meinen immerhin zu wissen, auf dem Weg zu De Klerks Beerdigung sei auch sein Kollege Karel de Bazel, 54, gestorben, und zwar in der Eisenbahn (von Bussum nach Amsterdam) – an oder infolge einer »Lungenerkrankung«. Vielleicht zog es zu stark. Man könnte von Solidarität sprechen, aber es war eben November. Wie es aussieht, liegen bereits mehrere Bio- oder Monografien über De Klerk vor. Vielleicht wird darin Näheres zu dessen Erkrankung gesagt, die ihn in den Sarg warf. ZynikerInnen dürften so oder so von einer Maßnahme des Sozialen Wohnungsbaus sprechen.



Die Klette wuchs überall, an Wegrändern und Bachufern, auf Ödland und Schuttplätzen. Am liebsten wuchs sie an Schulwegen, denn ihre rötlichen, mit Widerhäkchen ausgestatteten Blütenköpfe hafteten auch überall, sofern man einen Kameraden oder Widersacher damit bewarf. Soweit aus meiner Knabenzeit. Der sogenannte Klettverschluß war mir damals unbekannt. Er verdankt sich just der Allerweltspflanze beziehungsweise deren Beobachtung durch einen schweizer Erfinder. Das erfährt man allerdings nicht von Brockhaus. Der in Lausanne ausgebildete Ingenieur George de Mestral war auch Jäger. Als solcher hatte er sich eine Zeitlang über die Kletten, die er seinem Jagdhund wiederholt aus dem Fell picken mußte, sowohl geärgert wie gewundert. Unter seinem Mikroskop studierte er die winzigen elastische Häkchen, die offensichtlich auch bei gewaltsamer Entfernung aus Haaren oder Kleidern nicht abbrachen. 1951 meldete er den neuen Klettverschluß zum Patent an. Um 1960 warf seine Firma Velcro die schlitzohrige Ware, die heute so gut wie jeder benutzt, auf den Markt. Nylon machte es möglich. Freilich kam die Erfindung nicht raketenartig an. Die Modebranche zum Beispiel tat sich länger schwer mit dem »häßlichen« und »lärmenden« Reißverschluß, wie ein Berliner Boulevardblatt weiß.* Den entscheidenden Umsatz-Schub soll De Mestrals Klettverschluß dem bekannten US-Mondlande-Projekt verdanken, das von gewissen Skeptikern für recht fadenscheinig gehalten wird. Die Astronauten kletteten alles an, vom Schraubenzieher bis zum Essensschlauch, wahrscheinlich auch ihren Kot. Nur an De Mestral blieb das Geld nicht kleben, behauptet das Blatt. Es wanderte lieber zu einem aufmerksamen Notar, der an Stelle einer geplatzten Bankfinanzierung eingesprungen war. Laut De Mestrals Sohn Charles sei der Vater nie reich geworden, dafür eben der Notar. Der Vater starb 1990 mit 82. Allerdings sei ihm das Geld auch nie wichtig gewesen, vielmehr die Anerkennung, und die sei ihm ja durchaus zuteil geworden. Beneidenswert.

* https://www.berliner-kurier.de/panorama/und-ratsch-der-klettverschluss-feiert-60-geburtstag-seinen-erfinder-machte-er-nicht-reich-li.178370, 22. August 2021



Der bekannte »Charakterdarsteller« Gustav Knuth aus Braunschweig, seit 1935 auch »Staatsschauspieler«, wurde ziemlich alt, nämlich 85. Er war schon im »Dritten Reich« beliebt gewesen. Im Gegensatz zu Brockhaus verschmähe ich ihn jedoch und biete stattdessen den Hannoveraner Karl Koch an, geboren 1965. Koch wurde nur 23. Meist wird er zu den Pionieren der deutschen, mehr oder weniger anarchistisch gestimmten »Hacker«- und »Chaos-Computer-Club«-Bewegung gezählt. Man fand seinen verkohlten Leichnam Anfang Juni 1989 bei Gifhorn, Niedersachsen, in einem Wald. Neben ihm lag ein zerschmolzener Benzinkanister. Der knochentrockene Wald stand noch unversehrt im Hahnenmoor.

Der berufslose junge Mann, 1984 durch den Tod seines Vaters zu Geld und einem neuen, damals noch sehr neuen Computer gekommen, und ein paar MitstreiterInnen hatten durch einige spektakuläre »Einbrüche« in Computernetzwerke Aufsehen erregt und sich dann wahrscheinlich in geheimdienstliche oder andere kriminelle Aktivitäten verstrickt. Möglicherweise waren sie von ihrer »Allmacht« berauscht und insofern vom antiautoritären Pfad abgekommen. Einem in Ostberlin stationierten KGB-Offizier sollen sie wiederholt Material auf Disketten verkauft haben, um dadurch mitzuhelfen, den IT-Rückstand des »Sozialistischen Lagers« zu verringern.* Um 1987 kam man dem Grüppchen jedoch ansatzweise auf die Spur. Koch bekam plötzlich kalte Füße und offenbarte sich dem westdeutschen Verfassungs-schutz, später auch Rundfunkreportern. Nun hatten die Hannoveraner Hacker das BKA und die Justiz am Hals, was sie vermutlich mehrheitlich nicht so schön fanden. Bei diesem Fall liegt viel im Dunkeln. Selbst der Obduktions-bericht wird bis heute unter Verschluß gehalten.**

Über Kochs Motiv zum »Verrat« wird gemutmaßt, er habe Angst vor Strafe (wegen Spionage) gehabt und sich nun Milde erhofft. In deren Genuß kam er nicht mehr. Ferner waren zumindest bei Koch, dem »Aussteiger«, zunehmend Aberglaube, kostspieliger Drogenkonsum sowie seelische Probleme im Spiel gewesen, die den jungen Mann aus zerrüttetem Elternhaus vorübergehend sogar in eine Klinik geführt hatten. Ob er sich das Benzin eigenhändig über den geplagten Kopf goß oder aber »beseitigt« wurde, damit er nicht noch mehr ausplaudere, ist nach wie vor ungeklärt.

* Peter Welchering, »Von den Anfängen des Cyberwars«, Deutschlandfunk Kultur, 13. Februar 2019: https://www.deutschlandfunkkultur.de/hacken-im-kalten-krieg-von-den-anfaengen-des-cyberwars.976.de.html?dram:article_id=440916
** https://www.derstandard.de/story/3000000198061/23-bei-sky-ueber-den-mytod-des-kgb-spions-und-hackers-karl-koch,
4. Dezember 2023




Die Bekanntschaft mit den entzückenden Kohlröschen verdanke ich allein Brockhaus. Es handelt sich um kaum handlange, einstengelige, fast blattlose Orchideen, die in Europa bestenfalls in skandinavischen Gebirgen und auf einigen Alpenwiesen anzutreffen sind. Der Stengel wird von einem dichten, zylindrischen bis kugeligen Blütenstand gekrönt. Von diesem heißt es, er verströme kräftigen Vanilleduft und sei, laut Brockhaus-Zeichnung, braunrot gefärbt. Tatsächlich wirkt er aber oft fast schwarz. Deshalb wird die bei uns heimische Art auch gern Schwarzes Kohlröschen genannt, weil es auch heller rot gefärbte Arten gibt. Streng genommen, wäre ein schwarzes Kohlröschen allerdings ein schwarzer Rappe, also eine Tautologie. Das dämmert mir aber erst nach ausgiebigem Blättern im Internet.

Als botanischer Laie fragt man sich ja zunächst verzweifelt, was dieses betörende Pflänzchen mit Blumen- oder Rosenkohl zu tun haben soll. Die Antwort: gar nichts. Hier hilft Kurt Baumann von der Uni Ffm auf die Sprünge, wenn er feststellt*, der deutsche Name Kohlröschen, der in der neueren Literatur überwiegend benutzt werde, beziehe sich »wie auch ältere Bezeichnungen (Brändlein, Braunelle, Schwärzlein, Möhrli) auf die schwarzpurpurne bis dunkelrotbraune Blütenfärbung der am weitesten verbreiteten Sippe.« Darauf nehme auch der wissenschaftliche Artname Nigritella nigra (lat. nigritus = schwärzlich, geschwärzt) Bezug. Somit hat unser Pflänzchen nichts mit fettem Weißkohl, vielmehr mit den verheizbaren Kohlen zu tun, wie man ja auch gerne Schornsteinfeger oder Kinder, die sich im Regenpfützen wälzten, als »kohlrabenschwarz« beschimpft.

Ein Foto bei Wikipedia vermittelt eine gute Ahnung von der Blütenfarbe. Allerdings droht hier dem Laien schon die nächste Falle. Der Fotograf war ungeschickt genug, uns das Kohlröschen als doppelstöckig vorzugaukeln.

* Kurt Baumann 2008, siehe C:\Users\HR\Downloads\mschmidt,+Zeitschriftenverwalter_in,+08-2_119-126.pdf



Brockhaus kennt nur einen Orgelbauer namens Schnitger. Folglich weiß er auch die Kolbenhubpipette nicht zu würdigen, die sich doch gegen den Klettverschluß oder das Stachelhalsband für widersetzliche Haushunde sicherlich sehen lassen kann. Der Marburger Mediziner Heinrich Schnitger (1925–64) meldete diese Erfindung 1961 zum Patent an. Sie gestattet, geringe Flüssigkeitsmengen von Hand zu dosieren. Leider konnte Schnitger das viele Geld, das seine Kolbenhubpipette noch aufsaugen sollte, kaum mehr genießen, kam er doch Anja Scholzen zufolge* schon 1964 als 39jähriger »beim Baden in einem oberbaye-rischen Gletschersee« zu Tode. Näheres wird uns erspart. Dafür behauptet Scholzen, der »geniale Bastler«, der noch andere Laborgeräte austüftelte, sei ohnehin »als schwieriger, eigenbrötlerischer Mensch bekannt« gewesen, der »an der Vermarktung« seiner Erfindung »kaum Interesse« besessen habe. Damit wissen wir wieder einmal, was ein Querulant ist: der Nichtvermarktungswillige.

Ein Porträtfoto zu Scholzens Artikel zeigt einen schmalgesichtigen, jüngeren Mann mit dickrandiger Brille und hoher Stirn, der ähnlich verletztlich wie eine Kolbenhubpipette wirkt. Man könnte freilich auch mutmaßen, er habe dem verbreiteten Typus des Hypochonders angehört. Der Münchener Biochemiker und zeitweilige Arbeitskollege Schnitgers Martin Klingenberg berichtet**, als Zweiter-Weltkriegs-Soldat an Tuberkulose erkrankt, habe sich der Sohn eines Erfinders aus der westfälischen Stadt Lemgo (bei Bielefeld) nicht um ihrer selbst willen zum Studium der Medizin entschlossen, vielmehr um seine Gesundheit überwachen und sich vor stümperhaften Ärzten schützen zu können. Der durchaus freundliche, wenn auch ungesellige Kollege habe dann auch sehr auf seine Lebensweise geachtet, Ernährung und optimales Raumklima eingeschlossen. Von Freunden oder gar Geliebten (immer GefahrenträgerInnen schon wegen der Keime und Viren!) ist auch bei Klingenberg nicht die Rede.

Diesbezüglich hilft jedoch die zeitgenössische Lokalpresse weiter, wie ich dank des »Marktarchivs« von Garmisch-Partenkirchen weiß. Diese Stadt, die amtlich gar keine ist, liegt bekanntlich unweit der weltberühmten Zugspitze. Diese wiederum birgt als Überraschung, auf knapp 1.000 Meter Höhe, den meist grün getönten, recht klaren Eibsee, der anscheinend zu Badefreuden lockt. Vermutlich hatte ihn Schnitger im Verein mit seiner nirgends namentlich genannten Gattin von München aus angesteuert, wird er doch im Garmisch-Partenkirchner Tagblatt als Arzt der dortigen Universitätsklinik vorgestellt.*** Am Mittag des 27. August 1964, ein Donnerstag, mietete das Ehepaar ein Ruderboot. Offenbar war es heiß. Unweit der Insel Steinbühl wollte Schnitger schwimmen, kühlte sich ab und sprang ins Wasser. Schon nach wenigen Schwimmstößen bat er allerdings geqält um Hilfe – zu spät. Weder seiner Frau noch einem anderen Ruderer sei es gelungen, ihn am Arm zu ergreifen und an Bord zu ziehen. So versank er. Wahrscheinlich hatte der Marburg-Münchener Arzt einen Herzschlag erlitten. Möglicherweise wurde das von recht kalten Strömungen begünstigt, die den Eibsee bekanntermaßen durchziehen. Schnitgers Leiche konnte erst nach Beiziehung von Kampfschwimmern und Spezialtauchern der US-Armee aus Bad Tölz geborgen werden. Sie fanden ihn in 12 bis 15 Metern Tiefe im Schlamm.

Wie ich unter der Hand von einer Münchener Redakteurin erfahre, traf im November 1964 ein Leserbrief beim Münchner Merkur ein, der allerdings nie veröffentlicht worden ist. Er stammte von dem Ickinger Turnlehrer und Hobby-Kriminalisten Alois Bierseidel. »Merkwürdiger-weise ist in den hiesigen Blättern gar nichts mehr vom Fall Schnitger zu lesen. Die Kripo muß doch die Leiche geöffnet und vor allem auch die Ehe der Schnitgers unter die Lupe genommen haben! Denn natürlich stimmt die Sache mit dem Herzschlag, nehme ich an. Darin liegt ja gerade die Heimtücke der Angelegenheit. Schließlich wußte die Gattin Schnitgers zweierlei ganz genau: der Mann war gesundheitlich schon sehr wackelig auf den Beinen – und sein ganzer Kolbenhubpipetten-Zaster würde selbstverständlich bei ihr landen, falls er einmal nicht mehr da wäre. Ergo kann sie ihn nur in seinem verrückten Wunsch, die Temperatur des Eibsees zu prüfen, bestärkt haben. 'Aber sicher, mein Schatz, schwimme nur ein paar Runden, ich werde auch eine hübsche Agfacolor-Aufnahme für unsere Dia-Sammlung von deinem makellosen Toten Mann machen!' War es nicht so ..?«

* Anja Scholzen, »Die Revolution kam aus Marburg«, Marburger UniJournal, April 2005 , S. 58–60: https://www.uni-marburg.de/de/uniarchiv/unijournal/kolbenhubpipette-muj-4-2005.pdf
** Martin Klingenberg, »When a common problem meets an ingenious mind«, EMBO reports, Band 6 Heft 9, September 2005, S. 797–800: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1369176/
*** »Der Tod kam beim Schwimmen«, GaP-Tagblatt, 29./30. August 1964




Hat man endlich einmal Gelegenheit, einen albanischen Schriftsteller kennen zu lernen, kommt zunächst Freude auf. Man lernt ihn in fünf Brockhaus-Zeilen kennen. Danach war Ernest Koliqui (1903–75) ab 1933 [wohl eher 43] Professor in Rom [Lehrstuhl für albanische Sprachen], wo er auch, mit 71, starb. »Gilt als Begründer der albanischen Novelle und wurde auch mit Übersetzungen von Werken italienischer Dichter bekannt.« Nur ich wußte nichts von ihm.

Im Zuge spärlicher Internet-Hinweise wird die Freude rasch überschattet. Koloqi war in der nordalbanischen Stadt Shkodra, später in Arice, Lombardei, gründlich jesuitisch erzogen worden. Dann schlug er sich im Laufe seiner Studien und des Kriegsgeschehens ins Lager der faschistisch gestimmten Achsenmächte. Der albanische sogenannte König Zogu I. war keineswegs Antifaschist; gleichwohl fegten ihn die Truppen Mussolinis 1939 vom Thron und erklärten, ab sofort sei Albanien eine itali-enische Provinz. Sie durfte jedoch eine Regierung bilden, und in dieser wurde Ernest Koloqi Bildungsminister. 1941, nach rund zwei Jahren, ließ er die Pfründe aber schon wieder im Stich, um nach Rom zu gehen und den erwähnten Lehrstuhl zu erklimmen. Warum? Das angeblich einflußreichste albanische Blatt im Kosovo macht kein Geheimnis daraus: Er floh vor dem Gespenst des Kommunismus.* Ich nehme an, diverse Widerstands-gruppen gegen die BesatzerInnen und deren Vasallen waren zu frech geworden, und wer sich zu ihrem Chef und Einiger aufschwang, war der kommende Generalsekretär der KP Enver Hoxha, den man westdeutschen Maoisten nicht vorzustellen braucht.

Über die familiären Verhältnisse und die Todesumstände des schmallippigen Professors findet sich kein Wort. Dafür dürfte immerhin klar sein, er war glühender albanischer Patriot, daran rütteln auch seine hier und dort gelobten Übersetzungen nicht.

* KOHA, https://www.koha.net/de/Kultur/405913/An-Ernest-Koliqi-wird-nur-an-seinem-Todestag-in-sozialen-Netzwerken-gedacht,
16. Januar 2024




Die drei Lehrstühle des Bakteriologen und Hygienikers Werner Kollath (1892–1970) gibt Brockhaus ohne Daten an: Breslau, Rostock, Freiburg im Breisgau. Der »bedeutende Ernährungswissenschaftler« gelte als »Begründer der modernen Vollwerternährungslehre«. Demnach kann er nur ein wertvoller Zeitgenosse gewesen sein. Was Wunder, wenn ihm das Lexikon auch ein Paßfoto gönnt. Klee malt ihn allerdings ziemlich unvorteilhaft. Gleich im Mai 1933 Parteimitglied. Die beiden ersten Professuren von 1935–45. Kollath habe die Sterilisationsgesetze begrüßt und Versuche über »unmerkliche Bleivergiftungen« angeregt. Möglicherweise mischte er auch Bleikügelchen in das von ihm erfundene »Frischkornmüsli«, sodaß er mit dem Kriegsende (in Rostock) entlassen worden ist. 1947 heuert er als Berater bei der beliebten Hannoveraner Keksfabrik Bahlsen an. Mit Hilfe andere Quellen läßt sich ergänzen: An der Uni Rostock predigte Hygieniker Kollath am liebsten über Erb- und Rassenfragen. Die sowjetischen BesatzerInnen sperrten ihn. 1947 zogen er und seine Gattin Elisabeth den Wechsel nach Hannover vor, zu den Angelsachsen und den Keksen also. Ab 1948 gilt Kollath als »entnazifiziert«. Er unterstützte diese Läuterung, indem er aus verschiedenen von ihm verfaßten Büchern für Neuauflagen alle peinlichen nazistischen Bezüge hinausfrisiert.* 1952 wurde er rückwirkend in den Professoren-Ruhestand versetzt, wodurch er wieder zu Dienstbezügen kam. An der Feiburger Universität hatte er anscheinend nur vorübergehend einen Lehrauftrag.** Das Ehepaar wohnte nun auch in Freiburg. Es verdiente am offenbar bundesweiten Verkauf von Vollwert-Frühstücken oder Tierfutterhäppchen mit. Als Sterbeort für Kollath wird Lugano im schweizer Kanton Tessin genannt. Vielleicht war das klimatisch und steuerlich günstiger als der südliche Schwarzwald. Kollath kam auf 78 Lebensjahre. Wäre er 100 geworden, hätte er Brockhaus noch zu dem Eintrag über Werner Kollath beglückwünschen und überdies die gute langjährige Zusammenarbeit rühmen können. Jedenfalls behauptet Wikipedia, Kollath habe nach dem Krieg auch am ersten Gesundheits-Brockhaus mitgearbeitet. Der ist, soweit ich weiß, 1953 erschienen.

* Deutsches Stiftungszentrum, »Stellungnahme zur Person Werner Kollath«, wohl 2002, online als Pdf aufrufbar
** https://cpr.uni-rostock.de/resolve/id/cpr_person_00001815. Die in beiden Quellen erwähnte kritische Dissertation von Jörg Melzer erschien wohl in Buchform 2003.




Liest man die rund 12 Zeilen zum österreichischen Lehrer und Schriftsteller Alfred Kolleritsch (1931–2020), kommt man ins Grübeln darüber, ob man eher an Brockhaus oder eher an Kolleritsch zweifeln soll. Der sogenannte Talentförderer und langjährige Herausgeber der Literaturzeitschrift manuskripte hatte in Graz Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert, dann vom dortigen Akademischen Gymnasium aus gewirkt. Achtung, jetzt führe ich das Sahnehäubchen des Eintrags an. »Sein eigenes Werk ist durch die sprachlich kunstvoll instrumentierte, Bild- und Zeichenhaftigkeit bewußt einsetzende Suche nach individuellen Freiräumen und geistigen Modellen zum Verständnis der Welt gekennzeichnet.«

Warum einfach, wenn es auch undeutlich, aufgeblasen und einschüchternd geht? Prompt stellt die SZ Willi Winklers Nachruf auf den »Dichtervater von Graz« den Hinweise voran: »Seine literarische Nachkommenschaft ist immens.« Alle VerehrerInnen sprechen von Kolleritschs verdienstvollem Kampf gegen das Immergleiche und Erstarrte beziehungsweise für das Neue und Moderne. Weg mit dem täglichen Nachtschlaf! Weg mit dem Brot, das schon die Germanen kauten und mit dem Leim, den bereits die alten Chinesen erfunden hatten! Als übernächstes Stichwort nach Kolleritsch bietet mein Universallexikon Kolleteren an. Es handelt sich um »Leim- und Drüsenzotten auf den Knospenschuppen der Winterknospen vieler Holzgewächse«. Sie schieden »ein Gemenge von Harz und Gummi ab, das die Schuppen miteinander verklebt«, etwa bei der Roßkastanie. Und bei den Sahnehäubchen.



Mit bis zu 5,5 m Länge sei die im tropischen Asien wirkende Königskobra die größte heute lebende Giftschlange. Das glaube ich ja gern. Teilt mir Brockhaus dagegen mit, die Eier auf dem Nesthügel würden »von beiden Eltern« bewacht, muß ich schon wieder Bedenken anmelden. Sind Eltern nicht immer zwei? Das wäre also ein Tautologieverdacht. Und ferner ist mir nicht ganz klar: Stehen die Elternteile stets paarweise Wache, oder lösen sie sich beim Wachestehen schichtmäßig ab? Man wird mich vielleicht einen Haarspalter oder Erbsenzähler schimpfen, aber immerhin bin nicht ich der Herausgeber einer führenden 24bändigen Enzyklopädie. In einer solchen hat jedes Komma zu stimmen. Bei Brockhaus jedoch ist allein auf die Fehleinschätzungen des Wirkens von gewissen Faschisten und gewissen demokratischen Talentförderern stets uneingeschränkt Verlaß.



Bei König Ubu handelt es sich um ein berühmtes Theaterstück, immerhin für zwei eigene Zeilen im Brockhaus gut. Wahrscheinlich ist es nicht so abwegig, den Schöpfer dieses Dramas zu den Vätern des Grazer Dichtervaters zu zählen, obwohl der Franzose Alfred Jarry (1873–1907), soweit ich weiß, nie einen Doktorgrad erwarb. Er war unbezweifelbar Versager und Außenseiter. Nun sollte man sich gewiß hüten, alle AußenseiterInnen über einen Kamm zu scheren. Allerdings ist es oft schwer zu entscheiden, ob sie das Hauptfeld scheuen, weil sie sich, aufgrund ihrer Eigenartigkeit, darin nur übergeben könnten, oder aus berechtigter Angst davor, in ihm als Windbeutel, Schaumschläger und Faulpelz enttarnt zu werden. Trifft das Letztere zu, geben sie sich lieber als geborene Randfigur, dabei wahlweise unter der Firma Avantgardist, Rebell, Dadaist, GesetzesbrecherIn, Happening-Künstler. Die Verweigerung wird zur Bestimmung und zum Vergnügen.

Bürgersohn Jarry durfte das renommierte Pariser Lycée Henri IV besuchen, wo ihn unter anderem der Lebens- und Modephilosoph Henri Bergson unterrichtete, wurde dann aber vom noch erlauchteren Kollegium der École normale supérieure verschmäht, was heißen soll, er fiel dreimal bei der Aufnahmeprüfung durch. Der Verschmähte wandte sich daraufhin der Kunst und der Pariser Bohème zu. Da ihm diverse Objekte und Texte nicht gerade aus den Händen gerissen wurden, übernahm er 1896 den Posten eines Sekretärs am Théâtre de l'Oeuvre. Jetzt konnte er sich für 525 Francs einen letzten Schrei der Mode leisten, nämlich ein Fahrrad des Typs Clément Luxe 96, das ihn noch für einige Jahre als Markenzeichen seines Außenseitertums durchs Leben begleiten sollte. Zudem gelang es ihm, Intendant Lugné-Poe sowie die Bühnenbildner Toulouse-Lautrec und Pierre Bonnard für sein grotesk-komisches Drama König Ubu zu erwärmen. Der Monarch wird hier als gefräßiges unschickliches Monster gegeben. Die Uraufführung am 10. Dezember 1896 brachte den Machern einen berühmten Theaterskandal ein, weil in dem Werk unter anderem ein paar Kraftausdrücke fallen. Jules Renard*, dem sicherlich niemand Sinn für Komik absprechen kann, notierte dazu in seinem Tagebuch, neben dem Titel, nur zwei Worte: »ein Kinderstück«.

Das von Jarry erregte Aufsehen verpuffte freilich rasch und führte nicht zu einem Sog, durch den sich weitere Werke aus seiner Feder an den Horizont der Zeitgeschichte hätten heften können, beispielsweise seine später hochgelobten, angeblich romanhaften Prosastücke Heldentaten und Ansichten des Doktor Faustroll. Er wurde zum schrulligen Clochard und starb am 1. November 1907, noch vor Renard, im Alter von 34 Jahren an einer tuberkulösen Hirnhautentzündung. Wenig früher, am 18. Januar 1906, hatte sich Schriftsteller- und Radfahrer-Kollege Renard in seinem Tagebuch kongenial über den Herabgesunkenen geäußert, wobei offen bleibt, ob Renard berichtet oder erfindet. Jarry halte sich stets in seinem Stall auf. Seien Schüsse zu hören, feuere Jarry mit seinem Revolver auf Kellerasseln und Spinnen. Die Spinnweben verschone er jedoch, als Zimmerschmuck. Sein Klo habe er in einem Erker oberhalb der Eingangstür eingerichtet. Sobald ein Besucher an der Kette der Türglocke ziehe, würden Spülkasten und Kloschüssel entleert. Auf diese Weise sei eine Kraft, die sonst verloren ginge, für hygienische Zwecke genutzt.

In Wahrheit soll Jarry, zumindest zuletzt, in einer Mansarde gehaust haben, in der vor lauter leeren Schnapsflaschen kein Durchkommen mehr war. »Die Antialkoholiker sind Kranke in den Klauen jenes Gifts, des Wassers, das derart ätzend und zersetzend ist, daß ein Tropfen genügt, um eine reine Flüssigkeit, wie den Absinth zum Beispiel, zu trüben.«** Den von Renard ins Spiel gebrachten Revolver muß es immerhin gegeben haben, wurde er doch nach dem Ableben des Kammerjägers von Pablo Picasso erworben.

Hier liegt es, von meiner Warte aus, nahe, auf meinen kleinen (autobiografischen) Versuch über Albernheit hinzuweisen.

* Ideen, in Tinte getaucht / Aus dem Tagebuch von Jules Renard, Auswahl Liselotte Ronte, München 1986, S. 316 + 274
** Zitiert nach Gabriele Killert, Zeit Nr. 45, 1. November 2007




Der aus der Donau-Stadt Swischtow stammende Wanderfreund, Rechtsanwalt und Schriftsteller Aleko Konstantinow (1863–97) fällt Brockhaus-Lesern wie mir vor allem als Mordopfer auf. Mit seinem durch Westeuropa hausierenden Rosenölhändler Baj Ganju (1895), der es aufgrund seines schlitzohrigen Opportunismus bis zum Politiker bringt, soll er eine populäre Figur der bulgarischen Literatur geschaffen haben. Der regsame Autor betrieb in Sofia, wo er lebte, sowohl eine Kanzlei wie ein Reiseunternehmen. Die Quellenlage im Internet ist katastrophal. Wie es jedoch aussieht, war Konstantinows Ende mit 34 dem burlesken Zug seiner Geschichten einigermaßen ebenbürtig. Im Mai 1897 per Kutsche mit seinem Freund Michail Takew, einem Lokalpolitiker, im südlichen Bulgarien beim Dorf Radilowo Richtung Peshtera unterwegs, ereilte ihn die Kugel eines Heckenschützen. Habe ich einige karge fremdsprachige Quellen richtig verstanden, galt die Gewehrkugel eigentlich Takew, der sich gerade vor Ort in kommunale Streitigkeiten eingemischt hatte. Im Grunde kam es vielleicht nicht darauf an, gehörten doch beide Freunde der Demokratischen Partei an. In den Anschlag soll ein Bürgermeister namens Peter Minkov verstrickt gewesen sein, Mitglied der konkurrierenden Volkspartei. Man verurteilte später drei Männer, dabei einen sogar zum Tode. Seit 2003 ziert Konstantinows Porträt die bulgarische 100-Lewa-Banknote. Sobald sie mich zu ehren beabsichtigen, werden sie mein Porträt auf Klopapier drucken lassen. Das ist genauso gut, aber billiger.



Ja, das waren noch Zeiten, als Täuschung durch Verkleidung und Verstellung beinahe die Regel war! Berühmt ist der Vorfall im Herbst 1906, von dem das Wort Köpenickiade für einen Streich oder eine Gaunerei abgeleitet ist. Damals tauchte ein erwerbsloser Schuhmacher in Hauptmannsuniform im Köpenicker Rathaus auf, verhaftete den Bürgermeister und beschlagnahmte die Stadtkasse. Rottländer und Zuckmayer machten aus diesem Stoff Dramen; Wilhelm Schäfer schrieb (1930) einen ganzen Roman.

Inzwischen täuscht man überwiegend mit gefälschten Dateien, also digital. Der leibliche Mensch ist ja ohnehin schon zum Aussterben verurteilt worden, Soldaten eingeschlossen, da fehlt der Verkleidung der Trägerstoff. Ein harmloses Beispiel für das antiquierte Vorgehen finden wir im für die USA schicksals- oder intrigenschweren Jahr 1941. Der Chef der Funkaufklärungsstation HYPO nahe Honolulu, Hawaii, war damals ein gewisser Joseph Rochefort. Seine Abteilung lag in einem Keller, in dem zunächst unerträgliche Hitze geherrscht hatte, weil sich die landesübliche tropische Hitze mit der Abwärme der benötigten Büro- und Dechiffriermaschinen paarte. Schließlich ließ Rochefort eine Klimaanlage einbauen – aber die sorgte nun für eine Kälte, die ihn, den Marineoffizier, tüchtig zittern ließ. So verfiel er auf die Idee, über seiner tadellos gebügelten Khakiuniform ein rotes Smokingjackett zu tragen. Und mehr noch: »Um die Härte des teppichlosen Betonbodens abzumildern, tauschte er seine Uniformschuhe während der Bürostunden mit weich gepolsterten Pantoffeln.« Beides widersprach selbstverständlich den Kleidervorschriften der Marine, doch diese Unkorrektheit habe sich Rochefort gestattet, schreibt Robert B. Stinnet in seinem bedeutenden Buch über Pearl Harbor (deutsche Ausgabe 2003, S. 109). Sobald Rochefort aus seinem Verlies auftauchte, um etwa Admiral Kimmel oder Beamte vom FBI zu treffen, steckte er wieder in der vorschriftsmäßigen Kluft. Ich werde noch auf ihn zurückkommen müssen, weil er sich damals wahrlich noch ganz andere, weitaus weniger sympathische Unkorrektheiten erlaubte.

Zwei Jahre früher hatten sich die deutschen Faschisten bekanntlich einen Kriegsgrund geschaffen, indem sie (am 31. August 1939) ein paar SS-Männer als polnische Freischärler verkleideten und gegen die eigene Rundfunkstation in Gleiwitz zum »Überfall« ausschickten. Damit war der Zweite Weltkrieg eröffnet. Rochefort sorgte dann in Haweii mit dafür, den Krieg noch kräftig auszudehnen. Der Preis dafür war ein Massengrab im eigenen Marinehafen, das die Yankees »den Japsen« in die Schuhe schoben.



Bei seinem Verständnis für Deutschtum hat Brockhaus dem Schriftsteller Theodor Körner (1791–1813) eine drittel Spalte bewilligt, obwohl der junge Mann kaum das erste Sprießen seiner Barthaare überlebte. Selbst die DDR schätzte ihn. Die NVA vergab jährlich einen Theodor-Körner-Preis an vorbildlich patriotische KünstlerInnen oder Organisationen. Der auch bei Frauen beliebte »Sänger und Held« des »Kampfes gegen die napoleonische Fremdherrschaft«, Sohn eines hohen Dresdener Justizbeamten, hatte ähnlich wie Novalis erst die Freiberger Bergakademie besucht, um sich dann zunehmend dem Schmieden von schwärmerischen Versen und Dramen zu widmen. Er spielte auch »prächtig« Gitarre, wie bei Guido K. Brand* zu lesen ist. Als er sich 1811 (in Leipzig) mit seinen Verbindungs-Kameraden von der Landsmannschaft Thuringia zu einer Schlacht gegen die adlige »Fechtgesellschaft« begab, ließ er seine Gitarre vermutlich wohlweislich auf seiner Bude. Als Rädelsführer von der Leipziger Universität ausgeschlossen und mit Gefängnis bedroht, ging Körner zunächst nach Berlin, wo er bei Zelter sang, bei Jahn und Friesen turnte oder focht, und dann nach Wien, das in Gestalt der Schauspielerin Antonie Adamberger eine Braut für den angehenden Erfolgsdramatiker (Zriny, 1812) bereithielt. Doch aus der Hochzeit wurde nichts, da das Vaterland rief. Im Grunde hatte Körner die Schlägerei in Leipzig nur überlebt, um zwei Jahre darauf, im August 1813, mit Kameraden der Lützow-Freischar im Forst von Rosenow bei Gadebusch auf diese verhaßten Franzmänner zu stoßen. Ob der 21jährige Dichter dabei in den Armen Friesens starb, ja ob er überhaupt im Gefecht fiel, ist allerdings unter Historikern umstritten.* Die Liste deutsch-österreichischer Körner-Denkmäler (Park in Wien) ist jedenfalls länger als ein Flintenlauf. Nikolaus Becker hätte seine Freude besonders an der Aachener Theodor-Körner-Kaserne gehabt. Körners sogleich nach dem Heldentod herausgegebener Sammelband mit Gedichten Leyer und Schwert soll sich später (um 1940) einen Vorzugsplatz auf dem Schreibtisch Manfred Hausmanns erobert haben. »Denn was, berauscht, die Leyer vorgesungen, / Das hat des Schwertes freie That errungen.«

* Guido K. Brand, Die Frühvollendeten. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte, Berlin und Leipzig 1929, S. 171. Zwar schildert Brand auch Gefechte bei Gadebusch, läßt dabei aber Friesen völlig aus.



Der tschechische Fotograf Josef Koudelka (*1938) scheint noch zu leben. Brockhaus zeigt ein oft abgebildetes Foto aus Prag von ihm, das Sie vermutlich schon kennen. Aber Sie kennen meine Romanskizze Zermalmung einer Ikone noch nicht.



Am breit gefeierten Schauspieler Werner Krauß (1884–1959) darf man nicht völlig achtlos vorübergehen. Er trat meist in Rollen von Finsterlingen, Ekeln oder Zauberern auf. Brockhaus merkt immerhin an, in einem Intermezzo 1945–48 habe man ihm ein »Auftrittsverbot« zugemutet. Dann durfte er die Wiener wieder am Burgtheater und die weniger betuchten Massen in zahlreichen Kinos bezau-bern. 1934 hatten ihn die Nazis zum »Staatsschauspieler« erhoben. Der »Volkssturm« im freien Feld blieb ihm erspart, weil ihn Goebbels 1944 in der Liste der »Gottbegnadeten« aufnahm. Im Dezember 1950 wäre Krauß bei einem Burgtheater-Gastspiel in Berlin um ein Haar mit Hühnereiern oder Pfeffernüssen beworfen worden*, aber die noch vom Krieg gebeutelten Berliner-Innen aßen ihre Wurfgeschosse lieber selber. 1954 nahm er das sicherlich lang ersehnte Bundesverdienstkreuz entgegen. Vier Jahre darauf revanchierte er sich, indem er seine auch von Brockhaus erwähnten Erinnerungen Das Schauspiel meines Lebens auf den Markt warf. Das Lexikon teilt jedoch nicht mit, zu wieviel Prozent das Werk aus Lügen oder Selbstbetrug besteht.

* https://www.swr.de/swrkultur/wissen/archivradio/proteste-in-berlin-gegen-theaterauffuehrung-mit-werner-krauss-100.html, Stand 20. Mai 2020



Ehrlich gesagt, löse ich nie Kreuzworträtsel, aber im Gegensatz zu Brockhaus bin ich dennoch über den sogenannten Kreuzworträtselmord im Bilde. Ihm fiel 1981 in Halle-Neustadt der 7jährige DDR-Schüler Lars Bense zum Opfer. Nach dem Besuch einer Filmvorstellung war der Junge, von Hans Girod* als »fröhlich, aufgeweckt und zart« beschrieben, vermißt und schließlich an der Bahnstrecke nach Leipzig tot in einem aus dem Zug geworfenem Koffer gefunden worden. Die Kripo kam dem 18jährigen Täter nur auf die Spur, weil sich im Koffer, neben der Leiche des mißbrauchten und dann erschlagenen Jungen, auch ein paar Zeitungsblätter mit ausgefüllten Kreuzworträtseln fanden. Sie wertete sage und schreibe 550.000 Schriftproben aus, die sie im Raum Halle genommen oder eingezogen hatte. Der Täter bekam Lebenslänglich.

Kaum war der Mann am 15. Januar 2013 im Alter von 50 Jahren einer schweren Krankheit erlegen, brachte der Erfurter Sutton Verlag, wohl schon am 1. Februar, einen »Tatsachenroman« heraus, den die damalige Freundin des Hausmeisters und Kellners verfaßt hatte. Die beiden hatten zuletzt gemeinsam in einem Thüringer-Wald-Erholungsheim gearbeitet. Nun hieß es in der Presse, die Haller Staatsanwaltschaft habe neue Ermittlungen gegen die inzwischen 49 Jahre alte Frau eingeleitet, weil die Darstellung im Roman ihren früheren Zeugenaussagen widerspräche, wonach sie zur Tatzeit nicht in Halle gewesen sei. Im Roman will sie, wenn auch nur »unter Zwang«, bei der Beseitigung von Spuren in der Tatwohnung, ja sogar beim Fortschaffen der Leiche selber geholfen haben. Sie sagt, das sei Fiktion. Dadurch habe sie Abstand gewinnen können; ohnehin habe sie an einem schwerem Trauma gelitten. Hätte sie Pech gehabt, wäre sie nun der Mordbeihilfe angeklagt worden – was sicherlich wiederum Balsam für die Bilanz des Erfurter Verlages gewesen wäre. Doch die Ermittlungen wurden im Folgejahr »mangels Beweisen« eingestellt.

Der einstige Chefermittler im Fall, Siegfried Schwarz, merkte Journalisten gegenüber an, der vom Buch bewirkte »Rummel« sei »unerträglich«, weil jetzt Lars‘ Mutter das ganze Geschehen noch einmal zu durchleben habe.** Lars‘ Vater soll bereits 1994 gestorben sein.

* Hans Girod, Das Ekel von Rahnsdorf und andere Mordfälle aus der DDR, Berlin 1997
** Elena Rauch, »Kreuzworträtsel-Mord …«, Thüringer Allgemeine, 15. März 2013: http://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/leben/detail/-/specific/Kreuzwortraetsel-Mord-Ermittlungen-gegen-Thueringerin-stehen-vor-dem-Abschluss-503387734




Europas kleinste Ente heißt nach dem Ruf des Erpels Krickente. Behauptet Brockhaus, von der sehr häufigen Stockente lasse sie sich gut an der »charakteristischen Kopfzeichnung« des Männchens unterscheiden, zweifle ich. Auf 20 oder 50 Meter wirken die Kleider nämlich ziemlich ähnlich. Hier hilft nur die Stimme des Erpels, von der uns Brockhaus freilich keinen Ton verrät. Dabei dürfte das schrille Klingeln der männlichen Krickente wirklich etwas ganz anderes sein als das öde Näseln und Quaken der Stockenten. Der Stockenten-Erpel soll auch noch einen dünnen Pfiff als Balzruf haben. Verwirrend könnte es werden, wenn die Krickente auf einem Teich am Fußballplatz schwimmt. Jenes Klingeln ist nämlich kaum von der Trillerpfeife des Schiedsrichters zu unterscheiden, wie Sie auf einer schweizer Webseite* mit eigenen Ohren vernehmen können.

Die Webseite vermittelt auch einen guten Eindruck von der kunstvollen Maserung des Bauches der männlichen Krickente. Man könnte fast von einer feinen Silberschmie-dearbeit schwärmen. Sicherlich standen dem Fotograf eine professionelle Digitalkamera oder wenigstens ein hochwertiges Smartphone mit zoomfähiger Kamera zur Verfügung. Eben diese technischen Aussichten werden allerdings die Pirsch des von Jagdfieber geschüttelten Vogelliebhabers im Laufe dieses Jahrhunderts zu einer fossilen Grille machen, die nur noch Gelächter oder Mitleid erregen kann. Der moderne Mensch benötigt kein Gehör. Er zoomt sich heran, was sein Blickfeld kreuzt, und exportiert es zu Hause auf seinen ausladenden Computerschirm, ehe er vielleicht ein Bestimmungsbuch aufschlägt. Dabei kann er Kaffee trinken und Musik hören.

* https://www.vogelwarte.ch/de/voegel-der-schweiz/krickente/



Brockhaus‘ Streifzug über Kriminalliteratur ist mir etwas lästig, weil er mich schon wieder an das 1964 erschienene ungenießbare Werk des Autorengespanns Boileau/Narcejac Der Detektivroman erinnert. Ich erwähnte es bereits in Folge 9. Dieser gelehrten Arbeit habe ich entnommen, die beiden Franzosen verfaßten auch selber nicht etwa aus Leidenschaft oder Erwerbsgründen Kriminalromane, vielmehr der korrekten Theorie zuliebe, wie ein Kriminalroman auszusehen hat. Zu allem Unglück überführen mich diese unerbittlichen Schöndünster auch noch einer Kulturschändung. Sie geben einen kleinen Regelkatalog wieder, den US-Krimiautor S. S. Van Dine vor ungefähr 100 Jahren verkündete. Er umfaßt auch eine Liste abgegriffener Tricks, die unbedingt zu ächten, folglich zu vermeiden seien. Nr. 20 e ächtet den Hund, der nicht bellt und der dadurch verrät, der Eindringling ist kein Fremdling. Eben einen solchen habe ich jedoch erst im vergangenen Herbst in meiner vierten Kommissar-Düster-Geschichte »Sanierungshilfe« bemüht: den Schäferhund des Karlskirchener Landwirts Wegener. Diesem Mann hatte man die Scheune angezündet. Offenbar war ich nicht der erste Krimiautor, der auf den Trick mit dem stummen Hund verfiel. Ich bin mir aber weder einer Quelle noch einer Schuld bewußt. Auch Van Dines Regelkatalog war mir bis dahin nie untergekommen. Wer weiß jedoch, von welchen Einflüssen ein Krimiautor unbewußt gesteuert wird – und eben deshalb benötigt er eine astreine und narrensichere Theorie.



Unter »Krones« führt Brockhaus lediglich die öster-reichische Schauspielerin Therese Krones an, die 1830 bereits mit 29 Jahren einer, laut Internetquellen, »kurzen, schweren Krankheit« erlag. Ganz Wien soll sie verehrt haben. Obwohl ich mir aus Schauspielern und Politikern ähnlich wenig mache, möchte ich bei dieser Gelegenheit an Thereses Landsmännin Hilde Krones (1910–48) erinnern.

Möglicherweise sah diese Krones nicht ganz so hinreißend aus wie Therese. Zwei Fotos haben sich mir eingeprägt. Da marschieren derb gekleidete, mit Spitzhacken oder Schaufeln bewaffnete WienerInnen zum Wiederaufbau. Der hohe Frauenanteil verblüfft – falls man das Jahr der Aufnahme nicht kennt: 1945. In der vordersten Viererreihe ausschließlich Frauen. Sie scheinen guter Stimmung zu sein, trotz ihrer aus den Schuhschäften lugenden Wollsocken, die nicht gerade der Pariser Vorkriegsmode entsprechen. Hilde Krones, Mitte 30, halbrechts, lacht ebenfalls. Ja, noch lacht sie. Hier wirkt sie recht hochgewachsen und eher schlank. Das wäre vielleicht die richtige Freundin für mich gewesen. Aber damals war ich noch gar nicht auf der Welt. Unverkennbar sind Hildes großer Mund, die kräftigen Zähne und die leicht slawischen Wangenknochen. Im ganzen könnte man ihr Gesicht knuffig nennen. Das sieht man dann auch auf dem zweiten, diesmal undatierten Foto. Die Frau um 30 lehnt lachend in einer Haustür. Sehr witzig finde ich ihr bauschiges, zweifarbig längsgestreiftes Kleid. Hier wirkt Krones eher untersetzt, dabei recht drall und breithüftig. Kinder hatte sie übrigens nie, zu ihrem Bedauern. Die Gründe der Kinderlosigkeit sind mir allerdings nicht ganz klar geworden. Mindestens zwei Väter wären jedenfalls zur Hand gewesen.

Hilde Krones selber war die Tochter einer Hausfrau und eines Bäckergehilfen. Der Vater starb, als sie 14 war – warum, verrät keiner. Die Tochter durfte, nun unter Mühen der notgedrungen berufstätigen Mutter, die Wiener Handelsakademie besuchen. Sie wurde zunächst Kaufmän-nische Angestellte, rasch auch Politikerin. Sie galt als rhetorisch begabt. Aus der sozialistischen Jugendbewe-gung kommend, zählte sie zum linken Flügel der österreichischen Sozialdemokratie (SPÖ). Krones hatte sich im Faschismus an der Untergrundarbeit beteiligt und war zuletzt, nach dem Krieg, sogar Abgeordnete des demokratischen Nationalrates (des österreichischen Parlaments) geworden. Das konnte sie freilich nicht daran hindern, sich (1948) mit 38 Jahren umzubringen – wie in der Regel angenommen wird. Warum tat sie das? Immer-hin hatte sie sich selber einmal ausdrücklich als Kämpferin bezeichnet. Sie half gern, sie war ehrgeizig, sie wollte eine bessere, eine gerechte Welt. Jetzt hatte sie den Tod gewollt – falls sie nicht insgeheim darauf hoffte, vielleicht noch rechtzeitig gefunden zu werden.

Soweit ich sehe, hatte Krones zwei wesentliche Leidenschaften: die Politik und die Geschlechterliebe. Und man darf wohl vermuten, beide waren ihr überlegen und brachen ihr im Verein das Genick. Nehmen wir zunächst die politische Lage. Schon die war sicherlich für jede Verzweiflung gut. Auf einer SPÖ-Webseite* heißt es dazu erstaunlich offenherzig, »angeführt vom damaligen Innenminister Oskar Helmer [SPÖ]« sei gegen Hilde Krones und ihre Gruppe (um die Zeitschrift Kämpfer) »wegen angeblicher ideologischer Nähe zur KPÖ eine persönliche Diffamierungskampagne betrieben« worden. Doris Ingrisch** hebt auch den Chefredakteur der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung Oscar Pollak hervor, über den anscheinend so manche verleumde-rischen Angriffe gegen die Opposition liefen. Krones‘ Mitstreiter Erwin Scharf wurde Anfang 1948 sogar aus seinem Amt im Parteisekretariat entfernt. Er hatte sich öffentlich gegen den Schmusekurs der SPÖ verwahrt und ging dann auch bald zur KPÖ. Krones ist zerrissen, ihre Gruppe zerfällt. Auch Ingrisch versichert, die kapitalfreundlichen SPÖ-Bosse hätten damals »Gerüchte in Umlauf gesetzt, die schließlich bis zum Rufmord reichten« und damit Krones politische Ehrbarkeit in Frage stellten. Mitte Dezember 1948 wunderten sich Freunde von Krones darüber, sie schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen zu haben, und suchten deren Wohnung auf. Die Wohnung war eiskalt. Die 38jährige lag bewußtlos in ihrem Bett. Im Krankenhaus starb sie. Die Ärzte sprachen von Schlafmittelvergiftung und Lungenentzündung. Ein Abschiedsbrief wurde, laut Ingrisch, nicht gefunden.

Einen gewissen Franz Krones habe ich bislang vernachlässigt – das ist der Einfluß des befremdlichen Eintrages über Hilde Krones bei Wikipedia. Die Ehe der gebürtigen Hilde Handl kommt dort nicht vor. Sie hatte sich 1939 mit dem Ingenieur für Elektrotechnik und Gesinnungsgenossen Franz Krones verheiratet. Er wird bald einberufen. Laut Briefen liebt und vermißt Hilde ihn glühend, und er kehrt sogar schon 1945 aus der Gefangenschaft heim – um nun den Rivalen und Genossen Erwin Scharf zu ertragen. Hilde hat sich in ihn verliebt. Franz bemüht sich um Toleranz. Auch Scharf ist nebenbei verheiratet, zwei Kinder. Wie es aussieht, übt er sich in Vorsicht; vielleicht ist er auch der übliche Spröde. Hilde macht sich hübsch für ihn, versichert: »Ich bin kein Liebchen, das man verstecken kann.« Aber inzwischen ist Scharf auch mit dem Schmutz der SPÖ-Bosse beworfen worden und gilt als Aussätziger, den man folglich zu meiden hat. Die Zerrissenheit von Hilde Krones erwähnte ich bereits.

Kommunist Erwin Scharf wurde noch alt. Dagegen sind von Franz Krones im ganzen Internet noch nicht einmal die Lebensdaten zu bekommen. Dabei war Franz ein wichtiger linker Aktivist gewesen. Als Mitarbeiter des Blattes Informationsdienst der SPÖ und Bildungsobmann im Wiener Stadtbezirk Ottakring stand er der oppositionellen Gruppe um seine Ehefrau nahe. Als der ID im Herbst 1946, wohl von rechts her, eingestellt wurde, verlor die Opposition eine wertvolle Plattform. Aber von Franzens Verbleib (nach dem Selbstmord) erfährt man nichts mehr. Ein »altlinker« Freund aus Wien teilt mir immerhin auf Anfrage mit, nach seinen Erkundigungen war Hildes Gatte Franz, als Ingenieur, bei der Wiener Stadtverwaltung angestellt. Nach dem Krieg habe er dort noch Karriere gemacht. Jede politische Betätigung habe er sich spätestens ab 1950 verkniffen.

* http://www.dasrotewien.at/seite/krones-hilde-geb-handl, o. J.
** Doris Ingrisch, »Ohne Kompromiß«, in: Die Partei hat mich nie enttäuscht … Österreichische Sozialdemokratinnen, Hrsg. Edith Prost, Wien 1989, S. 288–338




Über den Industriellenclan Krupp brauchen wir vielleicht nicht viele Worte zu verlieren. Ich wende mich deshalb lediglich einem selten gewürdigten Junior zu, der auf einem wichtigen Geschäftsfeld des Clanes, dem Krieg, sogar selber umkam. Aufgewachsen in der bekannten Essener Villa Hügel, war das dritte Kind von Bertha und Gustav Krupp Claus von Bohlen und Halbach (1910–40) nach dem sogenannten »Anschluß« Österreichs (im Frühjahr 1938) endlich in der Lage, die Leitung der Berndorfer Metallwarenfabrik und die Führung Sita von Medingers zu übernehmen, die zufällig aus dem österreichischen Adel kam. Der Diplom-Ingenieur heiratete sie – Ende September, und machte ihr gleich einen Sohn. Das war auch höchste Zeit gewesen, weil schon im folgenden Jahr ein Krieg ausbrach, den eigentlich keiner gewollt hatte. Zwar fiel Von Bohlen, nun Oberleutnant der Luftwaffe, nicht an der Front (er war bereits in Polen mit dabei gewesen)*, jedoch in der Eifel, wo er Anfang 1940, als Pilot, eine neue Atemschutzmaske zu testen hatte. Bei einem Flug am 10. Januar versagte sie leider, wohl wegen Vereisung, so gründlich, daß Von Bohlen, noch keine 30, in Ohnmacht – und seine Messerschmitt Bf 109, beim Dorf Metterich (bei Bitburg), fast kopfüber, wie ein Wanderfalke, in einen Wald fiel. So hatte der Faschismus einen Märtyrer mehr – oder zwei, denn ein Ko-Pilot soll ebenfalls gestorben sein. 1957 bekam Von Bohlen im Wald einen Gedenkstein: Genau an der Stelle, an der er »so tragisch ums Leben kam«, wie der volksfreundliche Berichterstatter betont.* Wieder war eine finstere Naturgewalt in den unschuldigen Wald gefahren.

* Gereon Schlossmacher am 8. April 2009 im Trierischen Volksfreund: https://www.volksfreund.de/region/bitburg-pruem/wo-ein-krupp-in-der-eifel-starb_aid-5963140
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