Mittwoch, 15. November 2023
Impfung gegen Reformismus

Im zurückliegenden Sommer, schon gegen Ende unserer Leon-Plattenproduktion, rückte eine Minderheit unseres Clubs Meier & Nagel mit zum Teil starken Bedenken gegen meine drei Corona-Lieder heraus. Vor allem vom Titel Mutter hol die Kinder rein wurde befürchtet, er könne bei vielen Leuten Mißverständnisse hervorrufen und sie des-halb vor den Kopf stoßen. Er verspottet das Hereinfallen auf die staatliche und mediale Impfpropaganda und gestattet sich eine Verknüpfung zur postmodernen Kriegsführung. Insbesondere die Verse »Babies gibts ja sowieso zu viel, solln sie doch [durch den Impfarzt] verrecken« verunglimpften den Glauben breiter Massen, sie täten ihren Kindern durchs gehorsame Impfenlassen etwas Gutes. Daneben werde aber auch die Andeutung mit der Einführung des »Blauen Sterns« für Ungeimpfte in dem Titel Die Benachrichtigung zu vielen Pawlowschen Reflexen, Einbußen beim Verkauf der Platte und womöglich sogar zu strafrechtlicher Verfolgung wegen Verharmlosung oder Volksverhetzung führen. Diese zwei Titel müßten daher gestrichen werden.

In meiner brieflichen Zurückweisung der Bedenken zweifelte ich zunächst an, den Kritikern lägen allein das Wohl der Kinder des deutschen Volkes und die Sorge um ihre eigene bürgerliche Existenz am Herzen. »Ich glaube eher, hier sind hauptsächlich Ängste vor Vorwürfen und vor Ächtung im Spiel. Weil man sich wieder einmal ‚unmögliche‘ Außenseiterpositionen anmaßt. Die Angst vor der Mehrheit ist ein furchtbarer Hebel – aber die Mehrheit ist in der Regel nicht weniger furchtbar. Dazu verweise ich euch auf meine kleine Betrachtung Das Offensichtliche: https://siebenschlaefer.blogger.de/stories/2858665/, A-36.«

Ferner schien mir auch die befremdliche Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeit der potentiellen HörerInnen »stark dem Kniefall vor dem Gefühlshaushalt, ja mehr noch, vor dem gutgemeinten Rechthaberinstinkt der breiten Massen zu ähneln – vor jenem Mehrheitsdenken also, das ich in der verlinkten Betrachtung schon mit Hilfe des Schloßherrn Montaigne beklagte. Damit wird die Grenze zwischen mitfühlender oder höflicher Rücksicht-nahme und purem Anbiedern, auch Opportunismus genannt, dünner als eine CD-Scheibe. Damit ist keine wirkliche Opposition mehr möglich, denn die ‚Beschämung‘ der Massen, die unsere einsprechenden MitstreiterInnen vermeiden möchten, lauert nahezu überall. Man darf diesen Massen zum Beispiel nicht die erdrückenden Indizien unterbreiten, die auf 9/11 als ein Schwerverbrechen der US-Bosse verweisen: Millionen Menschen in aller Welt könnten sich gekränkt fühlen, hieße das doch, sie hätten sich wieder einmal tüchtig verarschen lassen. Das läßt sich keiner gern sagen.«

Leider gelang es nicht, der Minderheit die Bedenken zu nehmen. Da wir für unseren Club das Konsensprinzip festgelegt hatten, war das Veto unangreifbar. Die Alterna-tive wäre das Scheitern der gesamten Plattenproduktion gewesen. So gab ich klein bei und erklärte mich mit der Streichung der beiden umstrittenen Titel einverstanden. Projektleiter Nagel versicherte mir immerhin, es sei mir ja unbenommen, den Streitfall in meinem Blog zu behandeln – wo die umstrittenen Titel sowieso schon seit mehreren Jahren stehen, wenn auch nur als Notenblätter.

Im Kern ging es damals ersichtlich um das leidige Reformismus-Problem. Dazu habe ich bereits früher einiges geschrieben, das mit Hilfe meines Blog-Registers auffindbar ist. Ich wiederhole hier lediglich den Hauptgedanken meiner Reformismus-Kritik und führe ferner noch einen neuen Gesichtspunkt an. Alle reformistischen Maßnahmen laufen darauf hinaus, ein im Grunde barbarisches Gesellschaftssystem nicht etwa empfindlich anzukratzen, vielmehr gerade noch zu festigen. Durch die Reformen wird es beweglicher, schmiegsamer, langlebiger. Das heißt, der allein rettende Umsturz wird auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben. Gerade gründet Frau Wagenknecht eine neue Partei, weil wir bislang erst so furchtbar wenig Parteigründungen hatten. Die Kürzel USPD sind für Frau Wagenknecht ein Buch mit sieben Siegeln. Damit wird die naheliegende Idee, es vielleicht einmal ohne Parteien und Berufspolitik und Stellvertreterei zu versuchen, auch noch aus den wenigen Köpfen geblasen, die sich bislang der digitalen Gehirnwäsche und damit der Geschichtsvergessenheit störrisch widersetzt haben. In drei Jahren wird dann die nächste »linke« oder »alternative« Partei gegründet und so weiter und so fort.

Der neue Gesichtspunkt wäre: Seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten kräht das internationale Versöhnlertum aller Schattierungen, wir wollten doch alle dasselbe. Wir hätten unsere Meinungsverschiedenheiten endlich einmal zu begraben und uns somit künftig auch der kränkenden Polemik zu enthalten. Aber das ist Quatsch mit Soße. Die Meinungsverschiedenheiten im oppositionellen Lager bestehen völlig zurecht, weil sich auch die Soziologie der Gesellschaft und der Revolution ungemein verästelt und verkompliziert hat. In diesem Dschungel den Ausweg zu finden, ist eine Aufgabe für Titanen oder Kriminalkom-missare. Alle anderen Wege führen nämlich garantiert aufs Glatteis. Von diesen Irrwegen gibt es in jeder Epoche ungefähr 1.000, während es, wie ich glaube, immer nur einen wirklichen Ausweg gibt. Den gilt es zu finden, und dazu bedarf es des Meinungsstreits.

Ich beschränke mich auch in dieser Hinsicht, als Beispiel, auf einen Teilaspekt. Es gibt sicherlich zahlreiche Varianten, wie man das große Deutschland demokratischer aufteilen, strukturieren, verwalten könnte. Aber mit jeder dieser Varianten ist das Scheitern programmiert, solange Deutschland nicht verkleinert wird. Es muß einfacher und überschaubarer werden, wie ich kürzlich in meinem RUD-Manifest sagte. Diese Verkleinerung ist der entscheidende Hebel in der Organisationsfrage. Wer ihn scheut, hat bereits verloren.

Der Radikale geht an die Wurzeln. Ein anderes Wort für »radikal sein« wäre »konsequent sein«. Gerade in dem besorgten Sinn, wie ihn jene Bedenken gegen meine Corona-Lieder zeigten, wird aber immer geklagt: Diese Konsequenz kann ich mir nicht leisten. Ich verliere Zeit, ich verliere Geld, ich verliere meinen Arbeitsplatz, meine Familienangehörigen verlassen mich – das Verhungern in der Isolation wäre mir auf diese Weise sicher. Ich muß einräumen, diese Bedenken sind nicht ganz aus der Luft gegriffen. Möglicherweise gelingt Konsequenz nur, wenn man bereit ist, als Preis für Unabhängigkeit eine ungewöhnlich bescheidene Lebensführung zu zahlen. Ich muß ja nicht unbedingt Professor oder auch nur Busfahrer werden. Ich muß auch nicht unbedingt eine Familie gründen, damit sie mir wie ein Mühlstein am Hals hängt. Viele Babys wären ja sowieso am besten beraten, wenn sie gar nicht erst auf die Welt kämen, wie einer unlängst in seinen Liedern angedeutet hat … Diese Bescheidung um der werten Konsequenz willen ist selbstverständlich mit einigen Unbequemlichkeiten und Entbehrungen und noch anderen Nachteilen verbunden. Ob sie auch Weltsicht, Sozialempfinden, Widerstandskraft beschränkt, wäre vielleicht noch zu untersuchen. Vielleicht hätten Sie Belege dazu – bitte einreichen.

Übrigens habe ich mir auch die (gekürzte) Platte Leon vom Mund abgespart. Ich war nämlich der Hauptfinanzier. Bei meiner Zwergrente ist das fast ein Wunder. Zuverdienste hatte ich als Rentner nie. Keine Reisen, keine Restaurantbesuche, keine neuen Hemden, kein Frisör, kein noch so winziges Fernsehgerät, kein Handy, noch nicht einmal eine Katze, die mein Los und meine Brotrinden mit mir teilte. Der unvermeidliche Preis für konsequente Kunst und ein gutes Gewissen ..?

Der Wegfall der beiden Corona-Lieder schmerzt mich nach wie vor. Witzigerweise waren sie sogar schon aufge-nommen und, Anfang Juli, von Produzent Boldt im Rahmen eines ersten Premasters mit 28 weiteren Stücken herumgeschickt worden. »Die Benachrichtigung« ist auf dieser Probe-CD mit Gesang, Klavier und Posaune zu hören. Ein mit der Gruppe befreundeter Kirchenmusik-Student meinte dazu per Mail: »Der Gesangsvortrag trifft genau ins Schwarze. Wenn ich diesen Titel höre, spüre ich (besonders auch im Posaunensolo) eine tiefe Traurigkeit. Sie erinnert mich an vieles, was ich z.B. in den Klemperer-Tagebüchern gelesen habe, wie die Juden in der NS-Zeit merkten, wie sie zunehmend aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. All dies höre ich in Reitmeiers Musik und in deren Interpretation durch die beteiligten MusikerInnen. ‚Die Benachrichtigung‘ ist mein absolutes Lieblingslied auf der Platte.«

Vielleicht könnte sich demnächst ja auch mal ein Staatsanwalt für meine Corona-Lieder erwärmen? Bei meiner Zwergrente, siehe oben, kann ichs mir wirklich nicht leisten, eine Werbeagentur für hübsche PR anzuheuern.
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