Sonntag, 12. Februar 2023
Unding Unfall

Schwere Erdbeben in der Türkei und Syrien, lese ich Anfang Februar in der Jungen Welt. Zum Teil lägen ganze Städte in Trümmern. Neben dem Schutt machten den Rettungskräften Schnee und »eisige Temperaturen« zu schaffen. Hier scheint auch der »Klimawandel« versagt zu haben. Waren es anfangs noch 2.300 Tote, meldet die unermüdliche kritische Nahost-Korrespondentin Karin Leukefeld am 9. Februar Schätzungen auf 15.000 Tote. Hinzu kämen mindestens 30.000 Verletzte.*

Wie sich versteht, bin ich im ersten Augenblick zum fünftausendsten Male in meinem Leben entsetzt. 2o oder 200 Minuten später habe ich das Erdbeben in den hintersten Winkel meines Gehirnkastens verbannt. Ähnlich ergeht es mir, wenn mir auf der Straße zum fünftausendsten Male in meinem Leben eine bedauerns-werte Rollstuhlfahrerin oder ein wegen Klumpfuß hinkendes Kind begegnet. Ich schäme mich meiner Sorgen als halbwegs gesunder Mensch und gelobe Besserung. Nach 20 oder 200 Minuten ist der Schwur Makulatur. Ich gräme mich wieder über einen Pferdefuß, den ich in meiner jüngsten Räuberpistole übersehen habe, oder über einen Mailpartner, der mich seit mehreren Tagen auf eine dringende Antwort zu Fragen des Liedschaffens oder der Schallplattenproduktion warten läßt. Rollstuhl und Klumpfuß wandern in den erwähnten Winkel. Vielleicht ist die Sache einfach die, daß die Dinge zuviel für uns sind. Es hagelt Eindrücke und Vorhaben, und in der Regel verlangen sie Unmögliches, nämlich Widersprüchliches von uns. Vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges war selbst Karl Scheffler überrascht worden, obwohl er ihn erwartet hatte. Er kommentiert, leider sei das reine Denken doch etwas anderes als das empirische Erleben; die Gedanken an das Ganze und die Erfordernisse des Tages stimmten selten zusammen.** Schlimmer noch, sage ich. Sie verprügeln sich regelmäßig – und was siegt, hat die andere Seite entkräftet. Dann kommen freilich in der Regel noch drei oder sieben andere Kräfte hinzu, darunter seelische, die uns in entsprechend viele Richtungen zu zerren wünschen, die sich selbstverständlich gegenseitig ausschließen. Man bekommt die vielen, widersprüchlichen und meist recht komplexen Dinge einfach nicht unter einen Hut. Daran scheitern, falls ich mich nicht täusche, sowohl die meisten Lebens- wie die meisten Weltverbesserungspläne.

Oft fällt es bereits ziemlich schwer zu entscheiden, um was es sich bei einem bestimmten Ereignis oder einer bestimmt Anforderung eigentlich handele. Zum Erdbeben wird man vielleicht sagen, so etwas sei kein Unfall, vielmehr ein Unglück, nämlich eine Naturkatastrophe. Aber ich weiß nicht. In der syrischen Stadt Aleppo stürzten etliche mehrgeschossige Häuser wohl nur deshalb ein, weil sie bereits von dem Krieg angeschlagen waren, der in dieser Gegend bekanntlich seit vielen Jahren wütet. Der Stadtrat warnte die Leute ausdrücklich, in solche wackligen Kästen zu ziehen, aber stabile Kästen ohne Krieg hatte er anscheinend auch nicht zu bieten. Hier drängt sich der Verdacht auf, die meisten »Erdbeben« auf diesem Planeten seien sozusagen hausgemacht.

Inzwischen befasse ich mich schon seit vielen Jahren besonders gründlich mit Frühverstorbenen. Ich kann Ihnen versichern, wenn Sie Tausende, womöglich sogar Zehntausende von Biografien nach Alter und Todesursache durchgehen, bedarf es eines dicken Felles, sofern man sich seine unbefangene Lebensfreude bewahren möchte, falls sie bis dahin vorhanden war. Die Rate der mehr oder weniger zu früh Verstorbenen, also vorwiegend durch Krieg oder sonstigen Mord und Totschlag, Selbstmord, Krankheit und Unfall umgekommenen Menschen ist enorm. Das Erschreckende oder jedenfalls Erstaunliche daran hat mehrere Seiten. So war ich mir einst gar nicht darüber im klaren, wieviele unterschiedliche Arten von insbesondere Krankheiten und Unfällen es gibt. Es scheint soviele zu geben, daß sie praktisch überall lauern. Auffällig ist allerdings die Häufung der Verkehrsunfälle in der Moderne.*** Man gewinnt den Eindruck, die Leute würden nur Politiker, Schauspieler, Sportler oder sonst ein Prominenter, um sich möglichst rasch totzufahren oder totzufliegen. Gewiß ist hier Vorsicht vor Verallgemeine-rungen geboten, vor einem verzerrten Bild mithin, weil ja in den veröffentlichten Werken oder Listen, aus denen man seinen Stoff bezieht, in der Tat fast ausschließlich Prominente stehen, weibliche selbstverständlich eingeschlossen. Möglicherweise haben sie für ein vorzeitiges Ableben eine günstigere Disposition als der wenig bekannte Politiker, Schauspieler, Sportler oder ganz allgemein der unbekannte normalsterbliche Mensch. Ich glaube es freilich nicht. Ich fürchte, jene erschreckende Rate spiegelt grob die Gesamtbewegung wider. Allerdings hätte ich Schwierigkeiten, die Höhe dieser Rate irgendwie anschaulicher zu machen, durch Prozentzahlen oder Bilder etwa. Es dürfte selbst für MathematikerInnen und StatistikerInnen ein sehr schwieriges, wenn nicht unmögliches Unterfangen sein, eine halbwegs gesicherte Feststellung zu treffen wie etwa: 35 Prozent der Menschheit sterben zu früh. Wie wollte man diese gewaltige Datenmenge an Toten aus allen Jahrhunderten ausloten? Und woran mäße man Frühe? Die bekannten fragwürdigen Werte der »statistischen Lebenserwartung« der jeweiligen Epoche sind dabei wahrscheinlich so hilfreich wie ein Sieb beim Schöpfen von Luft. Und meine neulich per Dekret verordnete Grenze, jede Leiche unter 40 sei ein Frühverstorbener, ist noch viel weniger als ein Notbehelf.

Bleiben wir einstweilen bei dem Problem der Abgrenzung. Schon die Bestimmung der Todesursachen zwecks Packens in unterschiedliche Schubladen stößt häufig auf große Schwierigkeiten. Ist es kein Unfall, wenn ich in einer schlecht beleuchteten Seitenstraße, die ich eher zufällig genommen habe, einem Raubmörder in die Arme laufe? Fälle wie das von Victor Klemperer erwähnte Unglück Delekat juniors sind eher selten. Dem 13jährigen Sprößling eines Dresdener Theologen fiel im Sommer 1934 auf dem Schulhof eine Dachziegel auf den Kopf, die vermutlich nachweislich nicht von seinem Rektor mit der Fußspitze von den Dachlatten oder von den Bohlen des Baugerüstes gekickt worden war. Solche Fälle sehen also recht eindeutig nach Unfall aus, falls man nicht Gott verdächtigen will. Steckte sich aber der 23 Jahre alte Medizinstudent Georg Büchner knapp 100 Jahre früher, 1837, in der Uni oder zu Hause an seinen selbstgefertigten (anatomischen) Präparaten mit Typhus an – erlag er dann einer Krankheit oder einem Unfall? Die heute übliche Abgrenzung Unfall – Krankheit kommt mir jedenfalls ziemlich fragwürdig, in vielen Fällen sogar einfach müßig vor. Danach muß das »Unfallereignis« ungewöhnlich sein und überraschend und kurzzeitig auftreten. Demnach wären die erwähnten Verkehrsunfälle Krankheiten, finden sie doch am laufenden Band statt. Auch der Tuberkulose-Bazillus, dem über Jahrhunderte hinweg viele Millionen Menschen zum Fraße fielen, vom Poeten bis zum Proleten, hat selbstverständlich keine Chance, in einem bislang noch nicht vorliegenden Lexikon der Unfallopfer gewürdigt zu werden. Ähnlich Syphilis, die »Lustseuche«, oder die sogenannte Spanische Grippe. Ein Bordellbesuch ist schließlich weder ungewöhnlich noch überraschend, höchstens kurzzeitig. Aber wie steht es mit Raritäten?

Der US-Schriftsteller Raymond Abrashkin stirbt 1960 mit 49 an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) – Sie wissen Bescheid? Die Berliner Psychotherapeutin Angelika Birck fällt 2004 mit 32 einem Zerebralen Aneurysma (Arterienerweiterung im Hirn) zum Opfer. Der englische Fußballer Gary Ablett erliegt 2012 mit 46 Jahren einem Non-Hodgkin-Lymphon, wohl eine Form von Blutkrebs. Auch die Wegener-Granulomatose ist eine vergleichsweise seltene Erkrankung (des Gefäßsystems), die bei Nichtbehandlung noch heute garantiert in wenigen Monaten zum Tod führt. Statistisch betrachtet, befällt sie, laut Wikipedia, unter 100.000 Menschen ungefähr fünf bis sieben, dabei vorwiegend Männer. Einer dieser verunfallten Männer, wie man doch mit einigem Recht formulieren könnte, war der vor allem durch seine Arbeiten über elektromagnetische Wellen berühmte Bonner Physik-Professor und Beflügler der Rundfunktechnik Heinrich Hertz, der 1894 mit 36 Jahren starb. Man benannte später, unter anderem, den Hamburger Fernsehturm nach ihm, der allerdings ungleich mehr ins Auge sticht als eine Erkrankung an der Wegener-Granulomatose. Bei der österreichischen Schauspielerin Elfriede Datzig kam (1946) eine peinliche Verschiebung vor. Die 23jährige war wegen einer Lungen- und Rippenfellentzündung mit Penizillin behandelt worden, auf das sie allergisch reagierte, worauf sie starb. An der Krankheit wäre sie womöglich nicht gestorben. Neuerdings haben wir aus diesem Fach die Impftoten.

Anna Rehlinger brachte es immerhin auf 42, bevor sie (1548) an der Geburt des elften Reichsgrafensprößlings verendete. Man hatte sie mit dem Augsburger Stadtrat und Geldsack Anton Fugger verheiratet. War das nun ein Unfall? Und wäre ihr Tod beim siebten Kind noch kein Unfall gewesen? Oder sollte man nicht lieber jene Verheiratung als das entscheidende Unglück ansehen? Oder den Zeitpunkt ihrer eigenen Geburt, die leider noch nicht in die Epoche der offen gehandelten Verhütungs-mittel gefallen war?

Man sieht also, das Thema Unfall ist wieder einmal von einer ausgedehnten Grau- und Gummizone umgeben, in der jeder Autor nur straucheln und sich das Bein brechen oder sich den Vorwurf der Kompaßlosigkeit, damit der Willkür einhandeln kann. So wird man in der Regel Unfälle, die einer geradezu herausfordert, etwa ein Bergsteiger oder ein besessener Jogger, nicht berücksichtigen, aber manchmal eben doch, weil sie zu sprechend für den Geisteszustand des denkenden Zweibeiners oder einer bestimmten Epoche sind. Selbst die sträfliche Ausklammerung der planetarischen Krankheit Nr. 1 Krieg wird keinem konsequent gelingen, wie sich ja eingangs bereits angedeutet hat. Um es aber nicht zu verschweigen, sieht sich der Autor zuweilen auch nur deshalb gezwungen, ein Unfallopfer auszusparen, weil die Quellenlage zu schlecht ist. Im Bereich der sogenannten Arbeitsunfälle herrscht diese Dürre besonders gnadenlos. In der Regel sind die tödlich verunfallten Stahlwerker oder Zimmerinnen einfach zu unwichtig, um in Büchern oder auch nur der Lokalpresse erwähnt zu werden. Man muß schon Professor oder Baurat sein. Damit spiele ich auf den Architekten Gottfried Bandhauer aus dem Fürstentum Anhalt-Köthen an, der kürzlich in dieser Räuberpistole gestreift worden ist.

Ich komme noch einmal auf Unglücke zurück, die streng genommen weder Unfall noch Zufall sind. Der Mensch bereitet sie sich vielmehr selber. Dabei scheint auch in diesem Bereich der »Fortschritt« zu greifen: die hausgemachten Unglücke nehmen im Zug der Geschichte immer größere oder heftigere Ausmaße an. Kenterte in der Steinzeit mal ein Floß, ging nicht gleich das ganze Neandertal drauf. Die Fregatten zu Kolumbus' Zeiten hatten da schon eine andere Kragenweite. Zu den wenigen verarbeitungswürdigen Früchten meiner Lektüre des 1883 erschienenen Buches The Story of My Heart des englischen Schriftstellers Richard Jefferies zählt die Erwähnung eines Aufsehen erregenden zeitgenössischen Schiffbruchs. Auf der Themse in London war der mit mehr als 800 Leuten überfüllte Ausflugraddampfer Princess Alice am 3. September 1878, wohl aufgrund eines Fahrfehlers des Kapitäns, mit dem riesigen Kohlefrachter Bywell Castle zusammengestoßen. Die Alice brach in zwei Stücke und sank innerhalb weniger Minuten. Es gab rund 640 Tote, überwiegend Frauen und Kinder. Die meisten Fahrgäste hatten sich unter Deck und damit gleichsam in Gefangenschaft befunden. Aber auch von den 100 bis 170 Überlebenden wurde womöglich nicht allen der Zustand des Pudelwohlseins zuteil. Dutzende der Schiffbrüchigen waren nämlich in die Themse geworfen worden, die damals gerade an dieser Stelle, wegen der Kläranlagen und Fabriken am Ufer, »an vielen Tagen einer Kloake«, vielleicht auch einem Giftfaß glich.**** 1912, als die Titanic unterging, fielen bereits 1.500 Tote an. Die Mammutisierung der Welt, so meine persönliche Bezeichnung, forderte ihr Recht. Die beiden Atombomben, die die Yankees 1945 auf den japanischen Inseln erprobten, schlugen allerdings ungleich heftiger durch. Daran gemessen, waren die knapp 3.000 Toten von 9/11 (2001) geradezu Peanuts. Ich erwähne das nur, weil mir diese »Katastrophe« ebenfalls ziemlich hausgemacht vorkommt.

Leider dürfte es auch in dieser Hinsicht sehr schwierig sein, alle grob fahrlässig oder mutwillig herbeigeführten Krankheiten, Unfälle, Katastrophen und dergleichen zu erfassen und in einer bündigen Zahl denen gegenüber zu stellen, die wahrscheinlich auch dann geschehen wären, wenn unser Planet von lauter vernunftbegabten Zwei-beinern besiedelt wäre. Für die Neuzeit will ich aber einmal schätzen: 85 zu 15 Prozent. Warum das so ist, sol-len andere erklären. Jedenfalls befürchte ich, der Mensch sei von der Anlage her nicht nur Sadist, sondern auch Masochist. Und dann gibt es noch ein paar Essayisten …

* https://www.nachdenkseiten.de/?p=93570
** Die fetten und die mageren Jahre, Erinnerungen, Leipzig 1946,
S. 296
*** Voran im Straßenverkehr. Diesbezüglich sprach Die Welt 2013 von jährlich schätzungsweise 1,24 Millionen Toten (ohne Verletzte und Traumatisierte!) weltweit. Die Tendenz sei steigend. 2030 fielen wohl schon, nach Vorhersagen, 3,6 Millionen an: https://www.welt.de/motor/article121099612/In-diesen-Laendern-gibt-es-die-meisten-Verkehrstoten.html, 22. Oktober 2013. Nebenbei warne ich vor der Unschärfe zwischen Straßen- und dem übrigen Verkehr; sie ist sehr verbreitet.
**** Werner Huff, »Rückblende«, Südkurier, 20. Oktober 2017: https://www.suedkurier.de/region/hochrhein/kreis-waldshut/Rueckblende-1878-sterben-bei-Schiffsunglueck-auf-der-Themse-640-Menschen;art372586,9462270

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