Dienstag, 31. Januar 2023
Ellen mit voller Kraft voraus

Siehe da, meine grüne Ellen ist Fraktionssprecherin im Landtag geworden. Aber das war zu erwarten. Ihr Sprung nach Berlin wird sich vermutlich ähnlich behende gestalten wie ihr Entern meines Kutters. Vielleicht thront sie demnächst im Bundesaußenamt und bläst zur Jagd auf den russischen Bären. Kraftvoll ist sie ja noch, wenn ich den bebilderten Berichten trauen kann. Das Entern ereignete sich vor rund 20 Jahren. Der Kutter lag im Becken des kleinen, kaum noch genutzten Saalehafens der ehemaligen Hansestadt Schöpfenweida. Ein paar liebevoll und steuergünstig restaurierte Bürgerhäuschen mit Treppengiebeln schlossen den Hafen zur Stadt hin ab. Den Kutter hatte man eigens so vertäut, daß er lediglich durch einen kurzen Steg erreichbar war, der bei Bedarf eingezogen werden konnte, wie eine mittelalterliche Zwergzugbrücke. Schließlich wollte man dem Schöpfen-weidaer Hafenschreiber trotz der exklusiven Lage des Kutters Abgeschirmtheit bieten. Der Hafenschreiber war damals ich. Die junge, wohl blonde Frau hatte ordnungsgemäß die Glocke betätigt, die man am Hafenkai aufgehängt hatte. Ich guckte zunächst nicht genau hin, weil ich in meiner Kajüte gerade den Artikel über die Riesenruhestörung auf dem Gartenfest verfaßte. Damit gedachte ich Franz Orkenburgs Ehre zu retten, der unversehens mit einer mächtigen Axt auf dem Gartenfest erschienen war. So machte ich lediglich eine unwirsche Handbewegung zum Bullauge, während ich weiterschrieb. Da trat die Einlaßbegehrerin doch tatsächlich ein paar Schritte zurück – freilich nur, um tüchtig Anlauf zu nehmen. Schon flog sie mit wehendem Haar und ihrer wippenden beachtlichen sogenannten Oberweite über immerhin 1 Meter 50 vom Kai aus auf mein Deck. Aufgerappelt, fauchte sie mich durchs Bullauge auch noch trotzig an. Sie konnte kaum 18 sein. Da war ich natürlich gleich Feuer und Flamme.

Während ich Kaffee aufbrühte, erklärte sie mir, die Tochter des Schöpfenweidaer Bürgermeisters zu sein, aber der sei ein Schuft, wie sie endlich herausgekriegt habe. »Na, na, na …«, sagte ich mißbilligend. »Bedenken Sie bitte, daß ich der Stadt Schöpfenweida diesen nicht übel dotierten Posten verdanke.«

Sie winkte nun gleichfalls unwirsch ab. »Mein lieber Papa ist korrupt bis ins Mark. Ich habe jetzt die Beweise. Und Ihre Pflicht als Hafenschreiber ist es selbstverständlich, seine Machenschaften zu enthüllen, damit ihm das Handwerk gelegt werden kann. Sie sehen das ein ..?«

Ihr Eifer betörte mich ohne jeden Zweifel. Wie sich herausstellte, hatte ihr Erzeuger (angeblich) vor allem Hilfsgelder für das Söhnchen einer neulich erstochenen jungen türkisch-stämmigen Bürgerin veruntreut und sogenannte Altlasten auf seinem neuen Villengrundstück vorgetäuscht. Beides brachte ihm allein rund zwei Millionen an Spenden oder Subventionen ein. Nebenbei habe er Ellens Mutter schändlich behandelt und wegen einer »Modepuppe« sitzen gelassen. Die Ehe war bereits geschieden. Ellen wohnte inzwischen mit der Mutter zusammen. Nur an diesem Tag, an dem sie mir dies alles offenbarte, kam sie nicht nach Hause. Sie brachte über nacht meinen Kutter ins Schaukeln, obwohl draußen kaum ein Lüftchen ging.

Vielleicht haben es ältere LeserInnen damals schon den Medien entnommen: der Bürgermeister mußte gehen – sogar in den Knast. Ich hatte einen langen Artikel in der Thüringer Allgemeinen untergebracht, der sich als niet- und nagelfest erwies. Ich durfte sogar den auf sechs Monate ausgeschriebenen Posten im Hafen bis zum Ende der Frist bekleiden, weil eine Mehrheit des Stadtrates hinter mir stand. Das garantierte mir immerhin noch manches Vergnügen mit meiner blonden, vollbusigen Beweislieferantin. Nur bald darauf kam doch der Vater wieder bei ihr durch. Sie übernahm die Führung der Schöpfenweidaer Grünen und machte zielstrebig Karriere. Aber da hatte ich mich bereits mit Franz zusammengetan, um hinfort, statt der Literatur, dem Lärmschutz zu dienen.

Das fing mit dem eingangs erwähnten Gartenfest an. Einige Tage vor Ellens erstem Besuch bei mir, diesmal am frühen Abend, setzte plötzlich ein stampfendes Wummern elektronischer Popmusik ein, das anscheinend gar nicht mehr abreißen wollte. Es kam vom Fluß her. Durch diesen noch verstärkt, brachten die Schallwellen meinen Kutter fast zum Kentern. An Arbeit war nicht zu denken. Es blieb einem gar nichts anderes übrig, als unablässig auf das stampfende Wummern zu achten. Schließlich ging ich zum Ufer und stellte unschwer fest, in einem Villengarten auf dem jenseitigen Ufer wurde lautstark gefeiert. Nach 10 Minuten des ohnmächtigen Hinüberstarrens war ich bereits platt wie eine Flunder. In der Hoffnung, ich könne vielleicht Gnade erlangen, machte ich mein Fahrrad von der Kutterreling los und steuerte die Saalebrücke an.

Einst hatte es auch einen Fährbetrieb zwischen den beiden Schöpfenweidaer Stadtteilen gegeben – längst stillgelegt. Es wäre sicherlich wirkungsvoller gewesen, in dem besagten Garten per Boot statt auf dem Fahrrad einzutreffen. Die Brücke selber war noch vergleichsweise jung, sodaß Hoffnung bestand, sie werde unter meiner wütenden Anfahrt nicht gleich zusammenbrechen. Glauben Sie nicht, ich übertriebe. Ich hatte erst kürzlich einen Aufsatz bei den Schöpfenweidaer Heimatblättern eingereicht, der den Einsturz der hiesigen, damals beinahe nagelneuen Schrägketten-Hängebrücke im Jahr 1825 behandelte. Sie stammte vom Architekten Gottfried Bandhauer. Das Unglück sorgte für 55 Tote und etliche Verletzte. Mehr noch, stürzte bald darauf auch das Glockenturmgerüst von Bandhauers neuer Marienkirche in Köthen ein, einem klassizistischen Zentralbau, der noch heute oft fotografiert wird. Den Turm ließ man, nach dem Unglück, lieber weg. Die Katastrophe auf der Kettenbrücke wurde immerhin nicht dem Konstrukteur, vielmehr dem Kettenhersteller und der fahrlässigen Belastung durch einen Fackelzug mit Musik angekreidet. Der Gerüst-einsturz hatte sechs oder sieben Arbeitern das Leben gekostet und weitere Arbeiter zu Krüppeln gemacht. Von sämtlichen Opfern beider Unglücke ist in den Quellen, soweit sie mir damals zugänglich waren, buchstäblich nichts zu erfahren. Diese über 60 getöteten Schaulustigen, Musikanten und Handwerker sind gewissermaßen nur als Statisten, als Zahlen in die Geschichte eingegangen, im Gegensatz zu Bandhauer. Übrigens wurde dem Architekten von Herzog Heinrich eine Unterstützung (von 400 Talern jährlich) gewährt, nachdem 1834 ein Verfahren gegen ihn, wegen jenes Arbeitsunfalls, niedergeschlagen worden war. Vielleicht war Bandhauer erkrankt. Er starb bereits 1837, mit 47 Jahren, und ob und in welchem Maße dabei Gram eine Rolle spielte, weiß offenbar keiner mit Sicherheit zu sagen. Man kann natürlich einwenden, vermutlich sei Bandhauer von niemandem gzwungen worden, ausgerechnet Baumeister zu werden, also gleichsam von Berufs wegen zeitlebens mit einem Bein im Grab oder im Gefängnis zu stehen. Für HafenschreiberInnen oder Kosmonauten gilt sicherlich das gleiche.

Bei dem Gartenfest wurde es in der Tat gefährlich, als ein baumlanger, hagerer Kerl Mitte 30 mit einer langstieligen Axt in der Hand auftauchte. Meine Bitten, das stampfende Wummern entschieden zu dämpfen, waren selbstver-ständlich an den ungefähr brusthohen Lautsprecherboxen zerschellt. Nun handelte der Kerl, der anscheinend in der Nähe wohnte, wie ein Mann. Es war natürlich Franz Orkenburg. Zunächst riß er die Kabel aus den Boxen, dann hieb er die beiden Boxen mit seinem Beil zu Brei. Durch die jähe Stille machte sein Auftritt sicherlich großen Eindruck. Aber dann zückte einer aus der Villa sein Handy und teilte der Polizei mit gehetzten Worten mit, hier sei ein Verrückter mit riesiger Axt aufgetaucht, der das Zeug zum Massenmörder habe. Franz saß inzwischen neben mir auf einer Hollywood-Schaukel und nahm dankbar meine Glückwünsche für sein beherztes Eingreifen entgegen. Er erläuterte mir im Gegenzug, diese folternden Feste veranstalteten die halbwüchsigen Sprößlinge der Villenbesitzer in jedem Sommer, sobald die elterliche Yacht außer Sicht sei. Proteste hülfen nichts, auch an den meisten Schöpfenweidaer BürgerInnen scheine solch ein markerschütternder Lärm abzuprallen. Vielleicht hatten sie gar kein Mark. Die Polizei nahm uns gleich beide mit.

Wir hatten auf der Wache genügend Muße, um uns näher miteinander bekannt zu machen. Franz, von Hause aus Wasserbau-Ingenieur, versuchte sich seit einiger Zeit auf unterschiedlichen Gebieten als Erfinder. Kleinere Erfolge hatte er bereits erzielt. Jetzt entwickelten wir fast aus dem Stegreif den Plan zu einem wirkungsvollen Gehörschutz, der die bekannten Bügel mit den fetten, jedoch starren Muscheln aus Plastik an beiden Enden seemeilenweit in den Schatten stellen sollte, wie sich nach wenigen Monaten zeigte. Wir gründeten eine Firma und nahmen in einer stillgelegten Hammerschmiede, die preiswert zu haben war, die Produktion auf. Ich wurde der »Werbechef« der neuen Firma. Unser Produkt, das auch tatsächlich an Brötchen erinnern konnte, ging weg wie warme Semmeln. Die Strafe für Franz' Happening auf dem Gartenfest zahlten wir aus der Portokasse.

Alle bis dahin unternommenen Versuche, Lärm mit diversen Ohrenstöpseln abzuwehren, waren kläglich gescheitert. Die schon erwähnten Gehörschutzbügel dämpften zwar einigermaßen, doch dafür waren sie in mehrfacher Hinsicht überaus lästig. Sie drückten, juckten, schwitzten, und wer sie hoffnungsfroh in der Nacht im Bett benutzen wollte, holte sich etliche Beulen, nur keinen Schlaf. Ohrenschmaus dagegen schmiegte sich sowohl den Ohren wie dem Kopfkissen an. Ein Bügel war überflüssig, weil unser säckchenartiger Schutz kurzerhand übers jeweilige Ohr gestülpt und hinter ihm, mit Schleife, zugebunden wurde. Insofern erinnerte unser Produkt an Präservative. »Kern« der Säckchen war jedoch ein natürlicher Schwamm, den Ellen, ja Ellen, in der finnischen Tundra aufgetrieben hatte. Wir ließen ihn gleich bio-zertifizieren. Er war derart schallschluckend, daß er sogar in der ehemaligen Hammerschmiede gewirkt hätte. Selbst für hartnäckige, nie oder nicht immer auf dem Rücken liegende »SeitenschläferInnen« erwies er sich aufgrund seiner Anschmiegsamkeit als Wohltat. Wir bekamen diesbezüglich Tag für Tag per Elektropost Lobeshymnen ins Haus.

Ellen war grafisch begabt und hatte deshalb inzwischen auch ein Design-Studium aufgenommen. Für Ohren-schmaus entwickelte sie diverse Handbemalungen, die bei vielen Kunden geradezu Entzücken hervorriefen. In einer bekannten Talkshow wurde diese Gestaltung sogar von Clown Peter Shub gerühmt, der ja, von Hause aus, nicht umsonst Pantomime, also ein großer Freund der Stummheit ist.

Aber wie es so geht im Liebesleben. Ellen wurde meiner überdrüssig und schaffte sich auch die Handbemalerei vom Hals. Dafür ging sie in die Politik. Und ich Esel hatte ihr die Steigbügel gehalten.
°
°