Montag, 10. Juni 2024
Risse im Brockhaus 22

Der DDR-Schriftsteller Kurt Barthel, genannt Kuba (1914–67), kommt im Brockhaus, vor allem wegen seiner umfangreichen »Parteidichtung«, nicht gerade gut weg. Allerdings wäre ich auch nicht verblüfft, wenn alte SED-AnhängerInnen mit dem Vorwurf zurückschlügen, der stets linientreue Genosse, zeitweise Erster Sekretär des Schriftstellerverbandes und zuletzt Chefdramaturg in Rostock, sei von einer westdeutschen antiautoritären Bande namens SDS um die Ecke gebracht worden. Die Sache kam so: Am 12. November 1967 hatte sich Barthel im Rahmen einer Gastspielreise mit dem Rostocker Volkstheater und der Revolutionsrevue 50 Rote Nelken auch im Zoo-Gesellschaftshaus zu Frankfurt/Main eingefunden. Hier erhoben sich unter den rund 1.000 Zuschauern Tumulte, die just der SDS angezettelte hatte, weil ihm das Gebotene, so der Spiegel 48/1967, zu zahm war. Dabei erlitt der 53jährige Spielleiter, der freilich schon länger krank gewesen sein soll, einen tödlichen Herzanfall.

Ich besitze sogar einen Auswahlband mit rund 70 Gedichten Kubas.* Und mehr noch, ich quälte mich hindurch. Kubas kommunistische Frömmigkeit ist wirklich starker Tobak. Trotzdem bereue ich die Lektüre nicht. Auf Seite 185 stieß ich erstaunt auf das einzige Gedicht, das mich nicht nur nicht folterte oder langweilte, sondern das ich nach wie vor überragend finde. Da es im Internet nur verballhornt auftritt, schadet es nichts, wenn ich es mitteile. Die Schrägstriche ersetzen Zeilenumbrüche.
>Sagen wird man über unsere Tage: / Altes Eisen hatten sie und wenig Mut, / denn sie hatten wenig Kraft nach ihrer Niederlage. / Sagen wird man über unsere Tage: / ihre Herzen waren voll von bitterem Blut. / Und ihr Leben lief auf ausgefahrenen Gleisen, / wird man sagen – / Und man wird auf gläsernen Terrassen stehn – / Und auf Brücken deuten – / Und auf Gärten weisen – / Und man wird die junge Stadt zu Füßen liegen sehn / und wird sagen: / Die den Grundstein dazu legten / wurden ausgelacht und hungerten, / und doch / planten sie und bauten und bewegten / Trümmersteine. / Und im überlegten Handeln / fluchten sie. / Ach, / zweifelten noch ihre eigene Kraft an. // Denn ein böses Erbe, / Krieg und Kriegsbetrug verwirrte ihren Sinn. // Doch den Kriegen folgte jene Zeit der Wettbewerbe, / und die Zeit der Wett-bewerbe / war der Anbeginn.<

Ich kann in diesem Werk keine Spur von Beweihräu-cherung oder Großmäuligkeit entdecken. Es feiert das Durchhalten beim (angeblichen) Aufbau des Sozialismus auf nüchterne, berechtigte, dazu noch einfallsreiche Weise. Es atmet ein mühsam errungenes Selbstbewußtsein, das mich keineswegs anwidert, vielmehr beeindruckt. Nun gut. Beim Verfasser persönlich mag sich das anders verhalten haben, sonst hätte er bei meiner Lektüre wohl eine bessere Erfolgsquote als 0,7 Prozent erzielt.

Wie ich dem Nachwort von Günther Deicke entnehme, stammte Barthel von einem Dorf bei Chemnitz, in dem die Armut zu Hause war. Die Mutter nähte in Heimarbeit Handschuhe, während er seinen Vater, einen Eisenbahnarbeiter und zuletzt Frontsoldaten, bereits verlor, als er selber erst sechs Monate alt war. Später wurde er sozialistisch gestimmter Malerlehrling. Aber da kam auch schon der Anstreicher aus Braunau ans Ruder. Kuba tauchte ab. Von da an war sein großer Halt offensichtlich die Partei. Jetzt hießen seine Väter Ulbricht, Stalin und dergleichen mehr. Vielleicht auch Alfred Kurella?

* Kuba, Gedichte, Ostberlin 1952, rund 250 Seiten, 1. Auflage 30.000, Stückpreis 4 DM



Das publizistische Wirken des Westdeutschen Erich Kuby (1910–2005) ist mir sicherlich lieber als die Propaganda Kubas. Brockhaus widmet dem bekannten linken Journalisten und Buchautor immerhin 15 Zeilen. Dessen mit Abstand erfolgreichstes Werk Rosemarie übergeht das Lexikon allerdings. Zur Zeit von Brockhaus-Band 12 (1990) war Kuby noch putzmunter. Er starb mit 95 in Venedig, wo er, mit seiner zweiten, beträchtlich jüngeren Ehefrau Susanna Böhme-Kuby, seit ungefähr 1980 vorwiegend lebte. Mit ihr zeugte er sogar noch ein Kind. Mit seiner ersten, 1938 geheirateten Frau Edith Schumacher, einer Bildhauerin, hatte er auch schon vier Kinder. Das geht natürlich ins Geld. Aber für ein Leben als Bettler oder Mönch war Kuby ohnehin ungeeignet. Selbst sein bissiger Bericht (von 1951) über eine Cocktailparty auf dem Landsitz des angeblich sozialistischen Marschalls Tito verrät, daß Kuby persönlich für die Verlockungen erlesenen Genußreichtums keineswegs unempfänglich war. Das bestätigte ihm später (in einem Nachruf) auch sein Kollege aus der stern-Redaktion Günther Schwarberg. Kuby sei gewiß »der einfallsreichste Journalist« gewesen, hätte es freilich »mit den großen Namen und der feinen Lebensart« gehabt. Kubys gutes Gespür für den Lebenswandel der Oberen Zehntausend geht selbstverständlich auch aus jenem erfolgreichen Buch über eine Prominenten-Gespielin (Rosemarie) aus Frankfurt/Main hervor. Andererseits betont er in seiner dickleibigen Aufsatzsammlung von 1989, neben dem »aktiven Musizieren« sei es ihm immer wichtig gewesen, handwerklich zu arbeiten, so am elterlichen Gehöft in Bayern, später an seinem ehemaligen Fischerhäuschen auf einer jugoslawischen Adriainsel. Damit habe er versucht, der Lebensfremdheit entgegenzuwirken, die sehr viele seiner Zunft auszeichnet.

Kuby war gut verdienender Redakteur unter anderem bei Süddeutscher Zeitung, Spiegel, stern gewesen, doch den meisten Gewinn und Ruhm trug ihm das bereits erwähnte Buch Das Mädchen Rosemarie von 1958 beziehungsweise dessen Verfilmung (mit Nadja Tiller, Mario Adorf, Gert Froebe, Peter van Eyck) aus demselben Jahr ein. Die 24jährige »Edelhure« Rosemarie Nitribitt war im Jahr zuvor in Frankfurt/Main ermordet worden. Von diesem bis heute unaufgeklärten Kriminalfall angeregt, prangerte Kuby Habgier, Heuchelei und Doppelmoral in Ludwig Erhards Wirtschaftswunderdeutschland an. Im Vorwort zu meiner DDR-Ausgabe von 1988 erwähnt der Autor, sein zumeist als Roman bezeichneter Wurf über Rosemarie habe damals binnen zweier Jahre 17 Übersetzungen erlebt, »sogar ins Japanische«. Doch für mein Empfinden mangelt es diesem Text über die Sinnlichkeit an Sinnlichkeit. Er fesselt wenig. Vermutlich brachte er es vor allem deshalb zum »Renner«, weil die KäuferInnen auf den »geilen« Inhalt scharf waren, den sie sich (gemäß der zeitgenössischen Prüderie) von ihm versprachen. Wenn ja, wurden sie enttäuscht. Mehr noch, verärgert das Buch sogar durch einige Längen. Stark ist es in den Zügen Betrug, Erpressung, Industriespionage und Kalter Krieg, die es dem um ein »Isoliermattenkartell« gerankten Mordfall verleiht. Diese Freiheit nimmt sich Kuby, doch den Mord selber (und die TäterInnen) spart er aus, was erneut nur zur Enttäuschung des Lesers beitragen kann. Wahrscheinlich krankt sein Werk über die Prostituierte Rosemarie an dem Umstand, weder Fisch noch Fleisch zu sein, also weder Reportage noch Roman.

1989 brachte Kuby eine umfangreiche Sammlung journalistischer Arbeiten unter dem Titel Mein ärgerliches Vaterland heraus. Etliche Beiträge zeugen von bemerkenswerter Hellsicht, so wenn Kuby 1950 vor den drohenden Verheerungen massenmedialer »pausenloser Unterhaltung« warnt, 1954 die Anfälligkeit des »Konsumenten« für die »Perfektion der Technik« beklagt, ab 1958 wiederholt das fraglose Inkaufnehmen von jährlich mehreren Tausend Autoverkehrstoten erwähnt und 10 Jahre später auf eine westliche Doppelmoral hinweist, die Revolutionen plötzlich liebenswert findet, sofern sie im Prager Frühling ausbrechen. Die xte Auflage davon haben wir neulich in Kiew erlebt. Andererseits unterlaufen Kuby naturgemäß auch ein paar Fehleinschätzungen. Die gravierendste (Kubys Lieblingsfremdwort) betrifft den sozialdemokratischen russischen Wolf im Schafspelz, Gorbatschow. Dafür machte er sich über die Ikone vieler Sozialisten oder Trotzkisten Tito keine Illusionen, wie ich bereits angedeutet habe. Seine eigenen Vorstellungen einer »alternativen« Gesellschaft bleiben verschwommen. Im Grunde seines Herzens dürfte er jedenfalls nie Umstürzler, vielmehr Reformist gewesen sein. Auch Kuby wirbt dafür, sich für die jeweiligen Übelchen stark zu machen, wie ich sie einmal genannt habe. 1987 versteigt er sich sogar zu diesem interessanten Vergleich: »Also was tun? Kleinere Brötchen backen, wenn das große Brot nicht gebacken werden kann? Ist das Opportunismus? Natürlich, aber kein egoistischer, jedenfalls generell nicht. Wer als Grüner mitmischt, tut es nicht, weil es angenehm ist, Abgeordneter oder gar Minister zu sein; er tritt in die SS ein, um das Schlimmste zu verhüten. Ein böser Vergleich? Gewiß. Bös, aber nicht falsch!«

Für mich hinkt dieses Urteil nur, weil Leute wie Baerbock oder Habeck inzwischen selbstverständlich durchaus MachtliebhaberInnen, PründejägerInnen, Karrieristen sind. Aber Faschisten sind sie auch schon fast. Was Kuby angeht, ist er immerhin nie selber in den zahlungsfreu-digen Staatsapparat »eingetreten«. Er schrieb und veröffentlichte bis kurz vor seinem Tod. Seine Kolumne »Der Zeitungsleser« erschien noch 2003 im Wochenblatt Freitag. Er hielt bis zuletzt an der vertrauten Schreibmaschine fest, schickte die Texte allerdings per Fax an die Redaktion. Weiter heißt es, er habe bis zu seinem Tod (2005) gezeichnet und aquarelliert. Von Krankheiten, Gebrechen, Schmerzen wird nichts berichtet. Selbst die Bombardierung Venetiens, das seit Jahrzehnten Sezessionsgelüste zeigt, durch die Nato blieb ihm erspart.



Auf der bösen Seite gibt Brockhaus den Porträt- und Historienmaler Gerhard von Kügelgen (1772–1820) als »ermordet« aus; auf der guten bildet er ein Gemälde ab, das Friedrich Schiller als blonden Freiheitskämpfer mit roter Schärpe, allerdings auch etwas ungesunder Gesichtsfarbe zeigt. Im Gegensatz zum Mannheimer Gelehrten und Dramatiker August von Kotzebue (ein Jahr früher) war der Dresdener Maler ein Zufallsopfer. Hätte sich Kügelgen am für ihn verhängnisvollen Märznach-mittag 1820 nicht zu einem inspizierenden Fußmarsch zu seinem vor der Stadt gelegenen kleinen Weingut entschlossen, wäre »der erste beste«, den der Raubmörder an diesem Tage zu überfallen gedachte, jemand anders gewesen. Wenige Monate vorher hatte es, in derselben Gegend bei Loschwitz, einen armen Tischlergesellen getroffen. Das fiel dem Publikum und der Polizei freilich erst wieder ein, nachdem ein hochangesehener, jetzt nahezu entkleideter Professor der Dresdener Kunstakademie in seinem Blute im Gestrüpp unweit der Landstraße nach Bautzen lag. Der 48jährige war (mit einem Beil) erschlagen, dadurch auch entstellt worden.

Dabei soll er ein ausgesprochen schöner, zudem umgänglicher und gütiger Mann gewesen sein, wie in einer schon etwas älteren Fallsammlung* versichert wird. Auch die Zerrissenheit, die man so oft bei Künstlern finde, habe den Vater dreier Kinder nie gequält. Kügelgen habe sich sowohl als Gatte wie als Maler und Lehrer rundum glücklich geschätzt. Den Grundstock seines hohen Rufes und seines beträchtlichen Vermögens hatte er (1804) aus St. Petersburg mitgebracht, wo er die Zarenfamilie und deren Hofstaat gemalt hatte. In Dresden mauserte sich Kügelgens viergeschossiges Stadthaus Gottessegen in der Hauptstraße zum Treffpunkt von allem, was in der ostdeutschen Frühromantik Rang und Namen hatte. Viele von diesen Personen verewigte er in Öl, voran die unverzichtbaren Stars Goethe, Schiller, Wieland, Kotzebue, wie schon angedeutet, aber auch seinen Freund und Schüler Caspar David Friedrich.

Neuerdings hatte sich Kügelgen jenes Weingut zugelegt, in dem ihm Maurer gerade ein Atelierhaus bauten. Nun zahlte er Wochenlöhne aus, gab neue Anweisungen und machte sich wieder auf den Heimweg. Dabei erwischte es ihn. Man fand die übel zugerichtete Leiche des vermißten Professors am anderen Morgen. Da in der Geldbörse wenig zu holen war, hatte sich der erbärmliche Raubmörder notgedrungen an Kügelgens silberner Taschenuhr und seiner gediegenen Kleidung schadlos gehalten; sogar die Stiefel zog er ihm aus. Der zur Tatzeit 23jährige Soldat Johann Gottfried Kaltofen aus einer nahen Kaserne wurde später unter anderem aufgrund der Verkäufe seiner Beute überführt. Da er außerdem Geständnisse ablegte, auch den Tischlergesellen betreffend, kam er im Juni 1821 auf dem Dresdener Marktplatz aufs Schafott. Der Henker soll ihn mit einem Schwert enthauptet haben. Ich nehme an, die Fensterplätze in den oberen Stockwerken waren wie heiße Semmel weggegangen, nur teurer. Das ist der Abschreckungseffekt.

* G. H. Mostar / R. A. Stemmle, Die Höllenmaschinen des Dandy Keith, München 1967



Nach dem Eintrag im Brockhaus kann der Chemiker Richard Kuhn (1900–67) nur ein Menschenfreund gewesen sein. Auf dem Paßfoto grinst er allerdings etwas verdächtig. Vielleicht, weil ihm 1938 der Nobelpreis zuerkannt wurde – »für seine Verdienste um die Vitaminforschung«, wie Brockhaus versichert. Da bin ich schon fast für einen Löffel Heilerde reif. Klee zufolge hielt der Heidelberger Institutsdirektor und Professor 1942 eine Festrede, die in dem Ausruf gipfelte: »Dem Duce, dem Tenno und unserem Führer ein dreifaches Sieg Heil!« Kuhn forschte unter anderem über Gift- und Kampfgas sowie Erssatznahrung für KZ-Häftlinge. Das Kriegsende wehte ihn in die USA. 1948 nahm er de facto den erwähnten Nobelpreis entgegen, denn unter Hitler war die Annahme blockiert. Jetzt erst war er also wirklich reif für diese Ehrung. Ab demselben Jahr 1948 durfte er auch wieder am Heidelberger Insitut der ehrenwerten Max-Planck-Gesellschaft wirken. Klee meint, er sei als »Senator« geführt worden. 1960 machte ihn die Universität seiner Geburtsstadt Wien zum »Ehrendoktor« – was ihr inzwischen peinlich ist.* Sie behauptet, erst jüngere Forschungen hätten Kuhn als Schurken enttarnt. Damit ist die haarsträubende Schönfärbung von Brockhaus reingewaschen.

* Birgit Nemec auf https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/richard-johann-kuhn, Stand April 2024



Brockhaus kennt nur den Geiger Kulenkampff (Georg). Meinem Großvater war jedoch der Plauderer und Überredungskünstler Hans-Joachim Kulenkampff (1921–98) deutlich lieber. Der stattliche Mann, stets in bester Schale, kam in Heinrichs Gunst gleich nach Werner →Höfer. Gewisse unschöne Züge übersah er auch in diesem Fall. Um es mit der Eröffnung eines typisch bauernschlauen, zynischen und hochnäsigen postmodernen Journalisten* zu sagen: »Als der Schauspieler und Showmaster Hans-Joachim Kulenkampff für die Tabakreklame 'Feuer, Pfeife, Stanwell' in den siebziger Jahren ein Vermögen bekam, machte er keine Dummheiten. Der passionierte Segler steckte die 650.000 Mark in ein Schiff nach eigenem Gusto, sein Traumschiff. Dessen Bau geriet zwar leider teurer als gedacht. Doch das haben Traumschiffe so an sich. Sonst wären es ja keine.«

Im folgenden erfahren wir bei Herrn Braschos viel über Segelschiffahrt und auch noch dies und das über den Fernsehstar meiner Kindheit selbst. Altersgenossen dürften »Kuli« in erster Linie mit der Quizsendung Einer wird gewinnen (EWG) verbinden. Neben dem Segeln habe der »umgängliche« und vielreisende Bühnenkünstler auch das Autofahren sehr geliebt, weiß unser Journalist. Beide Vorlieben brachen ihm aber offenbar nicht das Genick. Kulenkampff erlag 1998 mit 77 in seiner österreichischen Wahlheimat (Seeham bei Salzburg) einem Krebsleiden. Laut Sohn Kai hatte sich Kuli hauptsächlich aus steuerlichen Gründen in dem Alpenland niedergelassen. »Im Leben geht es doch immer ums Geld«, sagt der Sohn 2014 in einem anderem Blatt, dem Wiener Kurier.

Man sieht, der Senior war rundum sozialdemokratisch gestimmt. Er hing insbesondere Willy Brandt an, der seine Partei, laut Tim Weiner, kaltblütig von der CIA schmieren ließ. Offiziell galten beide Dompteure der Massen als untadelig. Kulenkampff soll auch seine langjährige Ehefrau Gertrud, eine angeblich katholisch-gläubige Kinderbuchautorin, innig geliebt haben. Mit ihr hatte er drei Kinder. 1957 holte die Gattin die Kinder mit dem Auto aus einem Ferienheim ab und »erlitt« einen schweren Unfall. Dabei kam leider Sohn Till Kulenkampff um, wie das Internet weiß. Das Bübchen war vier Jahre alt. Die Formel des Erleidens taucht in sämtlichen Quellen auf. Dagegen bleiben der Unfallort und die Einzelheiten überall offen.

Sowohl über seine Soldatenzeit (als junger Schauspiel-schüler am Ostfeldzug beteiligt) wie über Tills Tod habe Kulenkampff nie oder jedenfalls ungern gesprochen, versichern mehrere Quellen. Da hält unser FAZ-Journalist gerne mit. Er beläßt es dabei, Kulis Autoliebe nur allgemein, wie die aus der Ferne grüßenden Alpengipfel zu streifen. Aber auch Kai Kulenkampff, der Sohn, spart zumindest die näheren Umstände dieses Todesfalls aus. Wir wissen also nicht, ob Frau Kulenkampff an ihrem Steuer vielleicht für einen Augenblick unaufmerksam war. Und ob noch Dritte zu leiden hatten. Vielleicht weiß es die Polizei der Unfallgegend?**

In letzter Minute finde ich gewisse Andeutungen bei Gala. Mit den Kindern nach Frankfurt/Main unterwegs, wo der Gatte gerade drehte, sei die Mutter »hinter Ulm« von einem Lkw »von der Straße gedrängt« worden.*** Demnach war der Böse für Gala der Lastwagenfahrer in seiner speckigen Lederjacke.

* Erdmann Braschos, »Kulis Verkehrtherumsegler«, FAZ, 15. August 2011: https://www.faz.net/aktuell/technik-motor/motor/kulenkampffs-schiff-marius-iv-kulis-verkehrtherumsegler-11112054.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
** Der Verlag des 2000 erschienenen Werkes Hans-Joachim Kulenkampff. Ein Bremer Junge von Georg Schmidt teilt mir mit, der Autor sei bereits vor einigen Jahren gestorben. Dieser Verlag kommt aber nicht etwa auf die zugegeben kostspielige oder menschen-freundliche Idee, sich einmal das eigene Buch aus dem Regal zu greifen um nachzusehen, ob in ihm ein gewisser Autounfall geschildert wird. Meine Wette: nein.
*** https://www.gala.de/stars/news/hans-joachim-kulenkampff—die-tv-legende-starb-vor-25-jahren-23885544.html, 14. August 2023




Der riesige Ladogasee ist mir vor allem durch Berichte von der Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg unvergeßlich. Er erstreckt sich rund 4o Kilometer östlich der damaligen 2,5-Millionen-Stadt gen Norden. Der Roten Armee diente er nicht unbeträchtlich als Versorgungs- und Evakuierungsweg. Aber die Opfer der Blockade waren noch weitaus riesiger als der Ladogasee. Wenn es Rekorde im Massenmord geben sollte, gebührt den deutschen Faschisten sicherlich eine Olympische Medaille. Ihre Abriegelung der stolzen Stadt am Finnischen Meerbusen, begonnen im Herbst 1941, währte fast zweieinhalb Jahre lang. Todesopfer, meist Verhungerte: über eine Million. Durch eine Eroberung hätten die Faschisten die Bevölkerung im Häuserkampf am Hals gehabt und außerdem anschließend auch noch ernähren müssen. Deshalb kam sie die Einschließung erheblich billiger, so dachten sie: man läßt die Leute einfach verhungern. Immerhin bot der Verzicht auf Eroberung oder gar Flächenbombardierung der örtlichen Industrie die Möglichkeit, die Sowjetarmee nach wie vor mit Waffen zu beliefern – sofern die ArbeiterInnen noch nicht verhungert, von Seuchen weggerafft oder auf der Flucht umgekommen waren. Im Ganzen soll die Rote Armee rund 1,3 Millionen Menschen aus der Stadt geschleust haben. Doch auch die Versorgung oder Flucht über den meist zugefrorenen See war verlustreich. Die Faschisten versuchten das natürlich durch Panzerbeschuß, Jagdflugzeuge und Bomber zu unterbinden, und die sowjetische Abwehr konnte es nicht immer verhindern. Viele übermüdete LastwagenfahrerInnen ließen ihr Leben. Am erfolgreichsten waren die Faschisten mit Bomben, die sie kurzerhand im Bereich der Fahrstraßen aufs Eis krachen ließen. Die ausgemergelten Städter, die sich vielleicht schon am rettenden Nordufer wähnten, versanken grausam mitsamt ihren Lastwagen in den eisigen Fluten. Man fragt sich kopfschüttelnd, woher später Funktionäre von gewissen westdeutschen Verbänden die Unverfrorenheit nahmen, für ihre (1945) vor der Roten Armee gen Oder und Elbe flüchtende Klientel die Krone des Vertriebenenschicksals zu beanspruchen. Sie stellten die Kriegsgeschichte geradezu auf den Kopf. Dagegen wartet eine Bundesoberbehörde, die dem deutschen Innenministerium untersteht, erstaunlicherweise noch zur Stunde mit einer ziemlich selbstkritischen Darstellung auf.* Lesen Sie Erica Zinghers Artikel möglichst bald, bevor Nancy Faeser oder Annalena Baerbock ihn kippt.

* https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/340408/leningrad-niemand-ist-vergessen/, 17. September 2021



Auf der ersten Seite des Bandes 13 verblüfft Brockhaus gleich durch ein Wunder. Die hessische Stadt Lahn, am 1. Januar 1977 durch Zusammenschluß der Städte Gießen und Wetzlar sowie 14 weiterer Gemeinden gebildet, sei im Sommer 1979 aufgrund starker Proteste schon wieder aufgelöst worden. Das sorgte für viel Spott und noch mehr Kosten, aber immerhin, der gute Wille hatte sich einmal gezeigt. Seitdem gibt es also wie vorher die Ortschaften Gießen, Wetzlar, Heuchelheim, Lahnau, Wettenberg und so weiter. Eine beträchtliche Steigerung dieses antizentralistischen Rückschritts bahnte sich dann 2021 an, als ich (in der Erzählung »Der Sturz des Herkules«) den Rhein-Oder-Bund (ROB) ins Leben rief. Während sich die Räteregierung des neuen Bundeslandes Hessen just Gießen zum Amtssitz erkor, entstand im benachbarten Wetzlar eine Metallfabrik, die den GO‘s des Landes die Bleche und Stempel (Druckformen) für ihre Hundemarken genannten GO-Ausweise liefert. Wie sich versteht, wurden Gießen und Wetzlar im Lauf der folgenden Jahre noch einmal zielstrebig ausgedünnt. Auf sogenannte Wettbewerbs-, also Kapital-, Konsum-, Befehls- und Gleichschaltungsinteressen mußte schließlich keine Rücksicht mehr genommen werden. Die meisten RepublikanerInnen leben sowieso lieber auf dem Land. Die ehemaligen Großstädte werden durch Abrisse und Gärten entschieden gelichtet und ähneln früher oder später den herkömmlichen dörflichen Gegenden. Näheres können Sie auch in meinen restlichen utopischen Erzählungen erfahren.



Bei mir um die Ecke gibt es eine sogenannte Ranch, die neben Hühnern, Gänsen und den merkwürdigsten Gäulen auch ein witziges Haustier hält, das angeblich aus den bolivianischen Anden stammt. Jetzt habe ich mit den Ranchern einen günstigen Mietvertrag abgeschlossen. Danach darf ich mir das Lama immer dann ausleihen, wenn mir Besuch von der Kripo, einem Staatsanwalt oder gar einer rotgrünen Ministerin droht. Ich binde das Lama neben der Haustür an und warte. Taucht dann die Amtsperson auf und wirft mir dies oder jenes vor, was sie in meinem Blog gelesen habe, bohre ich dem Lama unauffällig meinen Zeigefinger in die gewölbte Seite. Darauf fängt es natürlich unweigerlich an zu spucken. Meistens trifft es die Amtsperson sogar genau aufs Auge des Gesetzes. Verbittet sich die Amtsperson diese Flegelei und klimpert erst recht mit den an ihrem Gürtel baumelnden Handschellen, halte ich ihr einen Kurzvortrag über die artgerechte Haltung von Lamas. Sie müßten immer spucken. Übrigens bis zu drei Meter weit. In der Regel täten sie das, um herdliche Rangordnungsfragen zu klären oder um sich einfach unangenehme Zeitgenossen vom Leib zu halten. Das könne die Amtsperson zwar nicht im Brockhaus, jedoch bei ARD 1 lesen. »Die Spucke ist nicht gefährlich, sie riecht nur unangenehm, weil sie nichts anderes ist als anverdauter Mageninhalt.«



Der französische Filmemacher Albert Lamorisse (1922–70), ursprünglich Fotograf, hatte mit kurzen Kinderfilmen begonnen, darunter der angebliche »Klassiker« von 1956 Der rote Ballon. Später wandte er sich dem Dokumentar-film zu. Als er mit 48 Jahren Luftaufnahmen zu einem Film über den Iran und seine Landschaft drehte, stürzte nahe Teheran sein Hubschrauber ab, wie sogar Brockhaus in seinen rund fünf Zeilen erwähnt. In anderen spärlichen Quellen ist zu erfahren, Lamorisses Familie habe den Film vollendet und für dieses Werk sogar Lorbeeren eingeheimst. Dafür knausern dieselben Quellen, wie so oft, mit Einzelheiten über den Absturz – mögliche, mehr oder weniger tote weitere Beteiligte eingeschlossen. Die New York Times vom 4. Juni 1970 (S. 41) verrät uns immerhin: »Mr. Lamorisse was a trim, wiry‐looking man, 5 feet 10 inches tall and weighing 140 pounds, with blue eyes and blond hair and a boyish face. His manner was quiet and genial ..(..).. His wife is the former Claude Jeanne Marie Duparc. Their three children are named Pascal, Sabine and Fanny.«

Vielleicht sind die Geschädigten des Unfalls im Rückblick ähnlich unwesentlich wie der Landstrich Iran, früher Persien genannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Riesenreich wieder von Hungersnöten und Kämpfen um die Ölquellen geschüttelt. In seiner CIA-Geschichte (deutsche Ausgabe Ffm 2008, S. 122–36) schildert Tim Weiner ausführlich und ungeschminkt, wie die USA 1953 Waffen und Bestechungsgeld zu »oppositionellen« Gangstern pumpte, um die Regierung Mossadegh zu stürzen und die Wiedereinsetzung des Monarchen Mohammad Resa Pahlawi zu erreichen. Das gelang, trotz vieler Pannen. Nun konnte »Schah« Pahlawi mit Kohle und Beratung der CIA seinen berüchtigten Geheimdienst SAVAK aufbauen. 1967 durfte er sich auch in Westberlin beklatschen lassen und diversen sozialdemokratischen Führern die Hände schütteln. Mit Gruß an Benno Ohnesorg.



Da ich mich schon andernorts mehrmals zum Ärgernis Lärm geäußert habe (s. Register), brauche ich auf den Brockhaus-Eintrag nicht mehr einzugehen. Wen das Lexikon leicht mißachten kann, ist Jakob Keusen (1966–89). Vielleicht wäre der Düsseldorfer Schlagzeuger, als Gastspieler auch auf der Scheibe Bis zum bitteren Ende der Rockgruppe Die Toten Hosen zu hören, noch berühmt geworden, wenn er mein Alter erreicht hätte? Keusen hatte das Pech, mit seinen akustischen Lebensäußerungen auf einen Mann zu stoßen, den das Leben sowieso schon benachteiligt hatte. Von den Eltern vernachlässigt, fällt Peter F. mit neun Jahren auch noch von einer Treppe; davon behält er ein lahmes Bein zurück, das später zur Hälfte amputiert und durch eine Prothese ersetzt wird. Nach Düsseldorf gekommen, läßt er sich vom Metallarbeiter zum Bürokaufmann umschulen. Nebenbei entwickelt sich der nur 1,65 große Mann zum Ordnungsfanatiker und Rechthaber. Unter seinen Arbeitskollegen ist er unbeliebt.* Zu allem Unglück wohnt er im Dachgeschoß einer ehemaligen Fabrik zufällig über dem Künstlerehepaar Keusen, dessen Sohn Jakob das Trommeln liebt. Trotz der Vermittlungsversuche von Jakobs Mutter Almuth entspinnt sich ein anhaltender Kleinkrieg, in dessen Rahmen der 50jährige Junggeselle schließlich mit zwei Radios arbeitet, die er auf die Treppe hinausstellt, sobald Jakob Keusen auf die Felle haut. Ende August 1989 ist »das bittere Ende« erreicht. Der fast 1,90 große, 23jährige Schlagzeuger stapft mit seinen Trommelstöcken nach oben, um die Radios wieder einmal auszudrehen. F. fühlt sich angegriffen und sticht mit einem Brotmesser zu. Es fährt dem jungen Mann fast genau ins Herz, sodaß er am Fuß der Treppe zusammenbricht und wenig später stirbt. F. bekommt acht Jahre Gefängnis.

* Gisela Friedrichsen, »Wenn Sie das noch mal machen!«, Spiegel 46/1990: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13501526.html



Die letzte, tödliche Dummheit des Politikers Ferdinand Lassalle (1825–64) nennt Brockhaus lieber nicht so. Der Mann war studierter Philosoph, Rechtsbeistand einer Gräfin und »Gründervater« der deutschen Sozialdemo-kratie. Er selber wurde nicht alt, weil er, nach revolutionären Anfängen um 1848 im Verein mit Marxens Neuer Rheinischer Zeitung, bieder, eitel und hitzköpfig genug war, sich im August 1864 seiner Flamme Helene von Dönniges zuliebe in einer Genfer Vorstadt mit deren störrischem Erzeuger auf Pistole zu duellieren. Der 50jährige Diplomat Wilhelm von Dönniges war freilich so klug oder abgefeimt, sich beim eigentlichen Waffengang von seinem Wunsch-Bräutigam der Tochter vertreten zu lassen, dem rumänischen Bojaren Janko von Racowicza. Prompt schoß der feurige Baron vom Balkan den Präsidenten des erst im Vorjahr gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) empfindlich in den Bauch. Drei Tage später erlag Lassalle seiner Verwundung vom Felde der Liebe. Seine AnhängerInnen begruben den redegewandten 39jährigen Arbeiterführer auf dem Alten Jüdischen Friedhof zu Breslau und riefen ihm auf dem Grabstein nach: »Hier ruhet, was sterblich ist, von Ferdinand Lassalle, dem Denker und Kämpfer.«

Alexander Herzen hätte sich 1852 um ein Haar aus ähnlichen Gründen mit seinem Kollegen und Nebenbuhler Georg Herwegh duelliert. In seinen Erinnerungen* meint er, die Unsinnigkeit des Duells zu beweisen, lohne nicht; »theoretisch rechtfertigt es niemand, mit Ausnahme irgendwelcher Raufbolde oder Fechtlehrer, aber in der Praxis unterwerfen sich ihm alle, nur um – der Teufel weiß, wem – ihre Tapferkeit zu beweisen. Die übelste Seite des Duells besteht darin, daß es jeden Schurken rechtfertigt, entweder durch seinen ehrenhaften Tod oder dadurch, daß es aus ihm einen achtbaren Mörder macht.«

Allerdings ist der ritualisierte Zweikampf keine romantische Erscheinung; er ist ungefähr so alt wie Kain und das Phänomen der Konkurrenz. In unserem Mittelalter war er streckenweise eine Form des Entscheidungsmittels Gottesurteil. Wahrscheinlich fußte dieses auf dem Glauben, Gott werde einen Gerechten schon nicht im Stich lassen, werde ihn also zum Sieg oder zum Ausharren führen – wenn es etwa galt, barfuß über ein paar glühende Pflugscharen zu wandeln. Die Eskimo sollen schlitzohrig genug gewesen sein, um das »Duell« zwischen Widersachern oder Beschuldigten nur gesanglich auszutragen. Die Betreffenden hatten sich mit Spottliedern zu bekämpfen. Da hätte ich persönlich wahrscheinlich gar nicht so schlechte Karten.

* Mein Leben / Memoiren und Reflexionen, Ostberliner Ausgabe, Band 2 (1963) S. 362



Die Sintiza Erna Lauenburger (1920–44) ging nicht in den Brockhaus, aber immerhin in ein Buch für Kinder ein. Als Mädchen mit der Berliner Autorin Grete Weiskopf befreundet, durfte sie eine Hauptrolle in deren Roman Ede und Unku spielen, der 1931 im Malik-Verlag erschien. Unku war Ernas Sinti-Name. Bald darauf zog sie mit ihrer Familie nach Magdeburg, wo sie ins polizeilich überwachte Zigeunerlager Holzweg geriet. Von dort aus wurde 1938 zunächst ihr Gefährte Otto Schmidt im Rahmen des faschistischen Kampfes gegen »Arbeitsscheue« ins KZ Buchenwald geschickt, wo er 1942 umkam. Er war 24. Lauenburger dagegen, inzwischen zweifache Mutter, wurde im März 1943 mit allen rund 160 Insassen des Magedeburger Lagers, vorwiegend Kinder, nach Auschwitz verschleppt. Laut Wikipedia wird die 22jährige ein Jahr darauf ermordet. Leider war sie beileibe nicht die einzige: Viele Tausend Sinti und Roma kamen allein im Ausschwitzer »Zigeunerlager« um. In Berlin und Magdeburg gibt es inzwischen Ede-und-Unku-Wege.

Lauenburgers Gefährte Schmidt hatte in Buchenwald zu den zahlreichen Opfern des Lagerarztes Waldemar Hoven gezählt, der Häftlinge emsig als Versuchskaninchen benutzte oder sie auch ohnedem wunschgemäß »abspritzte«, sofern seine SS-Kameraden meinten, sie taugten nichts mehr. Dieser prominente Weißkittel kommt auch in Alexander Zinns Biografie* über den thüringischen/tschechischen schwulen Dachdecker Rudolf Brazda vor, der Buchenwald überlebte. Dafür fanden etliche Freunde Brazdas den Tod, beispielsweise der Schlosser Leopold Kretzschmar (33) aus Altenburg, der Ende 1943 ins berüchtigte Buchenwalder Außenlager Dora (bei Nordhausen) gesteckt wurde, wenn mich meine Notizen nicht täuschen. Da hieß es Zwangsarbeit leisten untertage – die Vorstufe zum Sarg. Ich erwähne dies, weil die Häftlinge mit den rosa Winkeln, die Homosexuellen, wie die »ZigeunerInnen« eine starke Opfergruppe darstellen, die oft im Schatten »der Judenverfolgung« zu stehen hat. Dem entsprach die Benachteiligung dieser Opfer selbst nach 1945.

Zinns Buch macht dies alles hervorragend deutlich. Nebenbei stellt er den kommunistischen KZ-Häftlingen (im allgemeinen) ein ziemlich schlechtes Zeugnis aus – womit er ins gleiche Horn bläst wie beispielsweise Margarete Buber-Neumann in ihren empfehlenswerten Erinnerungen.** Darin kommt auch das Ende von einer Freundin Kafkas vor, Milena Jesenská, mit der sich Buber-Neumann im KZ Ravensbrück angefreundet hatte.

* Alexander Zinn, »Das Glück kam immer zu mir« / Rudolf Brazda – das Überleben eines Homosexuellen im Dritten Reich, Ffm 2011, bes. S. 242–48
** Als Gefangene bei Stalin und Hitler, urspr. Köln 1952, viele Ausgaben




Den britischen Schriftsteller D. H. Lawrence (1885–1930), im Brockhaus mit einer halben Spalte plus Paßfoto vertreten, habe ich schon kürzlich behandelt, in Folge 19 unter Inseln. Zu diesem Thema, den Inseln, möchte ich aber noch ein paar Überlegungen ergänzen. Warum sich einer in Inseln vernarrt und verbeißt, bis er schließlich auf seiner dritten, kleinsten und letzten Insel von Schneestürmen und Fieberanfällen ereilt wird und vermutlich seinen vernagelten Geist aufgibt, verrät uns Lawrence in seiner Erzählung Der Mann, der Inseln liebte bestenfalls nebelhaft. Dieser Mann wollte seine eigene Welt gestalten, sein eigener Herr sein, Frieden finden. Na, das gilt ja wohl nicht nur für ein paar von Hause aus meerumrauschte Engländer. Irre ich mich nicht, können Inselnarren im Grunde nur zwei Motive haben. Entweder Angst – oder Hochmut. Wobei ich allerdings annehme, oft mischen sich beide Motive auf je eigene Art. Man ist den Stürmen und Ansinnen gesellschaftlichen Lebens nicht oder nicht mehr gewachsen; man verachtet sie freilich auch. Auf seiner dritten Insel findet Lawrences Held ein paar Schafe vor: ihr Blöken geht ihm rasch auf die Nerven, ihr Glotzen macht ihn wütend – er gibt sie fort. Nicht anders haßt er die gewöhnlichen, dummen, lästigen Gesellschaftsmenschen. Jetzt hat er nur noch eine Katze, aber die verwildert bald. Jetzt ist er wirklich etwas ganz Besonderes, nämlich völlig allein.

Möglicherweise werden die Inselnarren nicht gleich mit ihrem Syndrom geboren. Eine bedeutende Rolle dürfte oft die Kinderstube spielen. Doch auch davon verrät uns Lawrence nicht ein Wort. Sein Mann ist 35 – und anscheinend vom Himmel gefallen. Wir erfahren lediglich, daß er »zufällig« zu einer Stange Geld gekommen ist. Deshalb kann er Inseln pachten oder gar kaufen und sich als der Müßiggänger, der er gern wäre, mit Botanik und Literatur beschäftigen. Auf der zweiten Insel erleidet er sogar einen Anfall von geschlechtlicher Begierde, aber die betreffende Verehrerin ödet ihn ebenfalls rasch an. Vielleicht war der Anfall ein Rückfall – wir wissen es nicht. Seine Ängste und sein Hochmut, falls vorhanden, sind also kaum einzukreisen. Dazu bedürfte es zumindest einer kurzen Biografie.

Somit fällt auch die trügerische Hoffnung aus, ein Psychotherapeut könnte ihn vom Inselsyndrom befreien und wieder der Menschheit zuführen. Nach meinen Erfahrungen sind die Naturelle erwachsener Personen ohnehin nur äußerst selten nennenswert veränderbar. Der eine wird immer Aufschneider bleiben; der andere läuft zeitlebens in Sack und Asche herum. Ein Dritter verliert sich in vermeintlichen Liebesdiensten; der Vierte wird alle Kandidaten für Freundschaft immer wieder vor den Kopf stoßen, bis sich seine Eigensinnigkeit und seine Unverträglichkeit so weit herumgesprochen hat, daß sowieso keiner mehr etwas mit ihm zu tun haben will. Dann hat er endlich seine Einsamkeit, an der er tüchtig leidet.



Als wahre Stärke des britischen Wüstenhelden T. E. Lawrence (1888–1935), ursprünglich Archäologe, Leutnant und Geheimagent, soll sich die Schriftstellerei entpuppt haben. Jedenfalls wurde sein erstmals 1926/27 veröffentlichter und bald an die große Glocke gehängter autobiografischer Reise- und Kriegsbericht Die sieben Säulen der Weisheit schon um 1930 zu einer Säule der Weltliteratur ausgeformt. Die Fragwürdigkeit dieser Stilisierung deutet sogar Brockhaus an. Diesmal wird der paßfotografierte Lawrence mit Beduinenturban präsentiert. Schließlich hatte er die Araber, im Interesse des Empires, erfolgreich zur Erhebung gegen die osmanische Herrschaft angestachelt und dabei die Führungsqualitäten eines echten Raubritters (auf Kamel) bewiesen. Nun glänzte die Säule seines Werkes vor allem von dem guten Licht, das Lawrence darin auf sich selber warf.

Mit der Zeit kerbten allerdings etliche ForscherInnen ungefähr 1.000 Fragezeichen in die Säule, weil sie von Unwahrheiten wimmelte. Das mußte Lawrence, der sich inzwischen wieder in der Rolle des einfachen Militärangehörigen gefallen hatte, nur noch ansatzweise selber miterleben. 1935, kaum aus der Königlichen Luftwaffe verabschiedet, war er an einem Montag im Mai bei Wareham, Dorset, wo er ein Häuschen hatte und an Übersetzungen arbeitete, mit seinem Motorrad Brough Superior SS100 auf der Landstraße unterwegs. Dabei wollte er angeblich zwei Jungen auf Fahrrädern ausweichen, die er aufgrund eines Buckels in der Straße zu spät gesehen hatte. Beim Bremsen flog er über den Lenker und zog sich schwere Kopfverletzungen zu, denen er sechs Tage später in einem Militärhospital erlag. So gesehen, hatten zwei ungezogene Buben einen unschuldigen, erst 46 Jahre alten Wüstenfuchs zur Strecke gebracht. Andere Sichtweisen argwöhnten eine böswillig gestellte Falle, woran ich selber, mangels überzeugender Mordmotive, nicht glaube. Somit bliebe als Alternative nur noch die bekannte dritte Möglichkeit: er hat sich umgebracht, bei der man vermutlich, beflissen auf Motivsuche, rasch ins Uferlose geriete.

Ob jene Kinder oder Halbwüchsigen aufgetrieben und befragt wurden, könnte ich nicht sagen. Dafür habe ich den Eindruck, das Motorrad war länger als sein Fahrer. Hilde Spiel wies schon vor gut 60 Jahren* auf die Kleinwüchsig-keit des arabischen Napoleons hin, 1,65 Meter. Vielleicht hatte es ihn deshalb auf die Kamele gedrängt, wo er doch aus Wales nur Schafe kannte. Einige Quellen behaupten, nach Kriegsende habe er sich über das falsche Spiel gegrämt, das England und Frankreich (gegen die Türken) mit der arabischen Unabhängigkeitsbestrebung getrieben hatten – andere dagegen, er habe den Spielplan durchaus gekannt. Jedenfalls, so scheint es, war Lawrence mitnichten Rebell; er bewunderte starke Männer wie Mussolini, wahrscheinlich auch Hitler. Er grämte sich wohl eher über seine nicht untadelige Herkunft: der Vater, ein walisischer sogenannter Baron, hatte das Kindermädchen seiner eigenen Gattin geschwängert, mit der er offenbar nicht mehr zusammenlebte. So entstanden und in »wilder Ehe« aufgewachsen, könnte der Sprößling gleichsam von Hause aus einerseits geltungssüchtig, andererseits insgeheim begierig nach Schattendasein, Selbstkasteiung oder ähnlichen Bestrafungen gewesen sein. In der Tat unterstellen ihm einige Quellen, er habe sich regelmäßig nach sadomasochistischer Art und Weise vergnügt. Dabei ist über sein Liebesleben so gut wie nichts bekannt.

Spiel, die ihm mutig Verkrampftheit, Ruhmessucht und Verlogenheit bescheinigt, erwähnt als seine zeitweilige engste Vertraute die Gattin seines Freundes Bernard Shaw, Charlotte, die natürlich beträchtlich älter als Lawrence war. Ich könnte mir denken, im Grunde ermangelte es ihm an jeglicher inneren Festigkeit, auch Charakter genannt. Doch wie soll man sich dann seine unbestreitbaren Erfolge als Einfädler komplizierter geostrategischer Schachzüge und sein hohes Ansehen als Beduinenführer erklären?

* Hilde Spiel, Welt im Widerschein, München 1960, S. 103–7



Brockhaus kennt nur den Vater: Georg Leber, antikom-munistischer Gewerkschaftsboß und zuletzt nacheinander Bundesminister in mehreren Sparten, darunter Militär und Verkehr. Er starb im Sommer 2012 mit gut 90 Jahren. Dabei hatte er doch einen flotten Sohn, Manfred Leber, wohl um 1945 geboren. Der soll freilich schon früher von uns gegangen sein, wie ich aus einer Bemerkung von Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz, schließe, die er beim Staatsakt für den verblichenen Vater fallen ließ. Wann, läßt der Kardinal offen.

Leider rückt das Internet überhaupt nur wenig über den Junior heraus. Die einzigen nennenswerten Häppchen liefert der Spiegel. Laut Nr. 38/1967 widerfuhr dem jungen Leber im März 1966 auf der Autobahn zwischen Darmstadt und Frankfurt ein kleines Ärgernis, das ihm anscheinend noch nicht das Leben kostete. Damals soll er angehender Architekt und Wehrdienstleistender bei der Luftwaffe gewesen sein. Er preschte in seinem BMW 1.800 »wenigstens« mit 140 Stundenkilometer Richtung Taunus, denn dort stand sein Elternhaus. Plötzlich versperrte ihm irgendein Kleinwagen (DKW F 12) rotzfrech die Überholspur, womit der übliche Straßenkleinkampf beginnen konnte. Der Gefreite Manfred feuert jede Menge Schall- und Lichtzeichen ab, der schließlich wieder nach rechts einscherende Kleinwagler Bruno W. zeigt ihm einen Vogel, darauf sucht ihn Leber wohl durch Brems- und Blockademanöver zum Anhalten zu nötigen, und dergleichen mehr. Letztlich kam es aber nicht zu einer Schlägerei, vielmehr zeigten sich die beiden Hitzköpfe gegenseitig bei der Polizei an. Verlierer des folgenden Rechtsstreites ist der Steuerzahler, setzt der Staatsanwalt doch für beide Angeklagten Freispruch durch – »zu Lasten der Staatskasse«, wie der Spiegel höhnt. »Der Versuch des Ministersohns eine ‚Aussprache‘ auf dem Parkplatz herbeizuführen, wurde nicht als Schuld gewertet.«

Das zweite und letzte Häppchen bringt das Wochenblatt in Nr. 18/1975. Danach hatte sich eine Laufbahn als Architekt für den Filius aus ungenannten Gründen zerschlagen. Vielmehr habe er bis Ende 1973 in Hannover die Firma Istanbul-Reisen betrieben, ein spezialisiertes Reisebüro. Damals wimmelte ja Westdeutschland geradezu von »Gastarbeitern«, die sich hin und wieder Heimaturlaub zu gönnen wünschten. Erfreulicherweise war Vater Leber gut Freund mit dem Münchner millionenschweren Baulöwen Josef Schörghuber. Mit dessen Hilfe charterte Sohn Manfred »preiswert« Flugzeuge, die er zum Bosporus schicken konnte. Dennoch habe Manfred Leber (mit seinem Reisebüro?) »eine Bruchlandung« gemacht, schreibt der Spiegel gewohnt bildstark und verwaschen. »Für wenig Sitzplätze ließ er zu viele Tickets verkaufen und entfachte zu Weihnachten 1973 auf dem Flugplatz Hannover einen Aufruhr unter den wartenden türkischen Gastarbeiter-Familien.«

Na immerhin! Ein GastarbeiterInnenaufstand! Ob der Reisebürochef nun an Verwundungen aus der damaligen Aufstandsbekämpfung verschied, womöglich erst geraume Zeit später, kann ich Ihnen nicht sagen.



Der Pariser Kulturmanager Gérard Lebovici (1932–84), ursprünglich Theaterschauspieler, stammte aus rumänisch-jüdischem Hause. Laut französischer Wikipedia kam seine Mutter in Ausschwitz um. Als er 20 war, starb auch sein Vater. Dann ging er anscheinend nach Paris. Um 1970, inzwischen von den weitreichenden Wogen der Maiunruhen getragen, machte er sich als mehr oder weniger linker Veranstalter im Showgeschäft sowie als Filmproduzent und Verleger einen schillernden Namen, den zumindest in den Künstler- und Ganovenkreisen der französischen Hauptstadt jeder kannte. Brockhaus dagegen übergeht ihn. Lebovici vertrat unter anderem Jean-Paul Belmondo und Catherine Deneuve und brachte in seinen Editions Champ Libre neben Marx und Bakunin George Orwell heraus, der sich einst vom kolonialen Polizeichef in Burma zum Freiheitskämpfer an der Seite bewaffneter spanischer Anarchisten gemausert hatte.

Die Nähe zur Gewalt blieb Lebovici auch im Tod treu. An einem Märztag des Jahres 1984 – ausgerechnet! – wurde der 51jährige zusammengesunken am Steuer seines in einem Parkhaus an der Avenue Foch abgestellten Wagens gefunden. Er wies ein paar Einschußlöcher im Nacken auf, konnte sich also schlecht selbst umgebracht haben. Die Presse hatte für Wochen ihre Sensation und spekulierte das Blaue vom Pariser Himmel herunter. Dabei wurde auch Lebovicis enger Freund und Kampfgefährte Guy Debord als möglicher, ja sogar wahrscheinlicher Täter gehandelt. Debord war der Häuptling der sogenannten Situationistischen Internationale gewesen, die starken Einfluß in der Studentenbewegung der 1960er Jahre besessen hatte. Sein Pamphlet Die Gesellschaft des Spektakels, ursprünglich 1967 erschienen, wurde bald zum »Kultbuch« erhoben, zumal nachdem es (1971) just von Lebovici wieder aufgelegt worden war, der wohl auch als Debords Gönner bezeichnet werden kann. Nun führte Debord Prozesse, in denen jene Unterstellungen oder Verleumdungen restlos entkräftet wurden. Irgendwo heißt es sogar, die Beklagten mußten ihm Schadenersatz und obendrein Anzeigen mit dem Gerichtsurteil in vier Zeitungen seiner Wahl bezahlen. 1985 legte Debord ein Buch über den Mordfall vor, das ich allerdings nicht kenne.

Wie immer, gab es noch zahlreiche andere Theorien über die TäterInnen oder Hintermänner des Mordes. Auch CIA und KGB mußten herhalten. Unter Linken war verständlicherweise die Annahme verbreitet, Lebovici sei Opfer von Polizeioffizieren oder -agenten geworden, die ihm seine Nähe zu Jacques Mesrine nie verzeihen konnten. Nach dem gewaltsamen Tod des 42jährigen prominenten Bankräubers (1979) hatte der Verleger sogar dessen Tochter Sabrina adoptiert, und später brachte er auch Mesrines Memoiren heraus. Sollte jene Annahme zutreffen, wäre die Tatsache, daß der Mordfall Lebovici bis heute ungeklärt blieb, nicht weiter verwunderlich. Vermutlich wurde emsig vertuscht.

Der Berufsverbrecher Mesrine, Jahrgang 1936, hatte vor allem Banken überfallen, manchmal zwei am Tage, daneben Juweliergeschäfte, Spielcasinos, Hotels. Er entführte auch mehrere Millionäre. Er habe überhaupt kein schlechtes Gewissen, Banken auszurauben, soll er gesagt haben. Damit bestehle er lediglich größere Diebe, als er selbst einer sei, und nehme sich die Zinsen, die die Banken mit dem Geld der ArbeiterInnen machten. Allerdings gehen auch ungefähr 40 Morde, einige Geiselnahmen und wiederholte Brutalitäten gegenüber Geliebten (die ihn anhimmelten) auf Mesrines Konto. Viele Kleinen Leute bewunderten sowohl den Meisterdieb wie den Ausbrecherkönig in ihm. Er schlug den Großen ein Schnippchen und würzte seine Verbrechen mit Charme, Witz und kessen Sprüchen. Zuletzt brach er 1978 aus dem Pariser Hochsicherheitsgefängnis La Santé aus. Die PolitikerInnen und Kriminalbeamten fühlten sich selbstverständlich bis aufs Blut gereizt. So endete Mesrine ein Jahr darauf im Kugelhagel der Polizei – von manchen BeobachterInnen schon damals gerügt, weil keine Notwehrsituation gegeben war. 2013 hat sogar die FAZ eine »von einem Starkommissar inszenierte Hinrichtung« gesehen.* An einer belebten Straßenkreuzung in Paris hatte sich ein Lkw vor Mesrines BMW-Limousine gesetzt. Während die Ampel auf Rot stand, ging jäh die rückwärtige Plane des Lkw‘s hoch – vier Scharfschützen der Polizei enthüllend, die die Verbrecherkarosse in ein Sieb verwandelten. Jetzt waren sie die Helden, jedenfalls für ganze Kompanien von uniformierten oder zivil gekleideten Kollegen und für die Justiz.

Das Ende von Guy Debord fällt hier nicht sonderlich heraus. Nach der Ermordung seines Verlegers und der Verleumdungskampagne der Rechten oder der Neider – denn beide »linken« Häuptlinge hatten viel Aufsehen erregt und viel Geld verdient – zog sich der 1931 geborene Debord auf ein Dorf in der Auvergne zurück, wo er noch 10 Jahre soff wie zuvor und sich dabei vermutlich zu Tode grämte. 1994, mit 62, brachte er sich um. Da er dies sehr gekonnt durch einen Schuß ins Herz vornahm, hatten jene Verdächtigungen, er hätte durchaus das Zeug zum Mörder gehabt, vorübergehend wieder neue Nahrung.

* Jürg Altwegg am 10. Juni 2013: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/ausstellung-guy-debord-die-revolution-der-zettel-12216780.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2



Der aus Leipzig stammende, bereits im »Dritten Reich« ausgesprochen vielgelesene »Unterhaltungsschriftsteller« Arthur-Heinz Lehmann (1909–56) hatte sich nach dem Krieg, in den er zumindest streckenweise als Soldat der Wehrmacht eingegriffen hatte, mit seiner Frau Steffi unweit der Grenze zu Bayern in den tiroler Bergen niedergelassen, wo er unaufhaltsam weiter Bücher der Kragenweite Heftchenroman ausspie, zudem den Schwingen-Verlag (Kufstein/Wien/Rosenheim) betrieb. Lehmanns ungefähr pferdeschwanzlange Werkliste deutet auf mindestens vier große Leidenschaften des Autors hin: für kriegerische Auseinandersetzungen unter Männern, für Frauen, für Pferde und schließlich ganz allgemein für Menschen blauen Geblüts. Lehmanns erfolgreichstes Werk soll der 1939 erschienene Roman Hengst Maestoso Austria gewesen sein. Darin verliebt sich ein besonders in Lipizzaner vernarrter Reitlehrer in eine ungarische Gräfin, die selbstverständlich ebenfalls Pferdenärrin ist. So gehört ihr die edle Stute Deflorata – ungelogen. Von ihr selber schweigen wir lieber. Der Reißer wurde 1956 sogar verfilmt, wobei das Traumpaar von Paul Klinger und Nadia Gray gespielt wurde.*

Außerdem taucht in Hermann Kugelstadts Besetzungsliste eine Elfie [Elfriede] Weißenböck auf. Nach Kurzmel-dungen des Spiegels (39/1956) und des Hamburger Abendblatts (30. August 1956) hatte die 23jährige Filmschauspielerin, die ohnehin im Begriff stand, die nächste Gattin des genau doppelt so alten Lehmanns zu werden, neben ihm im Wagen gesessen, als sie gemeinsam zur Premiere des Filmes nach Hannover zu reisen gedachten. Sie kamen jedoch, auf der Autobahn Salzburg–München, lediglich bis Prien, das am Chiemsee liegt. Laut Spiegel hatte Lehmann den Wagen (auf einer Autobahn?) »gegen einen Baum gesteuert«. Warum, verrät das Wochenblatt nicht; schließlich brauchen spätere Doktoranden auch noch etwas zu tun. Von Weißenböck heißt es im Hamburger Abendblatt, sie sei bei diesem Verkehrsunfall schwer verletzt worden. Wie alt wurde sie? Und wie glücklich?

In den gut fünf Brockhaus-Zeilen zu Lehmann kommt sie selbstverständlich überhaupt nicht vor. Das Lexikon erwähnt nur, in Klammern, den »Autounfall«.

* Briefmarke mit Filmplakatausschnitt



Der Duisburger Bergmannssohn und Bildhauer Wilhelm Lehmbruck (1881–1919) war nicht unerheblich vom zeitgenössischen Pariser Kunstgeschehen beeinflußt und lebte, teils mit Familie, selber für etliche Jahre in der Stadt Auguste Rodins und Aristide Maillols. Er brachte sich (1919) mit 38 Jahren um, wie auch Brockhaus erwähnt. Warum dieser Schritt?

Zunächst muß man festhalten, es mangelte Lehmbruck keineswegs an künstlerischem Erfolg, ja sogar Ruhm. Wahrscheinlich setzten ihm etliche Dinge zu, voran Krankheit, dann Liebeskummer, weiter die Entfremdung von seiner Ehefrau Anita Kaufmann, mit der er drei Kinder hatte, und schließlich auch das kriegerische Wirken seines »Vaterlandes«. Die Familie lebte seit 1916/17 in Zürich, da Lehmbruck wegen »Schwerhörigkeit« vom Militärdienst befreit worden war. Sie hatte sich freiwillig und legal in die Schweiz begeben. Allerdings verfängt sich der Bildhauer nun im Liebreiz einer 19jährigen Schauspielerin und schon damals berüchtigten Herzensbrecherin: Elisabeth Bergner. Sie steht ihm Modell, erhört ihn aber nicht. Eine Behandlung beim Arzt und Psychoanalytiker Iwan Bloch, der sich ebenfalls in der Schweiz aufhält, scheint dem unter starken Gemütsschwankungen leidenden Schöpfer des Gestürzten wenig zu helfen.*

Anfang 1919 wegen eines Porträtauftrages nach Berlin gereist, wo er von früher her ein zweites Atelier unterhält, wählt Lehmbruck Ende März den Tod. Traut man den Aussagen der betagten Schauspielerin Bergner, war Lehmbruck damals auch von einer Geschlechtskrankheit gebeutelt, die er sich »bei einer Prostituierten« geholt haben wollte. Von Bergners Liebe habe er sich die einzige Erlösung von diesem prosaischen Leiden versprochen.** Offenbar schwebte ihm eine recht engelhafte Liebe vor. Laut Bazon Brock*** stand der »syphiliskranke« Bildhauer nämlich unter »strengem Kontaktverbot«, was für Bergner wenig verlockend gewesen sein dürfte. Diese damals, ja zuweilen noch heute, wie man sieht, schwerwiegende Geschlechtskrankheit wird in den meisten gängigen Quellen verschwiegen, in den übrigen nur verbrämt gestreift. Meines Wissens erklärte sich Lehmbruck selber zu seinem letzten Schritt überhaupt nicht. Nebenbei teilt auch niemand mit, wie er sich das Leben nahm.

* Dietrich Schubert am 23. März 1979 in der Zeit, ähnlich in NDB Band 14 (1985)
** »Romantisches Kind«, Spiegel 48/1978: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40605907.html
*** »Die formfordernde Gewalt der Leere«, Katalog-Beitrag Köln 2016: http://www.bazonbrock.de/werke/detail/?id=3353&sectid=3080#sect




Will einer die ersten 100 Plätze einer Rangfolge kultureller Erfindungen vergeben, stünde die Leiter, neben Knoten, Schraube, Fahrrad, Schreibmaschine, jede Wette in seiner Liste ganz oben. Überlegen Sie nur einmal: Plötzlich stehen Sie unvermutet unter einer Palme, die mit Kokosnüssen winkt. Wie wollen Sie nun an die verlockende Beute herankommen – ohne Leiter? Schütteln Sie die Palme oder werfen Sie Steine hinauf, fällt Ihnen auch schon eine Kokosnuß auf den Kopf, und aus ist die Maus: Schädelbruch. Somit bleibt nur, die Nüsse zu pflücken.

Brockhaus meint, im Althochdeutschen war die Leiter »die Angelehnte«. Erfreulicherweise bildet er aber auch wichtige andere Leiter-Typen ab, die auf eine erstaunliche Artenvielfalt hindeuten. Was Wunder, wenn im Internet oft Begriffsverwirrung herrscht. Man nennt das Gerät am Palmenstamm Stehleiter, obwohl es doch angelehnt ist. Was wirklich steht, nämlich frei und unabhängig von Stützen, ist die gegrätschte zweischenkelige Leiter, die dem Giebel eines Hauses mit Satteldach zwar ähnelt, diesen jedoch nicht benötigt. Die Leiter mit Stütze ist die Stufensteh- oder Treppenleiter, ein häufiges Hausfrauen-unglück. Meisterbetriebe des Handwerks besitzen eine ausziehbare Sprossen-Stehleiter. Der Kaminfeger hängt seine kleine, mit Haken versehene Steigleiter unter dem Schornstein ein, um denselben auch sicher zu erreichen.

Als Knabe haben mich besonders die Strickleitern gefesselt, die man zuweilen im Kino an Schiffsbäuchen herabhängen sieht. Die Dampfer im Kasseler Fuldahafen waren dafür nicht hoch genug. Meist machten da nur Lastkähne fest, die Flachheit an sich. Die wichtigste Leiter war aber die in Wäldern an Hochsitzkanzeln angelehnte. Diese Narrheit überlebte ich, während mein Kommissar Köfel einmal den hinterhältig herbeigeführten, für den Jäger tödlichen Einsturz eines Hochsitzes zu untersuchen hatte. Das ist allerdings die Schattenseite aller Erfindungen: Sie bieten niemals ausschließlich Vorteile. Manche Zeitgenossen, ob Faschisten oder nicht, foltern gern. Zum Beispiel drehen sie gefangenen Untergrund-kämpfern genüßlich Schrauben ins Fleisch.
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