Dienstag, 21. Mai 2024
Risse im Brockhaus 20

Mit knapp 15.000 Einwohnern ist die friesische Kreisstadt Jever zwar eher klein; dafür hat sie jedoch, wie sogar Brockhaus weiß, eine »Großbrauerei«. Mir persönlich wurde das erst um 1976 klar, als ich bereits in Westberlin lebte. Damals hatte mich ein romantischer Ruf von Freunden aus Neumünster erreicht. Ein Landwirt aus der Kremper Marsch habe sich den Arm gebrochen und suche eine flotte Hilfe. So eine war ich selbstverständlich. Wie sich herausstellte, betrieb der Landwirt in einer riesigen Halle Bullenmast. Die armen Tiere standen wie zukünftige Schnitzel in dem Gestänge an der Mittelrampe auf- und eingefädelt. Waren sie gefüttert, überbrückte ich die Zeit bis zum sogenannten »Zweiten Frühstück« damit, die Rampe oder den Hof zu fegen. Schlag 11 Uhr fand sich die Belegschaft, die aus dem Landwirt, seinem betagten Vater und mir bestand, in der Scheune ein, um eine Flasche Jever zu süffeln und dabei das Wetter zu erörtern. Die schlanke, grüne Flasche Jever stellte eben jenes »Zweite Frühstück« dar.

Dummerweise war gerade Ende April, und weil der Landwirt ein Herz für Tiere hatte, sollten die Mastbullen auf die Weide getrieben werden. Aber viele Weidepfosten waren zu faul: sie mußten zunächst ersetzt werden. So fuhren wir schon an meinem zweiten Arbeitstag hinaus. Der Landwirt lenkte mit seinem Gipsarm den Schlepper und fuhr die Stacheldrahtzäune im Schrittempo ab. Der alte Vater zerrte die morschen Pfähle heraus und warf sie auf den Hänger. Unterdessen bohrte ich mit dem Rundspaten das Loch nach. Der Vater kam mit frischem Pfahl zurück, versenkte ihn in dem Loch und hielt ihn so senkrecht, wie es ihm sein Rheumatismus noch gestattete. Schon ergriff ich den Vorschlaghammer. Das Einklopfen war nämlich auch mein Amt. Nach einem Dutzend Pfählen, die ich eingerammt hatte, schrie ich innerlich bereits »Marter!«. Allmählich drohten mir schlicht die Arme zu versagen, war der Hammer doch stets in Kopfhöhe zu führen. Aber ich durfte mir natürlich nichts anmerken lassen. Andernfalls hätte ich »mein Gesicht verloren«, und der alte Vater hätte sich womöglich wegen meines mir entglittenen Hammers und aus Solidarität mit seinem Sohn das zitternde Handgelenk gebrochen.

Abends fiel ich in meiner Kammer wie ein geräderter Stein ins Bett. Für das eindrucksvolle Abendrot zwischen einem nahen Rechen aus riesigen, noch kaum belaubten Pappeln hatte ich nicht einmal ein Hühnerauge. Ich beschimpfte den Landwirt, meine Neumünsteraner Freunde und vor allem den einfältigen Kerl, der ich selber war. Am nächsten Vormittag vollendeten wir das Weidwerk. Daraufhin brachte ich meine sorgsam ausgeklügelten Ausreden vor, kündigte fristlos und schlurfte mit meinen Muskelkatern, meinem Rucksack und meiner Zerknirschung über die Landstraße Richtung Krempe, wo es immerhin einen Bahnhof gab.



Brockhaus stellt einen britischen, noch nicht toten Lyriker und Musiker namens Linton Kwesi Johnson, nicht dagegen den schwarzen britischen Bandleader Ken »Snakehips« Johnson (1914–41) vor. Dieser junge Mann fiel im Dienst für die Kultur. Im Sommer 1940 hatten die Recken von Hitler und Abs die »Luftschlacht um England« angezettelt. Vorausgegangen waren die netten Überraschungsangriffe der deutschen Luftwaffe auf verschiedene polnische Städte, darunter Warschau, sowie, am 14. Mai 1940, auf Rotterdam. Allein den dortigen Bomben und Bränden, vor allem in der Altstadt, fielen 800 Menschen zum Opfer; 80.000 wurden obdachlos. Den ersten Angriff auf London flogen die Deutschen dann im September des Jahres.

Ein halbes Jahr darauf, genauer am Samstag den 8. März 1941, hat die Jazz- und Swingband The West Indian Orchestra einen Abendauftritt in ihrem Londoner Stammclub Café de Paris. Die Band ist bereits durch einige Schallplatten bekannt; sie gilt zudem als erste britische Formation dieser Art, die von einem Schwarzen geleitet wird, eben Johnson. Der inzwischen 26jährige verdankt seinen Spitznamen »Schlangenhüfte« selbstverständlich seiner Art sich zu bewegen. Er studierte zwar ursprünglich Medizin, nahm dann aber Tanzunterricht beim US-Choreographen Buddy Bradley und hob bald darauf, Anfang 1937, jene Band aus der Taufe, die nun, wie zahlreiche andere Londoner EinwohnerInnen, von einem deutschen Luftangriff ereilt wird. Auf das Gebäude des Nachtclubs fallen zwei Bomben. Unter den 34 Todesopfern befinden sich auch Ken Johnson und weitere Bandmit-glieder. Hinzu kamen viele teils schwer Verletzte.

Laut damaligen Presseberichten, so ein reichbebilderter Buchauszug im Internet*, hatten die MusikerInnen gerade einen ihrer Hits gespielt, Oh Johnny, Oh Johnny, How Can You Love. Man war den heulenden Luftalarm gewöhnt und ließ sich nicht unterbrechen, zumal der Club vermeintlich geschützt im Keller lag. Mindestens eine Bombe war jedoch durch einen Entlüftungsschacht genau aufs Clubparkett gefallen. Später berichtete Augenzeuge Ballard Berkeley, er habe den dunkelhäutigen Bandleader ohne Kopf gesehen, an den Tischen dagegen unversehrt und wie Statuen wirkende Tote, denen die gewaltige Explosion die Luft aus den Lungen gesogen hatte, zwischen ihnen Polizisten, Feuerwehrleute – und Plünderer, die gut betuchten Leichen Finger abschnitten, um so an deren kostbare Ringe zu kommen. Das Café de Paris wurde 1948 wiedereröffnet.

* Rob Baker, »The Café de Paris …«, 25. Juli 2019: https://flashbak.com/the-cafe-de-paris-and-how-the-socialite-elvira-barney-got-away-with-murder-417788/. Zu dem Unglück siehe die Schilderung im letzten Viertel des Beitrags, nach dem großen Foto, das den Bandleader zeigt.



Attila József (1905–37), jüngstes Kind einer Waschfrau und eines Seifensieders in Budapest, beging wahrschein-lich Selbstmord. Er war erst 32. Heute wird der hagere Ungar zu den bedeutensten Lyrikern seines Landes gezählt, wie auch Brockhaus andeutet. Linke haben ihn zum »ungarischen Majakowski« erklärt. Er wurde inzwischen auch wiederholt übersetzt – vergleicht man diese Arbeiten, glaubt man, vor fünf oder sieben ungarischen Majakowskis zu stehen. Jener Seifensieder, der Vater, tauchte ab, als der Knirps drei war. Gleichwohl konnte Attila später mit Hilfe eines Schwagers Abitur machen und studieren. Um 1930 war er vorübergehend Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei. Der Lehrerberuf wurde ihm verwehrt. 1935 übernahm er die Leitung der kleinen Literaturzeitschrift Szép szó (»Nettes Wort« vielleicht). Es heißt, er habe oft gehungert und gefroren. Außerdem litt er schon seit einiger Zeit an schweren Depressionen oder »Schizophrenie«. Liebeskummer und Gram über die geringe Beachtung, die seine meist liedhafte Lyrik fand, kamen hinzu. Nach Petri Liukkonen schrieb er meist bildhaft, nie schwammig. Neben Marx schätzte József die Schriften von Freud, doch in eigener Sache schlugen Bemühungen von Psychotherapeuten fehl. 1936 erschien sein Gedichtband Nagyon fáj (ungefähr »Tut wirklich weh«). Im Sommer 1937 brachte man ihn erneut in eine Nervenheilanstalt. Im Dezember geriet der 32jährige ausgezehrte, ursprünglich hübsche Lyriker im Dorf Balatonszárszó am Plattensee, wo er im Haus einer Schwester untergekommen war, möglicherweise in seiner Verwirrung nur unfallweise unter einen Güterzug. Laut ungarischer Wikipedia ist die Frage, ob Selbstmord oder nicht, kaum zu klären. Jedenfalls bekam Jószef unweit des verhängnisvollen Gleises 1998 ein weiteres, diesmal ausgesprochen ausgefallenes Denkmal.* Budapest wimmelt von Attila-József-Straßen. Das dortige Denkmal (unweit des Parlamentsgebäudes) zeigt den »Dichter« niedergeschlagen auf Treppenstufen sitzend, mit Hut in der hängenden Linken. Wie man hört, wird es neuerdings verstärkt von rechts her angepinkelt.

* https://en.wikipedia.org/wiki/File:Attila_J%C3%B3zsef_memorial_Balatonsz%C3%A1rsz%C3%B3-1.jpg



Laut Brockhaus stellt Juanita eine Koseform von Juana dar. Mehr sagt er dazu nicht. Meine Juanita dagegen könnte man auch als »peruanische Götterspeise« bezeichnen. Der US-Anthropologe Johan Reinhard und sein Begleiter Miguel Zárate fanden sie 1995 am peruanischen Anden-Gipfel Ampato (6.300 Meter) unterhalb des Kraterrandes – als eingefrorene Mumie. Nachdem die »Jungfrau aus dem Eis« andernorts aufgetaut worden war, ergaben die wissenschaftlichen Untersuchungen: Das ungefähr 14 Jahre alte und 1,40 Meter große Inkamädchen starb um 1450 durch einen Schädelbruch, für den ein Schlag gegen ihre rechte Schläfe verantwortlich war. Sechs bis acht Stunden vor ihrem Ende hatte »Juanita«, wie sie nun auch genannt wurde, Gemüse verzehrt. Vermutlich waren ihr zudem – vorm Erschlagen – Drogen verabreicht worden. Da die Inkas den Berg Ampato oder die dort erreichbaren Götter (Sonne!) als Wasser-, Nahrungs- und Lebensspender verehrten, lag die Annahme nahe, Juanita sei damals geopfert worden. Die große Höhe des Fundorts, Grabbeigaben wie silberne Broschen, eine federverzierte Tasche mit Kokablättern und kostbare Textilien wie auch etliche vergleichbare Leichenfunde* unterstrichen diese Deutung.

Solche Opferungen, die nebenbei ertaunliche Bergsteigekünste der betreffenden Opfer, Führer und Priester bekunden (bis 6.000 Meter in Sandalen oder barfuß), waren damals anscheinend von Zeit zu Zeit üblich. Sie sollten den Göttern Dank bezeugen und sie gnädig stimmen. Wahrscheinlich dienten sie auch der Zusammenschweißung, somit der Beherrschung des Volks. Und sie zählten zu den höchsten Ehren, die einem Inkakind, ob Mädchen oder Junge, zuteil werden konnten. Angeblich nahm man nur die schönsten dafür, aus den unterschiedlichsten Winkeln des Reiches beschafft, wie inzwischen verschiedene ForscherInnen herausgefunden haben wollen.* Die Kandidaten wurden vor dem Opfergang langwierig geläutert oder gleichsam veredelt, durch gute Ernährung, vor allem Mais und Lamafleisch, und rituelle Handlungen. Möglicherweise hatte auch »Juanita« lange vorm Erklimmen des erloschenen Vulkans um den Zweck der Reise gewußt – und sie entweder stolz und freudig erregt, oder aber, durch reichlich Koka und Alkohol gefügig gemacht, wie im Trane angetreten. Entbehrungsreich war die Sache allemal. Allein der Anmarsch von der Hauptstadt Cuzco (3.400 Meter), wo die Auserwählten sehr wahrscheinlich in gesonderten Tempeln auf ihre Mission vorbereitet worden waren, betrug rund 200 Kilometer. Die Inkas ritten bekanntlich nicht.

Vielleicht könnte man die nächsten maskierten, traumatisierten, durch wiederholtes Impfen aufgefrischten Kinder, die unseren Göttern in Weiß zu weihen wären, einfach mit dem Hubschrauber über den Krater bringen und dann die Bodenluke öffnen. Mit schönem Gruß von Jonathan Swift.**

* Pia Heinemann, »Inka betäubten Kinderopfer mit Koka und Alkohol«, Welt, 29. Juli 2013: https://www.welt.de/wissenschaft/article118501928/Inka-betaeubten-Kinderopfer-mit-Koka-und-Alkohol.html
** A Modest Proposal, 1729




Der angebliche Verräter Jesu, ein Jünger namens Judas, soll sich an einem Holunderbaum erhängt haben. Das ist zwar immer noch besser, als sich an ein totes Holzkreuz nageln zu lassen, aber ich will die beiden, den Jünger und seinen Chef, nicht gegeneinander ausspielen. Vielmehr geht es um den beklagenswerten Pilz Judasohr. Den hat irgendein Trottel so benannt, weil er, der Pilz, nachweis-lich vorzugsweise an Holunderbäumen wächst. Er klebt tatsächlich, meist im Horst, wie abstehende, bräunliche oder violette Ohrmuscheln an der Rinde. Fassen Sie ihn ruhig an: er ist samtiger als das Ohr ihrer neusten Flamme. Sie dürfen ihn sogar pflücken, um ihn zu Hause in die Pfanne zu werfen, was sich Ihre neue Flamme vermutlich verbitten würde. Vielleicht hat Brockhaus die beiden verwechselt, den Pilz und Ihre Geliebte? Das Lexikon verrät den Pilz nämlich gleich noch einmal, wenn es behauptet, er sei »ungenießbar«. Das ist eine glatte Lüge. Vielleicht ist er kein überragender Feinschmeckerpilz, doch in Mischgerichten könne er durchaus bestehen, meint die von mir konsultierte Fachorganisation: https://www.dgfm-ev.de/pilz-des-jahres/2017-judasohr. In unseren Breiten trifft man die Judasohren sogar rund ums Jahr. Giftige DoppelgängerInnen seien nicht bekannt.



Gottseidank kam der inzwischen 25 Jahre alte Überfall der Nato auf Jugoslawien für Brockhaus knapp 10 Jahre zu spät. Andernfalls hätte auch er mir jede Wette das Zerrbild zugemutet, das bis zur Stunden die sogenannte Öffentliche Wahrnehmung dieses epochalen Ereignisses prägt. Dabei hatte es doch ein Jahr vorher, 1998, so verheißungsvoll begonnen. Damals bekam Deutschland erstmals eine sogenannte rotgrüne Regierung! Prompt erwarteten einige Leute aus den Legionen, die der SPD seit vielen Jahrzehnten nach jeder Schandtat neuen Kredit zu geben pflegten, Kanzler Gerhard Schröder werde zunächst »um Entschuldigung« bitten – beispielsweise für die Ermöglichung des Ersten Weltkrieges durch die Sozialdemokratie, die blutige Unterbindung der deutschen Revolution nach dessen Ende oder doch wenigstens für die Erschießung Benno Ohnesorgs, der ja 1967 unter einem Regierenden Bürgermeister (Heinrich Albertz) und einem Polizeipräsidenten (Erich Duensing) aus den Reihen seiner Partei ins Gras hatte beißen müssen. Unter Hitler war Duensing übrigens Generalstabsoffizier gewesen.

Wie sich versteht, dachte Schröder nicht im Traum an dergleichen Selbstkritik. Im Verein mit seinem Kriegsminister Rudolf Scharping und seinem »grünen« Außenminister Joschka Fischer setzte er ganz im Gegenteil eine »Enttabuisierung des Militärischen« in Gang, die er sich später als größten Wurf seiner Regierungszeit angerechnet haben soll. Man sieht, die »rotgrüne« Regierung war wieder einmal das kleinere Übel gewesen. So mußte sie sich ab Frühjahr 1999, als sie im Verein mit anderen Nato-Staaten Jugoslawien überfiel, lediglich über einige »Kollateralschäden« grämen – auch dies eine Neuprägung der Orwellschen Art. Nach serbischen Angaben sorgten die in knapp drei Monaten vorgebrachten »Luftschläge« der Nato für rund 1.000 tote Soldaten oder Polizisten und 2.500 tote Zivilisten. Etwa 10.000 Menschen wurden verletzt. Hinzu kommen die gewaltigen seelischen, wirtschaftlichen und ökologischen Schäden; neben Sendegebäuden, Schulen und Krankenhäusern wurden beispielsweise auch mehrere Chemiefabriken bombardiert. Alles geschah, um von Serben veranstaltete »Schlächtereien und Massenvertreibungen im Kosovo« zu unterbinden – oder vielleicht doch eher, um das »Pulverfaß« Kosovo abspalten und mit einer riesigen US-Militärbasis sowie zahlreichen Einrichtungen der albanischen Mafia füllen zu können?

Mit wenigen Ausnahmen, darunter erfreulicherweise die Schriftsteller Erwin Chargaff, Peter Handke und Peter Urban, fielen alle wiedervereinigten Deutschen auf die haarsträubende Menschenrechts- und Greuel-Propaganda herein, die den Angriff eines Landes rechtfertigen sollte, das uns, bereits zum dritten Male in einem Jahrhundert, nichts getan hatte. Daran hielten sie sogar fest, nachdem das Lügengespinst im öffentlich-rechtlichen ARD-Fernsehen zerrissen worden war, nämlich mindestens in einer von Patricia Schlesinger moderierten Panorama-Sendung am 18. Mai 2000 und in dem ausführlichen Dokumentarfilm von Jo Angerer und Mathias Werth mit dem Titel Es begann mit einer Lüge am 8. Februar 2001. Es sammelte sich im Lauf der Jahre zudem ein ganzer Stapel gut recherchierter Bücher zu diesem Thema an, darunter Kriegslügen von Jürgen Elsässer, 2004. Aber es nützte alles nichts. Inzwischen ist imperialistische Politik schon wieder hoffähig genug, um Ex-Kanzler Schröder ungerührt und straflos die eigentlich sensationelle öffentliche Feststellung durchgehen zu lassen, er könne Putins (angebliches) Eingreifen auf der Krim nicht verurteilen, weil er selbst im Glashaus sitze, nämlich einmal gegen das Völkerrecht verstoßen habe. »Da haben wir unsere Flugzeuge ..[..].. nach Serbien geschickt und die haben zusammen mit der Nato einen souveränen Staat gebombt – ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte.« So Anfang März 2014 bei einer Zeit-Veranstaltung in Hamburg.*

Dieses Eingeständnis des gelernten Rechtsanwaltes – das ich bereits Ende 2022 in meinem MZ-Beitrag Ankommen würdigte – führte kürzlich auch NDS in einem bemerkenswerten Jubiläumsartikel an. Autor Warweg hatte sich auf der Bundespressekonferenz erkundigt, ob Frau Baerbock plane, sich für den völkerrechtswidrigen Angriff zu entschuldigen und nebenbei für die Zukunft aller Doppelmoral zu entsagen. Pustkuchen! Die Hiwis unserer Ampel-Regierung wanden sich von einer Ausrede zur anderen und versicherten letztlich, damals sei alles völkerrechtskonform verlaufen. Lesen Sie bitte selbst.**

Im scheckigen Lager der sogenannten Linken und QuerdenkerInnen wird die balkanesische Türöffnung für einen willkürlichen Umgang mit dem Völkerrecht nach wie vor ganz überwiegend unterschätzt. Damit ist auch die wahre Schmutzflut, die sich damals über die wenigen KetzerInnen ergroß, unter den Teppich gekehrt. Dabei könnte man heute doch beinahe glauben, diese Verleumdungs- und Isolationskur sei bereits das Vorspiel zum Kesseltreiben gewesen, das kürzlich im Zeichen des Coronawahns auf uns gekommen ist. Auch die Straflosigkeit für die führenden rotgrünen Demagogen wird beide Perioden verbinden.

* Günter Bannas, »Er handelt wie ich«, FAZ.NET, 10. März 2014: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ukraine-gerhard-schroeder-erklaert-putins-politik-12840337.html
** Florian Warweg, »Bundesregierung zum 25. Jahrestag …«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=112737, 21. März 2024




Zum palästinensisch-libanesischen Schriftsteller Ghassan Kanafani (1936–72) teilt uns Brockhaus in Klammern mit: ermordet. Daß er in den verhängnisvollen Sekunden nicht das einzige Mordopfer war, verrät uns das Lexikon nicht. Schließlich galt nur Kanafani als prominent. Einst als Kind aus Palästina vertrieben oder jedenfalls geflüchtet, zählte er zu den Führungskräften der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Er war etliche Jahre als Redakteur und Erzähler tätig. Berühmt ist er für den Flüchtlingslager-Roman Men in the Sun, 1962. In seiner letzten Zeit wirkte er offenbar, von Beirut aus, hauptsächlich als Repräsentant und Sprecher der PFLP. Ebendort, in der libanesischen Metropole, erwischte es ihn auch, mit 36 Jahren: am 8. Juli 1972 flog sein Wagen, ein Austin 1100, in die Luft. Der israelische Geheimdienst Mossad, so wird fast überall angenommen, hatte eine Autobombe angebracht. Angeblich sollte das die Vergeltung für das »Massaker am Flughafen Lod« (Tel Aviv) von Ende Mai sein. Ob Kanafani den dortigen Anschlag gutgeheißen oder aber mißbilligt hatte, ist umstritten.

Der Schriftsteller hinterließ seine aus Dänemark stammende Witwe Anni Høver mit zwei Kindern. Seine 17jährige Nichte Lamees Najim hinterließ er nicht. Sie hatte nämlich neben ihm in dem Wagen gesessen. Wer sie im Internet sucht, wird Mühe haben, über die Feststellung hinaus zu kommen, sie sei eben eine Nichte von Kanafani gewesen. Soweit ich weiß, hielt sie sich damals nur besuchsweise in Beirut auf, eingetroffen aus Kuwait. Aber darauf kommt es natürlich nicht an. Kanafanis Gefährdung lag ja auf der Hand; man darf also mindestens annehmen, die Nichte habe ihr Leben durch die Fahrlässigkeit eigener Leute verloren. Diesbezügliche selbstkritische Töne sind mir nicht bekannt. Immerhin wird ihrer auf einer palästina-freundlichen Plattform aus den USA am Ende eines Artikels* zum Gedenken an Kanafani in mehr als nur einem Satz gedacht – allerdings auf recht befremdliche Weise, wie ich finde. Man dürfe selbstverständlich nicht vergessen, daß bei dem Anschlag auch die 17jährige Lamees Najim ums Leben kam. Statt sie nun gleichfalls zu würdigen, muß sie jedoch für ein Schulbeispiel dogmatischer Moralpredigt herhalten. Sie habe ihren Onkel just am Tag zuvor aufgefordert, sich wieder mehr dem Erzählen zu widmen, denn darauf verstehe er sich. Der Onkel setzte ihr aber, ausweichend, auseinander, wie wichtig der Glaube an die revolutionäre Sache und der Einsatz für diese sei. Ohnedem hätten auch seine Geschichten keine Überzeugungskraft. Das habe ihr schließlich eingeleuchtet. Dafür starb sie dann also anderntags. Von ihren Lebensplänen erfährt man kein Komma.

* Louis Brehony, »Ghassan Kanafani: Voice of Palestine«, The Palestine Chronicle, 4. September 2017: http://www.palestinechronicle.com/ghassan-kanafani-voice-of-palestine-1936-1972/



Der nächste Prominente, William Kapell (1922–53), war ein von Brockhaus übersehener Kämpfer auf dem Konzertflügel. Leider biß er bereits mit 31 ins Gras, wenn auch nicht ohne Witz. Die deutsche Wikipedia bescheinigt dem »klassischen« US-Pianisten sowohl ein »filmstarmäßiges Aussehen« wie eine »glückliche Ehe«, nämlich mit der Berufskollegin Rebecca Anna Lou Melson (zwei Kinder). Naja, wer‘s glaubt … Jedenfalls befand sich der überall als »brillant« ausgerufene Kapell auf dem Weg zum musikalischen Weltstar und konnte sich schon einiges herausnehmen. Als er nach Gastspielen in Australien von Sidney nach San Francisco abflog, versicherte er den Reportern laut englischer Wikipedia, er werde nie mehr einen Fuß auf diesen mißratenen Kontinent setzen – er hatte ein paar ungünstige Kritiken bekommen. Allerdings setzte der 31jährige auch keinen Fuß mehr auf den amerikanischen Kontinent. Ehe die Douglas DC-6 mit 19 Personen an Bord in San Francisco landen konnte, waren ihr im Morgennebel des 29. Oktober 1953 Baumwipfel und das kalifornische Kings-Gebirge im Wege: Absturz. Es gab keine Überlebenden. Die Luftfahrtbehörde nahm in ihrem Untersuchungsbericht an, der Crew seien Fehler beim Instrumentenflug unterlaufen. Einige Verschwörungs-theoretikerInnen sprachen dagegen von einem Anschlag – der australischen Kritik.

Kapells Witwe wurde fast dreimal so alt wie er: sie starb 2012 mit 85 in New York City. Ihr Schicksal ist nicht uninteressant. So reichte sie bald nach dem Unfall Schadenersatzklage gegen zwei beteiligte Fluggesell-schaften ein – und erstaunlicherweise sprach man ihr und den beiden Kindern 1964, nach zähem Ringen oder Warten, satte 924.396 Dollar zu. Aber ein Jahr darauf gab es drei lange Gesichter, als ein Berufungsgericht die Entscheidung kippte. Gleichwohl werden sich die Drei nicht am Rande des Hungertodes befunden haben. So hatte sich Anna Lou Dehavenon, wie sie nun hieß, schon 1955* zwecks zweiter Ehe einen Kunsthändler geangelt, mit dem sie noch einmal zwei Kinder in die Welt setzte. Zwar verlor sie auch diesen Gatten wieder, 1974 durch Scheidung, doch die Frau war ja nicht auf den Kopf gefallen. Jetzt sattelte sie von Pianistin und Hausfrau auf »urban and medical anthropologist« um, worin sie 1978, mit 52, sogar einen Doktorgrad erwarb. Sie war in der Armen- und Wohnungslosenfürsorge von New York City tätig und nahm sich dabei auch genau jener alleinstehenden Frauen mit Kindern an, zu denen sie selber einst zählte, wie sie Journalistin Lynda Richardson gegenüber betont.**

Vielleicht empfiehlt sich auch hierin ein gewisser Skeptizismus. Schließlich hatte Kapells Witwe nach dem Unfall keineswegs auf der Straße gestanden, und von den Platten, Aufnahmen und Tagebüchern des abgestürzten Stars konnte sie wahrscheinlich noch in hohem Alter zehren. Man darf nie vergessen, wie relativ alles ist. Für eine Pianisten-Witwe oder eine Journalistin der New York Times ist es wahrscheinlich schon bittere Armut, wenn sie ihre Kinder nicht in einem Mittelklasse-Automodell der jeweiligen Vorjahresserie, sondern nur in einem älteren Gebrauchtwagen zur Schule fahren können. Müßten die Sprößlinge gar laufen, wäre es Ruin oder Tod. Bei all den Autos auf der Straße!

* »Anna Lou Dehavenon«, The Suffolk Times, 3. Juni 2012: http://suffolktimes.timesreview.com/2012/03/30546/anna-lou-dehavenon/
** »A Voice of Dissent on Behalf of Those on the Street«, NYT, 2. Februar 2005: http://www.nytimes.com/2005/02/02/nyregion/a-voice-of-dissent-on-behalf-of-those-on-the-street.html




Nikola Karev (1877–1905) war sogar Staatspräsident! Allerdings nur für 10 Tage. Wahrscheinlich hat Brockhaus ihn deshalb übergangen. Erst 25 Jahre alt, war der bulgarische Handwerker, Lehrer und Partisan im Jahr 1903 zum Präsidenten der Republik Kruševo ernannt worden. Ein Bildnis zeigt das Profil eines vollbärtigen Adlers, um das ihn sogar Größen wie Lenin oder Trotzki beneidet hätten. Genauer erblickte Karevs Republik am 2. August 1903 das Licht der Welt, nachdem 750 KämpferInnen im Rahmen des damaligen anti-osmanischen Aufstandes Kruševo, eine Kleinstadt im Südosten Mazedoniens, »befreit« hatten. Am 13. August kehrten die Truppen des Sultans zurück, um der Posse ein Ende zu bereiten – vermutlich ein blutiges.

Als Kader der bulgarischen Sozialdemokratie hatte Karev ein sozialistisches und internationalistisches Programm verfochten, das sich dann auch im Manifest von Kruševo niederschlug. Im Rat der Republik saßen je 20 VertreterInnen der Bulgaren, Griechen und Rumänen. Wie sich versteht, hatte die Republik sofort gewichtige Ämter vergeben – Hristo Kjurchiev etwa wurde für die 10 Tage Außenminister. Präsident Karev konnte nach der Zertrümmerung der Republik Richtung Bulgarien entkommen. Wieder Partisanenführer, wurde er zwei Jahre darauf, inzwischen 27, unweit der mazedonischen Kleinstadt Rajčani im Gefecht von einer osmanischen Kugel tödlich getroffen. Zur Strafe für die Kurzlebigkeit der von ihm geführten Republik setzte man ihm in Kočani ein weißes, klotziges Denkmal, das wahrscheinlich schon zahlreiche Angriffe von sowjetischen Panzern überlebt hat.

Gewiß wimmelt die Weltgeschichte von mehr oder weniger kurzlebigen Republiken oder Kommunen, sodaß sich Mazedonien nicht zu schämen braucht. Während die in Süddeutschland angestrebte Badische Republik im Sommer 1848 nie so recht auf die Beine kam, bestand die Pariser Kommune von 1871 für immerhin neun Wochen. Die Ungarische Räterepublik von 1919 hielt sogar gut vier Monate durch. Die verwandte Münchener Räterepublik brachte es dagegen, im selben Jahr, lediglich auf vier Wochen. Was Kruševo betrifft, wurde es im Herbst 1944 von der pimontischen Kleinstadt Alba (Norditalien) überflügelt, die für 23 Tage eine Republik sah. Dann kehrten die von den Deutschen unterstützten »Schwarzhemden« Mussolinis wieder.

Diese Posse wird kongenial von einem der damals beteiligten Partisanen, Beppe Finoglio, in seiner Erzählung Die dreiundzwanzig Tage von Alba geschildert. Einmarsch der Partisanen der Langhe: »Da hängte sich jemand ans Seil der Großen Glocke der Kathedrale, andere an die Seile der Glocken der anderen acht Kirchen von Alba, und es war, als würden Bronzesplitter über die Stadt herabregnen. Die Leute, unbeweglich oder im Gehen, zogen den Kopf zwischen die Schultern und wirkten wie Betrunkene oder wie jemand, der Angst hat, gekitzelt zu werden.« Der italienische Schriftsteller wurde trotz Demobilisierung nicht viel älter als Karev; er starb 1963 mit knapp 41 an Lungenkrebs.



Im Herbst 1968 reiste die 21jährige Berliner Soziologie- und Politikstudentin Elisabeth Käsemann (1947–77) für ein Praktikum nach Bolivien. Obwohl dort bekanntlich die Anden winken, packte Käsemann kein nagelneues professionelles Paar Skier ein (beispielsweise aus der Serie Fischer RC4 Worldcup für schlappe 500 bis 700 Euro, von der restlichen »Ausrüstung« zu schweigen). Sie hatte andere Sorgen, die sie prompt dazu bewogen, in Lateinamerika zu bleiben. Angesichts der Armut und der Ungerechtigkeit, die sie gesehen habe, könne sie sich eine Rückkehr zu den »Luxusproblemen Europas« nicht mehr vorstellen, erklärte sie ihrem Vater. Im Gegensatz zur Tochter steht der Tübinger evangelische Theologe Ernst Käsemann sogar im Brockhaus. Er setzte sich später, zu einem guten Teil vergeblich, bei den Behörden für eine Aufklärung des Schicksals seiner ermordeten Tochter ein.

1970 nach Buenos Aires gegangen, beteiligte sich Käsemann, die als Sekretärin und Übersetzerin erwerbstätig war, an Sozialprojekten in den Slums. Sie arbeitete auch mit Marxisten oder Trotzkisten zusammen. Anfang März 1977 wurde sie von Schergen der damals in Argentinien herrschenden Militärs verhaftet. Am 25. Mai 1977 meldete die Zeitung Clarín, bei einem Gefecht zwischen Guerilleros und der Polizei seien 16 »Terroristen« umgekommen. Das war eine oft bemühte Beschönigung. Tot waren die Leute schon, aber sie waren in der Nacht, wohl nach einigen vorausgegangenen Folterungen in geheimen Kerkern, in Monte Grande (bei Buenos Aires) als wehrlose Gefangene kaltblütig hingerichtet worden. Zu ihnen zählte auch Käsemann, wie inzwischen als gesichert gilt. Im Juni konnten die Eltern die Überführung der Leiche erwirken. Sie veranlaßten eine Obduktion, wonach ihre Tochter aus nächster Nähe hinterrücks erschossen worden war.

Etliche BeobachterInnen behaupten, Botschaft und Regierung (Helmut Schmidt/Hans-Dietrich Genscher) der Bundesrepublik hätten es der guten Beziehungen zu den Militärs zuliebe – winkende Aufträge an deutsche Industrieunternehmen eingeschlossen – damals vermieden, auf Untersuchung des Verschwindens von Käsemann zu pochen. Möglicherweise hätte sie im gegenteiligen Fall gerettet werden können.* Leider ist sie nicht der einzige Fall von verschleppten Deutschen und überhaupt verschleppten Menschen im damaligen Argentinien. Manche schätzen allein die Todesopfer der finsteren sieben Jahre um 1980 auf 20.000 bis 30.000. Sogar Säuglinge wurden geraubt. Jedenfalls blieben die meisten »Desaparecidos« (verschwundenen Verdächtigten) bis heute unauffindbar, soweit ich weiß.

Jahrzehnte später schwang sich die Bundesregierung, wenn auch nur auf Betreiben der deutschen Koalition gegen Straflosigkeit in Argentinien, immerhin zu einer Nebenklage auf, als führende Mitglieder der Militärjunta in Argentinien vor Gericht kamen. Um 2011 wurden einige hohe Haftstrafen verhängt. Seit 2012 gibt es in Tübingen eine Elisabeth-Käsemann-Straße. Die Mutter (Margit) wird kaum erwähnt. Der Vater wurde noch 91. Allerdings soll er (1998) ziemlich verbittert gestorben sein. Und das nicht nur wegen des Todes seiner Tochter und dessen Verleugnung durch staatliche Stellen. Die selbstgerechte, wohlstandssatte sogenannte Freie Marktwirtschaft stehe in der Tradition des Imperialismus. Die Kirche sei ihr getreues Spiegelbild, habe der Theologe und Professor im Ruhestand befunden.

* Klaus-Peter Eichele, »Das Mädchen stört …«, Schwäbisches Tagblatt, 19. März 2015: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Das-Maedchen-stoert-Wie-die-deutsche-Regierung-den-Mord-an-Elisabeth-Kaesemann-in-Kauf-nahm-81990.html



Bekanntlich bewohnen die Katalanen vorwiegend den Landstrich zwischen Barcelona und den Pyrenäen. Als Hauptsprachen der »autonomen Region« gelten Spanisch (Kastilisch) und Katalanisch. Brockhaus hebt die Frauen-freundlichkeit der Katalanen hervor. Möglicherweise haben sie auch eine vergleichsweise starke Leidenschaft für Musik. Ich kenne Dutzende von Katalanen, bei denen es jedenfalls so ist. Allerdings kenne ich sie nur aus Internet-Videos, die dem unermüdlichen Wirken des in Barcelona ansässigen Jazzmusikers und Musiklehrers Joan Chamorro, geboren 1962, entsprungen sind. Das Internet strotzt geradezu von Aufnahmen mit Chamorro und seinen Getreuen. Er selber spielt etliche Instrumente erstklassig, wird aber vor allem als Talentsucher, Pädagoge, Arrangeur und Dirigent gerühmt. Wie es aussieht, trägt er mit seinen Schülern in der Regel durchaus bewährte »olle Klamotten« in eigener Fassung vor, so auch Triste. Der Bossa Nova des Brasilianers Antônio Carlos Jobim, erste Aufnahme 1967, erlebte schon zahlreiche Interpretationen. Hier wird er uns (2016) von einigen Musikern der Nachwuchsschmiede Sant Andreu Jazz Band unterbreitet, die Chamorro vor vielen Jahren in Barcelona aufgemacht hat. Hauptsängerin Alba Armengou soll in vier Sprachen singen. Ich kann jedoch nicht beurteilen, ob sie hier gerade portugiesisch, spanisch oder katalanisch schmachtet. Vielleicht ist das bei solchen (Liebes-)Kummersongs sozusagen Jacke wie Hose. Chamorro ist der Kahlkopf am Baß. Alle jungen Frauen spielen auch Instrumente (meistens als BläserInnen); einige sind inzwischen schon berühmt. Nicht auszu-schließen, sie würden auch einmal etwas philosophisch oder politisch Belastetes singen, beispielsweise von mir. Doch wer stieße sie mit der Nase darauf? Neulich habe ich sowohl einer Jazzband aus Thüringen wie einer Ragtimeband aus Louisiana, USA, mein sogar textloses Leon-Stück »Abgang« per Email zum Nachspielen angeboten – da kam nicht einmal ein Räuspern aus den Tiefen des Ozeans zurück. So warte ich wieder auf Zeiten, wo sich die Leute um meine Stücke reißen.



Auf einem Porträtfoto, das ihn vollbärtig und dick bebrillt zeigt, das dichte dunkle Haar zurückgekämmt, erinnert der schweizer Schriftsteller Walther Kauer (1936–87) vielleicht nicht zufällig an den älteren, bärbeißigen hessischen Kollegen Ernst Kreuder. Beide wandten sich, im Nachkriegseuropa noch selten, gegen einen »Fortschritt«, der unsere natürlichen Lebensgrundlagen, dabei auch deren Schönheiten zerstört. Kauers Pathos galt dabei aber nicht dem Kosmos, vielmehr dem Kleinen Mann. Ein Gastspiel im ostdeutschen Hort des Proletariats blieb erheiternd kurz.* Brockhaus widmet ihm sieben Zeilen plus Aufzählung der Hauptwerke. Warum er kaum über 50 Lebensjahre kam, müssen Sie selber herausfinden.

In seinem ausgezeichneten Roman Spätholz von 1976 zeigt sich das Pathos lediglich angenehm gestutzt. »Held« der Geschichte ist ein alter Tessiner Bergbauer, Rocco, der sich zunächst grimmig entschlossen gibt, seinen noch älteren Walnußbaum vor den Motorsägen der vom reichen Geschäftsmann Korten in Marsch gesetzten GemeindearbeiterInnen mit dem Gewehr zu verteidigen. Noch erfreulicher als seine Nüchternheit ist Kauers nahezu vollständiger Nicht-Avantgardismus in der Form dieses Romanes. Das soll bei einigen »verschachtelten« anderen Kauer-Werken anders sein. Nur auf das zeittypische lümmelhafte Weglassen der Gänsefüßchen bei direkter Rede wollte er auch in Spätholz nicht verzichten, damit ihn keiner für so hinterwäldlerisch hielte wie etwa eine Berner Bäuerin galt, die sich Stöckelschuhe verkniff. Durch Verabschiedung der Gänsefüßchen beraubt sich ein Autor nicht nur wichtiger stilistischer Möglichkeiten; er verschlechtert »natürlich« auch die Lesbarkeit seines Textes. Dies scheint allerdings im Spätkapitalismus der Sinn aller Reformen zu sein: Verschlechterung.

Kauer bewegte sich trotz einiger Literaturpreise, im Gegensatz zu etwa dem allgäuer Otl Aicher, zeitlebens am Rande des Existenzminimums. Er war eben Außenseiter. Mehrmals verheiratet, taugte er zum Familienleben wenig. Zuletzt wohnte er mit einer Gefährtin westlich von Bern im romantischen Städtchen Murten (am gleichnamigen See) zusammen, doch seine Fortschrittsfeindlichkeit konnte ihn nicht daran hindern, sich just wie der »innovative« Designer öfter auf ein Motorrad zu schwingen. Ende April 1987, inzwischen 51, fuhr oder brauste Kauer am frühen Nachmittag von Bern nach Murten. Kurz vor der Ankunft in seinem Städtchen stürzte er und blieb mit tödlichen Verletzungen auf der Landstraße liegen. Da die Polizei nach brieflicher Auskunft von Kauers einzigem Kind Jakob keine Spuren von anderen Beteiligten fand, aber auch »keine gesundheitlichen Probleme vorlagen«, habe der Staatsanwalt eine Übermüdung des Fahrers und beispielsweise einen »Sekundenschlaf« angenommen und die Ermittlungen eingestellt.

Jakob Kauer zufolge war sein Erzeuger in Murten so etwas wie ein »Stadtoriginal« gewesen. Man habe ihn geliebt – oder gehaßt. Was Wunder, schließlich habe er gesagt oder geschrieben, was er dachte, da mache man sich nicht nur Freunde. Aber er sei kein »Stänker« gewesen – was man von dem eingangs erwähnten Kreuder nicht unbedingt behaupten kann. »Oftmals einen über den Durst getrunken mit entsprechendem Gehabe, kannte man meinen Vater weit herum. Eine Fasnachtszeitschrift ohne seine Kommentare und Texte war wohl keine richtige Fasnachtszeitung.« Auch sei er ein begnadeter Koch gewesen. Da kann man sich lebhaft vorstellen, wie der Gefährtin, die schon mal das Gemüse geputzt und das Fleisch eingerieben hat, das Geschirrtuch aus der Hand fällt, als sie nach Öffnen der Wohnungstür einem verdächtig gefaßt wirkenden Polizeibeamten gegenübersteht.

* Andreas Petersen im http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Ich-will-endlich-leben-arbeiten-und-den-Sozialismus/story/22919493, 19. Juni 2014



Der schwäbische Kunstpädagoge und Schriftsteller Fritz Alexander Kauffmann (1891–1945) überlebte das Kriegsende um keine zwei Wochen. Brockhaus kennt ihn nicht. Zuletzt Hochschullehrer in Halle, hatten ihn die Nazis im Herbst 1933 zwangspensioniert, obwohl er noch im Frühjahr beflissen in deren Partei eingetreten war. Kauffmann war keineswegs kommunistisch, vielmehr konservativ gestimmt und dem elitären Formdenken der Jahrhundertwende verpflichtet. Er wird meist als unpolitisch geschildert. So zog er sich, immerhin bei vollen Bezügen, wieder nach Ebersbach an der Fils (bei Stuttgart) zurück, wo seine Familie seit 19o5 ihre aus Kloster Denkendorf verlegte Nahrungsmittelfabrik betrieb. Das Unternehmen stellte vor allem Essig, Senf, Likör und Gurkenkonserven her und wurde inzwischen von Kauffmanns Bruder geleitet. Dort, in einem Neubau der Fabrik, hatte sich der mit der Kunsthistorikerin Gertrud Gradmann verheiratete Ästhet Fritz Alexander unterm Dach ein Studio zum Lesen und Schreiben eingerichtet. Neben Kunsttheoretischem entstand hier vor allem sein autobiografisch geprägter, auf Kauffmanns Kindheit im Kloster fußender Roman Leonhard, der erst 1956 posthum erschien. Für den in Esslingen lebenden Lektor und Literaturwissenschaftler Thomas Scheuffelen hat der in einem »kriegswichtigen« Betrieb gewissermaßen hinter Gurkenfässern und Senftöpfen verborgene Kauffmann mit diesem, nicht ganz beendeten Manuskript ein klar, genau und eindringlich geschriebenes »geheimes Hauptwerk der inneren Emigration« hervorgebracht.* Vielleicht hat es Kauffmann auch geholfen, die Demütigung durch die »Entfernung aus dem Schuldienst« zu überwinden und sich nebenbei über den allmählichen Verfall einer ländlichen Unternehmerfamilie zu trösten, der übrigens, in der Realität, eine »Verstoßung des Vaters aus Familie und Firma« einschloß. Karl Kauffmann soll zum Prassen und zu »enttäuschungsbedingten Wutausbrüchen« geneigt haben; vielleicht geschah es ihm recht.**

Wenn Kauffmann sein ohne Zweifel recht rückwärtsge-wandtes Werk über den Knaben Leonhard nicht mehr ganz vollenden konnte, lag es genauso unzweifelhaft am Fortschritt. Mit der offiziellen Ebersbacher Webseite, Sparte Stadtmuseum Alte Post, ausgedrückt, hatten die EbersbacherInnen »nach dem Bau der Eisenbahn Mitte des 19. Jahrhunderts und mit dem Aufkommen des motorisierten Individualverkehrs im 20. Jahrhundert« zu lernen, »auch mit den Nachteilen des Verkehrs zu leben.« Für Kauffmann, inzwischen 53, war die Lektion am 19. Mai 1945 beendet.

Was Kauffmanns Tod angeht, kommt das Internet, soweit ich sehe, nicht über die Formel »Verkehrsunfall« hinaus. Freilich dürften Berichte über den Unfallhergang naturgemäß spärlich und eher unzuverlässig sein. Man bedenke, wir befinden uns in den unmittelbaren Nachkriegswirren, wo es weder Polizei noch Lokalzeitungen, dafür umso mehr Sorgen gab. Nach einem Gespräch, das 1996 (!) mit Kauffmanns Schwägerin Margarethe geführt worden ist***, hatte sich der Schriftsteller hilfsbereiterweise erboten, drei Ebersbacher »Fremdarbeiterinnen« mit einem Firmenwagen zum Göppinger Bahnhof zu bringen, wo sie noch einen Zug nach Italien zu erwischen hofften, von dem man Wind bekommen hatte. Bei Uhingen sei Kauffmann jedoch ein Konvoi von US-Militärfahrzeugen entgegen gekommen, aus dem gerade ein Gefangenentransporter geschert sei, wohl zum Überholen. Mit diesem Transporter sei Kauffmanns Wagen frontal zusammen gestoßen. Für Kauffmann und eine Insassin endete dieser Unfall tödlich. Eine andere Insassin erlitt einen Kieferbruch. Diese Italienerin, eine Frau Dr. Curti, sei später noch einmal zu Besuch in Ebersbach gewesen.

Ein Historiker könnte Zeugin Kauffmann sicherlich mühelos wegen Befangenheit ablehnen; schließlich neige jeder dazu, lieber »die Amis«, wahlweise »die Russen«, als den eigenen Schwager mit Schuld beladen zu sehen. Aber genauso wäre die Annahme voreingenommen, der Schwager sei, des Zuges wegen, gerast oder sonstwie leichtsinnig gefahren. Vielleicht würde der Historiker sein Heil in den Akten der damaligen BesatzerInnen Süddeutschlands suchen – in der Hoffnung, diese Akten, falls überhaupt vorhanden, seien nicht frisiert. Kurz, die Aussicht auf Wahrheitsfindung ist denkbar gering. Tatsache ist, der Zweite Weltkrieg hatte bereits für zigmillionen Tote gesorgt, und jetzt waren es, eher unauffälligerweise, wieder zwei Tote mehr.

* Thomas Scheuffelen, »Hinter Gurkenfässern und Senftöpfen«, Esslinger Zeitung, Pfingsten 1996
** Laut Kai Kauffmann, in: Ferchl/Harbusch/Scheuffelen: Literarische Spuren in Esslingen, Esslingen 2003, S. 137–45
*** Maschinenschriftliches Skript, Juli 1996, Stadtarchiv Ebersbach




Am 5. Juni 1932 brachte es ein wenig bekanntes thü-ringisches Städtchen auf die Titelseite des vielgelesenen, in Berlin herausgegebenen Wochenblatts A-I-Z (Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, Nr. 23). Auf einem Foto sind ein rücklings am Straßenrand liegender Mann mit verklebtem Kopfhaar und zwei andere Männer zu sehen, die erschüttert neben dem Opfer hocken. Der Begleittext lautet: »Mit Karabiner und Gummiknüppel ging die Polizei in Waltershausen gegen die Erwerbslosen vor, die gegen die Kürzung der Wohlfahrtsunterstützung demonstrierten. Der 30jährige parteilose Arbeiter Oskar Kaufmann wurde von der Polizei erschossen.«

Das Alter stimmt nicht ganz, aber ansonsten ist an dem Vorfall nicht zu rütteln. Wie sich versteht, ging dieser Oskar Kaufmann nicht in den Brockhaus ein. Sein buchstäblicher Fall dürfte freilich nicht nur WaltershäuserInnen wie mich berühren. Herausgeber der A-I-Z war übrigens Willi Münzenberg, Kommunist. Er stammte selber, wie das Mordopfer, aus dem Landkreis Gotha. Die damalige Auflage betrug um 500.000. Sie wurde hauptsächlich von mehreren Tausend Erwerbslosen vertrieben. Der deutsche Arbeiter-Samariter-Bund war um 1900 auf Anregung von Sozialdemokraten entstanden. Es ging um Selbsthilfe bei Unglücksfällen und die entsprechende Ausbildung proletarischer Sanitäter.

Den »Arbeitersamariter« Kaufmann hatte es am 20. Mai unweit des Waltershäuser Marktplatzes erwischt. Außerdem habe es an jenem Freitagabend 19 Verletzte gegeben, darunter die beiden neunjährigen Kinder Heinz Massi und Kurt Anschütz, entnehme ich gut 10 Jahre alten Gedenkartikeln in Klarsicht, einem Monatsblatt der Gothaer Linkspartei.* Einige Demonstranten seien in Gotha im Schnellverfahren wegen Aufruhrs zu niedrigen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Von einer Untersuchung der Erschießung ist nirgends die Rede, auch nicht bei Löffler.** Nach Klarsicht-Beiträger Karl Leining, Waltershausen, hatte sich die Waltershäuser Zeitung am 23. Mai, dem Tag der Beerdigung Kaufmanns, gegen die Entstellungen und Greuelmärchen überregionaler Blätter verwahrt. Sie stellte klar, die Wohlfahrtsbewegung umfaßte alle Parteien, von der KPD bis zu den Nazis, und hatte keinerlei politische Losungen. Die Gewalt sei allein von der Landespolizei ausgegangen. Laut Wikipedia hatten wir damals (in Weimar) eine »rechtsbürgerliche Minderheitsregierung« unter Erwin Baum. Kreisdirektor beziehungsweise Landrat in Gotha war Louis Leutheusser von der Deutschnationalen Volkspartei. Ob eine »linke« Regierung ebenfalls Polizei nach Waltershausen geschickt hätte, kann ich nicht beurteilen. Auch Kaufmanns Beerdigung wurde dann noch belästigt. Jahrzehnte später, nach der sogenannten »Wende«, sei man unverzüglich auch einer Gedenktafel und der Waltershäuser Oskar-Kaufmann-Straße zu Leibe gerückt, so Leining weiter. Die Tafel hatte sich am Haus Badegasse 9, Ecke Mühlgasse, befunden – dort, wo Oskar Kaufmann 1932 von der todbringenden Kugel getroffen worden war.

Nun heißt die störende Straße bereits seit gut 30 Jahren Heinrich-Schwerdt-Straße. Sie führt vom Rand der Altstadt Richtung Multicar. Der neue Name stellt in mehrfacher Hinsicht Provokation und Geschmacklosigkeit dar. Die Thüringer Allgemeine nennt Heinrich Schwerdt (1810–88) am 10. März 2023 bereits in der Überschrift eines Gedenkartikels (Bezahlschranke!) einen »überragenden Kirchenmann«. Er war (ab 1872) »Superintendent und Oberpfarrer« in Waltershausen gewesen. Das Internet gibt ihn auch als Pädagogen, Politiker und Schriftsteller aus. 1883 erhob ihn der Gothaer Herzog Ernst II. zum sogenannten Kirchenrath. Wikipedia beschließt seinen Eintrag mit dem Hinweis, 1991 sei in Waltershausen »zu seinen Ehren eine Straße« nach ihm benannt worden. Die Schande für Kaufmann bleibt unerwähnt.

Auch Klarsicht benutzt die Formel, Kaufmann sei »parteiloser Arbeitersamariter« gewesen. Sein Freund und Arbeitskollege in der Thüringer Schlauchweberei Werner Habicht läßt in seinem Gedenkartikel allerdings keinen Zweifel daran: Kaufmann sympathisierte mit Kommunismus und Sowjetunion. Er war außerdem Wander- und Heimatfreund, frönte dem Schachspiel und begeisterte sich sogar für Esperanto. Mit seiner Frau Erna Kornhaß hatte er zwei Kinder. Altersangaben fehlen. Habicht erwähnt aber Kaufmanns Grab mit Findling und Inschriftplatte.

Laut Sigmar Löffler war es wie folgt zu dem Mord gekommen. Die auf dem Markt (nämlich vor dem Rathaus) gegen die Kürzungen und Verzögerungen bei der Wohlfahrtsunterstützung protestierenden Massen wurden von der Landespolizei in die anliegenden Gassen abgedrängt, darunter die ansteigende Badegasse. Diese »stand bald leer, nur von oben schallten noch wütende Schimpfworte, und auch Steine kamen herab, so dass die Polizisten sich nicht über die [quer zum Hang verlaufende] Louisenstraße hinweg wagten und aus der sicheren Deckung der Haustüren nach den [Ein-]Mündungen der Nebengassen schossen. Dabei wurde der Arbeitersamariter Oskar Kaufmann, der vorsichtig um die Ecke spähte, um zu sehen, ob er die Badegasse überqueren könne, durch einen Kopfschuss tödlich verwundet. Sobald er gefallen war, hörte hier das Schießen auf …«

Immerhin ist auf dem Waltershäuser Friedhof noch der hellgraue, leicht gekörnte Gedenkstein für Kaufmann zu finden. Danach war er bei seinem Tod erst 26 (geboren 18. Februar 1906). Der junge Arbeiter stammte aus dem nahen Thüringer-Wald-Dorf Brotterode. Zum Gedenkstein berichtet sein Arbeitskollege Werner Habicht: »Ich suchte einen Findling beim Gerberstein am Rennsteig. Der als Langholzfahrer tätige Bruder meines Vaters brachte den Stein nach Waltershausen. Das Grabdenkmal stammt also vom Höhenweg zwischen Oskar Kaufmanns Geburts- und Sterbeort.« Leider gibt die Inschrift keine Hinweis auf die Klassenherkunft und schon gar keinen auf die Todesumstände Kaufmanns. Es sei denn, man sieht einen Hinweis in dem mächtigen, alten Baum verkörpert, der den Gedenkstein beschattet. Es ist eine Blutbuche.

Der Waltershäuser Karl Leining schreibt 2012: »Das Abnehmen der Gedenktafel [in der Badegasse] wäre vielleicht noch erklärlich gewesen, denn der zweite Teil der Inschrift entsprach nicht den Ereignissen von 1932. Allerdings hätte mit etwas gutem Willen dieser Teil der Tafel auch entfernt werden können. Dass allerdings die Oskar-Kaufmann-Straße trotz zahlreicher Proteste umbenannt wurde, ist nicht zu akzeptieren.«

Wie mir einheimische Gewährsleute berichten, ist die Umbenennung von einer »Großen Koalition« aus Christ- und Sozialdemokraten betrieben worden. Motiv sei weniger gewesen, Schwerdt zu ehren, als vielmehr Kaufmann aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. In der DDR habe man den Gummiarbeiter ungerechtfertigt »heroisiert«, argumentierte die Koalition. Warum gab dann aber Michael Brychcy von der CDU, seit November 1989 (!) bis zur Stunde Waltershäuser Bürgermeister, seinen Segen zur Neuherausgabe von Löfflers Stadtgeschichte, die Kaufmann eindeutig als Polizeiopfer darstellt? Vermutlich ging es wirklich vordringlich ums Stadtbild. Die Bücher von Löffler lesen ja sowieso nur ein paar GeistesarbeiterInnen und Heimatfreunde. Kaufmanns Fürsprecher erlauben sich auch den Hinweis, niemand habe bislang verlangt, die Ernst-Thälmann-Straße aus dem Stadtbild zu tilgen. Das war eben ein ferner Kommunistenführer, den Waltershausen nie zu Gesicht bekam. Kaufmann dagegen sei einheimisches, womöglich vorbildliches Gewächs gewesen. Bei den Unruhen am Marktplatz ging er seiner Verpflichtung als Sanitäter nach. Die AnwohnerInnen der Oskar-Kaufmann-Straße wurden nie um ihre Meinung befragt. Sie seien mehrheitlich gegen eine Umbenennung gewesen. Damals gab es etliche unpersonell benannte Straßen in Neubaugebieten, die man dem Kirchenrath hätte verehren können. Man wünschte jedoch den Dorn am Rand der Altstadt zu brechen, der nur den Namen eines einfachen Arbeiters trug. Jetzt thront der Kirchenrath dort. Wer vom Bahnhof aus auf Waltershausens berühmte barocke Stadtkirche zuhält, kann ihn kaum übersehen.

* http://www.die-linke-gotha.de/fileadmin/KV-GTH/klarsicht/2012/Einlageblatt Mai_2012.pdf, Beilage der Nr. 62, Mai 2012
** Sigmar Löffler, Stadtgeschichte Band II, S. 181 + Anhang Dokument 51 + 52




Der US-Politiker Edward »Ted« Kennedy (1932–2009), ein jüngerer Bruder des weltberühmten JFK, hat im Brockhaus rund 10 Zeilen. Darin läßt sich natürlich nur schwer ein mutmaßliches Schwerverbrechen unterbringen. In der Fußnote gibt das Lexikon aber immerhin einen versteckten Hinweis: dort wird Leo Damores 1988 erschienenes Buch über das Chappaquiddick cover-up erwähnt – über eine Vertuschung also. Und was war bitteschön vorgefallen?

Die Atlantik-Insel Martha's Vineyard (vor Massachusetts, USA) ist ein Prominentenparadies. Und als langjähriger Senator für den Bundesstaat Massachusetts war Ted Kennedy natürlich prominent. Zum Hauptort Edgartown der Insel zählt die kleine Nachbarinsel Chappaquiddick, die 1969 just durch unseren Ted Berühmtheit erlangte. Damals fuhr er eine Sekretärin und Wahlkampfhelferin von wieder einem anderen Bruder, nämlich Robert, in den Tod. Man hatte Mary Jo Kopechne zu einer Party im kleinem Kreis eingeladen. Der Alkoholkonsum war beträchtlich.* Angeblich gewillt, Kopechne anschließend zur letzten Fähre nach Edgartown zu bringen, stürzte Ted mit seinem Wagen im Lauf eines merkwürdigen »Umweges«, der ins Feld führte, um Mitternacht von einer Brücke in einen Gezeitenkanal. Er konnte sich befreien, ließ jedoch mindestens acht Stunden verstreichen, ehe er sich bei der Polizei meldete. Seine bildhübsche, knapp 29 Jahre alte Begleiterin dagegen ertrank oder erstickte oder kam sonstwie um. Eine Obduktion fand nicht statt.* Taucher hätten Kopechne möglicherweise noch nach zwei oder drei Stunden lebend bergen können, da sie eine Luftblase im Wageninneren ausgenutzt hatte. Vielleicht hatte »Senator« Kennedy, damals 37, die acht Stunden dazu genutzt, Zwiesprache mit Gott zu halten oder wenigstens seinen Alkoholpegel absinken zu lassen. Das zweite räumte er sogar ein.*

Die irdischen Richter faßten ihn dann mit Samthand-schuhen an. Die Eltern des Opfers wurden, wie so oft, außergerichtlich mit Geld gestopft, rund 140.000 Dollar. Dafür nahm Kennedy erfreut zwei Monate Haft auf Bewährung wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort entgegen. Er wurde noch 77. Allerdings hatte der Chappaquiddick-»Skandal« genug Staub aufgewirbelt, um sein Ansehen empfindlich zu beschmutzen, weshalb er entgegen seinem damaligen Streben nicht als pensionierter und selbstverständlich glorreicher US-Präsident vor seinen Schöpfer treten konnte. Jener Staub hat inzwischen auch etliche Bücher gefüllt, die mit verschiedenen, durchweg interessanten Theorien aufwarten.

* Antonia Kleikamp am 19. Juli 2019: https://www.welt.de/geschichte/article196596097/Todesfahrt-1969-Wie-viel-Schuld-trug-der-juengste-Kennedy.html



Die wenigen Brockhaus-Zeilen über die DDR-Schrift-stellerin Susanne Kerckhoff (1918–50) schließen in Klammern »Selbstmord« ein. Sie kam aus gutem Berliner Hause. Kurz nach Kriegsende hatte sich die Halbschwester des Philosophen Wolfgang Harich von ihrem Mann, einem Buchhändler, und ihren drei Kindern getrennt, um in Ostberlin antifaschistisch-literarisch wirken zu können. Sie schrieb zunächst für den Ulenspiegel. 1948 schon Redakteurin, bald darauf Feuilletonchefin der einflußreichen Berliner Zeitung, kam sie außerdem in kurzer Zeit mit mehreren Gedichtbänden und Romanen zum Zug. Die zierliche Schwarzhaarige mit dem strahlenden Lächeln gehörte zum Wir-bauen-den-Sozialismus-auf-Apparat. Während sie nach Leseart ihrer AnhängerInnen (die bei Kerckhoffs nicht seltenen sprachlichen Plattheiten beide Augen zudrücken) zunehmend über die Spalte zwischen ihren literarischen oder frauenrechtlichen Ansprüchen und den Zwängen des SED-Regimes stolperte, könnte sie sich in ihrem Ehrgeiz als Wächterin gerade dieses Regimes übernommen haben, so vor allem in der »Affäre Nico Rost«. Kerckhoff hatte Rosts Roman Goethe in Dachau angegriffen, der 1948 in einer Übersetzung bei Volk und Welt erschienen war. Daraufhin flog der Schmutz kreuz und quer durch die befreite »Zone«. Im Ergebnis hatte sich Kerckhoff sowohl bei SED-Oberen wie bei westlichen Gralshütern der »Demokratie« in die Nesseln gesetzt. Als dann noch ein westdeutsches Gerichtsurteil, das Kerckhoffs Kinder deren Vater zusprach, und eine vertrackte Liebesgeschichte hinzu kamen, »brach sie zusammen«, wie es in einigen Quellen heißt. Die 32jährige drehte in Berlin-Karolinenhof den Hahn ihres Küchengasherdes auf.

Das war 1950. Der Geliebte hieß Georg Stibi (1901–82), nach dem Exil in Mexiko kurzzeitig Chefredakteur der Berliner Zeitung. Laut einem biografischen Text aus dem Trafo-Verlag (Monika Melchert?) von 2003* wollte oder durfte sich »der verheiratete politische Funktionär« nicht für Kerckhoff »freimachen«. Er kam dann noch hoch hinaus: 1955 Chefredakteur des Neuen Deutschland, 1961–74 stellvertretender Außenminister der DDR.

* http://www.trafoberlin.de/3-89626-405-2.html
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