Montag, 8. April 2024
Risse im Brockhaus 15

Den ausführlichen Brockhaus-Artikel über Glas, Glasherstellung und Glaskunstwerke würde ich ganz gerne durch Würdigung einer Berliner Glasfabrik ergänzen – nur stößt mein Wunsch auf gewisse Schwierigkeiten. Zum Beispiel ist sie inzwischen gar keine Glasfabrik mehr. Aber eins nach dem anderen. Ich wurde auf das Objekt um 1990 aufmerksam, als ich im Doppeldeckerbus öfter zwecks Modellstehens in einer recht entlegenen Volkshochschule durch die Reinickendorfer Ollenhauerstraße schaukelte. Aus rotem Backstein und verständlicherweise viel Glas errichtet, lag diese Fabrik (Hausnummer 97) fast wie eine riesige Woge mit vorn aufspritzender Gischt am breiten Bürgersteig. Der Architekt hatte die zur Straße gelegene ausgedehnte Fassade in der Längslinie kurzerhand gekrümmt oder ausgebuchtet! Das fand ich walfischstark, weil der ganze Klotz auf diese Weise in eine beinahe anmutige Bewegung geriet. Dummerweise versäumte ich es damals, mich vielleicht beim Pförtner nach dem Namen des Architekten zu erkundigen. Selbst der Firmenname fällt mir nicht mehr ein. Die Suche im Internet wird zum Schlag ins Wasser. Also schreibe ich den neuen Nutzer des Gebäudes an – die nächste Abfuhr: »Bei Fragen rund um das Bauwerk wenden Sie sich bitte an unseren Vermieter, die DIBAG Industriebau AG.« Mehr nicht.

Das Gebäude wurde 2005 von der Staatlichen Münze Berlin bezogen. Dort prägt sie jetzt, solange Bargeld noch nicht verboten ist, unsere Euro-Stücke, stellt deren VorläuferInnen im eigenen Museum aus – und wimmelt Neugierige wie mich ab. Ich finde die zitierte kurzange-bundene Antwort auf meine freundliche architektur-geschichtliche Anfrage doch recht befremdlich. Wenn eine Münzbehörde nicht weiß, in was für einem schönen Gebäude sie eigentlich sitzt und wem das zu verdanken sei, sollte sie vielleicht in Zukunft lieber gedörrte Back-pflaumen prägen und unter die Leute werfen, keine Zwei-Euro-Stücke.

Allerdings bezieht sich mein Befremden überdies auf den Mieter-Status der Behörde. Wie man sich denken kann, schrieb ich nun auch dem genannten Vermieter – der nicht im Traum daran dachte, höflicher als die Münzbehörde zu sein, im Gegenteil. Er schwieg also. Daraus schloß ich: entweder bin ich diesem Unternehmen nicht wichtig genug, oder es läßt sich grundsätzlich ungern in die Karten schauen – und am Ende noch als „Haifischfirma“ beschimpfen. So oder so bedrängt mich die Frage, warum sich die Staatliche Münze Berlin vor knapp 20 Jahren nicht einfach eine neue Wirkungsstätte kaufte. Fehlte es ihr an dem, was sie dauernd herstellt, nämlich an Geld? Oder kannte Regierungsrat Y zufällig einen Immobilien-manager Z, der an einem fetten Mietgeschäft interessiert war? Denn der Staat hält ja immer die Kühe, die sich am ergiebigsten und beständigsten melken lassen.

Das ist ein heikles Geschäftsfeld, zu dem mir sicherlich das geeignete geheimdienstliche Zeug fehlt, zumal ich im tiefsten Thüringer Wald sitze. Also wandte ich mich zuletzt an den erfahrenen, dazu namhaften »linken« Berliner Journalisten X. Vor Jahren waren wir sogar zeitweise im selben Blatt mit Beiträgen vertreten. Ich schlug ihm vor, der Sache vielleicht einmal nachzugehen und im Idealfall einen Artikel zu veröffentlichen, auf den ich mich dann wiederum in dieser Risse-Folge stützen könnte. Aber er eiferte der DIBAG nach: er schwieg. Daraus schloß ich auf sein geringes Interesse an diesem Thema und auf seine gewaltige Höflichkeit.

Manchmal verliert man wirklich die Lust, sich überhaupt noch mit irgendwelchen Anliegen oder Vorschlägen an erwachsene MitbürgerInnen zu wenden. Stattdessen sehnt man sich in die Kindheit zurück. In einem Städtchen wie Gudensberg fanden sich immer zwei oder drei Nachbarskinder, denen ein paar verlockend bunt-marmorierte Glasmurmeln in der Hosentasche klimperten und die einem kleinen Spielchen keineswegs abgeneigt waren. Jedes Fleckchen Erde an Zäunen oder Scheunen war dazu geeignet. Hatte man Pech, verlor man selber das eigene Kapital restlos und mußte sich um Rückerstattung oder wenigstens Kredit prügeln. Aber das war am nächsten Tag schon wieder vergessen. Für die Berliner Münze wären Murmeln vielleicht gar keine schlechte Alternative zu den Backpflaumen.



Wäre ich ähnlich positiv gestimmt wie Sie, lieber Leser, müßte ich noch heute und für alle Zukunft dankbar sein, daß ich mir im Sommer 2003 auf der ersten Innenbau-stelle der hiesigen Puppenfabrikkommune nicht den Hals, sondern nur das linke Handgelenk brach. Ich stürzte von einer fahrlässig wackligen Stehleiter und ging knapp neben einem Stapel Rigipsplatten zu Boden. Die Kante dieses kniehohen Stapels hätte bei einem Genickbruch sicherlich ebenfalls gelitten.

Vermutlich brach ich mir besagte Hand, weil ich mich törichterweise mit dem linken Arm abzustützen suchte. Stuntmen fallen bei Hechtsprüngen unversehrt, indem sie vor dem Bodenkontakt ihres Körpers in den Ellbogen einfedern; sie fangen sich ab. Meine MitstreiterInnen, die mich dem Krankenhaus in Friedrichroda zuführten, sagten mir später, ich hätte nach dem Sturz wie unter Drogen stehend gewirkt. Den linken Arm schief und steif nach hinten haltend, den Blick gesenkt, sei ich nach dem Aufrappeln in Richtung Treppenhaus gewankt. Auf besorgte Erkundigungen hätte ich nur beschwichtigendes Zeug gemurmelt und abwehrend den Kopf geschüttelt, ohne in meinem merkwürdigen Fluchtversuch inne zu halten. Es war der Schock. Ich wollte unwillkürlich vor meinem gebrochenen Handgelenk fortlaufen. Schmerzen spürte ich nur dumpf. Insofern trog jener Eindruck also nicht; mit dem jähen Sturz von der Leiter und dem Bruch war ich sozusagen geistig weggetreten.

Wie sich versteht, hätte ich diese kriminelle Leiter als Handwerker mit Gesellenbrief niemals benutzen dürfen. Aber jeder Kommunarde benutzte sie; wir hatten zu wenig Leitern. Auf einer »bürgerlichen« Baustelle wären Polier oder Bauleiter zur Rechenschaft gezogen worden – hatten wir nicht. Informeller Bauleiter war unser Architekt L. Der gute Genosse ist ausgesprochen vielseitig begabt, nur die Sorgfalt hat er leider nicht mit Löffeln gegessen. Wo er sparen kann, spart er – etwa an Leitern. Außerdem ist er ein Reinhauer. Alles soll schnell gehen, auch wenn dadurch Raubbau an den Kräften betrieben wird. L.s Lieblingswort war Effizienz. In diesem Fall drückte sie sich in einer dreimonatigen Baupause des Genossen Henner aus, von den Folgeschäden nicht zu schweigen. Es war ein komplizierter Trümmerbruch. Zwar verhalfen mir Chirurg Friedrich Lange und die Krankengymnastik zu erfreulicher Beweglichkeit und fast vollständiger Schmerzfreiheit in der linken Hand, doch gewisse Einschränkungen hielten sich noch mehrere Jahre. Das betraf zum Beispiel mein Training auf der Gitarre. Inzwischen dürfte ich sowieso nicht mehr jung genug sein, um ein »Comeback« auf deutschen Kleinkunstbühnen einzufädeln.

Dafür gelang mir im Winter 2008/09 fast eins auf Glatteis. Daß die Straßen glatt sein würden, sagte ich mir bereits, als ich mein Fahrrad in der Frühe nicht auf Anhieb die 70 Zentimeter hohe Böschung vor meinem Gartentor hinauf bekam. Ich wohnte damals schon solo nahe der Puppenfabrik in einer Gartenhütte. Der Stichweg zur Bebelstraße lag höher als mein Garten, und die Platten der Auffahrt waren vereist. Da ich den zerfurchten und verharschten Stichweg leidlich gut bewältigen konnte, hatte ich meine innere Ermahnung schon wieder vergessen, als ich ihn hinter mir hatte. Prompt fiel ich beim Einbiegen in die Bebelstraße auf die Fresse. Wie durch ein Wunder – so hätten bestimmt die Nachrichtenagenturen formuliert – brach ich mir nicht die rechte Hand (wegen der Abwechslung). Lediglich der rechte Ellbogen schmerzte für ein paar Tage. Nebenbei hatte ich natürlich Schweineglück im Hinblick aufs »Straßenverkehrsrecht«, wie Brockhaus anmerkt. Nach diesem müsse ein Kraft- oder Radfahrer »auch bei Glatteis rechtzeitig vor einem Hindernis«, etwa einem Benutzer der Bebelstraße, anhalten können. Ich hatte damals freie Bahn.

Meine Unberechenbarkeit jagt mir doch immer mal wieder einen Schrecken ein. Neurasthenisch veranlagt, bin ich doch eigentlich die Vorsicht in Person. Ich bringe es fertig, bereits zugeklebte Briefe wieder zu öffnen, damit ich zum dritten Mal überprüfen kann, auch bestimmt nichts vergessen zu haben. In anderen Fällen dagegen unterbindet irgendeine draufgängerisch gestimmte Hirnregion, die Aamodt/Wang (Welcome to your Brain, 2008) sicherlich genau kennen, das »Abfeuern« von Neuronen der Ängstlichkeit durch irgendeine andere Region (oder »synaptische Verbindung«). Prompt laufe ich ins Messer oder eben aufs Glatteis, sodaß der Fröttstädter Landwirt und Freund, dem ich beim Sortieren oder Setzen seiner Kartoffeln behilflich sein will, unter Umständen allein auf weiter Flur steht.

Die ganze Wahrheit ist noch viel schlimmer. Wievieler »spontaner« oder zumindest übereilter Maßnahmen habe ich mich schon erkühnt, für die ich entweder eine aufs Dach bekam oder wenig später am liebsten vor Scham im Fußboden versunken wäre oder beides. Und die Gesetzmäßigkeit, nach der ich mal vorsichtig, mal unbekümmert bin, möchte ich sehen. Es gibt sie nicht.



Vom Philosophieprofessor Hermann Glockner (1896–1979) würdigt Brockhaus lieber seine berühmte, 1927–59 herausgebrachte Jubiläumsausgabe von Hegels Sämtlichen Werken als das eigene Gedankengut oder die Fähigkeit, sich unterschiedlichen Regimen anzupassen. Sehe ich (mit Klee) richtig, trennten ihn aber von Hegels Vorlieben keineswegs Welten. Beide Männer waren in die Idee des Staates und des Kampfes verliebt. Daher auch Glockners Wettern gegen »semitischen Einfluß in der deutschen Philosophie«, wie andere Quellen mitteilen. Was den Staat betrifft, sei er für Hegel, so Brockhaus im selben Band 9, die Instanz, »in der das Gattungsleben der Menschen seine höchste und nicht mehr überschreitbare Form« erhalten habe. Der Staat sei »sich selbst als Zweck auszeichnendes allgemeines Leben«, »absolute Freiheit« … Meine Herren, möge mich Gott in meinem nächsten Leben vor diesem Selbstzweckungeheuer schützen. Für Glockner kam es anscheinend auf die Hautfarbe des Ungeheuers, etwa preußischblau oder nazibraun, nicht sonderlich an. Hauptsache, stark. Lehrstühle hatte Glockner ab 1933 in Gießen, wohl bis 1949, und dann wieder 1951–64 an der TH Braunschweig. Schätzte er Autorität, dann natürlich auch Größe. In der Westberliner Amerika-Gedenk-bibliothek maß ich einmal, per Handspanne, den Platz aus, den jene von Glockner editierten Hegelschen Werke im Regal einnahmen. Ich glaube, es waren um 90 Zentimeter. Viel mehr hat mein 24bändiger Brockhaus auch nicht zu bieten.



Man denkt zunächst: bei Herrn Brockhaus kommt die Glühlampe aber erstaunlich schlecht weg. Vielleicht hatte ihn ja ein Lobbyist der neuen, grotesken Energiespar-lampe angepiekt. Ihr und weiteren modernsten Ausgeburten hatte die Glühlampe bekanntlich inzwischen staatlich verordnet (2012) zu weichen. Brockhaus erläutert (1989): Die Lichtausbeute bei Glühlampen ist lächerlich gering, um fünf Prozent; sie geben ansonsten Wärme ab, die für ein Treibhaus mit Ananasstauden ausreicht. Bei Sonderlampen läßt sich die Lichtausbeute vielleicht erhöhen, jedoch auf Kosten der Lebensdauer der Lampe. Diese betrage bei Allgebrauchslampen im Mittel 1.000 Stunden. Dann lobt Brockhaus allgemeiner das Streben der Industriellen »nach höchstmöglicher Lichtausbeute bei ausreichender Lebensdauer« – was freilich auf die und die technischen Probleme stoße. Er nennt sie auch. Dafür schweigt er konsequent von allen nichttechnischen, nämlich unmoralischen oder politischen Motiven, die bei der Produktion von Lichtquellen, nach allen Erfahrungen, durchaus ebenfalls im Spiel sein könnten.

Vielleicht ist es am einfachsten und eindringlichsten, die verwickelte Sachlage mit Hilfe des Berliner Erfinders Dieter Binninger (1938–91) zu umreißen. Man geht wohl kaum fehl, diesen Mann zu den zahlreichen Opfern der bekannten Wendung=Umkrempelung der DDR zu zählen. Er starb mit vermutlich 53 beim Absturz seines Privatflugzeuges. Der gelernte Uhrmacher und Elektroingenieur hatte zunächst mit auf der Mengenlehre fußenden Lichtzeichen-Uhren auf sich aufmerksam gemacht. Ein größeres Exemplar von diesen, die sogenannte »Berlin-Uhr«, steht noch heute vor dem Europa-Center in der Budapester Straße. Dann tüftelte Binninger in einer winzigen Kreuzberger Fabrik an einer haltbaren Glühlampe, weil die herkömmlichen Birnen, die er in seinen Uhren verwendete, wie üblich viel zu schnell kaputtgingen. Bekanntlich ist ja die Menschheit im ganzen schon seit knapp 100 Jahren Opfer eines kapitalistischen Glühlampen-Kartells, das sich auf eine Begrenzung der Haltbarkeit von 1.000 Stunden geeinigt hatte. Binninger jedoch erfand eine »Ewigkeitsglühlampe«, die (angeblich und möglicherweise um den Preis anderer Nachteile) fette 150.000 Stunden halten wollte oder sollte, das entspräche einer pausenlosen Brenndauer von 17 Jahren. Zufällig fiel sein Plan, sie auch selbst herzustellen, mit der schon erwähnten »Wende« zusammen. Am 27. Februar 1991, »einen Tag vor Auslauf der Angebotsfrist«, so Helmut Höge*, gab Binninger zusammen mit der Berliner Commerzbank ein Kaufangebot für eine Teilfabrik des Ex-DDR-Leuchtstoff-Kombinats Narva bei der berüchtigten Treuhand ab. Damit hatte er im krassesten Fall sein Todesurteil unterzeichnet.

Am 5. März von Berlin nach Döhren (nördlich von Helmstedt) unterwegs, wo er ein Ferienhaus hat, stürzt Binningers einmotorige Tobago B10 kurz vor dem Ziel ab. Angeblich fällt sie bei Döhren genau in den ehemaligen »Todesstreifen«. Neben dem designierten Industriellen kommen auch dessen Sohn Boris, wohl 23, und der Pilot Lothar Scholz in den Flammen ums Leben. Die unterschiedlichsten Quellen nennen diesen »Unfall« durchweg ungeklärt** oder mysteriös, aber nicht eine von ihnen schildert Einzelheiten. Es muß ja eine, wie fragwürdig auch immer durchgeführte amtliche Untersuchung gegeben haben. Augenzeugen waren anscheinend nicht vorhanden. Immerhin führen einige Quellen das nächste bedeutsame Datum an: den 1. April. An diesem Tag, knapp vier Wochen nach dem Absturz bei Döhren, wird in Düsseldorf der damalige Treuhand-Chef Detlev Rohwedder erschossen. Auch dieser Todesfall, offiziell der RAF in die Schuhe geschoben, ist ungeklärt. Rohwedder hatte sich gegen die brutale »Abwicklung« der DDR-Fabriken stark gemacht, dabei ausdrücklich, wenn ich nicht irre, auch der Ostberliner Narva, die verständlicherweise vor allem Siemens/Osram ein Dorn in der eigenen Glühbirne war. Nun aber wurde das Kombinat zügig weiter zerlegt oder zweckentfremdet, soweit nicht gleich stillgelegt, und dadurch plattgemacht, wie die ganze DDR.

Gegen Ende seiner gründlichen und stoffreichen Studie zieht Höge unter Bezug auf zwei kritische Dokumentar-filme von Mayr/Gieselmann und Cosima Dannoritzer ein niederschmetterndes Fazit. Ich zitiere es kaum gekürzt. Danach stellten Mayr/Gieselmann klar: >Das Glühbirnenverbot war keine umweltpolitische Maßnahme, sondern eine rein profitorientierte der Elektroindustrie. Und die EU-Politiker sowie Greenpeace waren ihre verlogenen Erfüllungsgehilfen: Die Ersetzung der Glühbirne durch Energiesparlampen hat fatale gesundheitliche Konsequenzen für die Bevölkerung: Diese umgebogenen Leuchtstoffröhren verursachen Quecksilbervergiftung, kontaminieren die Umwelt, haben ein schlechtes Lichtspektrum und stören mit ihrem Flackern neurologische Prozesse. Der Film zeigt »die kartellartigen Machenschaften der großen Lampenher-steller,« heißt es in einer Rezension. / Diesen »Machen-schaften« ist Cosima Dannoritzer [..] genealogisch nachgegangen: Mit der Glühbirne begann das, was man »planned obsolescence« (geplanten Verschleiß) nennt, indem ihre »Lebensdauer« sukzessive reduziert wurde [scheibchenweise verkürzt], um mehr davon zu verkaufen. Es folgten Nylonstrümpfe, Textilien usw. – bis hin zu Druckern von Epson und IPhones von Apple. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 wollte man in den USA sogar – analog zum weltweiten Elektrokartell (Phoebus) – jeden Unternehmer, dessen Waren zu lange halten, von Staats wegen mit einem Bußgeld bestrafen. Man begnügte sich dann jedoch mit immer kürzeren Produktzyklen – bis heute. Der Elektroschrott – vom Computer bis zur Energiesparlampe, der dabei anfällt, landet seit Jahren in Ghana als »Second Hand«-Ware – und vergiftet dort ganze Landstriche.<

Ich schließe mit Höges Klage, in der Postmoderne sei die »Suche nach sozialen Lösungen für technische Probleme« schon nahezu erstickt worden. Genau so ist es. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es Höge schmecken würde, die Bevölkerung Richtung Mollowina zu bewegen. In dieser kleinen, freien Balkanrepublik hat man (um 1904) freiwillig auf elektrischen Strom verzichtet. Will einer abends noch lesen, zündet er eine Kerze an. Meistens zieht er es aber vor zu schlafen, weil er dann auch wieder früh, beim ersten Morgendämmer, aus dem Bett hüpfen kann. Also, mit so einem rückschrittlichen und unbequemen Programm gelänge der rührigen Frau Wagenknecht wohl kaum der Sprung ins Tag und Nacht erleuchtete Regierungsviertel unserer Siemens-und-Osram-Stadt an der Spree.

* Helmut Höge in seinem https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2012/08/31/zum-vorubergehenden-gluhbirnenverbot/, 31. August 2012
** So am 5. Juni 2012 selbst der Berliner Tagesspiegel (Sylvia Hallensleben: »Verteidigung der Glühbirne«)




Statt mich in ferner Zukunft (Band 24) mit den berühmten Grafen von Zeppelin abzugeben, will ich mich hier einem »Kollateralschaden« der deutschen Luftschiffahrt widmen, den Brockhaus natürlich leicht übergehen kann. Es handelt sich um das unrühmliche Ende des Bremer Tischlersohns Hans Gluud (1875–1913). Hans wurde Seemann und Kapitän, fand jedoch seinen frühen Tod (mit knapp 38) erst in der Luft: er stieg zum Luftschiffer im Dienste des Ferdinand Graf von Zeppelin auf, stationiert in dessen Friedrichshafener Werft am Bodensee. Damit stand er zunehmend auch im Dienste der kaiserlichen Marine. Im Oktober 1913 war es ihm, dem Luftschiffkomman-danten, zunächst gelungen, LZ 18/L 2, das jüngste Produkt des greisen Zeppelins, ohne Zwischenfälle von Friedrichshafen nach Berlin-Johannisthal zu überführen. Erst bei einem neuerlichen Startversuch am 17. Oktober, der die Übergabe der 158 Meter langen Luftgurke an die Marine einleiten sollte, explodierte sie bereits in 200 Meter Höhe. Von je nach Quelle 28 oder 30 Menschen an Bord kamen 28 oder 30 um. Es wären deutlich mehr gewesen, hätten die »technischen Mängel«, die man dann verantwortlich machte, mit dem Zuschlagen noch gewartet, bis das Luftschiff die ersten Johannisthaler Hausdächer streifte. Dabei hatte es sich weder um den ersten noch den letzten Schiffbruch eines Zeppelins gehandelt. Allein im Ersten Weltkrieg, der ja vor der Haustür stand, wurden knapp 90 Ungetüme gebaut, von denen rund 30 durch »Feindeinwirkung«, rund weitere 30 durch Unfälle verloren gingen. In einigen Fällen hatten sie wenigstens schon ihre Bombenlast auf England geworfen, sodaß man auf beiden Seiten des Ärmelkanals seufzen konnte, geteiltes Leid sei halbes Leid.

Immerhin, unter jenen knapp 30 verkohlten Leichen auf dem Johannisthaler Rasen befanden sich auch die Überreste von Marineschiffbaumeister Felix Pietzker, 34, der die betreffende Luftgurke entworfen hatte. Ein Kanzleibuckel des sogenannten Kaisers schrieb* Pietzkers Witwe Frieda, wohl Mutter zweier Kinder: »Seine Majestät haben mich ferner Allerhöchst beauftragt Ihnen Allerhöchst sein wärmstes Beileid auszusprechen. Seine Majestät hoffen, daß es Ihnen und den Ihrigen ein Trost sein werde, zu wissen, daß Ihr Gatte in treuester Pflichterfüllung im Dienste des Vaterlandes einen ehrenvollen Tod gefunden hat.«

Jener ungünstigen Verlustrate von knapp zwei Dritteln eiferten dann nach dem Zweiten Weltkrieg die bundesdeutschen Starfighter nach – mitten im Frieden. Darauf komme ich zurück.

* laut Peter-Philipp Schmitt, http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ungluecke/luftschiff-unglueck-vor-100-jahren-ein-traum-der-luefte-explodiert-12619255.html, 16. Oktober 2013



Bei einer heutigen führenden Grünen hätte sich Herr Brockhaus eine solche Unterschlagung nicht erlauben können. Man hätte ihn mit faulen Eiern beworfen und ihm den Zipfel abgeschnürt. Emma Goldman (1869–1940) jedoch, russischstämmige US-Bürgerin, war eine Schwarzrote, und die läßt man schon mal weg, ohne nennenswerte Absatzeinbußen befürchten zu müssen. Dabei waren, von ihrem Geschlecht einmal abgesehen, kritische anarchistisch gestimmte Köpfe damals in Nordamerika nicht gerade dicht wie Kürbisse gesät. Das heißt, um 1920 hatte sich Goldman zwangsweise (Ausweisung) länger in der Sowjetunion aufzuhalten. Aber auch dadurch ragt sie heraus, führte das doch zu schmerzlichen Ernüchterungen, die sie keineswegs für sich behielt. Leo Trotzki etwa nennt sie in ihren Erinnerungen den Schlächter von Kronstadt. Ihre Aufsätze kenne ich nur auszugsweise, während ich die Erinnerungen* gern und gründlich gelesen habe. Goldman schreibt schlicht, flüssig und erlebnisreich und schüttet auf diese Weise einen ganzen Sack von Anregungen über ihren LeserInnen aus. Da hätten wir schon eine: Laut meinem Bücherzettel – ich hatte den Wälzer nur ausgeliehen – erwähnt Goldman auf Seite 365 eine interessante Flucht eines Genossen aus dem Gefängnis. Ich glaube, der Mann hatte sich in der Tischlerei des Gefängnisses in ein frisch angefertigtes Faß einnageln lassen, sodaß er bei oder nach dessen Auslieferung tatsächlich in die Freiheit entweichen konnte. Mein Gott! Ich wäre schon bei dem Einnageln in der Gefängnistischlerei vor Angst gestorben. Goldman selber saß nebenbei gleichfalls wiederholt im Knast. Sie erlag mit 70 in Toronto, Kanada, einem Schlaganfall.

* Deutsche Übersetzung (Marlen Breitinger): Gelebtes Leben, Hamburg 2010, gut 900 Seiten



Warum wird ein erfolgreicher, stets freundlich lächelnder Journalist und Buchautor, der noch nicht einmal Kriegsberichterstatter ist, schon mit 43 Jahren kaltblütig erschossen? Brockhaus verrät es nicht, meldet David Graham Phillips (1867–1911) aber immerhin (in Band 17) als »ermordet«. Um es kurz zu machen: der Sohn eines wohlhabenden Politikers eckte zuletzt zu oft an. Er hatte im Lauf seiner Lehrjahre seine »soziale Ader« entdeckt und stürzte nun allein durch das Fächeln mit renommierten Blättern, die enthüllende Artikel von ihm gebracht hatten, etliche von Industriekonzernen bestochene Senatoren von ihren Sesseln. Damit – und mit zahlreichen, vermutlich eher flüchtig geschriebenen, damals durchaus vielgelesenen Erzählungen und Romanen – gehörte er zu jenen um 1900 aufgetretenen, später so genannten muckrakers, die heute als »Väter des investigativen Journalismus« gelten. Gutaussehend und gutbetucht wie er war, ähnelte Phillips von der Erscheinung her allerdings weniger einem (wahlweise) »Schmierfinken / Mistkratzer / Schmutzaufwühler / Nestbeschmutzer«, vielmehr einem Dandy. Zu allem Überfluß soll er auch noch weiße Smokings bevorzugt haben. Jedenfalls hatte er Sinn für Inszenierung. Man könnte deshalb fast argwöhnen, er habe auch seinen Aufsehen erregenden Tod bestellt.

Als Phillips am Nachmittag des 23. Januars 1911 in New York City auf den Princeton Club am Gramercy Park zuhielt, stand er unversehens nicht etwa einem von jenen Senatoren gedungenem Berufskiller, vielmehr dem Geiger des Pittsburgh Symphony Orchestras Fitzhugh Coyle Goldsborough (1879–1911) gegenüber. Wie sich später, als beide Beteiligten tot waren, herausstellte, war der Orchestermusiker davon überzeugt, der muckraker habe durch die Gestaltung verschiedener Figuren seines zwei Jahre zuvor erschienenen Romanes The Fashionable Adventures of Joshua Craig Goldsboroughs prominente Sippe, insbesondere seine Schwester, mit Schmutz beworfen. Nachdem er dem Autor nicht weniger als sechs Kugeln verpaßt hatte, tötete sich der 31jährige Musiker auf der Stelle auch selbst, wohl durch Kopfschuß. Phillips starb anderntags im Krankenhaus.

Während damals die meisten Blätter von den »Wahnvorstellungen eines verrückten Geigers« sprachen, unterstreicht Peter Duffy 100 Jahre später in der New York Times* den sozialen Hintergrund des Mörders. Die Goldsboroughs aus Maryland und Washington D.C. hätten genau jenen »vergoldeten aristokratischen Kreisen« angehört, die Amerika nach Auffassung Phillips‘ ins Verderben führen würden. Auch sein genannter satirischer Roman habe eben diese Kreise aufs Korn genommen. Nebenbei behauptet Duffy, US-Präsident Theodore Roosevelt habe seine 1906 in einer im Gridiron Club gehaltenen Rede verwendete Bezeichnung »The Man With the Muck Rake« [Mistgabel] ausdrücklich auf Phillips persönlich gemünzt, also nicht etwa »the men« gesagt. Hat Duffy recht, könnte sich Phillips demnach für das heute nahezu erstorbene Echo seiner literarischen Werke mit dem Gedanken entschädigen, wenigstens dem Gattungsbegriff der muckrakers zum Durchbruch verholfen zu haben.

* Peter Duffy, »The Deadliest Book Review«, 14./16. Januar 2011: http://www.nytimes.com/2011/01/16/books/review/Duffy-t.html?pagewanted=all&_r=0



Der knapp zwei Spalten ausgedehnte Platz, auf dem uns Brockhaus den Golf-Sport vorstellt, ist von den bekannten Bedenken, etwa Vermögenslage und Ökologie betreffend, gleichsam leergefegt. Da zeigte sich schon 1966 sogar der Spiegel kritischer, wie ich neulich in meinem Nasen-Eintrag über den US-Profigolfer und Playbog Tony Lema erwähnt habe. Lema (32) stürzte 1966 bei Chicago mit einem Privatflugzeug ab – über einem Golfplatz. Näheres zu den Bedenken läßt sich nebenbei meiner ersten Kommissar-Düster-Geschichte »Der Rollstuhl« entnehmen, Kapitel 14. Düster und seine neue Flamme Ilona Velberting suchen ausflugsweise Schloß Escheberg bei Zierenberg auf.

Sieht man sich ein bißchen im Internet um, scheint es auf Golfplätzen nach wie vor sowohl Golfbälle wie Unglücksfälle zu hageln. 2022 meldet just der Spiegel, durch einen mißglückten Abschlag habe (2019) in Utah, USA, ein Vater sein eigenes sechsjähriges Töchterchen getroffen, tödlich. Man liest auch von gefährlichen Wildtieren und tödlichen Blitzschlägen. Die Vielfalt übertrifft in dieser Hinsicht den erbärmlichen aufgepäppelten Golfplatzrasen bei weitem. Ein Gerichtsmediziner hat kürzlich ein ganzes Buch mit dergleichen gefüllt.

Wahrscheinlich ist Ihnen auch schon Agathe Christies 1923 veröffentlichter Krimi Der Mord auf dem Golfplatz untergekommen. Knapp 100 Jahre später, 2021, fanden sich auf einem Golfplatz in Georgia, USA, drei Leichen von Erschossenen, darunter Golfprofi Eugene »Gene« Siller, 41. Möglicherweise war er Zufallsopfer. Die Polizei nahm bald nach der Entdeckung an, Siller sei dem noch flüchtigen Täter bei einem Verbrechen oder der Verwischung von Spuren in die Quere gekommen. In dessen anscheinend in einem Sandfang festgefahrenen Pick-up lagen zwei Leichen.*

2022 gab es Wirbel um die Bestattung der Ex-Gattin des Ex-US-Präsidenten Trump. Er hatte sich in den dicken Schädel gesetzt, Ivana (in New Jersey) auf einem Golfplatz zu verscharren, der ihm sowieso bereits gehörte. Böse Zungen warfen ihm vor, das mache er nur, um Steuern zu sparen.** Dabei ist das doch, neben der Eitelkeit, das Hauptmotiv, warum sich einer überhaupt den Mühen eines hohen politischen Amtes unterzieht: noch reicher zu werden, als er ohnehin schon ist.

* https://eu.cincinnati.com/story/news/2021/07/07/gene-siller-pro-golfer-shot-georgia-killed-because-he-came-upon-crime-police-say/7885946002/
** https://www.sueddeutsche.de/panorama/ivana-trump-golfplatz-steuern-grab-1.5632002, 1. August 2022




Für Brockhaus zeigt seine Lyrik neben volkstümlich-balladenhaften Zügen eine Neigung zur »viktorianischen Melancholie« … Der Selbstmord des australischen Wortreimers und Sportreiters Adam Lindsay Gordon (1833–70) ging freilich an Brockhaus vorbei. Obwohl Gordon oft als Draufgänger erschien, dürfte der hochgewachsene und gutaussehende Schotte im Kern ungefestigt gewesen sein. Als Zögling der Royal Grammar School in Worcester, Mittelengland, hatte er nur Pferde und Unfug im Kopf, die seinem Erzeuger, einem britischen Offizier, empfindlich auf die Nerven und aufs Bankkonto gingen. 1853 verbannte dieser den Sprößling nach Australien zur Berittenen Polizei. Das war wenig geeignet, Gordon die Unrast zu nehmen. Zwei Jahre später zieht er als Viehtreiber, Zureiter und Pferdetrainer durch den Kontinent. Dabei trifft er allerdings den katholischen Missionar und Naturforscher Julian Tenison-Woods, der ihn zum Schreiben ermutigt. 1862, mit 29, heiratet Gordon die 17jährige Schottin Maggie Park. Sie reitet vorzüglich, während sie seinen Versen, die er nun erstmals veröffentlicht, wenig abgewinnen kann. Tatsächlich erzielen sie kaum ein Echo. Kurz zuvor hat Gordon seine Mutter beerbt und die beträchtliche Summe in einen Rennstall gesteckt. Nun erobert er sich den Ruf, Australiens bester Hindernisreiter zu sein. Im Juli 1865 unterstreicht er seine Tollkühnheit durch einen Sprung mit dem Pferd über einen alten Zaun, der einen schmalen Felssims oberhalb des Blue Lakes quert, einem Kratersee unweit der südaustralischen Kleinstadt Mount Gambier. Daran erinnerten Bewunderer nach seinem Tode durch Errichtung eines alle Karpfen vertreibenden Obelisken.*

Bei seinen geschäftlichen Vorstößen, darunter in großangelegter Schafzucht, macht Gordon viel Bruch. Vorübergehend auch Mitglied des südaustralischen Parlaments in Victoria, zieht er sich 1867 nach Mount Gambier zurück, um sich nur noch dem Schreiben und allenfalls dem Pferdetraining zu widmen. Doch er trinkt, spielt, prallt auf dem eigenen Hof dank eines unwilligen Pferdes mit seinem Kopf gegen einen Pfosten, hat den Tod seiner noch nicht einjährigen Tochter Annie zu beklagen, kommt von seinen Schulden nicht los. Dafür lebt er von seiner Gemahlin streckenweise getrennt. Im März 1870 stürzt er bei einem Hindernisrennen in Flemington und zieht sich erneut Kopfverletzungen zu. Er konnte es nicht lassen. Inzwischen wohnt der 36jährige mit Maggi nahe Melbourne im Küstenort Brighton. Als neues Mitglied des in der Metropole ansässigen Yorick Clubs freundet er sich unter anderem mit den Schriftstellern Marcus Clarke und Henry Kendall an. Im Juni ereilt ihn jedoch die Nachricht, seine Erbansprüche auf ein familiäres Anwesen in Schottland seien abgeschmettert worden. Zwar wird im selben Monat sein dritter Gedichtband Bush Ballads and Galloping Rhymes gedruckt. Kendall zeigt ihm sogar den Entwurf einer begeisterten Besprechung. Dennoch begibt sich der »Galloper«, Leonie Kramer zufolge**, am Tage nach dem Erscheinen des Bandes mit seiner Flinte zum Strand und erschießt sich.

Wahrscheinlich hätte Gordon kaum die Druckkosten des genannten Werkes begleichen können, das heute zum Kanon australischer Lyrik zählt. So brachten ihn sicherlich auch seine Mißerfolge als Reiter des Pegasus zu Fall. Auf dem Sockel einer 1934 preisgekrönten Melbourner Bronze, mit welcher Paul Raphael Montford den Galloper Gordon als Reiter eines Biedermeierstuhles zeigt, sollen dessen Verse zu lesen sein: »Life is mainly froth and bubble / Two things stand like stone / Kindness in another's trouble / Courage in your own.« (Das Leben ist vor allem Schaum und Blase / Zwei Dinge stehen wie Stein / Güte gegenüber fremden Sorgen / Tapferkeit angesichts der eigenen.)

Von den tapferen Taten des Moralpoeten haben wir ja gehört; von seinen gütigen ist leider nirgends etwas zu lesen. Ihn zu bedauern, dürfte unangebracht sein. Zu vieles riecht danach, er sei nur die australische Ausgabe des Wildwest-Helden gewesen.

* https://en.wikipedia.org/wiki/File:Adam_Lindsay_Gordon_obelisk.jpg
** Australian Dictionary of Biography, Band 4, 1972: https://adb.anu.edu.au/biography/gordon-adam-lindsay-3635




Brockhaus streift die 1882 in den Alpen eröffnete Gotthardbahn. Der leitende Baumeister ihres mordslangen Tunnels war der gelernte Zimmermann Louis Favre (1826–79), wie mir das Internet verrät. Der Genfer hatte den Zuschlag für das Mammutprojekt aufgrund recht abenteuerlicher Versprechungen erhalten. Dabei war er bereits vom finanziellen wie auch gesundheitlichen Ruin bedroht. Seine Angestellten sahen ihn förmlich von Woche zu Woche altern. Am 19. Juli 1879, ein halbes Jahr vorm (erfolgreichen) Durchstich des rund 15 Kilometer langen Tunnels, der die Kantone Tessin und Uri verbindet, bricht der weißhaarige 53jährige bei einem nächtlichen Kontrollgang mit einer geplatzten Hauptschlagader im Bauch zusammen – aus. Die berüchtigte »Gründerzeit« hat einen ehrgeizigen, schlitzohrigen, weitgehend gewissenlosen sogenannten Unternehmer weniger. Neben Favre kostete das Bauwerk mindestens 177 minderrangigen verunglückten Mitarbeitern das Leben, von unzähligen Verletzten und Erkrankten ganz zu schweigen. Die Arbeitsbedingungen waren verheerend.* Bei einem Polizeieinsatz gegen Streikende fielen (1875) vier Tote an.

* Konrad Kuoni: http://folio.nzz.ch/1995/juli/der-gotthardbahnbau-querelen-und-opfer, 1. Juli 1995



Der angesehene britische Ornithologe John Gould fehlt im Brockhaus. Seine Gattin sowieso. Sie hieß Elizabeth Gould (1804–41). Als sie den Gelehrten 1829 in London geheiratet hatte, war die 24jährige »nur« Erzieherin eines Adelssprosses gewesen. Da es John jedoch an guten und zudem preiswerten Zeichnungen beziehungsweise Lithografien zur Illustration seiner Werke fehlte, eignete sie sich die erforderlichen Fertigkeiten rasch an und mauserte sich beiläufig zu einer Naturmalerin, die vielleicht den Vergleich mit Audubon nicht hätte scheuen müssen. Aber vermutlich trafen sie sich nie. Während John James Audubon den Vögeln Amerikas auf den Fersen war, hatte sich John Gould auf Asien und Australien verlegt. Elizabeth begleitete ihn auf einigen Expeditionen, als Künstlerin, Trösterin und Bettgefährtin. Den Hauptruhm – von beispielsweise sieben Bänden The Birds of Australia – hatte natürlich er, der Entdecker und Beschreiber, wie auch A. H. Chisholm* bemerkt. Die Lithografien waren nur Beiwerk; oft belief sich die Erwähnung der Künstlerin auf ein »E.«. Auf den Buch-deckel, etwa einer Abhandlung ihres Gatten über die von Charles Darwin mit der H.M.S. Beagle heimgebrachten Vögel (50 Abbildungen), schaffte sie es anscheinend nie.**

Alle Quellen heben auch Elizabeths (Doppel-)Rolle als Mutter hervor. Im ganzen machte ihr Gatte John acht Kinder, von denen allerdings zwei schon als Säuglinge starben. Das siebte Kind reifte auf dem Weg nach Tasmanien in der Künstlerin; es kam in Hobart zur Welt und wurde auf Franklin getauft. Nach London zurückgekehrt, durfte sie 1841 an der Geburt des achten Kindes, Sarah genannt, mit 37 Jahren verenden. Die »Mutterschaft« im Verein mit den Reisestrapazen und immerhin rund 600 Buchillustrationen hätten wohl ihre Kräfte aufgezehrt, befürchtet Chisholm. Nach der australischen Erzählerin Melissa Ashley, geboren 1973, dürfte ihr zudem der Umstand zugesetzt haben, daß viele tausend Vögel vom Himmel geschossen werden mußten, damit sich ihnen die »Firma« Gould wissenschaftlich und künstlerisch hinreichend nähern konnte.***

Elizabeths Nachfolger im Illustrieren, Henry Constantine Richter, soll etliche ihrer Arbeiten als seine eigenen ausgegeben haben. Einige Quellen betonen den Gram des Witwers über den Tod seiner stets im Schatten wirkenden rechten Hand. In meinen Ohren klingt das eher wie Gelbspötter-Gezwitscher. Keine zwei Jahre nach Elizabeths Ableben wurde John Gould in die Royal Society berufen. Die Liste seiner Prachtbände ist länger als ein Goldfasanenschwanz. Er starb mit 76.

* A. H. Chisholm im Australian Dictionary of Biography, Volume 1, (MUP), 1966: http://adb.anu.edu.au/biography/gould-elizabeth-2112
** Alexandra K. Alvis, »Elizabeth Gould: An Accomplished Women«, Smithsonian Libraries, 29. März 2018: https://blog.library.si.edu/blog/2018/03/29/elizabeth-gould-an-accomplished-woman/#.W2XfQbhCTBU
*** Kate Evans, »Elizabeth Gould, illustrator of Birds of Australia, brought out of her husband's shadow«, ABC News, 24. November 2016: http://www.abc.net.au/news/2016-11-25/elizabeth-gould-illustrator-of-birds-of-australia-overshadowed/8051070




Vom Dramatiker Christian Dietrich Grabbe (1801–36) bringt Brockhaus sogar ein Paßbild, auf dem er recht gebeutelt wirkt. Der Mann mußte 70 oder 80 Jahre unter der Erde liegen, ehe ihn Theaterwissenschaftler zu den Wegbereitern des deutschen realistischen Dramas zählten, wobei er auch schon Elemente des grotesken Theaters vorweg genommen haben soll. Da er, als Sohn eines Gefängniswärters, im Schatten des Detmolder Zuchthauses aufwächst, lernt Grabbe die Kehrseite bürgerlicher Wohlanständigkeit frühzeitig kennen. Er macht Examen als Jurist (1823), findet aber keine Stelle. Auch in Karrieren als Justizbeamter (»Kriegsgerichtsrat«) der Detmolder Garnison und als Dramaturg, dies zuletzt unter Karl Immermann in Düsseldorf, scheitert er. Daran sind seine Liebe zum Alkohol, zum selbstverfertigten Drama und zum Suhlen im Stimmungstief nicht unbeteiligt. Als einziges Grabbe-Stück, das zu seinen Lebzeiten aufgeführt wird, kommt 1829 in Detmold Don Juan und Faust auf die Bühne, doch es hält sich nicht. Grabbe, ohnehin von schmächtiger Gestalt, schnurrt zusehends ein. Eine Verlobung mit Henriette Meyer wird wieder aufgelöst. 1833 verheiratet er sich, in Detmold, mit der um 10 Jahre älteren Louise Christiane Clostermeier, doch in seinem Todesjahr, nach seiner Rückkehr aus Düsseldorf, reicht sie die Scheidung ein. Der 34jährige erliegt im September 1836 seiner allgemeinen Zerrüttung, wahrscheinlich mit Rückenmarkschwund als Folge einer Syphilis-Erkrankung gepaart. Bei Brockhaus steht das natürlich nur gerafft.

Nach meinem Eindruck war Grabbe ein Zertrümmerer, ein Nihelist mit dem Pathos der Französischen Revolution. Ein paar Jahrzehnte später geboren, wäre er vermutlich begeisterter Anhänger von Nietzsche geworden. So aber gelangen ihm immerhin noch Anflüge von Komik und Selbstironie. Das heutzutage am meisten gespielte Grabbe-Drama trägt den Titel Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Uwe Ruprecht behauptet (1994 in der Zeit), am Schluß dieses Stückes habe sich Grabbe, der eine Zeitlang vergeblich Schauspieler werden wollte, selber einen Auftritt verschafft: »Das ist der vermaladeite Grabbe, oder wie man ihn eigentlich nennen sollte, die zwergigte Krabbe, der Verfasser dieses Stücks! Er ist so dumm wie'n Kuhfuß, schimpft auf alle Schriftsteller und taugt selber nichts, hat verrenkte Beine, schielende Augen und ein fades Affengesicht!« Da drängt sich unweigerlich die Frage auf, was sich dereinst im Hause des Detmolder Gefängniswärters Adolph Henrich Grabbe abgespielt haben mag. Doch wäre dadurch viel erklärt?

Herbert Eulenberg († 1949), selber kein sonderlich erfolgreicher Dramatiker aus Düsseldorf, gibt seinen Vorgänger Grabbe in seinen Schattenbildern als verschrobenen, geistreichen Aufschneider und dämpft, um ihn liebenswürdiger zu machen, Grabbes offensichtlich neid- und haßerfüllte Ausfälle gegen alles mögliche, darunter Immermann, Goethe, Shakespeare, die Juden, zu erheiternden Bonmots. Bei anderen ist oft zu lesen, Grabbe selber, Schöpfer von Stücken über Aschenbrödel und Napoleon, habe zeitlebens zwischen Selbsterniedrigung und Größenwahn geschwankt. Aber für wen gälte das nicht? Nur belassen es die meisten bei einer Schwankungs-breite, die den Betreffenden nicht gleich zerreißt.



Emma Graf (1889–1917) war lediglich die Schwester des bayerischen Schriftstellers Oskar Maria Graf, den Brockhaus selbstverständlich nicht übergeht. Das Internet weiß mit Mühe ihren schlichten Vornamen. Auch der berühmte Bruder verrät zumindest in seinen 1927 veröffentlichten Jugenderinnerungen* – die Brockhaus als ein »vielbeachtetes autobiografisches Zeitdokument« erwähnt – nicht eben viel von ihr. Sie hatte in München Damenschneiderei gelernt, half dann aber offenbar im Hause der elterlichen Landbäckerei mit: in Berg am Starnberger See. Ebendort war sie zuletzt fast zwei Jahre bettlägerig. Oskar benennt ihre Krankheit nicht. Ich tippe auf Tuberkulose oder die sogenannte Spanische Grippe, die damals umging. Die Schwarzhaarige sei heiter und hübsch gewesen, einst sogar Ballkönigin. Von einem Heiratswunsch wird nichts gesagt. Dem Tod, wohl Ende August, habe die 28jährige ziemlich gefaßt ins Auge gesehen, im Gegensatz zu ihm. Über seine Mutter soll er übrigens später ein ganzes Buch geschrieben haben.** Über Emma nicht.

Ein Jahr darauf ereilt es, in München, auch die Gefährtin von Grafs engem Freund »Schorsch« Georg Schrimpf, die 26jährige Bildende Künstlerin Maria Uhden. Die Tochter eines »herzoglichen Baurates« war zeitweise in der Residenzstadt Gotha aufgewachsen, Waltershäuser Straße 9. Sie galt als einfallsreich und hochbegabt. Jedes zweite Foto zeigt sie mit einer Katze im Arm. In ihrem Todesjahr war sie selber gerade Mutter geworden, »überglücklich«. Trotz aller Not habe sie sich ihre »echt frauliche Heiterkeit« bewahrt. »Plötzlich mußte sie sich hinlegen und starb nach wenigen Tagen infolge einer Gebärmutterinfektion.«

Ein Verdienst von Uhden kann ich zumindest versichern: Sie hält Oskar einmal (S. 374) eine ausgezeichnete Strafpredigt, die von ihrer Menschenkenntnis zeugt. Sie schimpft ihn einen Selbstbetrüger, der fast nur aus Angst und Illusionen bestehe; er prahle gern, sei jedoch der unglücklichste Mensch, der in München herumlaufe. In der Tat muß er ein selten törichter Taugenichts gewesen sein, zwischen Klein- und Übermut schwankend wie ein Schilfrohr am Starnberger See, 30 Mal jährlich zerknirscht und reuig, ohne sich in seiner ganzen Jugend jemals nennenswert zu bessern. Grabbe hätte ihn verstanden. Der bayerische Bruder im Naturell macht immer wieder die gleiche Scheiße, darunter der Schleichhandel und die Sauf- und Freßgelage. Das ist, auf die Dauer, selbst für den Leser peinlich, und wenn Graf es ohne Beschönigung eingesteht, wird es gleichwohl nicht sympathischer. Vielleicht liegt es nur daran, daß seine Schilderung tatsächlich echte, handwerklich unstatthafte Längen hat. Die Wiederholung der Scheiße hat keinen Erkenntniswert. Man findet sie irgendwann auch nicht mehr spannend; sie nervt. Das rüttelt nicht an dem hohen Wert der unmittelbaren Eindrücke, die Graf von der Münchener Revolution gibt.

* Wir sind Gefangene, 1927, hier dtv-Ausgabe München 1984, bes. S. 295–301, 374, 381
** Statt seinem Buch über die Mutter habe ich neulich Grafs spätes Werk über die glänzende Zukunft einer demokratisch globalisierten Welt gelesen – ein Fehler. Ich meine: sowohl meine Wahl wie Grafs Werk Die Erben des Untergangs, Neuausgabe 1959. Ich halte dieses Buch für rundum mißglückt, wie ich im Nasen-Anhang (A-5 Iberien) näher ausgeführt habe.





Zur Brockhaus-Spalte über das bekannte Gestein Granit fällt mir lediglich ein eher unbedeutender Waltershäuser Schildbürgerstreich aus jüngerer Zeit ein. Die August-Bebel-Straße, in der unter anderem ein Ärztehaus und die Puppenfabrikkommune residieren, hatte auch die Seltenheit eines wuchtigen bunten Granitpflasters zu bieten. DDR-Bürger wissen Bescheid. Es scheint aber Beschwerden der autofahrenden Kranken gegeben zu haben. Eines Tages fingen Arbeiter an, dieses Pflaster heraus zu reißen und auf riesige Lastwagen zu verladen. Ein Vorarbeiter erklärte mir, die Straße werde asphaltiert. Und die fetten, vielleicht auch nicht billigen bunten Steine würden nach Bayern gekarrt und dort irgendwo wieder eingesetzt. Aha, es ging um Devisen! Ich nickte und trollte mich in die Hauptstraße Richtung Klaustor. Dort waren seit Wochen andere Arbeiter umgekehrt damit beschäftigt, den Asphalt aufzubrechen. Man wolle die Hauptstraße und einige zum Markt führenden Gassen erneut, wie früher, mit schönem Pflaster versehen. In der Tat. Jetzt zeigt die Hauptstraße ein nagelneues Pflaster aus diesmal kleinen, grauen Granitsteinen. Die Touristen sind entzückt. Zuweilen tippeln auch unsere eigenen abgerissenen PfandflaschenanglerInnen durch die Hauptstraße. Ich nehme stark an, diese MitbürgerInnen werden weder von grauen noch von bunten Pflastersteinen satt.



Im Gegensatz zu seinem Patienten Heinrich Greif (1907–46), einem kommunistischen Schauspieler, ist der Chirurg Ferdinand Sauerbruch selbstverständlich im Brockhaus (Band 19) vertreten, sogar mit Foto. Dafür fehlt jeder Hinweis auf Sauerbruchs charakterliche Mängel, Nazinähe eingeschlossen. Was nun Greif angeht, hat dieser, neben einem nach ihm benannten Film- und Fernsehpreis der DDR, die makabere Ehre, wahrscheinlich das erste von nicht wenigen Todesopfern der fortschreitenden Altersdemenz des berühmten Professors Sauerbruch (1875–1951) gewesen zu sein. Obwohl diese chirurgische Kapazität im Faschismus eine zumindest zweifelhafte Rolle gespielt hatte, nahm die junge SBZ/DDR Sauerbruchs Bereitschaft, sowohl an der Ostberliner Humboldt-Universität wie an der dortigen Charité zu wirken, gerne an, begriff sie ihn doch als glänzendes Aushängeschild für den real existierenden Sozialismus. Aus demselben Grund fiel man ihm auch, entgegen dem Wissen der teils entsetzten Eingeweihten, erst Ende 1949 in den Arm: da wurde er zwangspensioniert. Als der Buchautor Jürgen Thorwald die Latte der Sauerbruch-schen »Kunstfehler« und das Scheunentor ihrer Deckung »von oben« um 1960 enthüllte, gab es die zu erwartenden Aufschreie und gerichtlichen Auseinandersetzungen. Es wäre nebenbei interessant zu wissen, ob sich Thorwalds Enthüllungen bis in die 1974 in Ostberlin erschienene Biografie Heinrich Greif, Künstler und Kommunist von Curt Trepte und Renate Waack niederschlugen. Jedenfalls konnte ein Wochenmagazin bereits 1960 und offenbar bis heute* ungestraft feststellen, Mitte Juli 1946 habe sich der 39 Jahre alte Schauspieler in der Charité eingefunden, um sich von Sauerbruch an seinem Leistenbruch operieren zu lassen. Im Ergebnis lag Greif im Sarg. Er hatte eine tödliche Nachblutung erlitten, so das Magazin, weil Sauerbruch beim Operieren Greifs Hauptschlagader (am Bein) verletzt hatte. Die damalige Reaktion der Angehörigen oder Freunde ist mir nicht bekannt.

* »Tod des Titanen«, Spiegel 47/1960: https://www.spiegel.de/kultur/tod-des-titanen-a-40b1e276-0002-0001-0000-000043067521. Die Bemerkung zu Greif findet sich ungefähr in der Mitte. Aber der ganze Beitrag ist ein lesenswerter Krimi.



Der Mensch ist das abgrenzende Tier. Es gibt kaum ein irdisches Phänomen, vor dem seine Abgrenzungssucht Halt machte. Gegen ihn sind Goldammern oder Girlitze, die durch erbitterte Gesänge ihre Reviere bezeichnen und verteidigen, harmlose Regenwürmer. Habe ich kürzlich in Folge 10, »Drei Ähren«, die unablässigen Grenzstreitig-keiten in mittelalterlichen Städten gestreift, die das Blut der Bürger über Jahrhunderte am Kochen hielten, hatte ich sicherlich zunächst den Gral des Privateigentums oder, überlokal, des eigenen Vaterlands im Auge, um den der ganze Ärger kreiste. In Südengland hat sich ein Anarchist des 20. Jahrhundertes, der gelernter Statistiker war, einmal den Spaß gemacht, alle Grenzbefestigung seines Städtchens zusammen zu zählen, also Mauern, Zäune, Hecken und dergleichen mehr. Er kam auf eine gewaltige, absurde Strecke und Geldsumme, wie ich im Nasen-Anhang A-23 geschildert habe. Ich erinnere auch an meine verstreuten Bemerkungen über Behälter. Mit ihnen verlassen wir allerdings den Bezirk des Handfesten bereits, und das scheint mir auch dringend geboten.

Schon die Vaterländer sind ja zu einem gute Teil »bloß« Behälter im Geiste. Sie sind Ideologie, so wie fast jede Religion, Kommunismus eingeschlossen. Zu Montaignes Zeiten, um 1580, waren sie hochexplosiv. Gestalteten sich die Religionskämpfe in Frankreich besonders anhaltend und dazu grausam, dann wohl deshalb, weil weder die Katholischen noch die Reformierten auch nur im Traume daran dachten, die jeweiligen, heute gern so genannten »roten Linien« der anderen Seite zu achten. Man war unduldsamer als Ziegenböcke; man wollte alles – und alles bestimmen. In der Schweiz, so Montaigne im Bericht von seiner großen Romreise, stand es diesbezüglich weniger schlimm.

Das Abgrenzen im Nichthandfesten, etwa der Moral, dürfte zugleich schwieriger und wirkmächtiger als das Zäuneziehen sein. Das schließt natürlich auch die Toleranz ein, also gerade umgekehrt die Rücksichtnahme auf jene roten Linien und den Verzicht darauf, sich in jeder Richtung und Hinsicht mit Wällen zu umgeben. Aber gerade dafür hat Brockhaus in seinem Eintrag zur Grenze noch nicht einmal ein Hühnerauge. Er suhlt sich lieber in den grotesken Bestimmungen über Streitfälle unter Nachbarn über Hauswände oder Bäume, die einer Grundstücksgrenze zu nahe kommen. Freilich nennt er sie nicht grotesk. Für ihn ist das alles normal.

Zur Moral sollte sich vielleicht noch die Psychologie gesellen. Ich streifte ja die Vögel. Selbst Tauben, Schwalben oder Stare aus Schwärmen sind stets darauf erpicht, von den lieben Genossen nicht zu sehr bedrängt zu werden. Sie hocken auf Drähten oder aufstehenden Scheunentoren und rücken sofort ein paar Zentimeter zur Seite, wenn einer zu aufdringlich wird. Sie achten auf Abstand. Im schlimmsten Fall fliegen sie weg oder kratzen dem Frechdachs die Augen aus. Mein Bekannter Ludwig kann ihnen das sicherlich gut nachempfinden. Verwickeln wir uns auf seinem Hof in ein spannendes Streitgespräch, messen wir fast den ganzen Hof aus, weil Ludwig immer sofort zwei oder drei Schritte zurückweicht, wenn ich zu heftig, zu körpernah auf ihn einrede. Oft hebt er sogar abwehrend einen Arm. Er braucht Abstand. Das schleppe er schon seit der Kinderstube mit sich herum, sagt er, bitte Nachsicht. Na gut. Sein Alter war ein Arschloch. Nur ist er selber auch eins. Kaum ist er nämlich einmal in meinem Häuschen zu Besuch, durchlöchert er die ganze Stubenluft mit neugierigen oder verstörten Blicken, starrt in meinen Wandkalender, befingert einen auf dem Tisch liegenden Brief, schlägt das oberste Exemplar meines Bücherstapels auf und fragt mir zu all diesen Dingen ein Loch in den Bauch. Was ihm völlig abgeht, nannte mein Großvater Heinrich Taktgefühl. Es steht freilich noch viel schlimmer, denn Ludwig scheint auch keinen Schimmer davon zu haben, was Doppelmoral ist.



Nähere ich mich im Brockhaus dem ausgedehnten Eintrag über Griechenland, treten mir keineswegs zuerst dorische Säulen oder stoische Staatsmänner vors innere Auge. Es handelt sich vielmehr um zwei blutjunge Leute, um nicht zu sagen: Kinder. Dabei kann ich das Alter von Cosette nur schätzen: vielleicht fünf oder sieben. Selbst zu ihrem Schöpfer Konstantinos Panorios sind im Internet keine genauen Daten, geschweige denn aufschlußreiche Angaben zu haben. Der kaum bekannte griechische Künstler ging neulich in mein Nasen-Lexikon ein. Er stammte von der Insel Sifnos, starb jedoch mit ungefähr 35 Jahren 1892 in einer Athener Heil- oder Irrenanstalt. Der Versuch, Näheres über sein umwerfend dargestelltes kleines Modell zu erfahren, scheint geradezu aussichtslos zu sein. Aus welchen Verhältnissen kam das Mädchen? Wo lebte es? Wie endete es? Stattdessen erzählen mir die Zeitungen und Magazine an jedem »runden« Geburtstag von Bob Dylan, er habe sechs Kinder und zur Stunde acht oder zwölf Enkel und die hießen so und so. Das interessiert mich einen Ziegenkäse. Zur Zeit ist der Mann 82.

Zu Alexandros Grigoropoulos (1993–2008) zieht mich weniger dessen Persönlichkeit, um ehrlich zu sein. Vielmehr zählt der griechische Schüler zu den wenigen Todesopfern weltweiter staatlicher Gewalt, deren unmittelbare Mörder nicht mit einem blauen Auge davongekommen sind. Er starb mit 15. Er war im Dezember 2008 mit einigen Tausend anderen Gegnern der sogenannten »Globalisierung« und deren verheerenden Folgen für die griechische Volkswirtschaft im Athener Stadtteil Exarcheia auf die Straße gegangen – bei diesem Protest wurde er erschossen. Damit konnte das übliche Abwiegeln und Verleumden seitens der staatstragenden Kräfte beginnen. Was die beteiligten Polizeibeamten betrifft, beteuerten sie noch vor Gericht, sie seien mit Steinen und Flaschen beworfen worden und hätten nur Warnschüsse abgegeben. Den 15jährigen Bengel mit dem üppigen dunkelhaarigen Schopf hätte es dummerweise durch einen Querschläger erwischt. Jedoch, das Wunder geschah: Im Oktober 2010 wurde der Polizist Epaminondas Korkoneas wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, was bedeudet, das Gericht billigte ihm noch nicht einmal mildernden Umstände zu. Er habe Rückzugsbefehlen aus der Einsatzzentrale zum Trotze »in ruhiger Verfassung« seine Pistole gezogen und zwei Schüsse auf Grigoropoulos abgegeben. Ein zweiter Polizist, Vassilis Saraliotis, bekam wegen Mittäterschaft 10 Jahre.* Das Klima der Aufhetzung durch Vorgesetzte, PolitikerInnen, Medien stand freilich nicht zur Debatte.

Wie zu erwarten, hatten die tödlichen Schüsse in jenem Winter zu einer erheblichen Ausweitung der »Unruhen« geführt. Es kam aber leider nicht zur Abschaffung der Polizei oder wenigstens dem Landesverweis aller Agenten der Weltbank und der Europäischen Zentralbank. Ganz im Gegenteil, nach seinem Mittäter befindet sich neuerdings, je nach Quelle seit 2019 oder 22, auch der Polizist Epaminondas Korkoneas, der »Lebenslängliche« also, wieder auf freiem Fuß. Er zehrte von einer strafmildernden Revision und »guter Führung«, wenn ich richtig verstanden habe. Ja, mein lieber Alexandros! Hättest du dich als Halbwüchsiger mal anständiger geführt, könntest du heute schon als smarter Typ Anfang 30 im eigenen Elektroauto sitzen und mit deiner neusten Flamme telefonieren.

* https://www.dw.com/de/todesschuss-auf-schüler-in-athen-war-mord/a-6100435, 11. Oktober 2010



Vom tschechischen Maler František Gross (1909–85) zeigt Brockhaus ein Bild, das neugierig macht: Die Versuchung des heiligen Antonius von 1974. Rund 10 Jahre darauf war Gross vermutlich allen Anfeindungen entzogen, nämlich tot. Ob er, mit 76 und in Prag*, »nur« der Altersschwäche erlag, ist natürlich nicht ganz auszuschließen. Jedenfalls scheint die Welt so gut wie nichts über ihn zu wissen, jedenfalls die westliche. Seine bevorzugten Themen seien die Großstadt sowie Maschinen und deren einzelne Elemente gewesen. Diese habe er »ironisch-witzig abstrahiert«, teilt Brockhaus mit. Von der einen Abbildung her kann ich den Witz unbedingt bestätigen. Im Vordergrund ein Gewusel von vielleicht werktätigen Wesen, hinten irgendeine Siedlung oder Fabrik, die möglicherweise in Flammen steht, falls man die roten Ziegeldächer nicht mißdeutet. Das Bild wirkt eigentlich bunt und bewegt, doch irgendwie liegt ein lähmender, oliv bis braun gehaltener Druck auf der Szene, der das ganze Abstrampeln mit vergeblich stempelt. Der Bildtitel mit dem bekannten Heiligen Antonius dürfte nicht mehr als Unfug sein. Auf der verlinkten (schweizer) Webseite kann ich das Werk leider nicht entdecken. Was da freilich sonst noch so gezeigt wird, riecht doch erfrischend nach einem begabten Comiczeichner. Insofern wäre Gross nicht tot. In einer anderen Quelle wird behauptet, mit den Jahren habe der Künstler »an zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland teilgenommen«. Er habe das Malen erst aufgegeben, als ihm sein behandelnder Arzt »im Jahr 1984« eben dazu riet. Tippen wir also auf Herzinfarkt, den üblichen Lohn des Erfolgs.

* https://art24.world/de/artist/f69b4e0c-85e8-11ec-9338-5a42b94feb89 o.J.
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