Dienstag, 19. März 2024
Risse im Brockhaus 13

Der Fall von Evelyn Foster († 1931) wird demnächst seit 100 Jahren unaufgeklärt sein. Ich nehme an, Brockhaus hat nie von ihm gehört. Die im Geschäft mithelfende Tochter eines Garagen- und Taxiunternehmers aus dem nordenglischen Städtchen Otterburn, Northumberland, war Anfang Januar 1931 in der Nähe ihres Wohnortes von einem zugleich qualvollen und seltsamen Tod ereilt worden. Nach den meisten Quellen war sie erst 27. Man hatte sie mit schweren Verbrennungen an der Landstraße gefunden. Ihr Wagen, mit dem sie einen fremden Kunden nach Ponteland bringen wollte, stand ausgebrannt unterhalb der Straßenböschung im Moor. Bevor Foster wenig später in ihrem Elternhaus starb, konnte sie ihren verschwundenen Fahrgast noch als Täter angeben und den Tathergang schildern. Der ungefähr 30jährige Mann habe sie plötzlich vom Steuer gedrängt, geschlagen und schließlich, als der von ihm gelenkte Wagen im Moor stand, mit Benzin übergossen und dieses entzündet. Der Ortspolizist Andy Ferguson schrieb mit. Sie bejahte auch die Frage ihrer Mutter, ob sich der Fremde an ihr »vergangen« habe.

Foster hatte ihn, wie sie erzählte, an jenem frostigen Januarabend bei Otterburn aufgelesen, sodaß er leider bestenfalls flüchtig von dem einen oder anderen Zeugen gesehen worden war. Bald führten die Untersuchungen des Autowracks und verschiedene Ungereimtheiten in Fosters Geschichte zum Anwachsen der Zweifel bei Captain Fullarton James von der Bezirkspolizei. Zudem erklärte ein Medizinprofessor aus Durham, er habe an der Leiche keine Hinweise auf Vergewaltigung entdecken können. Foster sei noch »Jungfrau« gewesen. Zwar verurteilte ein örtliches Geschworenengericht gleichwohl »eine unbekannte Person« wegen Mordes, doch für James, der sich nach der Verhandlung entsprechend äußerte und damit für Entrüstung bei den Einheimischen sorgte, stand fest, diese Person habe es nie gegeben. Für die Polizei und selbst den Richter hatte Foster mit der Absicht, einen Unfall vorzutäuschen, ihren Wagen und versehentlich auch sich selber eigenhändig in Brand gesetzt. In der Folge blieb der Fall offen – und fiel allmählich dem Vergessen anheim.

Rund 25 Jahre nach Fosters Tod befaßte sich der erfolgreiche Kriminalautor Julian Symons (1912–94) mit ihm, wobei er auch (1956) vor Ort gewesen sein will.* Das Opfer schildert er als »zurückhaltende, ziemlich schüchterne, durch und durch anständige junge Frau« – und er fragt sich verständlicherweise, welchen Grund ein solcher Mensch gehabt haben solle, seinen noch fast neuen Wagen aufs Moor zu fahren und dort anzustecken. Der Richter hatte den Geschworenen zunächst den Köder »Versicherungsbetrug« vorgeworfen. Aber erstens hatte Foster von der Versicherung kaum mehr als den gegenwärtigen Marktwert des Autos zu erwarten, zweitens hätte diese ohne Zweifel auf einer Aussage des leider flüchtigen Taxikunden bestanden – den Foster nun einmal, törichterweise, ins Spiel gebracht haben soll. Als sein Angebot nicht zog, gab der Richter alternativ zu bedenken, man wisse ja auch von Fällen, in denen Menschen solche Dinge »aus unerfindlichen Gründen« täten, »entweder weil sie nicht anders können oder weil sie Spaß an abnormem Verhalten haben«. Mit beiden Argumenten gelang es ihm erfreulicherweise nicht, die Geschworenen auf die Linie seiner, so Symons, offensichtlichen Voreingenommenheit einzuschwören.

Es war auch die Linie der Polizei, wie so oft. Ein Kommissar setzt sich aus undurchsichtigen, wenig Vertrauen erweckenden Motiven die Theorie in den Kopf, der unbekannte Fremde sei böswillig erfunden worden, und daran hält er eisern fest, um seine Sicherheit und sein berüchtigtes Gesicht nicht zu verlieren. Captain James war beispielsweise der schwere Fehler unterlaufen, die Unfallstelle in der ersten Nacht nicht bewachen zu lassen, und in der Tat konnte sich dadurch ein schnüffelnder Journalist dort zu schaffen machen, der etliche Spuren beschädigte und auch gleich noch für neue sorgte. Hier ging es etwa um einen Schal der Taxifahrerin, der seinen Ort gewechselt hatte. Nach Symons gestand James dieses Versäumnis nie ein. Da paßt es wie die Faust aufs Auge, wenn sich bei den Nachforschungen des Kriminalautors vor Ort der erwähnte Polizist Andy Ferguson ebenfalls stumm wie ein Fisch zeigte – er verweigerte jede Auskunft.

Wie sich versteht, fragt sich Symons am Ende seiner Betrachtung, welchen Grund nun der Fremde, an den er durchaus glaubt, gehabt haben könnte, Evelyn Foster so grausam ums Leben zu bringen. Für Symons handelte er sowohl aus dem Zufall der Begegnung wie aus einem beträchtlichen kriminellen Potential heraus. Er nimmt dabei an, der Kerl habe bereits, wegen vorausgegangener Delikte, die Polizei zu meiden gehabt. »Wahrscheinlich wollte er zunächst tatsächlich nur bis Ponteland gebracht werden.« Dann veranlaßten ihn vielleicht indiskrete Fragen seiner Fahrerin oder die Angst, sie könne ihn wiedererkennen, zu einem Meinungsumschwung. Oder der bloße Umstand, mit ihr allein auf dem Moor zu sein, habe »seine sadistischen Triebe« angestachelt, »die es ja bei vielen Kriminellen« gebe. Nur bei diesen? Symons kannte die Opferzahlen des von Tony Blair befeuerten Irakkrieges von 2003 noch nicht; allerdings sollte er von Hiroshima erfahren haben.

Hat die Londoner Webseite True Crime Library ins Schwarze getroffen**, besteht keine Aussicht mehr, den wahren Mörder Evelyn Fosters auszuknobeln. Nach dieser Quelle war es nämlich der Pferdepfleger Ernest Brown, der genau zwei Jahre nach Fosters Tod bei Tadcaster, Yorkshire, seinen Boß erschoß, einen Farmer – selbstverständlich wegen der Farmersfrau. Man fand den Erschossenen im Wrack seines Autos sitzend – Brown hatte die betreffende Garage angezündet. Der Tatort liegt rund 100 Meilen von Otterburn entfernt. Hinsichtlich des Alters sowie des Auftretens passen Fosters Angaben recht gut auf Brown, der (anderen Webseiten zufolge) im Februar 1934, wohl mit 35, im Armley-Gefängnis, Leeds, gehängt wurde. Vorher soll ihn ein Kaplan aufgefordert haben, die Chance zu nutzen, seine Sünden zu bekennen und so mit Gott seinen Frieden zu machen. Henker Tom Pierrepoint habe anschließend versichert, Brown hätte beim Anlegen der Schlinge gemurmelt: »Otterburn.« Belege werden nicht gegeben.

Diese Spur ist der zuständigen Polizei keineswegs unbekannt, wie aus einem jüngeren Bericht des Regionalblattes Chronicle hervorgeht.*** Nur fehlten leider Beweise. Deshalb habe der Fall, so Tony Stevens von der Northumbria-Polizei, nach wie vor als ungelöst zu gelten. Der Fall Foster hat bereits einen Schwung von Artikeln und sogar Büchern hervorgebracht. Wenn Sie darin auf interessante Fingerzeige stoßen sollten, gönnen Sie mir bitte eine Nachricht.

* »The Invisible Man (Der unsichtbare Mann)«, übersetzt von Ruth Sander und veröffentlicht im Sammelband Aufgeklärt! Ungesühnt!, Hrsg. Richard Glyn Jones, ursprünglich in Englisch 1987, hier Lizenzausgabe Augsburg 1999, S. 125–39
** »Evelyn Foster«, Stand 2015: https://www.truecrimelibrary.com/crimearticle/evelyn-foster/
*** Lisa Hutchinson, »The horrifying 1930s murder of a taxi
driver …«, ChronicleLive 5. Januar 2019, online: https://www.chroniclelive.co.uk/news/local-news/horrifying-1930s-murder-taxi-driver-15633418




Den deutschen Schriftsteller Leonhard Frank behandelt Brockhaus pflichtgemäß. Dagegen fällt der jüdische Unternehmer Leo Frank (1884–1915) aus den USA, wo der Namensvetter einen guten Teil seines Exils verbrachte, unter den Redaktionstisch. Dieser Frank wurde Justiz- und Lynchopfer mit 31 Jahren. Der US-Staat Georgia, der heute nur noch ganz allgemein die Todesstrafe (für jeden) hochhält, war um 1900 eine Hochburg des Antisemitismus – und Leo Frank bekam es zu spüren. Der schlanke, gutaussehende, auf Fotos verträumt wirkende Ingenieur betrieb in Atlanta eine Bleistiftfabrik. Im April 1913 fand man im Keller dieser Fabrik Franks Maschinenarbeiterin Mary Phagan: die erst 13 Jahre alte Tochter eines armen Farmers war tot. Daraufhin wurde der Fabrikdirektor nicht etwa wegen Kinderarbeit, vielmehr wegen Mordes (durch erdrosseln) angeklagt und aufgrund angeblicher Indizien auch im August 1913 zum Tode verurteilt. Das erinnerte besonnene BeobachterInnen an die Dreyfus-Affäre, also an einen krassen Fall von Klassen- beziehungsweise Rassenjustiz, zumal die Ermittlungen von einer üblen »Berichterstattung« begleitet waren, die nach Judenblut dürstete. Danach war es in Franks Fabrik unter anderem zu Orgien gekommen, einmal davon abgesehen, daß er sein Opfer sicherlich auch geschändet hatte. Bemerkenswerter-weise hatte seine Frau Lucille allem Schmutz zum Trotz von Anfang an zu ihm gehalten. Sie starb 1957 von seiner Unschuld überzeugt.

Wenige Wochen nach der Urteilsverkündung tauchen allerdings Hinweise auf, die Frank entlasten. Schließlich kommt Georgias Gouverneur John M. Slaton zu der Überzeugung, der Fabrikant sei unschuldig, und wandelt die Todesstrafe im Juni 1915 einstweilen in Lebenslange Haft um. Daraufhin ziehen sofort Hunderte gutgekleideter BürgerInnen vor Slatons Haus, um gegen diese Korrektur zu meutern. Slaton muß sogar Truppen einsetzen.* Aber es kommt noch weitaus dicker. Im August dringen zwei Dutzend Bewaffnete, die sich The Knights of Mary Phagan nennen, die »Ritter« der Ermordeten also, ins Gefängnis ein, entführen den 31jährigen Häftling und hängen ihn bei Marietta, der Heimat der Ermordeten, in einen sorgsam ausgewählten Baum. Das Pressefoto, das den Gelynchten anderntags auf alle Frühstückstische bringt, wird bejubelt. Jeder kennt den einen oder anderen Ritter – und hütet sich ihn zu tadeln.

1986 gestand die Behörde Georgia State Board of Pardons and Paroles das Versagen der Justiz im Fall Frank ein.* 2000 veröffentlichte Bibliothekar Stephen Goldfarb aus Atlanta im Internet eine Liste mit Namen der Entführer oder Mörder von Frank, die von hohen Politikern und Juristen wimmelt. Etliche von ihnen zieren bis heute Straßenschilder oder Tafeln von Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen. Als wahrscheinlichster Mörder Mary Phagans gilt nach wie vor** der schwarze Hausmeister der Fabrik Jim Conley, der sich im Verfahren mit Anschuldigungen gegen seinen Chef hervorgetan hatte. Aber gegen die damals am Kesseltreiben gegen Frank beteiligten Zeitungsverleger war er ein kleiner Fisch.

* Leonard Dinnerstein, »Leo Frank Case«, New Georgia Encyclopedia, 11. August 2020: https://www.georgiaencyclopedia.org/articles/history-archaeology/leo-frank-case
** Steve Oney: And The Dead Shall Rise. The Murder of Mary Phagan and the Lynching of Leo Frank, New York 2003




In Fachkreisen hieß der Historiker Günther Franz (1902–92), ab 1933 Mitglied der NSDAP und ab 1943 SS-Hauptsturmführer, der »Bauern-Franz«. Während Brockhaus die unverfängliche Mitteilung vorzieht, Franz habe hauptsächlich auf den Gebieten der Agrargeschichte und des deutschen Bauernkrieges gearbeitet, behaupten Klee und Wikipedia, der Herr Professor habe den Machtantritt Hitlers als Vollendung der Ziele des Bauernkriegs von 1525 aufgefaßt. Das ist eigentlich mehr als frech. Franz, laut Behringer »fast zwei Meter groß«, dürfte ein echter Rammbock faschistischer Rasse-, Besiedelungs- und Expansionspolitik gewesen sein, nebenbei auch Spitzel.* Zur Belohnung durfte er von 1957–70 Professor, zeitweise auch Rektor, an der Stuttgarter Landwirtschaftlichen Hochschule sein. Dem gingen allerdings gewisse Entbehrungen voraus, weil Franz nach Kriegsende wohlweislich erst einmal (in Hessen) abtauchen mußte, bevor er sich einem windungsreichen »Entnazifizierungs«-Verfahren aussetzen konnte, das mit seiner »Entlastung« endete. Seine Bauernnatur war nicht kleinzukriegen; er brachte es noch auf 90.

* Näheres sehr wahrscheinlich in Wolfgang Behringers Aufsatz »Bauern-Franz und Rassen-Günther«, der 1999 in einem Fischer-Sammelband mit dem Titel Deutsche Historiker im Nationalsozialismus erschien. Hier der Beitrag online: https://www.uni-saarland.de/fileadmin/upload/lehrstuhl/behringer/PDF/bauernfranz.pdf. Fallen Sie nicht in Ohnmacht: Behringers rund 15seitiger Aufsatz hat geschlagene 118 Fußnoten!
# Ich empfehle außerdem ein interessantes Gespräch zwischen Moritz Binkele und Gerd Schwerhoff (TU Dresden): https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/interview_bauernkrieg?language=en, 1. Oktober 2023




Die keineswegs winzige bayerische Kreisstadt Freising (zwischen Landshut und München) wäre für den Brockhaus-Verlag ein idealer Firmensitz gewesen. Einst Castrum Frigisinga genannt (»nach dem Personennamen Frigis«), glänzte sie noch im frühen Mittelalter mit einer Herzogspfalz. Dann jedoch kam der Wanderbischof Korbinian vorbei – und binnen weniger Jahrzehnte mauserte sich Freising (um 800) zu einer ausgesprochen geistlichen Stadt, mit Bischofssitz, Domschule, Kloster, Brauerei und allem, was sonst noch an PR-Instrumenten für die Volksverdummung vonnöten ist.

Der erste Bischof war selbstverständlich Korbinian. Über diesen gibt es eine hübsche Legende, die sich prompt im Siegel, dann auch im Wappen der Stadt niederschlug. Auf einer Reise nach Rom sei der fromme Mann von einem Bären überfallen worden. Das Tier zerfetzte Korbinians Lastpferd; dieser selber war ihm vielleicht zu zäh. In der Tat war nun Korbinians heilige Überzeugungskraft gefragt. Denn er dachte natürlich nicht im Traume daran, sich sein Gepäck selber aufzubürden. Also herrschte er den schmatzenden Bären an: Greife dir sofort mein Reisegepäck und lade es dir auf den Buckel! Wir müssen nach Rom. Der Bär gehorchte aufs Wort, und seitdem sieht man ihn, im Wappen, als gedemütigtes Lasttier.

Allerdings wurde an dem Wappen schon wiederholt herumgedoktert, zuletzt 2023. Die oberpostmodernen Mütter und Väter der Stadt versichern dazu, jetzt könne der Bär »mit einer überarbeiteten Körperhaltung Optimismus und Zuversicht für die Zukunft« vermitteln. Bis dahin wirkte er zu gebeutelt. Dabei geht es dem bayerischen Volk doch schon seit Jahrhunderten wunderbar! Vor allem den Bischöfen und einer gewissen Frau Susanne Klatten. Das ist die bekannte BMW-Kühlergrillfigur, 2018 reichste emanzipierte Dame Deutschlands. Sicherlich hat Klatten auch die Erstattung der geschätzt halben Million übernommen, die die Stadtkasse für die jüngste »Corporate Identity«-Maßnahme locker zu machen hatte.



Der Germanistik-Professor Gerhard Fricke (1901–80) galt und gilt als Kapazität der Erforschung »klassischer« deutscher Dichtung: Schiller, Hölderlin, Kleist und so weiter. Er war zunächst nazistischer, dann demokratischer Professor. Brockhaus verkneift sich sowohl Tadel wie Lob. Aber die Kapazität gar nicht zu erwähnen, ging natürlich auch nicht. Parteimitglied Frickes Begrüßung der berüchtigten Bücherverbrennung des Mais 1933 konnte Brockhaus schon wegen feuerpolizeilicher Auflagen nicht an die große Glocke hängen. Fricke lehrte zuletzt, bis 1966, an der Universität Köln. Zuvor, um 1950, hatte er ein Gastspiel an der Istanbuler Universität gegeben, das der türkische Schriftsteller Akin E. Sipal in seiner Erzählung Adana liebt Breslau offenbar in einer Randglosse als Posse gestreift hat, wie ich aus einem unlängst erschienen Lesungsbericht* schließe.

* https://www.rheinpfalz.de/lokal/ludwigshafen_artikel,-der-türke-und-der-nazi-_arid,912342.html, 19. Juni 2017



Zum österreichischen Schauspieler, Schriftsteller und eingefleischten Junggesellen Egon Friedell (1878–1938) serviert Brockhaus eine Verkürzung, die in acht von 10 Fällen falsche Vorstellungen wecken dürfte. Das Lexikon schiebt vor dem Todesdatum ein: »(Selbstmord nach dem Einmarsch deutscher Truppen)«. Somit erscheinen marschierende, zähnefletschende Wehrmachtssoldaten als Veranlasser von Friedells bekanntem Kopfsprung aufs Pflaster. Tatsächlich lief es jedoch etwas anders.

Ich hole ein wenig aus. Nach Auskunft* des Dramatikers Carl Zuckmayer, der mit ihm befreundet war, lebte Friedell in seiner Wiener Wohnung »allein mit einer Haushälterin [Hermine Schimann] und einem kleinen Hund unbestimmbarer Rasse, von ihm mit ‚Herr Schnack‘ und immer per Sie angeredet, der darauf dressiert war, Zeitungen mit törichten Artikeln oder gar ärgerlichen Kritiken in kleine Fetzen zu zerreißen.« Das Herrchen schrieb selber Unmengen bissig-eleganter Theaterkritiken und anderer Betrachtungen, daneben Großessays, voran seine so eigenwillige wie unterhaltsame Kulturgeschichte der Neuzeit, erstmals 1927–31 in drei Bänden erschienen. Sie stand ihm selber im Umfang kaum nach. In meiner einbändigen Dünndruckausgabe (München 1974) hat sie noch immer rund 1.500 Seiten. Zuckmayer zufolge hatte der kurzhälsige und breitschultrige, mitunter bis zum Platzen saufende Dicke einen mächtigen Kopf, bei dem Stirn und Nase ineinander übergingen »wie auf Cäsaren- oder Feldherrnporträts antiker Münzen, seine Lippen über dem starken Kinn wirkten weich, wenn auch sarkastisch, und um Augen und Mund lag immer ein Zug von Verspieltheit.«

Friedell schätzte auch und gerade beim Arbeiten Pfeife, Diwan und Schlafrock. Überraschende Störungen machten ihn kränker als seine ungesunde Lebensweise. Als Sohn eines jüdischen Seidentuchfabrikanten war er nicht unbedingt auf Honorare angewiesen, also wohlversorgt, hatte dafür allerdings eine Rabenmutter in Kauf zu nehmen, die mit einem anderem Mann durchbrannte, als ihr Jüngster noch kaum laufen konnte. Vielleicht wirkte das nicht nur in allgemeiner Verletztlichkeit, sondern auch in seiner berüchtigten »Freßgier« nach. Sie schloß sogar Bücher ein … Jedenfalls brachte sich dieser kluge und belesene Witzbold wenige Tage nach dem »Anschluß« Österreichs an das faschistische Deutschland (11./12. März 1938) auf eine Weise um, die sich mit seiner Vorliebe für die Bühne und fürs Anekdotische deckte. Günstigerweise lag seine Wohnung (Gentzgasse 7) im 3. Stock. Als sich am späten Abend zwei SA-Leute bei seiner Haushälterin erkundigten, ob hier »der Jud Friedell« wohne, warf sich der 60jährige durch ein Fenster aufs Straßenpflaster. Er war sofort tot. Augenzeugen versicherten angeblich, vor Absprung habe er umsichtig »Obacht!« oder »Treten Sie zur Seite!« gerufen. Ob wahr oder nicht, die Umsicht hatte er schon vorher bewiesen. Wenn etliche Quellen von einem Sprung »im Affekt« erzählen, ist es genauso irreführend wie Zuckmayers Behauptung, die beiden SA-Leute hätten gar nicht zu Friedell gewollt, womit er ja sozusagen, durch eine klassisch-komödienhafte Verwechslung, zu früh gesprungen wäre. Zum Selbstmord war er in jedem Fall entschlossen, das bestätigten später etliche Freunde, darunter auch Zuckmayer. Friedell wollte nicht emigrieren, er hing an Wien und seinem Schreibtisch, hatte sich deshalb schon, vergeblich, um Gift und Pistole bemüht. Offen ist lediglich, ob ihn die Nazis an jenem Abend bereits zu verhaften oder nur einzuschüchtern gedachten.** Trifft das letztere zu, hatten sie durchschlagenden Erfolg.

Von Friedells Landsmännin Hilde Spiel gibt es einen 1960 veröffentlichten Essay über ihn, der zu unrecht viel zitiert wird.*** Da sie eine Erzbürgertante ist, kann ich ihr lediglich anrechnen, Friedells verbohrte »Geniegläubig-keit« zu erkennen und sogar zu rügen. Mir selber fällt an Friedell, genauer seiner erwähnten Kulturgeschichte, voran die verblüffende Paarung von Engstirnigkeit (Voreingenommenheit) und Toleranz auf. Er achtet den Menschen und seine Liebesmüh auch dann, wenn ihm deren Richtung oder Ergebnis mißfällt. Er findet an allem etwas Gutes und verachtet eigentlich nichts. Das hindert ihn freilich nicht, unablässig auf den »Antichrist« oder auf den »Sozialismus« einzuhacken. Friedell ist im Kern Idealist, Frömmler und Antidemokrat. Dagegen ist er weder Melancholiker noch Misanthrop. Hielte er den Menschen grundsätzlich für eine mißratene Erfindung, könnte er sich nicht an so vielen Menschen und Menschenwerken der unterschiedlichsten Art ergötzen. Wie sich versteht, geht das für meinen Geschmack oft zu weit. Lobt er wiederholt seinen zwielichtigen und peinlich in sich selbst verliebten**** Zeitgenossen Carl Ludwig Schleich, Arzt und Schriftsteller in Berlin, mag man es, eben wegen des fehlenden Abstands, noch hinnehmen. Bei Wagner und Nietzsche hört es aber für mich auf. Nebenbei bringt es Friedell fertig, nicht nur Rudolf Steiner nicht zu erwähnen, im Grunde zwar kein Verlust, sondern auch Anton Tschechow nicht. War der Russe vor 1930 in Deutschland nur Eingeweihten bekannt? Am meisten hebt Friedell auf der geistigen Ebene Emerson und auf der politischen Bismarck in den Himmel. Der zweite Umstand ist natürlich eine Katastrophe – er unterstreicht aber meinen Hinweis auf den antidemokratischen und vernagelten Zug des Friedellschen Denkens.

Freilich gönnt einem Friedell selbst hierin keine Widerspruchslosigkeit. So zeigt er sich immer wieder sowohl als Hasser des Staates wie der Arbeit. Man glaubt dann jedesmal, in einer anarchistischen Gemeinde wie Konräteslust wäre eine Mann wie Friedell – bei seiner Bildung, Buchstabenungläubigkeit, Beobachtungsgabe, Anschaulichkeit, Zungenfertigkeit sowie Humor- und Leibesfülle – der ideale BG-Leiter oder Nessepost-Redakteur gewesen, aber Pustekuchen. Ein paar Seiten weiter erbaut er sich wieder an ellenlangen Schlachtenbeschreibungen oder am Vermögen »des Italieners« (der Renaissance), gesellschaftlichen Reichtum auf möglichst feinsinnige oder jedenfalls unterhaltsame Weise aus dem Fenster zu schmeißen. Gemeint ist natürlich der adelige oder der betuchte Italiener. Ein Seitenstück zu Friedells elitärem Zug ist seine Vorliebe für Fremdworte, bei denen wahrscheinlich sogar Hilde Spiel zum Griff nach dem Wörterbuch gezwungen war. Eine neue Sicht auf die Welt hat Friedell nicht zu bieten – aber eine ungewöhnlich reichhaltige Fundgrube für Zimmerer und Maler am eigenen Weltbild, falls dazu noch jemand die Muße und die Geduld haben sollte.

Eine andere Frage wäre, warum sich Friedell diese wahrhafte Herkulesarbeit auflud. Ich kann sie einstweilen nicht beantworten. Vielleicht hülfen hier die drei oder mehr Biografien weiter, die es inzwischen schon über ihn gibt. Die Besprechungen im Internet sind aber eher un-günstig, weshalb ich die betreffenden Bücher einstweilen nicht zu lesen gedenke.

* Carl Zuckmayer, Als wär's ein Stück von mir, 1966, hier Sonder-ausgabe Ffm 2006, S. 79–82
** ORF-Gespräch mit Christian Goeschel, https://sciencev2.orf.at/stories/1692980//index.html, 12. Januar 2012
*** Hilde Spiel, »Egon Friedell«, in Welt im Widerschein. Essays, München 1960, S. 255–63
**** Carl Ludwig Schleich, Besonnte Vergangenheit. Lebenserinne-rungen eines Arztes, Berlin 1920




Den deutschen 48er-Gelehrten und verhinderten Auswanderer Alexander Friedländer (1819–58) sollte man vielleicht nicht, wie Brockhaus, ganz übergehen. Ihn erwischte es am 13. September 1858 kurz vor dem Ziel, nämlich der Ankunft in New York City. Damals wurden die unteren Decks des knapp 100 Meter langen Dampfschiffes Austria der Hamburger HAPAG zwecks der vorgeschrie-benen Desinfektion mit Teerdämpfen ausgeräuchert. Dazu pflegte man glühende Ketten in Bottiche mit flüssigem Teer zu tauchen. Diesesmal ließ ein unachtsamer Matrose eine solche Kette auf die Planken des profitablen, hauptsächlich mit Auswanderern vollgepferchten Schiffes fallen. Die erste Folge war ein Brand, der das ganze Schiff erfaßte, die zweite eine Panik, die dritte der Untergang des Schiffs. Nach Wikipedia konnten von den 545 Menschen an Bord lediglich 89 gerettet werden.*

Friedländer befand sich nicht unter den Glücklichen, und darin lag eine teerschwarze Ironie. Obwohl Jude, war der Sohn eines Briloner Kaufmanns und promovierte Jurist 1842 an die Heidelberger Universität berufen worden. 1847 fand er Beifall für seine Juristische Encyclopädie. Aber dann, in den »unruhigen« Jahren 1848/49, machte er sich wieder unbeliebt, weil er mit demokratischen Artikeln und anderen staatsfeindlichen Aktivitäten hervortrat. Man sperrte ihn ein und brummte ihm 1850 eine mehrjährige Haftstrafe auf, die ihm, aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes und verschiedener Fürsprachen, nur gegen eine Geldbuße sowie die Verpflichtung erlassen wurde, sich nach einer gewissen Erholungszeit für immer auf ein Auswandererschiff Richtung Amerika zu begeben. Eben das hatte der knapp 39 Jahre alte Ex-Professor am 1. September 1858 getan.**

Friedländers Kindheitsort Brilon liegt im östlichen Sauerland. Vor 1842 war er auch ein Jahr am dortigen Stadtgericht tätig. Einem jüngeren Heimatkundebuch*** lassen sich noch einige haarsträubende Einzelheiten entnehmen. 1848 habe Friedländer als Mitglied des Heidelberger Demokratischen Vereins Protestaktionen gegen die Erschießung Robert Blums organisiert. >1850 wurde er der Teilnahme am Aufstand »durch Schrift und Rede« beschuldigt und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Unter der Bedingung, nach Amerika auszuwandern, wurde er nach acht Wochen begnadigt, dafür hatten sich u. a. Eltern, Großvater, Bürgermeister und der Magistrat von Brilon eingesetzt. Die Familie musste 1.000 Gulden Entschädigung und 500 Gulden Kaution zahlen.< Dann wird die verhängnisvolle, in einem Brand mündende Schiffsreise aus dem Jahr 1858 erwähnt. Dabei sei, mit Friedländer, auch dessen »gerade Angetraute« umgekommen. Ihr Name wird leider nicht genannt.

Nach verschiedenen Webseiten besaß ein Gulden um 1850 die Kaufkraft von mindestens 13 Euro. Somit strichen die Behörden allein durch jene »Entschädigung« mindestens 13.000 Euro ein. Woanders hätte man sie vielleicht umgekehrt Friedländer gezahlt, weil er die Möglichkeit einer hotelmäßigen Versorgung im Zuchthaus nicht in Anspruch genommen hatte.

* https://de.wikipedia.org/wiki/Austria_%28Schiff,_1857%29
** Siehe Familientafel »Friedländer« in Ursula Hesses Buch Jüdisches Leben in Alme, Brilon 1991, S. 135
*** Frank Göttmann (Hrsg), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, Münster 2016, S. 243




Der Eintrag zum vorwiegend lateinisch schreibenden süd-deutschen Hochschullehrer und Schriftsteller Nicodemus Frischlin (1547–90) ist recht erfrischend, unterschlägt doch Brockhaus weder dessen Kratzbürstigkeit noch sein Unfallpech beim letzten Fluchtversuch seines Lebens.

Frischlin hatte in Tübingen studiert. 1868 ergatterte er ebendort eine »außerordentliche Professur« (für Poesie und Geschichte) und bald darauf auch die Gunst des Landesfürsten Ludwig. Dem dürfte besonders Frischlins Ader fürs Vaterländische behagt haben. Wegen seiner angedeuteten »Aggressivität« (Brockhaus) machte sich Frischlin freilich sowohl bei Kollegen wie bei Landadeligen zunehmend unbeliebt. So führte er ab 1582 mit Kind und Kegel notgedrungen eine Art Wanderleben, bei dem er sich und seine vielköpfige Familie durch Anstellungen in etlichen mitteleuropäischen Städten schleppte. Er konnte nirgends Tritt fassen. Seine Unrast endet Anfang 1590 in Frankfurt/Main und Mainz, als er auf Betreiben der württembergischen herzöglichen Räte wegen einer »unglaublich thörichten, mit knabenhaft übermüthigen Beleidigungen vollgestopften« Streitschrift, wie Wilhelm Scherer knapp 300 Jahre später urteilt*, verhaftet und an Stuttgart ausgeliefert wird. Der Hof sperrt ihn in die bei Reutlingen gelegene Festung Hohenurach ein. Aus dieser versucht sich Frischlin, inzwischen 43 und durch Krankheit geschwächt, in einer Novembernacht desselben Jahres mit Hilfe aneinandergeknoteter Bettlaken von der Festungsmauer aus abzuseilen. Prompt stürzt er ab und bricht sich den Hals.

Während Scherer den (»protestantischen«) Herzog Ludwig der Fromme einen vor allem »unbedeutenden Jäger und Trinker« nennt, zeichnet er von dessen Schmäher, Sprößling eines evangelischen Theologen, kein wesentlich günstigeres Porträt. Gesellig und witzig zwar, doch in der Grundfärbung streitsüchtig, heißblütig und beträchtlich ehrgeizig, so stellt ihn Scherer hin. Bildnisse aus seinen Tübinger Professorenjahren zeigen Frischlin mit gewaltigem Rauschebart. Gleichwohl bescheinigt ihm Scherer einen etwas würdelosen, von Rachegelüsten gespornten Lebenswandel. Frischlin habe sich häufig übergangen und entsprechend gekränkt gefühlt. Seine wohl aus beiderseitigem Neid erwachsenden Fehden mit Kollegen beziehungsweise Konkurrenten sollen ähnlich zahlreich wie sein Nachwuchs gewesen sein: mit seiner Frau Margarethe hatte Frischlin 16 Kinder gezeugt, die Folgen angeblicher »Ehebrüche« nicht gerechnet. Mein Gott, mit diesen Frauen hätte keiner tauschen wollen. Der Rauschebart lieferte außerdem vielfältige Texte, auch Komödien, die zeitweilig oft gespielt wurden, wie Gustav Bebermeyer schreibt.** Selbst Brockhaus hebt lobend die selten derbe Komik der Bühnenstücke hervor. Scherer rügt ihre dramaturgischen Schwächen.

Wie es aussieht, sind Frischlins Ausfälle gegen den Adel, zugunsten des Bauernstands, nur schwer von der Mißachtung zu trennen, in der er sich selber, als zu gering bestallter Gelehrter und verkannter Dichterfürst, wähnte. Dabei hatte er sich ja, wie schon angedeutet, über Jahre hinweg der Gunst oder jedenfalls der Nachsicht des Herzogs erfreut. Vielleicht war Frischlins »Lästermaul«, um nochmals Scherer aufzugreifen, größer als er selbst. Mit anderen Worten: wenn nicht die Gen-Lotterie, dann hat ihn seine Kinderstube im Balinger Pfarrhaus zur Schnecke gemacht. Darüber erfährt man aber zumindest im Internet so gut wie nichts.

* Wilhelm Scherer in der Allgemeinen Deutschen Biographie, Band 8 (1878), S. 96
** Gustav Bebermeyer in der Neuen Deutschen Biographie, Band 5 (1961), S. 620




Für seinen frühen Tod hat Brockhaus in den sieben Zeilen kein Augenmerk. Nahm sich der schweizer Komponist Friedrich Theodor Fröhlich (1803–36) im Jahr 1833, zwecks Vertonung, der bekannten Eichendorff-Verse Wem Gott will rechte Gunst erweisen an, versuchte er womög-lich den Fehlschlag mit seinem zweckoptimistischen Nachnamen wettzumachen. Drei Jahre darauf jedoch, im kühlen Oktober, sah man »den hoffnungsvollsten Träger einer Schweizerischen Romantik«, wie einige Kollegen urteilten, in den Fluten der Aare versinken. Der 33jährige hatte sich ertränkt.

Bis dahin konnte sich Fröhlich in der Kleinstadt Aarau als Teilzeitlehrer an der Alten Kantonsschule, Leiter von Chören und einem Liebhaberorchester sowie mit privatem Einzelunterricht wohl nur mühsam über Wasser halten. Ursprünglich auf Wunsch oder Befehl der lieben Eltern Jurastudent, hatte der Sohn eines Baseler Lehrers und Stadtrats eine musikalische Ausbildung durchgesetzt – bei Friedrich Zelter, Bernhard Klein und Ludwig Berger in Berlin, wo er auch Felix Mendelssohn-Bartholdy, daneben seine eigene spätere Ehefrau kennenlernte, Ida von Klitzing.* Aber Fröhlichs Werke wurden kaum verlegt oder gar aufgeführt. Sie sollen durchaus reizvoll gewesen sein, wenn auch streckenweise zu formelhaft und mit Satzfehlern gespickt. Hinzu kamen Schwierigkeiten in der Ehe, die üblichen Schulden und die üblichen Depressionen. Diese waren wohl auch von Fröhlichs Befürchtung genährt worden, Leuten wie Mendelssohn-Bartholdy oder den maßgeblichen Kunstpäpsten mit ihren Weihrauchgefäßen nie das Wasser reichen zu können. Oder auch eher umgekehrt: sich nicht deutlich genug von ihnen absetzen zu können.

Laut Pierre Sarbach (2018) liegen inzwischen einige CDs mit Kompositionen Fröhlichs vor. Ob er sich zurecht verkannt fühlte, scheint aber noch umstritten zu sein. Als er damals zum letzten Male in seinem Leben zur Aare hinunterging, soll er seine Vertonung des Hölderlin-Gedichts Rückkehr in die Heimat gesummt haben. »Und wenn im heißen Busen dem Jünglinge / Die eigenmäch-tigen Wünsche besänftiget / Und stille vor dem Schicksal sind, dann / Gibt der Geläuterte dir sich lieber …«

* Titus J. Meier, »Der Unbekannte, dessen Musik dem damaligen Zeitgeist voraus war«, Aargauer Zeitung, 12. Oktober 2016: https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/brugg/der-unbekannte-dessen-musik-dem-damaligen-zeitgeist-voraus-war-130636025



Weiter oben nannte ich schon einige MalerInnen, die der Orientmeise huldigten, und für Brockhaus tat das der Franzose Eugène Fromentin (1820–76), der nebenbei auch als Schriftsteller hervortrat, sogar an führender Stelle. Zum Beweis druckt das Lexikon ein Wüstenbild des Franzosen ab, auf dem gerade mindestens fünf zu Boden gestreckte Leute, wenn ich richtig zähle, jämmerlich – und selbstverständlich mit eindrucksvollen Gebärden verdursten. Das könnten Laien als Flaggengruß an Géricaults Floß der Medusa mißverstehen, auf das wir in Kürze noch zurückkommen werden. Fromentins Wüstenstück aus dem Fundus des Louvre stammt von 1869. Sieben Jahre darauf starb auch sein Schöpfer, allerdings nur an einer »Krankheit von wenigen Tagen«, wie die französische Wikipedia sehr aufschlußreich mitteilt. Vorher hatte er bereits an einem Vollbart plus gewaltiger Stirnglatze gelitten.

Mustert man im Internet ein anderes Gemälde des Meisters, Une rue a El-Aghouat, ergreift einen zunächst die Furcht, das Massensterben ginge weiter. Das wirkungsvoll komponierte Bild gibt Einblick in eine teils in glühender Sonne, teils im Schatten liegenden Gasse. Während zur Linken eine Frau gerade eine Ziege oder ähnliches aus der ungesunden Sonne in einen Hausflur schiebt, winkt im Hintergrund, am Ende der Gasse, ein Stadttor, das freilich auch nur in die Wüste zu führen scheint, wo Schatten bekanntlich Mangelware ist. Aber zur Rechten herrscht eben wohltuender Häuserschatten, und in dem räkeln sich die wahrscheinlich sieben vorwiegend weißgekleideten Männer, die man zunächst für Todgeweihte gehalten hat. Einer lehnt sogar an der Hauswand, dösend wie alle. Sie halten also lediglich eine kleine Siesta, wenn ich mich nicht täusche.

Als Schriftsteller hatte Fromentin sicherlich auch die eine oder andere Geschichte auf Lager, die genaueren Aufschluß über diese Mittagspause gibt. Waren die Männer Bewohner der schattenspendenden Häuser, war es ihnen vielleicht drinnen zu stickig gewesen. Gehörten sie einer ausheimischen Karawane an, fehlten ihnen vielleicht die Waffen, um sich gewaltsam Einlaß in die Häuser zu erzwingen. Oder die Lust zum Gefecht, bei dieser Affenhitze. Daran könnte wiederum die erwähnte Ziege von der linken Gassenseite Zweifel wecken. Die Frau hatte sich vielleicht gesagt: tun wir Amelda lieber ins Haus, bevor sie von diesen durchreisenden Strolchen erlegt wird, von mir selber ganz zu schweigen.



Der »frühen Feministin« Margaret Fuller (1810–50), eine US-Schriftstellerin, gönnt Brockhaus (1989) immerhin rund 20 Zeilen. Die Umstände eines »Schiffsuntergangs« werden natürlich offen gelassen. Laut Victor Grossman* war die »nicht allzu mädchenhafte« Tochter eines Bostoner Rechtsanwaltes schon in jungen Jahren ungewöhnlich gebildet, allerdings auch ziemlich eingebildet. Sie hatte zeitlebens unter Kopfschmerzen und Albträumen zu leiden, vielleicht von der verkrampften Kindheit her. Zwar schwang sie sich von der Lehrerin zu einer bekannten Journalistin und führenden Frauenrechtlerin auf, doch im Grunde litt sie wohl auch über weite Strecken an unerfüllter Liebessehnsucht. Eine Liebschaft vor ihrer Europareise blieb kurz und schmerzhaft; der Mann machte sich aus dem Staub. Die Reise trat sie (1846, als Korrespondentin der New York Tribune) trotz ihrer Angst vor dem Wasserweg an. Zwar traf sie dann in Italien erneut einen Liebhaber, mit dem sie sogar Sohn Angelino zeugte, doch auch dieses von den jüngsten revolutionären Umtrieben befeuerte Glück währte kaum ausgiebiger als jenes in den Staaten, weil die junge Familie auf der Heimreise ertrank.

Der Ersatzkapitän des hauptsächlich mit Marmor und Handelsware beladenen Segelschiffs Elizabeth, der rechtzeitig von Bord sprang, behauptete später, Margaret, inzwischen 40, habe sich gar nicht retten wollen. Makabererweise war der Segler nur wenige Steinwürfe vor Fire Island (bei New York City) bei einem »fürchterlichen« Sturm auf eine Sandbank gelaufen und dort Leck geschlagen worden. Der tobende Seegang blockte die an der Küste bereitliegenden Boote ab; selbst Versuche, Leinen zum Wrack zu schießen, schlugen fehl. Einige NichtschwimmerInnen behalfen sich mit Planken. Ob das Paar Fuller/Ossoli schwimmen konnte, wird nirgends gesagt; man muß freilich daran denken, es hatte ein Söhnchen dabei, das noch keine zwei Jahre alt war. Jedenfalls sprang die Familie nicht ins schäumende Wasser. Auch vier Seeleute sollen, im Gegensatz zum Kapitän, auf dem Wrack ausgeharrt haben – warum auch immer. Nach 12 Stunden Gefangenschaft wurde das Wrack von einer mächtigen Welle erfaßt, die alle Zurückgeblie-benen ins Meer spülte, wo sie ertranken. Das war am 19. Juni 1850. Thoreau kam aus Boston herbeigeeilt, mit anderen Leuten nach den Leichen zu suchen. Von der Familie Fuller/Ossoli fand sich lediglich die Leiche des kleinen Angelinos, dazu Baby-Sachen und einige Briefe, nicht dagegen Fullers Buchmanuskript zur Geschichte der italienischen Revolution – »vielleicht ihr Meisterwerk«, so Grossman. Bekannt geworden war sie mit dem Buch Woman in the Nineteenth Century, erstmals 1845 erschienen.

Ich nehme stark an, das Nähen von Kleidern oder Fenstervorhängen gehörte nicht gerade zu Fullers Lieblingsbeschäftigungen. Am 4. Februar ihres Todesjahres, um 8 Uhr 20, war in der Maschinenfabrik A. B. Taylor & Co., New York City, ein 200-PS-Dampfkessel explodiert. Die lokalen Zeitungen überboten sich mit Extrablättern. Am Ende waren 63 Tote und rund 70 Verletzte zu beklagen. Laut Angelika Glanders Singer-Biografie** ging bei dem Unglück beiläufig auch ein in dieser Fabrik ausgestellter Prototyp einer Schneide-maschine drauf, die den Beginn von Isaac Merritt Singers Karriere als Erfinder und steinreicher Industrieller markierte. Mit der berühmten, nicht durch Dampf angetriebenen Nähmaschine war der ungehobelte Sprößling deutscher Einwanderer dann erfolgreicher.

* Victor Grossman, Rebel Girls: 34 amerikanische Frauen im Porträt, Köln 2013, S. 30–39
** Norderstedt 2009, S. 116




Hören Sie Furchterregendes von den Furchenwalen. Laut Brockhaus zählt man mit dem Blauwal sogar das schwerste und längste Tier unseres Planeten zu ihnen: bis 130 Tonnen und bis 39 Meter. Frischgeborene Säuglinge sind bereits mindestens sieben Meter lang – eine flotte Segeljacht. Den Gattungsnamen verdanken all diese schwimmenden Festungen Furchen an Kehle und Brust, die eine »starke Erweiterung der Mundhöhle« ermöglichen – also gut fürs Verschlingen riesiger Wasserschwälle, die reichlich Krebse, Fische und dergleichen Meeresfrüchte in den Walmagen spülen. Übrigens sind Blauwale auch bis zu 50 Stundenkilometer schnell, was leider ihre Beinahe-Ausrottung durch den Zweibeiner nicht verhindern konnte.

Um es ehrlich zu sagen: für mein Empfinden haben wir mit dem Imperialismus, heute »globalisierte Weltwirtschaft« genannt, mit Abstand das übelste Ungeheuer auf Erden. Bei ihm dienen die verbergbaren Furchen dazu, uns vorzugaukeln, es pflüge die Meere »nur für den Weltfrieden« um. Der Berliner Zauberkünstler, Schriftsteller und Ex-Hochschullehrer Michael Schneider, inzwischen über 80, hat sich gerade an einen kurzen Rundschlag gegen dieses verschlagene Ungeheuer gewagt.* Sollten Sie Mühe haben, den ungefähr 95 Prozent Ihrer Bekannten, die Sie wegen Ihrer »kompromißlosen« Ablehnung des Ungeheuers für einen Kindskopf / Verschwörungstheoretiker / Gefährder halten, Paroli zu bieten, sollten Sie Schneiders beleg- und aufschlußreichen, gut aufgebauten Text lesen. Das sollen die erst mal widerlegen! Das stärkste Zauberkunststück zeigte Schneider übrigens mit seinem Ausscheren aus dem großen Umfallen der Linken während der ersten rotgrünen Jahre des wiedervereinigten Deutschlands. Fast alle, seinen Bruder Peter Schneider eingeschlossen, duckten sich und stammelten Realpolitisches.

Die jüngste Weltpolitik stand zunächst im Zeichen des Kampfes gegen ein grotesk aufgeblasenes Killervirus (Corona) – falls Sie sich noch erinnern. Die erheblichen Schäden dieses Kampfes, etwa durch Einübung von Kadavergehorsam und Einspritzung ungeprüfter, wahrscheinlich höchstgefährlicher Impfstoffe, werden inzwischen möglichst beschwiegen, sonst verharmlost. Dabei hilft das nächste, das Killervirus ersetzende Monster: der zähnefletschende russische Bär, der nach der Ukraine auch unser Deutschland fressen will. Tatsächlich sind es freilich die Massen, die sämtliche Propaganda brav aus ihren Satellitenschüsseln fressen. Als Hauptantriebe dieser Weltpolitik stellt Schneider die Motive Verblödung der Völker (Umwertung) und Finanzkrise 2019 heraus. Dahinter steckt natürlich das Bemühen unserer Eliten, sich die Futtertröge zu erhalten. Schneider meint belegen zu können, der Kapitalismus habe bereits 2019 kurz vorm Zusammenbruch gestanden.

Erfreulicherweise merkt Schneider ausdrücklich an, ein blendendes Zauberwort der (Post-)Moderne sei »wissenschaftlich«. Er kann sich dabei auf Hanna Arendt und Erwin Chargaff berufen. Er selber pocht freilich ebenfalls auf Wissenschaft: »Grundlage der Durchsetzung von nie dagewesenen Einschnitten in Bürger- und Grund-rechte waren nicht etwa sorgfältige wissenschaftliche Untersuchungen …« Nebenbei benutzt er zu oft Fremdworte und verbeugt sich, wie fast jeder, vor Akademikern: »Psychologie-Professor Klaus Jürgen-Bruder« / »Fabio Vighi, Professor für Kritische Theorie« und so weiter.

Meiner Ansicht nach sollte man »das Wissenschaftliche« völlig vermeiden. Das ist doch nur noch ein von jeglichem Sinn entleertes Hüllwort für ein unlauteres Vorgehen, das mit dem herkömmlichen Ethos nichts mehr zu tun hat: kritisch sein, wahrheitsliebend, treffend sein, sorgfältig, überprüfbar, im ganzen stets redlich. Übrigens wäre ich nicht verblüfft, wenn die Entleerung dieses Begriffs bereits begann, als Marx und Engels die Ärmel aufkrempelten, um der Arbeiterklasse den »wissenschaftlichen Sozialismus« zu schenken. Was für ein Schmarren! Und in welcher Jauche endete er!

Am Schluß seines Beitrages kann sich Schneider nicht verkneifen, mit dem (nicht nur bei ihm) üblichen zweckoptimistischen Stummelschwanz zu winken: möglicherweise käme, bei allen trüben Aussichten, eine neue (»multipolare«) Epoche auf uns zu. Ich könnte mir denken, er hat bestenfalls verschwommene Vorstellungen, wie ein verschwindend kleines Häuflein Aufrechter dem Epochenumbruch begegnen könnte. Entsprechend wird in seinem Text, sofern ich nicht irre, der früher von Linken oft beschworene Gesichtspunkt der »Massen« und der »Massenbasis« wohlweislich ausgespart. All diese Milliarden Smartphone-Süchtigen, die wir bereits haben – sie kommen bei ihm kurzerhand nicht vor. Auch das gewaltige Problem der Mammutgestalt oder auch Blauwaligkeit der postmodernen Welt übergeht er. Aber das macht ja nahezu jeder.

* https://www.manova.news/artikel/die-umwertung-aller-werte,
10. Februar 2024




Das bekannte »Flurfördermittel« Gabelstapler wird von Brockhaus in rund 10 Zeilen nebst Zeichnung vorgestellt. Vor rund 50 Jahren war ich sogar äußerst nebensächlich in den Bau dieser Zwergkräne verwickelt. Damals gab ich in Kassel, der Stadt meines verpaßten Abiturs, ein halbjähriges Gastspiel als Schmiedehelfer bei Rheinstahl Henschel. Sie steckten mich in die Hölle der sogenannten Freiformschmiede, wo an einigen haushohen Hämmern die Rohformen von zukünftigen Antriebswellen und dergleichen geschmiedet wurden – eben »frei« auf dem Tisch, ohne Gesenke. Die rotglühenden Stücke wurden per Kran vom Ofen zum Hammer gebracht, wo sie der Schmied in seine riesige Zange nahm und auf den Tisch unter den schlagbereiten Hammerkopf schob. Und dann immer feste druff. Der Schmied drehte, wendete und kippte das Stück je nach Auftrag, bis der Hammer es hinreichend verdichtet und geformt hatte, damit es später von Drehern in die erwähnte Antriebswelle verwandelt werden konnte. Wie sich versteht, lief ihm der Schweiß in Strömen den Buckel hinab. Deshalb kam er nicht umhin, in den durchaus häufigen Pausen etliche Liter Bier in seinen Hals zu schütten, obwohl das verboten war. Hatte er bereits die 40 überschritten, hätte man seine Bandscheiben wahrscheinlich auf einem Röntgenfilm mit einer Briefmarkenserie zum Weltgesundheitstag verwechseln können. Was nun ich als Gehilfe des jeweiligen Schmiedes zu tun hatte, könnte ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Wahrscheinlich hatte ich den Hammer einzuschalten oder zu stoppen, im übrigen ähnlich viel zu schwitzen und zu saufen wie der Schmied.

Hin und wieder schlenderte ich auch zu einem neuen Bekannten, der in einem Winkel der benachbarten Halle ganz muttterseelenallein zu schaffen hatte. Er hatte Gabeln zu biegen – selbstverständlich, wie alle, im Akkord. Er war untersetzt und stämmig und glänzte für seine 34 Jahre mit eindrucksvoller Stirnglatze, auf welcher der Feuerschein seines Ofens tanzte. In dem Ofen wurden die Stahlbohlen an der vorgesehenen Knickstelle bis zur Rotglut erhitzt. Dann bugsierte Werner sie mit der Krankette über seine Biegemaschine. Hatte er sie abgelassen und verkeilt, befahl er der Maschine, die Bohlen zu den bekannten rechtwinkligen Gabeln für Flurfördermittel zu knicken. Dann löschte und legte er sie ab und schlurfte wieder zum Ofen für das nächste Stück. Seine Akkordzahl pro Schicht weiß ich nicht mehr. Er versicherte mir jedoch, er sei mit dem Posten zufrieden, vor allem natürlich mit den Moneten, die ihm Rheinstahl Henschel zum Monatsende überwies.

Mein Kumpel J. aus dem ehemaligen Kasseler USSB (Unabhängiger Sozialistischer Schülerbund) hatte in jener Zeit ein besseres Los. Schon immer guter Fotograf, hatte er sich einige einträgliche Aufträge aus der heimischen Industrie verschafft. Es ging meist um Aufnahmen für Prospekte oder Firmenzeitschriften. Ein Produkt, das er für einen Hersteller oder Großhändler mit seiner nagelneuen 500 C/M von Hasselblad in bestes Licht zu rücken hatte, waren Gabelstapler. Ich glaube, die Marke hieß Linde. Er zeigte mir die Farbfotos, mindestens ein Dutzend, nicht ohne jede Verlegenheit, da er ja eigentlich sowohl Künstler wie Klassenkämpfer war. In der zweiten Eigenschaft hätte er den Fabrikhof, wo er die Gabelstapler von allen Seiten aus fotografiert hatte, genausogut mit Benzin überschütten und anzünden können.

Scherz beiseite. Vor knapp sieben Jahren meldete Bild, in einem Fürther Baumarkt habe eine Palette mit Betonbausteinen einen 31jährigen Kunden erschlagen. Die Last von rund einer Tonne war gerade von einem Gabelstapler-Fahrer hochgehievt oder aus einem Regal gezogen worden, als der Kunde irgendwie im Wege stand. Die Last stürzte ab.* Zum denkbaren Nachspiel des Vorfalls schweigt das Internet. Allerdings ist es ja so: wenn sie den Fahrer, vielleicht sogar die Firma Linde, verknackt haben sollten, wurde der Kunde auch davon nicht wieder lebendig. Der entscheidende Fehler war spätestens die Erfindung von Baumärkten.

* https://www.bild.de/regional/muenchen/fuerth/toedlicher-unfall-in-baumarkt-kunde-erschlagen-51312718.bild.html, 16. April 2017



Der italienischer Liedermacher Rino Gaetano (1950–81) ist auch schon wieder seit 50 Jahren tot. Er war von meinem Jahrgang, brachte es freilich nur auf 30. Die Klippen, die seine Lieder in harmonischer und melodischer Hinsicht vermissen ließen, versteckte er in ihren vorgeblich »leichten« Texten, die dadurch ironische, zuweilen sogar bittere Züge bekamen. Als Ironie, nämlich auf seine nette schlacksige Erscheinung, konnte man auch die kehlige Ochsentreiberstimme des jungen Mannes aus Kalabrien auffassen, mit der er seine Lieder vortrug. Brockhaus übergeht ihn – ich will nicht behaupten, das sei ein erschütterndes Unrecht.

Neben den Beatgruppen und Sängern wie Adriano Celentano und Bob Dylan schätzte Gaetano Beckett, Ionesco, Majakowski und spielte auch selber in Stücken von diesen mit. Er machte sich in Rom, wo er zur Schule gegangen war, einen Namen als Kabarettist und »Entertainer« und schaffte es bald nach seinem aus dem Alltagsleben gegriffenen Hit Ma il cielo è sempre più blu (Aber der Himmel wird immer blauer) von 1975 auch ins Fernsehen. Der Unterhaltungskünstler Gaetano nahm biedere Familienväter und glühende Anarchisten gleichermaßen für sich ein. Nach dem Schunkel-Preislied Aida (1977) legte er mit Nuntereggae più (1978) eine Satire auf die korrupte Elite seines Landes vor. Mit Gianna (wohl über Liebe und Ernüchterung) belegte er im selben Jahr den dritten Platz auf dem züchtigen San-Remo-Festival, auf dem damit erstmals das Wort »Sex« gefallen war. Heute können wir uns vor dem »Sex« kaum noch retten.

Als er drei Jahre darauf in Rom verunglückte, saß der 30jährige Sänger und Komponist allein in seinem neuen silberfarbigen Volvo 343. Möglicherweise oder sogar wahrscheinlich durch Übermüdung, vielleicht auch durch einen Schwächeanfall (Autopsie) aus der Spur gekommen, prallte Gaetano in den frühen Morgenstunden des 2. Juni 1981 gegen einen Kleinbus oder Lastwagen, fiel ins Koma und starb noch am selben Tag. Der »gegnerische« Fahrer blieb offenbar am Leben, führen doch einige Quellen, darunter die italienische Wikipedia, Aussagen von ihm an. Von Verdachtsmomenten oder gar Anklagen gegen ihn ist so wenig wie von Selbstmordplänen Gaetanos zu lesen – dafür umso mehr von den üblichen Orakeln, der zugleich aufmüpfige wie erfolgreiche Künstler sei Opfer eines Anschlages geworden. So oder so, der Weg zur »Kultfigur« war frei.



Machen wir es kurz. Der berühmte SU-Kosmonaut Juri Gagarin (1934–68), nur 1,57 Meter groß, dafür Oberst der Luftwaffe und »Held der Sowjetunion«, stürzte am 27. März 1968 mit 34 Jahren bei einem Testflug in einem Waldgebiet bei Wladimir, Zentralrußland, mit einer MiG-15 ab. Auch sein Co-Pilot Wladimir Serjogin (Jahrgang 1922) kam dabei um, was oft vernachlässigt wird; schließlich hatte nicht Serjogin am 12. April 1961 als erster Mensch mit einem Weltraumschiff die Erde umrundet. Aus diesem Ereignis macht Brockhaus übrigens in seinem 7-Zeilen-Eintrag einen kleinen Scherz. Gagarin habe damals »als erster Mensch die Erde in einer Wostok-Raumkapsel« umkreist. Das Lexikon verrät uns allerdings nicht, wo diese mehr als riesige Kapsel jetzt steht, damit man das Experiment, in ihr einen Planeten von knapp 13.000 Kilometer Durchmesser zu umrunden, vielleicht wiederholen kann, wegen der oft verlangten Überprüf-barkeit. Das gibt einen langen, zudem wahrscheinlich recht beengten Marathonlauf.

Kosmonaut Gagarin soll als Flieger unerfahren gewesen sein. Der Absturz sei jedoch, schreibt Boris Reitschuster*, vor allem aufs Konto verschiedener Fahrlässigkeiten der Luftwaffe gegangen. Wie sich versteht, vermied es das Politbüro, diese Dinge an die große Glocke zu hängen. Gagarin sollte ein Held und die SU ein Überstaat bleiben. Um 2011 gelang es Gagarins Familie leicht verspätet, dem Umstand Rechnung zu tragen, daß sich der russische Wind inzwischen auf Kapitalismus gedreht hatte. Sie ließ sich nun die Rechte am Namen des »Helden der Sowjetunion« sichern. Experten, so Reitschuster damals, schätzten den Wert der Handelsmarke Juri Gagarin auf rund 25 Millionen Euro.

* Boris Reitschuster, »Absturz einer Ikone«, Focus, 15. November 2013 ? (wohl eher 12. April 2011): http://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/tid-21939/juri-gagarin-absturz-einer-ikone_aid_617345.html



Ob der Gahrenberg, eine um 472 Meter hohe Basalt-kuppe bei Kassel, die höchste Erhebung des Reinhards-waldes ist, scheint in der Literatur umstritten zu sein. Nach Wikipedia hat er gegenüber dem Staufenberg um gewaltige 10 Zentimeter das Nachsehen. Er steht aber trotzdem im Brockhaus.

Selbst die nahe Sababurg wird erwähnt, wenn auch erst in Band 19 (1992). Das ehemalige, zeitweise verfallene hessische Jagdschloß bei Hofgeismar werde inzwischen als Hotel genutzt. Das war auch meinem Onkel Wilfried bekannt. Als er um 1975 die Hochzeit seiner Tochter auszurichten hatte, schlug er für das große Festmahl just die so romantisch im Walde gelegene Sababurg vor. Allerdings sollte der Hochzeitstroß weder zu Pferd noch zu Fuß anrücken. Vielmehr per Auto, dabei von dem Brautpaar in einem buchstäblich selten schönen Wagen angeführt, den es damals erst einmal auf der Welt gab. Wilfried war Ingenieur und Oldtimernarr. Er hatte mit einem Designer, der ebenfalls zur Verwandtschaft gehörte, eine schnittige Karosserie entworfen, die Wilfried dann eigenhändig, in einer gemieteten Werkstatt, dem nagelneuen Fahrgestell einer Limousine von Ford überstülpte. Unter der altmodischen Kühlerhaube pochten fast 200 PS, wenn ich mich recht entsinne. Auch den Motor hatte ihm Ford geliefert. Fuhr Wilfried seine Erfindung bei gutem Wetter auf Kassels Straßen oder auf der Autobahn nach Dortmund Probe, fielen natürlich allen restlichen Verkehrsteilnehmern die Augen aus dem Kopf. So einen bezaubernden Oldtimer hatten sie noch nie gesehen – und wenn Wilfried zum Überholen ansetzte und aufs Gaspedal drückte, sahen sie nach wenigen Sekunden auch den »Oldtimer« nicht mehr, weil er bereits mit dem Horizont verschwamm. Das war eben der Zweck der Übung: die Leute zu beeindrucken und zu verblüffen und ihre Begierde zu wecken, 80.000 Euro oder so auf Wilfrieds Werkbank zu legen.

Wie sich versteht, wurde die Anfahrt zur Sababurg mit einer Videokamera gefilmt. Den fertigen Werbefilm für das tolle Gefährt sah ich sogar. Der Brautschleier wehte (Klappverdeck!), die Damhirsche im Wildgehege wurden blaß vor Neid, ein Verkehrspolizist zeigte nachsichtiges Schmunzeln. Aber wie es so geht. Wilfrieds Vertrag mit Ford über die Anfertigung einer kleinen Serie hatte ein paar Pferdefüße, die Tochter jagte ihren Gatten bald in die Wüste, Wilfrieds Prototyp wird nur noch aus der Garage geholt, sofern am sogenannten Vatertag die Sonne scheint. Über Wilfrieds Schulden weiß ich nichts Genaues; ich nehme jedoch an: Höher als der Gahrenberg.



Der studierte Jurist Michael Gaismair (1490–1532), anfänglich Schreiber in der tiroler Landesverwaltung, ist wenig bekannt. Dabei könnte er sogar eine Art alpenländisches Gegenstück zu Thomas Müntzer gewesen sein. Um 1525 zum Feldherrn aufständischer Bauern gewandelt, verfaßt er nun einen verhältnismäßig radikalen Katalog von antifeudalen und kirchenfeindlichen Forderungen, der ihm weiteren Zulauf einbringt. Auch mit dem Züricher Reformator Ulrich Zwingli steht er in Verbindung. Doch von Erzherzog Ferdinand I. hereingelegt und gejagt, zieht sich Gaismair 1529 nach Padua, Venetien, zurück, wo ihn drei Jahre darauf, ungefähr 42 Jahre alt und inzwischen Vater mehrerer Kinder (mit Magdalena Ganner), die Dolche eines vom ausgesetzten Kopfgeld beflügelten Schurkentrios ereilen. Die »Straßenräuber« der deutschen Wikipedia sind wahrscheinlich falsch. Meine Information stammt frisch (2020) von angesehenen Rundfunkanstalten.* Trifft sie zu, hätte Brockhaus bereits 1989 mit der Versicherung richtig gelegen, den Gaismair hätten »gedungene Mörder« auf dem Gewissen. Ein kleiner Schurkenstreich ist allerdings auch die Zumutung, in Bastings Abschnitt »Die Tiroler Landesordnung« in 10 Zeilen dreimal über das Füllwort »durchaus« stolpern zu müssen.

* Horst Basting, »Der Bauernführer Michael Gaismair«, 9. April 2020, online https://www.planet-wissen.de/geschichte/neuzeit/der_bauernkrieg/pwiederbauernfuehrermichaelgaismair100.html
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