Mittwoch, 7. Februar 2024
Risse im Brockhaus 8

Es ist vielleicht verzeihlich, wenn Brockhaus den Citro-nen Fjord nicht kennt – aber statt dauernd deutsche Nazis zu verharmlosen, hätte er schon den einen oder anderen dänischen Widerstandskämpfer aufnehmen können. Ich denke hier etwa an ein Gespann, das in Dänemark recht populär sein soll. Es bestand einerseits aus dem zunächst blonden, dann rothaarigen Sohn von Hotelbetreibern auf Seeland Bent Faurschou-Hviid (1921–44), genannt Flammen, was auf dänisch »die Flamme« heißt. Ende der 1930er Jahre zu Ausbildungszwecken in Deutschland, wurde er zum Gegner dessen, was in vielen Stiftungen und Nachschlagewerken unter »National-sozialismus« firmiert. 1943 betätigte er sich in der seeländischen Hafenstadt Holbæk als Flugblattverteiler und Stachel im Fleisch der deutschen BesatzerInnen. Im Jahr darauf wurde er in Kopenhagen eben als Flammen, so sein Deck- oder Spitzname, in der Partisanengruppe Holger Danske aktiv. Als deren Leiter Svend Otto »John« Nielsen (35), mit dem er auch eng befreundet war, im Dezember 1943 gefaßt und von der Gestapo gefoltert und umgebracht wurde, sann er gemeinsam mit seinem Genossen Jorgen Haagen Schmith (1910–44) auf Vergeltung. Das war der andere Teil des Gespanns, genannt Citronen. Vor dem Krieg unter anderem Bühnenmanager einer Kopenhagener Musikhalle, hatte dieser Kämpfer einst im Alleingang in einer Kopenhagener Citroën-Garage etliche Fahrzeuge von Deutschen unbrauchbar gemacht, daher sein Spitzname. Nun beschlossen die beiden, planmäßig Landsleute oder BesatzerInnen auszulöschen, die als Denunzianten galten. Innerhalb eines knappen Jahres sollen sie mindestens 11 Personen getötet haben. Bei dieser Arbeit verkleideten sie sich mehrmals als dänische Polizisten. Die deutschen Ordnungskräfte schlugen im Oktober 1944 zurück. Rächer Flammen erwischte es dabei am Abend des 18. Oktober, als er sich gerade im Kopenhagener Vorort Gentofte im Hause der Familie Bomhoff aufhielt. Er flüchtete zunächst auf den Speicher, sah jedoch, das Haus war hoffnungslos umzingelt. Daraufhin schluckte er eine Kapsel mit Zyankali. Das war sein »Freitod«.

Leider war der 23jährige unbewaffnet gewesen. Alle seine Gewehre und Pistolen hatten sich nämlich in Citronens Obhut befunden – und der war vor wenigen Tagen auch schon hops gegangen. Bei einem Schußwechsel verwundet, hatte Citronen, der eigentlich Frau und zwei Kinder hatte, in einer fremden, vermeintlich sicheren Wohnung desselben Vororts das Bett und eben die gemeinsamen Waffen gehütet. Da rückten deutsche Soldaten an. Bevor sie das ganze Haus anzündeten, soll der 33jährige Citronen in einem anhaltenden erbitterten Gefecht fast ein Dutzend Deutsche erledigt haben. Dann versuchte er dem Feuer zu entrinnen – und wurde seinerseits erschossen. Die Waffen verglühten. So folgte ihm Flammen, als dieser ebenfalls von den Deutschen aufgespürt wurde, vermittels Gift in den Tod.

Wie es aussieht, werden beide jungen Männer selbst in bürgerlichen Kreisen Dänemarks noch heute verehrt. 2008 machte Ole Christian Madsen aus ihrer Geschichte den Film Tage des Zorns – wofür ihn zumindest Jürgen Frey* im selben Jahr ausschimpfte: langatmige Dialoge, oberflächlich, schablonenhaft. Als Alternative zum öden Kinobesuch empfiehlt sich vielleicht ein Abenteuerurlaub am grönländischen Citronen Fjord, zumal es ja angeblich immer heißer wird. Dieser nach Früchtchen Schmith benannte** Landschaftsteil liegt im Norden der zu Dänemark zählenden vereisten Insel.

* in der Badischen Zeitung am 28. August 2008, online https://www.badische-zeitung.de/kino-neustarts/die-helden-des-daenischen-widerstands--4590486.html
** https://denstoredanske.dk/It,_teknik_og_naturvidenskab/Geologi_og_kartografi/Mineraler/Citronen_Fjord, Stand 2009




Machen Sie sich keine Sorgen: Sowohl die Schauspielerin Gisela von Collande (1915–60) wie deren Bruder Volker von Collande (1913–90), der auch noch Regisseur und Intendant wurde, waren harmlose UnterhaltungskünstlerInnen, wie man aus Brockhaus schließen muß. Der Bruder lebte nur entschieden länger. Deshalb durfte er sich zuletzt auf den Intendantenstühlen demokratischer Theater sonnen, laut Wikipedia in Freiburg/Breisgau, Regensburg und Wolfsburg. Sein NSDAP-Mitgliedsbuch hatte er vorher ins Altpapier-Recyling gegeben. Er starb mit knapp 77. Ich gehe aber im folgenden nur noch auf sein Schwesterherz ein.

Die Tochter eines Kunstmalers war zunächst an Berliner Theatern aufgestiegen. Im sogenannten »Dritten Reich« mischte sie dann auch kräftig im Kino mit, dabei keineswegs nur in angeblich unverfänglichen Schmarren um die Liebe, sondern auch in erklärten NS-Agitprop-Streifen über Verräter (1936) und dergleichen. Sie verriet auch 1945 nichts und setzte ihre Karriere unter demokratischem Vorzeichen mutig fort. Ihr letzter Film, mit den männlichen Zugpferden Hansjörg Felmy und Hanns Lothar voran, war das Alpenbauerndrama An heiligen Wassern von 1960, in dem sie Felmys Mama spielt. Im Oktober des Jahres ist die 45jährige sonntags mit ihrem hellblauen Volkswagen solo von München nach Hamburg unterwegs, wo sie wohnt und öfter auch für den dortigen Rundfunk Hörspielrollen spricht. In einer berüchtigten abschüssigen Autobahnkurve zwischen Pforzheim und Karlsruhe gerät sie jedoch, bei nasser Fahrbahn, mit »weit über« den vorgeschriebenen 100 Stundenkilometern ins Schleudern und, sich überschla-gend, auf die fünf Meter tiefer liegende Gegenfahrbahn, wo sie aus dem Wagen geschleudert wird. Sie stirbt noch am Unfallort. Einige Sekunden früher verunglückt, wäre Von Collandes Volkswagen auf ein Polizeifahrzeug gefallen, das sich gerade näherte. Wie das Hamburger Abendblatt anderntags versicherte*, war Von Collandes Wagen nur rund 50 Meter vor den verdutzten Beamten aufgeschlagen. Da können wir also von Glück im Unglück sprechen: man mußte nicht mehr schlechtgelaunt auf die Polizei warten.

Und mehr noch, kam zufällig kurz darauf auch ein katholischer Geistlicher vorbei, wußte das Blatt seine LeserInnen zu trösten. Der habe der im Sterben liegenden Schauspielerin, sozusagen einer Kollegin, »den letzten Segen gegeben«. Ob aber in der ganzen Stofflut auch nur ein Autor verrät, warum es die »Mama« so eilig hatte, kann ich Ihnen nicht sagen. Tatsächlich hatte Von Collande drei Kinder. Vielleicht warteten die auf sie. Um sie in Hamburg zu begraben.

* »Gisela von Collande bei Pforzheim tödlich verunglückt«, Montag 24. Oktober 1960, S. 20, online https://www.abendblatt.de/archive/1960/pdf/19601024.pdf/ASV_HAB_19601024_HA_020.pdf



Um mir zu erklären, was eine CD sei, wendet Brockhaus immerhin eine gute Spalte auf. Zwei Abbildungen bringt er auch. Man sieht zum Beispiel die spiralförmig angeordneten, »Pits« genannten winzigen Vertiefungen, aus denen der abtastende Laserstrahl die einzelnen »digitalisierten« Bestandteile der Musik saugt, in einem riesenhaft vergrößerten Ausschnitt, damit sogar ich sie erkennen kann. Aber es ist alles vergebliche Liebesmüh: ich begreife es nicht. Ein mittelalterlicher Waltershäuser Torwächter und Stadtpfeifer hätte nicht mehr überfordert sein können als ich. Der Krämer aus Erfurt will ihn also bestechen, hängt ihm seinen CD-Walkman um, bohrt ihm die Stöpsel in die Ohren, tippt eine Taste an, belächelt den aufgehenden Mund des Tropfes und zwinkert nach kurzer Zeit: »Ja, Mensch, da staunste, was? Sowas hast du noch nicht gehört!« Dabei staunt der Mann keineswegs. Vielmehr ist er geradezu schockiert. Er hält diese üppig instrumentierte Musik aus so einem kleinen Kästchen für unmöglich, nimmt freilich an, sehr gefährlich sei sie auch. So raunt er seinem Jungen zu, nach dem Burgvogt zu rennen und auf dem Wege schon einmal den Abdecker zu bitten, auf dem Marktplatz den üblichen Holzstoß für der Hexerei Überführte aufzuschichten.

Ironischerweise haben wir selber gerade eine CD gemacht, »Leon« von Meier & Nagel. Als ich die frisch gepreßte Platte erstmals in meinen eher altmodischen CD-Player geschoben hatte, machte ich allerdings rasch ein ziemlich langes Gesicht. In jeder die Tracks voneinander trennenden Pause war ein Knacken wie von einer schlecht aufgesetzten Schallplattennadel zu hören! Durfte das denn wahr sein? Meine Mitstreiter Boldt (Klangtechnik) und Nagel versicherten mir natürlich sofort per Email, es sei nicht wahr. Bei ihnen seien alle Pausen geräusch- und also makellos. Knacke es bei mir freilich trotzdem, werde es vermutlich an meinem veralteten Abspielgerät liegen. Das komme gelegentlich vor. Darauf fand ich meine Ruhe erst wieder, nachdem ich mir meine Platte in dem sofort hergebetenen, mit modernsten CD-Player ausgerüsteten Auto eines Freundes angehört hatte. Nun war das Knacken in der Tat wie weggezaubert. In meinem Häuschen war dann das Knacken wieder da. Jetzt lebe ich mit dem Knacken, weil ich zu faul oder zu geizig bin, mir für etliche hundert Euro einen nagelneuen CD-Player anzuschaffen. Ich lebe ja ohnehin nicht mehr so lange. Und die Veraltensgeschwindigkeit solcher Audio-Verfahren und der entsprechenden Geräte oder Computer-Programme nimmt ja alle paar Monate sprunghaft zu. Hätte ich Enkel, hätten sie mich sowieso ausgelacht, weil ich so töricht sei, heutzutage noch »eine CD« zu machen. Ob ich vielleicht hinter dem Mond lebte? Naja, wer bösartig ist, könnte es wohl so ausdrücken – und wer wollte mir Enkel zeigen, die nicht bösartig sind?

Wahrscheinlich gehört der Neuigkeitswahn, dem die Menschheit seit mindestens mehreren Jahrtausenden unterliegt, zu den rund 10 kulturellen Grundzügen, die uns demnächst das Genick gebrochen haben werden. Er macht die Menschen haltlos und ruiniert ganze Volkswirtschaften inzwischen binnen weniger Jahre oder gar Monate. Selbst die USA sind derzeit schon hoffnungslos verschuldet. Was kümmern uns Vergangenheit und Zukunft, wenn wir aktuell so angenehm prickelnd aus dem Vollen schöpfen können, und bestehe es auch nur aus heißer Luft, so wie die Kredite in Zeiten des sogenannten Klimawandels? Aktualität ist natürlich auch in den Medien das Mantra. Selbst in der winzigen, vermutlich nahezu einflußlosen gedruckten Zweiwochenschrift Ossietzky hatte ich dieses Mantra auszuhalten, weil der Redakteur meine Beiträge gerne »schob«, eben um anderer Beiträge willen, die vielleicht schlechter geschrieben, dafür jedoch »zeitnäher« waren. Ihre Porträts über Casey Jones oder Ernst Toller sind wieder ausgesprochen hübsch geraten, Herr R., aber ich kann sie im Moment unmöglich bringen, weil wir den Platz gegen den Ukraine-, den Gaza-, den Formosakrieg benötigen, den es unbedingt zu beendigen gilt! Lächerlich. Seit Jahrhunderten greifen aufklärerische Blätter in die kapitalistische Tagespolitik ein – und was sie erreicht haben, ist die Modernisierung des Kapitalismus: er wird immer durchtriebener, nämlich immer geschickter im spannenden Geschäft des Volksbetruges.

Im zurückliegenden Herbst habe ich übrigens mit Ossietzky gebrochen. Damit ist die letzte Tür des Medienbetriebes zugefallen, in der ich noch einen Fuß hatte. Allgemein ging mir die teils altkommunistische, teils reformistische Linie des ziegelroten Blättchens schon seit Jahren zunehmend gegen den Strich. Nun kam eine schriftliche Kritik von mir hinzu, die ich dem Redakteur per Email schickte. Ich könne es unmöglich billigen, daß er seinen Autoren solche schlimmen, unkritischen »Keulen-worte« wie gewaltbereite Neonazis oder Klimaleugner durchgehen lasse. Seine fast postwendend erfolgte, kurzangebundene Antwort auf mein Protestschreiben, das auch Links zu meinem Blog enthielt, empfand ich als sehr enttäuschend. Für mich hatte er noch nicht einmal begriffen, um was es geht. Aber wer weiß, vielleicht mangelte es ihm auch lediglich an der Muße, sich in die Kerne meiner Kritik wie in jene »Pits« einer CD zu versenken. Das Blatt muß raus; das schmale Einkommen muß rein; auf Anarchisten können wir notfalls verzichten.

Im Nebeneffekt entfällt durch diesen Ausstieg leider auch meine letzte, spärliche Möglichkeit, hin und wieder ein paar Lobesworte und damit einen Anflug gesellschaftlicher Anerkennung zu ergattern. Neulich hat mich ein Autorenkollege, sonst Rechtsanwalt, sogar eigens per Email zu meinem kleinen Artikel über Aline Söther beglückwünscht. Das entschädigt, in meiner Situation, für manche kilometerlange Durststrecke. Damit ist es nun also vorbei. Verschiedene »alternative« Online-Magazine können mich offensichtlich ohnehin nicht leiden; da klopfe ich gar nicht mehr an. Sie denken auch gar nicht daran, unsere Leon-Platte vorzustellen. Glauben Sie aber nicht, ab und zu käme mir doch sicherlich wenigstens zu meinen Blog-Beiträgen irgendetwas Ermutigendes ins Haus. Nichts kommt, seit Jahren nicht. Es ist, als schriebe man buchstäblich in die Luft. Ja, das ist der Segen der Virtualität.



Der Historiker Werner Conze (1910–86) wurde, »nach Lehrtätigkeit in Posen und Münster«, 1957 Professor in Heidelberg. Er forschte »u.a. auf dem Gebiet der neueren deutschen Geschichte und der Sozialgeschichte«. Seine NSDAP-Mitgliedsnummer hält Brockhaus lieber geheim. Nach Klee propagierte Conze, vermutlich zum Ergötzen der sauerländischen Literatin Berens-Totenohl, »erbgesundes Bauerntum als Blutquell des deutschen Volkes« und forderte 1940 »Entjudung der Städte und Marktflecken« Polens. Später wandte sich Conze der CDU zu. In den stürmischen Jahren 1969/70 amtierte er auch als Rektor der Heidelberger Uni. Das bot, nach Wikipedia, den Vorteil, dem linken AStA Gelder sperren zu können, damit dieser sie nicht »zweckentfremde«. Entjudung wäre zu plump gewesen.



Der spanische Jurist, Musikwissenschaftler, Akademie-sekretär und Literaturhistoriker Emilio Cotarelo y Mori (1857–1936) machte sich vor allem als Herausgeber und mit diversen gründlichen Studien, darunter eine Geschichte der spanischen Oper (1917) und der Zarzuela (1934), einen Namen. Die Latte seiner Arbeiten in der spanischen Wikipedia ist kein Baumstumpf. Kurz und schlecht, er dürfte der typische Gelehrte und insofern nichts Besonderes gewesen sein, denn diese emsigen Exemplare gibt es in der zivilisierten Menschheit wie Sand am Meer.

Machen Sie sich nur gelegentlich klar, welcher Wahnsinn hier am Werke ist. Trotz ihrer begrenzten Lebenszeit befassen sich diese Leute zum x-ten Male mit den Schöpfungen Lope de Vegas oder Tirso de Molinas, mit dem nationalen Musiktheater oder der Literaturgeschichte überhaupt, obwohl Kollegen vor ihnen genau das gleiche auch schon taten, sodaß die Iberische Halbinsel längst von wahren Sanddünen aus Sekundärliteratur durchzogen ist. Die wandern dann durch die Hände von riesigen Rudeln aus Studenten und Doktoranden, damit sich auch diese alsbald im selben Sinne nützlich machen und bewähren können. In individualpsychologischer und volkswirt-schaftlicher Hinsicht handelt es sich selbstverständlich um eine maßlose Vergeudung. Kein asturischer Fuchs käme auf die Idee, Tag für Tag viele Stunden damit zu verplempern, ein historisch-kritisches Sammelwerk über einheimische Speisekarten im Wandel der Zeiten anzulegen, statt sich gehörig mit Mäusen und Hühnern vollzuschlagen und seine gewohnte Siesta nicht zu verpassen. Aber unsere Gelehrten sind eben keine Füchse, vielmehr Wiederkäuer wie unsere Kühe und Stiere auf den Viehweiden.

Sie werden vermutlich einwenden, jeder Gelehrte triebe und schriebe seine Speisekartenkunde doch stets von wieder einer etwas anderen Warte aus. Er führe stets ein paar neue Begriffe ein und glänze mit seiner neuen, persönlichen Masche, genannt Stil. Aber das ist fruchtlose Augenwischerei. Die sogenannten Nuancen zwischen zwei Spitzen-Sopranen machen lediglich Vollidioten fett. Vielleicht dient die Schaffens- und Abgrenzungswut in nicht wenigen Fällen auch als Trostpflaster auf dem Tod, dem bekanntlich keiner entgeht. Am Ende aller Mühsal, mit knapp 80 Jahren oder so, liegt jeder Gelehrte in seinem Sarg, und zwar als das immergleiche Skelett. Da haben sich die Nuancen irgendwie verflüchtigt. Insofern wäre es nicht verfehlt, der Digitalisierung sogar eine gewisse bewundernswerte Folgerichtigkeit zu bescheinigen. Man meißelt nicht mehr in Stein, sondern gleich in die Luft, wie ich oben schon sagte.



Schon hält Brockhaus das nächste Exemplar bereit: den französischen Philosophen und Mathematiker Louis Couturat (1868–1914). Er war Professor in Paris, veröffentlichte schlaue Bücher über Logik und entwickelte nebenbei die Plansprache Ido als Konkurrenz zu Esperanto. Allerdings war dieser Gelehrte insofern durchaus etwas Besonderes, als er weder spät noch im Bett starb. Um mit der französischen Wikipedia lachen zu können, muß man das Datum seines Todestages beachten und überdies wissen, Couterat war überzeugter Pazifist. Als solcher war er also am 3. August 1914 mit seinem Auto südlich von Paris zwischen Ris-Orangis und Melun unterwegs. Da kam ein anderes Auto angerast, das brandfrische Mobilisierungsbefehle der französischen Armee beförderte, und rammt ihn unglücklich, wodurch der 46 Jahre alte Gelehrte zu Tode kam. Insofern könne er mit Fug und Recht als Opfer des Ersten Weltkrieges bezeichnet werden, obwohl dieser noch gar nicht richtig begonnen hatte. Die österreichische Kriegserklärung an Serbien war gerade erst am 28. Juli erfolgt.



Dem berühmten Lakota-Häuptling Crazy Horse († 1877) hat Brockhaus 2 ½ Zeilen gegönnt. Wer es nicht weiß: der Krieger fiel keineswegs in jener kürzlich erwähnten Ausnahme-Schlacht am Little Bighorn River vom 25. Juni 1876, die den drei führenden US-Militärs Custer das Leben gekostet hatte. Crazy Horse hatte die siegreichen Truppen der Sioux im Verein mit Sitting Bull und Gall geleitet. Aber rund ein Jahr darauf, wahrscheinlich zwischen 37 und 39 Jahre alt, ging es ihm an den Kragen. Im September 1877 zwecks Verhandlungen mit General Crook in Fort Robinson, Nebraska, eingetroffen, wurde er »heimtückisch ermordet«, wie es in Wolfgang Lindigs / Mark Münzels Standardwerk unmißverständlich heißt.* Das war natürlich wieder einmal durch die üblichen Meinungsver-schiedenheiten und Verrätereien in den eigenen Reihen begünstigt worden.

* Die Indianer von 1976, Band 1 Nordamerika, dritte deutsche Auflage München 1985, S. 173



Der rumänische Patriarch Miron Cristea (1868–1939), zeitweise auch Erzbischof von Bukarest, habe als Mitglied des Regentschaftsrates für den minderjährigen König Michael I., dann vor allem als Ministerpräsident (ab 1938) »maßgeblich an den politischen Entwicklungen in Rumänien« Anteil gehabt, schreibt Brockhaus so verwaschen wie möglich. Damit endet der 7-Zeilen-Eintrag. Genaueres teilt Wikipedia mit. Danach war Cristea ein Volksfeind und Faschist, wie ihn Mussolini und Hitler nicht besser hätten erfinden können. Er habe sich in der Tat auch zunehmend an unser »Drittes Reich« angelehnt. Am liebsten hätte er wahrscheinlich, nach Siebenbürgen und dem Banat, auch Irland noch Großrumänien einverleibt. In Irland gibt es das Wallfahrtsziel Croagh Patrick, einen 765 Meter hohen Berg an der Südküste der Clew Bay. Nach der Überlieferung habe der Heilige Patrick einst genau von diesem Gipfel aus »alle Kröten, Schlangen und anderen unangenehmen Tiere« von der irischen Insel vertrieben, erzählt uns Brockhaus dazu. Vielleicht hätte Patrick besser alle Kleriker, Kapitalisten und PolitikerInnen zum Teufel gejagt. Dann hätten sich auch die Herzanfälle und die Lungenentzündung erübrigt, die Cristea zuletzt aus dem Amt warfen. Er starb mit 70.



Diesen nordamerikanischen »König« erwähnt Brockhaus immerhin auch, nur verrät er uns nicht, warum King Curtis (1934–71) mit 37 ermordet worden ist. Der dunkelhäutige, bullige Jazz- und Rockmusiker, vor allem vielgefragter Saxophonist, wohnte und wirkte seit 1956 in der friedliebendsten Stadt der Freien Welt, New York City. An einem vermutlich heißen Augusttag wollte er den Sicherungskasten seiner Etage überprüfen, weil die Klimaanlage streikte, doch im Treppenhaus lungerten zwei Drogendealer herum, die ihm angeblich den Weg versperrten. Es kam zu einem Streit, in dessen Verlauf Curtis erstochen wurde. Der Täter, Juan Montanez (26), kam mit gut fünf Jahren Gefängnis davon. Soweit ich sehe, war Curtis unverheiratet. Die Anteilnahme in der Branche war groß. Es wird sogar behauptet, der Musikverlag Atlantic Records habe am Tag der Beerdigung seine Büros geschlossen, also eine Stockung im Geschäft in Kauf genommen. Die abschließenden Musikstücke auf der Be-erdigung trugen Aretha Franklin und Stevie Wonder vor.



Der »polnische James Dean« Zbigniew Cybulski (1927–67), auf der Leinwand meist mit Sonnenbrille zu sehen, wurde nicht wesentlich älter als Curtis, doch seinen Tod übergeht Brockhaus. Im Gegensatz zu Porsche-Fan Dean fuhr Cybulski eher mit der Eisenbahn. Dabei erwischte es ihn, genauer auf Bahnsteig 3 des Breslauer Hauptbahn-hofs. Der polnischen Wikipedia zufolge hatte er gerade Dreharbeiten am Streifen Morderca zostawia ślad (Der Mörder hinterläßt eine Spur) hinter sich, erschienen im selben Jahr 1967, und wurde schon wieder für eine Bühnenprobe in Warschau erwartet. Durch den Bahnhof geeilt, wollte er, wie schon so oft, auf seinen bereits anfahrenden Zug springen. Der erwähnte Eintrag wirft einen ganzen Abschnitt über Cybulskis Auf-den-Zug-spring-Meise in die Waagschale, die sich auch in etlichen Filmen geltend gemacht habe. Nun jedoch rutscht der verheiratete Künstler (39, einen sechsjährigen Sohn) unplanmäßig auf dem Trittbrett aus und fällt unter den betreffenden Zug. Er stirbt am selben Tag im Krankenhaus. Die Berliner Zeitung bescheinigt ihm 2022 eine »unbeschreibliche Leinwandpräsenz«, nur verrät sie uns nicht, was er jetzt davon hat.



Den französischen Raufbold und Schriftsteller Cyrano de Bergerac (1619–55) reiht Brockhaus unter den »Vorläufern der Aufklärung« ein. Für mich bietet er zunächst die Gelegenheit, unauffällig an den großen Totschläger Krieg zu erinnern. Im 17. Jahrhundert beispielsweise tobten allein in Mitteleuropa unzählige Schlachten, die später dem »Achtzigjährigen Krieg« (um die Niederlande) oder dem bekannten »Dreißigjährigen Krieg« zugeordnet wurden. Eine Begleiterscheinung beider Kriege war der sogenannte »Französisch-Spanische Krieg« der Jahre 1635–59, der mal in den Pyrenäen, mal in der Picardie ausgetragen wurde. Ebendort, im Nordwesten Frankreichs, schlug sich um 1640 ein junger Pariser Hilfs-Adeliger mit, der bis dahin vor allem als Dandy und Duellist, weniger dagegen mit seinen Versen und seiner angeblich monumentalen Hakennase geglänzt hatte: Cyrano de Bergerac.* Nach der zweiten Verwundung quittierte er den Kriegsdienst und ging nach Paris zurück. Hier warf er sich nicht nur aufs Tanzen und Fechten, sondern zudem auf breitgefächerte Studien, darunter der Astronomie und der Alchemie. Grundsätzlich litt er unter Geldnöten, möglicherweise auch an einer Syphilis-Erkrankung. Eine kleine Erbschaft vom verstorbenen Vater war rasch durchgebracht.

Als Frucht seiner Studien wie seiner angeblich vornehmen Herkunft vermischten sich in Cyranos Positionen freigeistige mit konservativen Anwandlungen, was sich auch in seinen Schriften niederschlug. 1652 als eine Art Edeldomestik in den Dienst des Herzogs und Offiziers Louis d'Arpajon getreten, widmete er diesem seine Ende 1653 uraufgeführte Tragödie La Mort d'Agrippine (Der Tod der Agrippina). Das historische Stück im Stile Corneilles erregte vor allem durch etliche religionskritische Tiraden Aufsehen und Anstoß. Daher sein Ruf als Aufklärer. Daneben pflegten ihn einige Literaturfreunde früher oder später zu den höchstverehrungswürdigen Erfindern des Science-Fiction-Romans zu zählen, hatte er doch um 1650 einen zweiteiligen Roman in Angriff genommen, der sein Hauptwerk werden sollte, L'autre monde (Die andere Welt). Cyranos Ich-Erzähler berichtet von seiner Fahrt zum Mond und zur Sonne und von seinen Erlebnissen mit den dortigen Bewohnern, wobei er diesen Fremden philosophische, naturkundliche, religiöse und gesellschaftspolitische Ansichten in den Mund legt, deren Äußerung auf Erden von Strafe bedroht war. Näheres referiert Petri Liukkonen.** Während Cyrano den Mond-Teil noch vollenden konnte, blieb der Sonnen-Teil unabgeschlossen. Außerdem veröffentlichte er 1654 einen Sammelband mit kleineren Prosaarbeiten, aus denen später sogar Molière geschöpft haben soll.

Im selben Jahr ereilte ihn allerdings ein Mißgeschick, das wieder mal alle tragisch, einige zudem einen Mordanschlag nennen. Die Umstände, unter denen ihm im Stadtpalast seines Brotherren ein Balken auf den Kopf fiel, sind bis heute ungeklärt. Falls der Fall überhaupt der Fall war … Ein Jahr später starb Cyrano mit 36 Jahren im Hause von Verwandten in Sannois (bei Paris) – ob an dem Balken, einem gegnerischen Holzprügel oder vielleicht doch an Syphilis, ist ebenfalls nicht bekannt. Nach einigen Quellen hat es der »Dandy«, in sexueller Hinsicht, mit beiden Geschlechtern getrieben. Da man ihm ein kirchliches Begräbnis gewährte, muß er sich vor seinem Tod noch mit der Kirche arrangiert haben. Damit war sein Seelenheil gerettet. Zu seinem Ruhm trug 1897 sein Landsmann Edmond Rostand mit der romantischen, in Versen gesetzten Komödie Cyrano de Bergerac bei, die auch wiederholt verfilmt wurde. Nach Liukkonen sieht sie von historisch Verbürgtem weitgehend ab.

1994 erblickte im Schwabenland ein brauner Hengst die Welt, der sich einige Jahre später als Cyrano de Bergerac unter dem Hintern des bekannten Springreiters Franke Sloothaak wiederfand. Er starb 2009 – der Hengst. Im Saarländischen gibt es seit 2005 eine Hundezucht, die der erwähnten profilierten Nase des Duellisten Cyrano ziemlich Hohn spricht. Sie züchtet unter dem Titel »… von Cyrano de Bergerac« Möpse.

* Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4, Leipzig 1906 (!) versichert, Cyrano habe in seinem kurzen Leben »mehr als 1.000 Duelle« bestanden. Die meisten davon hätten sich an seiner Nase entzündet.
** Authors' Calendar, Stand 2023: https://authorscalendar.info/bergerac.htm




Laut Brockhaus lehrte der Literaturhistoriker und Schriftsteller Herbert Cysarz (1896–1985) von 1928–45 an den Universitäten Prag und München, »beschäftigte sich besonders mit der deutschen Literatur des Barock, schrieb aber auch Romane und zeitkritische philosophische Studien.« Es folgen etliche Buchtitel, die einem wenig sagen. Klee dagegen macht klar, das Parteimitglied der NSDAP kämpfte vor allem für (sudetendeutsches) »Volkstum«. Nach Kriegsende habe Cysarz allerdings keine Professur mehr bekommen. Andererseits konnte er, so jedenfalls Wikipedia, um das übliche »Entnazifierungs«-Verfahren herumkommen – wohl entweder aufgrund seiner schlechten Gesundheit oder aber aufgrund seiner guten Atteste. Der Mann hatte bereits als Sturmtruppenführer im Ersten Weltkrieg durch eine Mine eine Hand eingebüßt. Das hatte ihn freilich offensichtlich nicht zum Pazifisten, eher zum Gegenteil, nämlich einen Racheengel gemacht. Die Sudetendeutschen blieben ihrer einstigen Prager Speerspitze dankbar und treu und verliehen Cysarz 1961 ihren Großen Kulturpreis. Letztlich wurde Cysarz, aller schlechten Gesundheit zum Trotz, fast 90 Jahre alt. Täusche ich mich nicht, konnte er dabei von unbeschnittenen Kriegsversehrten- und Ruhestandsbezügen zehren.



Die polnisch-britische Kulturanthropologin Maria Antonina Czaplicka (1884–1921) fehlt im Brockhaus. Für mein Empfinden ist ihr Schicksal ergreifend. Sie wohnte zuletzt, 1921, in Bristol oder Oxford, vielleicht auch zwischen diesen beiden südenglischen Städten. So oder so, muß sie ziemlich verzweifelt gewesen sein. Gut 10 Jahre früher hatte sie Polen in Begleitung ihres Studienkollegen Bronisław Malinowski verlassen, der wie sie aus inzwischen verarmtem polnischem Adel stammte, um ihre Ausbildung in London und Oxford abzuschließen. Da sie russisch sprach, bewilligte man ihr nach dem Diplom ein Stipendium für Forschungsarbeit über Sibirien. Ihr besonderes Interesse galt dem Schamanismus der Eingeborenen. Zwar hatte sie noch nie einen Fuß auf sibirische Gefilde gesetzt, doch ihr 1914 erschienenes Buch Aboriginal Siberia fand die Anerkennung ihrer Zunft. Man bewilligte ihr daraufhin auch Forschungsgelder für Feldarbeit vor Ort. Übrigens soll ihr das in verständlichem Englisch geschriebene Werk selbst außerhalb der akademischen Zirkel viel Beifall eingebracht haben.

Nun zog sie während der ersten Kriegsjahre 1914/15 gemeinsam mit ihrem US-Kollegen Henry Usher Hall (1876–1944) vom Museum der Pennsylvania University in Philadelphia monatelang durch Sibirien. Sie orientierten sich dabei am Fluß Jenissei, der immerhin 4.000 Kilometer lang ist. Streckenweise wurden sie auch von einer Ornithologin (Maud Doria Haviland) und einer Malerin (Dora Curtis) begleitet. Czaplicka brachte Stapel von Aufzeichnungen und Fotografien mit nach Oxford, wo sie nun sogar als Dozentin auftreten durfte – die erste an dieser Universität. Auch ihr nächstes Buch, My Siberian year von 1916, wurde viel gelesen. Obwohl sie inzwischen promoviert hatte und damit erst die zweite europäische Anthropologin mit Doktortitel war, verlor sie ihren Posten in Oxford 1918 zugunsten eines Professors, sprich: männlichen Kollegen, der aus dem Krieg zurückkehrte.* Sie konnte lediglich eine zeitlich begrenzte Lehrtätigkeit am anatomischen Institut der Universität Bristol übernehmen. 1919 veröffentlichte sie ihr drittes Buch The Turks of Central Asia. Zwar erkannte ihr die Royal Geographical Society im folgenden Jahr einen Murchison Award für ihre Arbeiten zu, doch dieser Preis war vermutlich nicht oder kaum dotiert, geriet sie doch zunehmend in Geldnot und Schulden. Auch ihr Versuch, ein neues Reisestipendium zu ergattern, blieb erfolglos. Im Mai 1921 wurde die erwerbslose 36jährige Erforscherin des Schamanismus tot in ihrer Wohnung aufgefunden, sie hatte sich vergiftet.

Erklärungen fanden sich offenbar nicht. Ihre Tagebücher hatte Czaplicka im Rahmen ihres »Nervenzusammen-bruchs«, so die Bezeichnung der polnischen Wikipedia, vermutlich vernichtet. Ihre wissenschaftlichen Aufzeichnungen vermachte sie testamentarisch Hall aus Philadelphia. Es gab Mutmaßungen über möglicherweise unglückliche persönliche Beziehungen zwischen den beiden, zumal sich Hall etwa zur Zeit von Czaplickas Selbstmord verheiratete. Aber vielleicht hatte sie sich ja gar nichts aus Männern gemacht. In polnischen Museen soll es einige private Briefe von Czaplicka an Manilowski und den Schriftsteller Władysław Orkan geben, aus denen möglicherweise Näheres hervorgeht. Mehr als ihre Einsamkeit.

* Jaanika Vider am 25. Juni 2016 in der Serie Women in Oxford's History: https://womenofoxford.wordpress.com/2016/06/25/maria-czaplicka/. Ich weise außerdem auf einen an Czaplickas Grabstätte aufgehängten Beitrag von Wojciech Kwilecki hin, der mich in fremdsprachlicher Hinsicht überfordert: https://polonika.pl/polonik-tygodnia/grob-czaplickiej-w-oxfordzie, Warschau, Stand 2024.



Erfreulicherweise stellt Brockhaus unsere einheimischen Dachse vor. Als Gudensberger Dreikäsehoch bewunderte ich sie, obwohl ich sie nie traf. Sie sollen vorwiegend nachts unterwegs sein. Wir wohnten am nördlichen Rand des Städtchens auf einem Bauernhof zur Miete. Liefen wir mit unserer Mutter Hannelore über die Landstraße die rund vier Kilometer bis zum Haus Rübezahl auf dem Wartberg, kam gleich vorne erst einmal der Nenkel, ein hübsches, von Menschen unbewohntes bewaldetes Köpfchen, das heute unter Naturschutz steht. Am Südhang, gen Gudensberg, wohnte der Dachs. Das wußten wir von dem Förster, bei dem wir im Herbst Kastanien ablieferten – ich glaube, es gab zwei Mark für einen vollen Sack. Bis er voll war, hatte man Rückenschmerzen und eine Stinkwut auf die Rehe und Hirsche, die die Kastanien sozusagen hinterhergeschmissen bekamen.

Der Dachs fraß alles, Himbeeren, Maiskolben, Laubfrösche, Maikäfer, Wachteleier und so weiter. Der Förster meinte, mit seiner langen, zugespitzten Schnauze bräche der Schlawiner sogar zusammengerollte Igel auf. Mit den Krallen grub er. Seine weitläufigen Baue hätten unglaublich viele Ein- und Ausgänge, versicherte uns der Förster. Der Dickwanst flöhe lieber statt sich zu schlagen. Menschen, und seien es Knirpse, griffe er eigentlich niemals an. Das war ja tröstlich – nur, was hatten wir davon, wenn wir ihn nie trafen? Dagegen sei wenig zu machen, sagte der Förster, weil der Bursche eben »menschenscheu« und »nachtaktiv« sei und im Winter sowieso meistens penne. Vielleicht könnten wir uns aber in der Stadtbücherei Der Wind in den Weiden ausleihen, das wäre auch schon was.

In Kenneth Grahames (Band 9) berühmtem Kinderbuch von 1908 ist der Dachs der würdevolle, philosophisch gestimmte, zuweilen etwas griesgrämige Eigenbrötler. Fast alle anderen (sprechenden) Tiere, voran Maulwurf, Wasserratte, Fischotter, verehren ihn und suchen gern seinen Rat. Diese Verehrung habe sogar eine lange Wurzel, deutet Brockhaus an. Entsprechend hätten Fett und Fell des Dachses in der Volksmedizin über Jahrhunderte hinweg als Allheilmittel gegolten. Man kann natürlich nur hoffen, daß er selber nicht fettsüchtig war. Die Sucht ist ohnehin ein ähnlich reizvolles Thema. Für E. G. Seeliger ist sie kein Problem; er kennt sie nicht. Dafür nennt er den Rausch (in seinem Handbuch des Schwindels) nicht unzutreffend Gedankengrundsperre. Bei Abgeordneten oder Ministern dauert diese Sperre zunächst eine Legislaturperiode; dann muß sie verlängert werden, damit die Rente stimmt.

Durch die Umschiffung der Suchtklippe entzog sich Seeliger (1922) nicht nur einem Entziehungs-, sondern auch dem nächsten Grenzziehungsproblem, das Lexikografen schon genug plagt. Zum deutschen Fernsehkonsum versichern ForscherInnen, je weniger einer zu verzehren habe, desto höher sei jener. Bei unter 1.000 Euro Monatseinkommen lag der Fernsehkonsum bereits bei über fünf Stunden täglich. Trotzdem sind Fernsehsüchtige noch von Nahrungszufuhr abhängig, wie Pizzataxiunternehmen erfreut festgestellt haben. Säuglinge berauschen sich ausschließlich durch Milch.

SuchtfahnderInnen argumentieren, nur Abhängigkeiten von Surrogaten seien verdammenswert. Der Kröterich – in Kenneth Grahams Buch der Prahlhans – ersetzt Wiesel durch Pferde, Pferde durch Rennboote, diese durch Automobile. Er ist geschwindigkeitssüchtig. Da er wie alle Süchtigen weder vor Rausch noch Raub zurückschreckt, bringt ihn ein dreister Autodiebstahl in den Knast. Dramen der Reue und des Selbstmitleids lassen die Tochter des Schließers zur Fluchthelferin werden. Am Bahnhof liest ihn ein gutmütiger Lokführer auf. Prompt müssen sie wie die Wilden Kohlen in den Kessel schaufeln, weil ihnen die Häscher folgen – in einer anderen, noch schnelleren Lok.

Die SuchtfahnderInnen triumphieren: er flüchtet vor der Realität! Sie haben Eigentlichkeitskunde studiert und den Sinn des Lebens mit der Konfirmandenuhr empfangen. Im Zeichen der »Realitätstüchtigkeit« stechen auch ihre folgenden zwei Trümpfe. Zum einen liege nur dann Sucht vor, wenn wir von deren Gegenstand nicht mehr lassen könnten. Laufbegierige lassen sich deshalb morgens ans Bett fesseln; Schlafsüchtige herauspeitschen. Zum anderen müsse die echte Sucht die Gesundheit schädigen. Holla, ich sage euch: was ich mir schon durch meine Atemsucht an Bazillen und Unbill eingefangen habe, geht auf keine Kuhhaut! Nur die Corona-Viren machten stets einen Bogen um mich, um sich nicht etwa mit Melancholie anzustecken. Sogar Lachen ist nicht immer gesund. Im Prozeß gegen die sogenannte (linke) militante gruppe (mg) zitierte Richter Josef Hoch im Oktober 2008 zwei Zuschauerinnen nach vorn, um ihnen 1.000 Euro Ordnungsgeld, ersatzweise eine Woche Haft anzudrohen. »Ich werfe Ihnen vor, gelacht zu haben, und das ist verboten.«

Hoch soll er leben! Autoren wie Barlach, Cibulka, Hölderlin, Nietzsche, Schiller, Georg Simmel, Steiner, Wiechert haben sich das Laster des Spotts aus freien Stücken verkniffen. Auch Friedrich Georg Jünger verleitet uns so gut wie nie zum Lachen oder Schmunzeln. Guntram Vesper hat etwas Humor. Immerhin bekennt er sich klar zu unserem Grundlaster, wenn er 1998 ein Buch mit dem Titel Die Krankheit zu schreiben versieht. Hauptfallen bei dieser Krankheit sind Selbstüberschätzung und Rechthaberei. Man muß sich hüten, die Nase so hoch zu tragen wie Grahames Dachs, der ja auf den Hinterpfoten geht, aufrecht. Im Nebeneffekt bietet das den Vorteil, sich den Freunden oder Ratsuchenden im gegürteten, geblümten Schlafrock zeigen zu können.



Den Selbstmord des schwedischen Schriftstellers Stig Dagerman (1923–54) läßt Brockhaus, wie meist, im Dunkeln. Der junge Mann galt fast als Wunderkind. Lobt Brockhaus seinen Sammelband mit Reportagen Deutscher Herbst, erschienen 1947 aufgrund einer für Expressen unternommenen Reise durch das Nachkriegsdeutschland, als »originell« und »eindringlich«, kann ich kaum widersprechen, obwohl mir Dagermans Tonfall hin und wieder etwas zu naseweis vorkommt. Bekundet der Schwede Sympathie mit gewissen verbitterten deutschen Kommunisten, die der verpaßten Chance eines gewaltsamen, gesamtdeutschen Umsturzes gleich nach dem Krieg nachtrauern, bin ich sogar angenehm überrascht. Die westlichen, kapitalistischen Siegermächte hätten es wohlweislich unterlassen, einen »schützenden Kanonenring« um Deutschland zu legen, damit die Deutschen mit den verhaßten Braunen »selbst hätten abrechnen« können. Lieber isolierten sie die revolutionären Gruppen, die es überall gegeben habe, lese ich auf Seite 96.* »Die revolutionären Massen in den Konzentrationslagern wurden nicht auf einmal nach Hause entlassen, sondern in kleinen, ungefährlichen Gruppen, die Soldaten wurden in sehr kleinen Kontingenten freigelassen, und die Widerstandsgruppen in den Städten, die bereits vor Kriegsende mit einer oft strengen Entnazifizierung begonnen hatten, wurden von den Alliierten entwaffnet und durch die Spruchkammern ersetzt, die zulassen, daß sich Nazi-Staatsanwälte Bauernhöfe kaufen und daß antifaschistische Arbeiter verhungern.«

Dagerman war kein Gelehrter; er kam von unten. Seine Mutter, eine Telefonistin, verläßt ihn gleich nach der Geburt. Der Vater, ein Sprengmeister, gibt ihn zu den Großeltern, die einen ärmlichen Bauernhof betreiben. Mit 16 verliert Stig auch seinen Großvater, weil dieser von einem Geistesgestörten, wie es heißt, erstochen wird. Bald darauf erleidet seine Großmutter einen Schlaganfall. Mit 17 unternimmt Dagerman seinen ersten Selbstmordversuch, oder täuscht ihn jedenfalls vor. Auf dem Stockholmer Gymnasium gilt er als Tölpel vom Dorf. An den Wochenenden trägt er Zeitungen aus. Zwar gewinnt er in einem literarischen Schulwettbewerb eine Fahrt in die Berge, aber dort wird ein Freund und Zimmergenosse unter einer Lawine begraben. Nach der Schulzeit schlägt Dagerman die Laufbahn eines Journalisten und Erzählers ein. Er wird Gewerkschafter und regelmäßiger Mitarbeiter der anarchosyndikalistischen Tageszeitung Arbetaren. Hier begegnet er seiner ersten Ehefrau Annemarie Götze, die sich anscheinend im umgekehrten Verhältnis zum Anschwellen seines Ruhmes wieder von ihm absetzt. Mit 22 debütiert Dagerman (1945) mit seinem Roman Die Schlange, der die niederschmetternden Erfahrungen seines Militärdienstes verarbeitet. Dann nutzt er die Chance mit den erwähnten Reportagen. Vom ermutigenden Echo getragen, folgen rasch mehrere Erzählwerke, gipfelnd in den Romanen Gebranntes Kind (1948) und Schwedische Hochzeitsnacht (1949).

Doch dann häufen sich die Schwierigkeiten. Dagerman kann nicht mit Geld umgehen; Schuldgefühle, Ängste und Zweifel, auch an sich selber, plagen ihn; seine Texte mißlingen; das unter Erfolgsdruck gesetzte »Wunderkind der schwedischen Nachkriegsliteratur« wird dick; auch Dagermans zweite Ehe mit der prominenten Theater- und Filmschauspielerin Anita Björk scheitert. Eine Zeitlang sucht er sich mit Kino, Pokerspiel, Autofahren zu betäuben. Da liegt ein Unfall sozusagen in der Luft. An einem Novembertag 1954 begnügt sich der 31jährige mit der Garage seiner Villa im Stockholmer Vorort Enebyberg: er erstickt sich mit Autoabgasen. Einige Quellen schließen aus der Tatortbeschreibung, Dagerman sei, wie schon bei etlichen früheren Anläufen zum Selbstmord, in letzter Sekunde zurückgeschreckt (»Fuß vom Gaspedal genommen«), nur diesmal vergeblich. Trifft das zu, wäre er wenigstens seiner Unschlüssigkeit treu geblieben. Eine Stiftung verleiht seit 1996 einen Literaturpreis, der Stig Dagermans Namen trägt. 2012 stirbt auch Björk – knapp 90 Jahre alt.

Andernorts führte ich schon einmal eine Bemerkung Dagermans über den Zweikampf an. Offenbar war ihm Alains Einsicht nicht fremd, der größte Feind eines Menschen sei dieser selber. »Ich habe keine Philosophie, in welcher ich mich bewegen könnte wie der Vogel in den Lüften und der Fisch im Wasser. Alles was ich besitze ist ein Zweikampf, und in jedem Augenblick meines Lebens tobt dieser Zweikampf zwischen den falschen Tröstungen, die bloß die Ohnmacht steigern und meine Verzweiflung vertiefen, und diesen echten Tröstungen, die mich hinführen zu einer flüchtigen Befreiung«, womit er wahrscheinlich Liebes- oder Schreibwonnen im Auge hatte.** Das Trügerische an diesen Echtheiten führte ihn mit 31 in die Garage, wie wir gesehen haben. Ilja Ehrenburg hätte Dagermans Leiden am »Zweikampf« vermutlich verstanden. »Ohne überscharfe Sensibilität«, schreibt der Sowjetrusse in seinen Memoiren, »gibt es keinen Künstler – er mag Mitglied von zehn Verbänden sein. Damit gewöhnliche Worte erregen, damit die Leinwand oder der Stein lebendig wird, muß Leidenschaft am Werk sein. Der Künstler verbrennt schneller: Er lebt für zwei. Denn außer seinem Schöpfertum hat er ja noch sein verworrenes Leben – bestimmt nicht weniger als andere Menschen.« Der echte Künstler ist der vom Scheitel bis zur Fußsohle gespaltene Mensch. Er ist die unmögliche Verkörperung der Unruhe.

* Suhrkamp-Ausgabe Ffm 1987
** Zitiert nach Webseite Beat Mazenauer, »Der untröstliche Glückssucher«, o. J., jetzt auf https://archive.ph/1gXn




Für Brockhaus hat die Dampfmaschine »die industrielle Revolution« eingeleitet. Ansonsten breitet er die tech-nischen Einzelheiten und Etappen aus. Vom Kapitalismus fällt kein Wörtchen. Das ist das Verfahren, das alle BürgerInnen lieben. Die Technik drängte eben mit Macht ans Licht; sie wollte ihre Wunderwerke zeigen. Aber das ist Dampfnebel, um mit dem sich anschließenden Brockhaus-Eintrag zu sprechen. Dagegen macht der DDR-Historiker Hans Mottek im zweiten Band seiner Wirtschaftsge-schichte ausdrücklich den »Zusammenhang zwischen der sozialökonomischen und der technischen Umwälzung« klar.* Danach war der entscheidende Antrieb jener »industriellen Revolution« (voran in Großbritannien) nicht die Dampfmaschine, vielmehr die Aussicht gewisser Kapitalisten auf Profit. Ohne moderne Werkzeuge und Maschinen wäre es denen niemals gelungen, die herkömmliche Haushaltsproduktion und die sogenannte Einfache Warenproduktion zu zerschlagen. Das schnöde Volk, die Handwerker und Bauern eingeschlossen, lechzte keineswegs nach industrieller Großproduktion. Es verzehrte sich auch nicht danach, Industrieproletariat zu werden. Vielmehr benötigten die Kapitalisten viele schlecht bezahlte Anhängsel für ihre schönen Maschinen.

Das Betrübliche ist nur: Kommunisten wie Mottek finden dies alles prima. Sie halten den geradezu schmerzhaften Stufenschematismus hoch, den ihnen Marx–Engels–Lenin vorgebetet haben. Danach war die Einführung des Kapita-lismus unumgänglich, damit er »die Produktivkräfte« enfalte und so »den qualitativen Sprung« in den paradiesischen Sozialismus vorbereite. Nebenbei wird diese »Entfaltung« nicht unbeträchtlich »durch die Rüstungsaufträge [gefördert], die jetzt an preußische Unternehmen direkt vergeben wurden.« Da sieht der frohlockende Fernblick schon die Fallschirme und die Bomben auf Belgrad und Dresden sich entfalten. Das angestrebte Paradies lebt dann ebenfalls von technischen Wunderwerken höchster Streuwirkung. Dieses kommunistische Denken ist der eingefleischten Vorliebe für alles Große und für alles Organisierte geschuldet. Die Motteks und Ulbrichts schätzen auch »das Proletariat« gerade wegen seiner Größe und wegen seiner herrlichen Organisierbarkeit. Nur – was wäre an jenem Sprung dann noch qualitativ? Selbstverständlich das Gemeineigentum. Es steht jetzt auf frisch eingefärbtem rotem Papier. In Wahrheit gehören die Produktivkräfte dem neuen Vater Staat. Das ist eine Vogelscheuche mit bäuerlich wirkender Kutte, unter dem die nun herrschende Clique ihre volksfeindlichen Schliche ausheckt. Man hat gelegentlich gespottet, notfalls würden die Kommunisten auch gegen das Volk oder ohne Volk regieren – aber ein straff durchorganisiertes Volk, das sich leicht melken und jeden Abend in die Ställe führen läßt, ist ihnen lieber.

* 2. durchgesehene Auflage Ostberlin 1978, bes. S. 81/82 + 93



Über die Ermordung Cäsars oder J. F. Kennedys kann sich jeder Gymnasiast verbreiten, während er vom haarsträu-benden Schicksal des Abiturienten Helmut Daube
(† 1928), just wie Brockhaus, keine Ahnung hat. Dieser Mordfall ist bis heute ungeklärt. Der 19jährige, möglicherweise homosexuell gestimmte Sohn eines Gladbecker Schuldirektors war in einer Märznacht nach dem Besuch einer werbenden Burschenschaftsveran-staltung im Hotel zur Post zunächst gemeinsam mit seinem Freund Karl Hußmann nach Hause gegangen. Das letzte Stück des Weges legte er allein zurück. Man fand ihn im Morgengrauen unweit seines in der Schultenstraße gelegenen Elternhauses mit durchschnittener Kehle und ohne Geschlechtsteil in seinem Blute liegend auf. Hußmann wurde aufgrund einiger Verdachtsmomente angeklagt, jedoch »mangels Beweisen« freigesprochen. Vor allem hatte man ihm leider keine Homosexualität »nachweisen« können, womit er gleichsam automatisch ein Bösewicht gewesen wäre, dem alles zuzutrauen sei. Später trumpfte ein bereits wegen Mordes an einem Stricher vorbestrafter Häftling, Rolf vom Busch, mit einem »Geständnis« auf, doch es soll wenig glaubwürdig gewirkt haben. Der Mann galt als Prahlhans und, wegen Rachegelüsten, als befangen. Selbst auf Daubes Vater, den Rektor, war vorübergehend Tatverdacht gefallen, wobei sich als Motiv Haß oder Scham wegen des Sohnes vermeintlicher oder tatsächlicher »Abartigkeit« angeboten hatte.

Eben dies war jedenfalls das Hauptmotiv des damaligen großen Publikumsinteresses an dem Fall, der strecken-weise sogar den Transatlantikflug des Luftschiffes Graf Zeppelin aus den Schlagzeilen verdrängte. Neuerdings wurde er von den Autoren Kettler/Stuckel/Wegener in einem Buch ausgebreitet: Wer tötete Helmut Daube?, Gladbeck 2001/2015. Wie Mitverfasser Franz Wegener auf seiner Webseite versichert*, fährt es nicht weniger als 10 Mordtheorien auf.

* Stand 2023: https://www.franz-wegener.de/g1.html



Ich habe schon mehrere weltanschauliche »Wendehälse« gestreift, etwa Biermann, Broda, Bucher. Zwei andere, beide Franzosen, stellt Brockhaus in Band 5 (1988) gleich nebeneinander vor. Der Philosophieprofessor und Politiker Marcel Déat (1894–1955) sei ursprünglich Sozialist und Gegner des Faschismus gewesen, dabei »mehrfach«, also wiederholt, Abgeordneter oder Minister. 1940 habe er sich jedoch dem Vichy-Regime angeschlossen, das bekanntlich mit den Nazis liebäugelte. Er stellte sogar einen Verband der Waffen-SS auf die Beine. Dummerweise konnten sich die deutschen BesatzerInnen nicht ewig halten, sodaß Déat genötigt war, von Süddeutschland aus zu wirken, nämlich als Mitglied der Sigmaringer sogenannten Exilregierung. Immerhin war Sigmaringen ein hübsches Städtchen, das sogar ein ausgedehntes und prachtvolles Hohenzollern-Schloß aufwies, in dem man sicherlich in gehobenem Gemütszustand faschistische Strippen ziehen konnte. 1945 in Frankreich bei Abwesenheit zum Tod verurteilt, zog es unser Wendehals vor, wohl mitsamt seiner Gattin Hélène, in Italien unterzutauchen. Dort wurde er nie abgeschossen. Angeblich versteckten ihn die (katholischen) Karmeliter in einem Kloster nahe Turin. Dort habe er seine Memoiren verfaßt. Woran er bereits mit 60 starb, scheint im Internet unbekannt zu sein.

Der Philosophiestudent Régis Debray (* 1940) wurde durch »sozialrevolutionäre« Schriften und seine Zusam-menarbeit mit Che Guevara in Bolivien berühmt. Dort saß er sogar von 1967–70 im Knast. Jedoch: »In wachsendem Maße distanzierte er sich vom Linksextremismus, trat dem Parti Socialiste (PS) bei und war 1981–85 Berater des französischen Staatspräsidenten F. Mitterrand in Fragen der dritten Welt.« Laut Wikipedia ergatterte er später auch unter dem (gaullistischen) Staatspräsidenten Jacques Chirac (bis 2007) ein Amt: er habe einer Kommission angehört, die sich mit religiösen Symbolen im Schulwesen befaßt und ein Schleierverbot in den Schulen empfohlen habe. 2018 erzählt uns die Welt, Debrays Tochter habe sich gelegentlich über das »Machogehabe« des anscheinend über weite Strecken schnauzbärtigen Vaters lustig gemacht. Im übrigen verzehre sich dieser, wie jeder zweite Franzose, schon immer danach, auf dem Buchmarkt mitzumischen. Debray habe inzwischen über 70 Bücher veröffentlicht. Was er darin verkündet, ist möglicherweise nebensächlich – Hauptsache, gedruckt.



Dem erfolgreichen Pariser Maler Alexandre-Gabriel Decamps (1803–60) wurde ein Pferd zum Verhängnis. Hoffentlich war es ein Araber. Das Pferd scheute an einem Sommertag des Jahres 1860 im Rahmen einer nach manchen Quellen »Königlichen« Jagd im Wald von Fontainebleau. Vielleicht hatte sein Pferd die Orientmeise erblickt. Es warf den 57jährigen ab, worauf er an Kopfverletzungen starb.

Die Orientmeise gilt den einen als Nachtigall, den anderen als Nervensäge. Decamps hatte sie in jungen Jahren von einer Reise durch Kleinasien mitgebracht und dadurch in die mitteleuropäischen Parkanlagen und Kunstsalons eingeführt. Plötzlich verlangte es alle mehr oder weniger gelehrten Schöngeister nach Zeichnungen oder Gemälden mit orientalischem Sujet und Kolorit. Sogar Brockhaus betont, Decamps habe zu den ersten Künstlern gezählt, die »den Orient für die romantische Malerei« entdeckt hätten. Dann wird es wohl ungefähr stimmen. Blogger Silvae, ein Kunstkenner, schrieb 2010, der Orientalismus habe sich spätestens seit Napoleons Ägypten-Abenteuer [um 1800] und Delacroix‘ Gemälden [1798–1863] breitgemacht. »Verdi schreibt seine Aida, Flaubert Salambo (auch ein Lokal auf St. Pauli nannte sich später so), Ingres malt Harems und selbst in Deutschland gibt es Orientmaler wie Gustav Bauernfeind, von Malern wie Makart ganz zu schweigen.« Ich füge hier noch, im Vorgriff, Prosper Marilhat und den schottischen Maler David Roberts hinzu.

Decamps selber ließ sich aber nicht einengen. Er malte auch gerne Hunde, Enten, Pferde und dergleichen, am liebsten natürlich welche im Rahmen der Jagd, oder er malte Affen … Zu seinen Vorbildern zählte Rembrandt, zu seinen Verehrern Baudelaire, der ihm »die merkwürdigsten und unwahrscheinlichsten Licht- und Schattenspiele« bescheinigte. Decamps persönliche Verhältnisse finden sich leider in allen mir zugänglichen Quellen außerordentlich unterbelichtet. Um 1853 suchten ihn (und seine Arbeit) »nervöse Störungen« heim; bald darauf verkaufte er sein Pariser Atelier und zog sich aufs Land zurück. Immerhin, in den Sattel kam er da noch, und den Ruhm hatte er ja bereits in der Tasche. Irgendwo las ich, seine Werke seien schon zu seinen Lebzeiten viel gefälscht worden. Das müßte mir einmal passieren.



Wer verkündet, die Stadt Iserlohn nicht zu kennen (östlich von Wuppertal), sei bestimmt kein Verlust, kennt die Dechenhöhle nicht. Das »beliebte Ausflugziel mit Bahnstation« liegt sogar im Stadtgebiet von Iserlohn. Es handelt sich um eine 1868 entdeckte, über 700 Meter lange Tropfsteinhöhle!

Nach jüngeren Quellen ist die Dechenhöhle inzwischen noch beträchtlich gewachsen; sie sei jetzt 902 Meter lang. Es braucht Ihnen natürlich keiner zu erklären, wie die mal hängenden, mal emporragenden Zapfen von Tropfsteinhöhlen zustandekommen. Es liegt an dem »Sinter«: meist gelöster Kalk, der von den Höhlendecken tropft. Die zugespitzten Zapfen wachsen also ebenfalls. Wer in der Höhle campiert, mag das sogar mit eigenen Augen verfolgen können. In Iserlohn ist das Campieren verboten. Es gibt da furchterregend wirkende, bis zu daumendicke Höhlenradnetzspinnen und Fledermäuse, die beide seit der ökologischen Wende im Großberliner Regierungsviertel geschützt werden müssen, damit man in Deutschland eingefallene Russen notfalls in der Dechenhöhle »konzentrieren« kann, wo sie dann bestimmt das Gruseln lernen.

Zum Ausgleich finden in der Iserlohner »Schauhöhle« auch »Konzerte und Musikführungen« statt, wie das Internet verrät. Gewisse Iserlohner Stadträte haben unlängst gegen die Absicht des Dirigenten Jonathan Unbehagen protestiert, in einer für gemischten Chor erweiterten Fassung auch Reitmeiers bekanntes Zwerglied beethoven an elise (mp3, 1,006 KB) zu Gehör zu bringen. Hier die Noten. Die betreffenden Stadträte meinen, es sei viel wichtiger, das Eintritts- und Steuergeld in Spektakel wie Höhlenwhiskytasting, Lichtinstallationen und Ostereiersuche zu stecken. Meist stammen die versteckten Eier von den betriebseigenen Fledermäusen und Höhlen-bären. Kurz, das ganze event sei so zu vervollkommnen, daß kein BesucherInnengehirn mehr unausgeblasen bleibe. »Die Gehirne müssen leergefegten Höhlen gleichen«, sagten sie einer Reporterin des WDRs ins Mikrofon. »Ganz genau!« erwiderte diese mit ihrem gewinnendsten Lächeln.



Vom 1873 gegründeten, inzwischen weltweit tätigen chemisch-pharmazeutischen Industrieunternehmen Degussa teilt uns Brockhaus mit, es sitze in Frankfurt am Main und halte bedeutende Beteiligungen an … An Degussas Wirken im »Dritten Reich« verschwendet das Universallexikon kein Komma. Ich verzichte auf Einzelheiten, es sind die üblichen. Dafür jedoch den Waschzettel des Buches Die Degussa im Dritten Reich von Peter Hayes, das 2005 immerhin schon in 2. Auflage erschien.

Die frisierten Zeilen über den Physiker Ulrich Dehlinger (1901–81), »seit 1939 Professor in Stuttgart«, passen hier natürlich wie die Faust aufs Auge. Der Wikipedia-Eintrag ist leider nicht viel besser. Er fügt hinzu: »Von 1934 bis 1969 Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm- bzw. Max-Planck-Institut für Metallforschung.« Dieses Institut, 1934 von Berlin nach Stuttgart verlegt, »spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Rüstungsindustrie des NS-Staates«, wie sogar die Webseite der Uni Stuttgart einräumt.* Auch die dortige Professur habe Dehlinger bis 1969 innegehabt. Der Metallkundler wurde knapp 80. Hat er nicht Gold gemacht, ob für die Degussa oder für Hitlers Finanzminister Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk, dann aber doch sicherlich ganz gut verdient.

* https://www.uni-stuttgart.de/universitaet/profil/historie/campus/stationen/stadtmitte/info/info_station_w.html,
Andreas Hempfer, o.J.

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