Donnerstag, 25. Januar 2024
Risse im Brockhaus 7

Wie ich wohl schon andernorts einmal spottete, legt in Deutschland jeder Landstrich, der mehr als drei Maulwurfshügel zu bieten hat, darauf Wert, mit der Schweiz zu konkurrieren. Deshalb haben wir also im winzigen Städtchen Buckow, ein »Erholungsort in seen- und waldreicher Hügellandschaft« und »beliebtes Ausflugsziel« der rund 50 Kilometer westlich Geschäfte treibenden BerlinerInnen, das Herz der Märkischen Schweiz zu sehen. Wer betucht genug dazu war, baute sich gleich eine Villa im Städtchen, oder wenigstens, wie Brecht und Weigel, ein geräumiges Ferienhaus unmittelbar am Ufer des Schermützelsees. Dort konnten sie sie sich dann von der anstrengenden Kraftfahrt über die löchrigen Landstraßen ausspannen, ehe sie die nächsten Buckower Elegien raushauten. Oder hatten sie vielleicht einen Chauffeur? Ich bin im Moment gar nicht sicher. Ich vermeide es eigentlich seit vielen Jahren so gut es geht, mich in die näheren Verhältnisse angeblich bedeutender Geistesgrößen oder KlassenkämpferInnen zu knien, um mir in dem Gedränge, das bei denen herrscht, keine Beulen oder Kotzgefühle zu holen. Aber bei Brecht darf man wohl zumindest sicher sein: Hatte er keine Lohnkut-scherInnen, dann doch jede Menge Regieassistenten und Frauen.

Was richtige »Dienstboten« angeht, kann ich sogar aus dem Stegreif einige moderne SchriftstellerInnen aufzählen, die keine Skrupel, dafür jedoch das Geld hatten, sich Hauspersonal zu halten: Ludwig Tieck, Gerhard Haupt-mann, Lion und Marta Feuchtwanger, Beauvoir/Sartre, Zuckmayer, Kasimir Edschmid, Leonhard Frank, nicht zu vergessen das Ehepaar Monica und Peter Huchel in der bis 1990 angeblich sozialistischen DDR. Selbst der unablässig um Geld flehende Robert Musil hielt auf Personal. Konsequent empfängt auch dessen Mann ohne Eigenschaften in seinem »niedlichen« Wiener Schlößchen nur BesucherInnen, die sein Butler eingelassen hat. Die Soziale Frage wird in dem Wälzer so üppig behandelt wie im Alten Testament der Pazifismus. Anders bekanntlich Karl Marx – der sich im Verein mit seiner Gattin Jenny, zunächst in Brüssel, unter anderem eine Köchin gehalten hatte, die von einem saarländischen Tagelöhner, Ackerer und Bäcker abstammte und zu allem Überfluß auch noch Lenchen Demuth hieß. So schaffte das Ehepaar Marx kostbare Arbeitsplätze. Kern der sonstigen Rechtferti-gungen für dieses schäbige Verhalten stellt natürlich das bekannte kommunistische Credo dar, der Zweck heilige die Mittel. Begabten Genies wie Marx und Brecht sind die Hände für ihre epochale Aufgabe freizuhalten, das Gesetz von Lohn, Preis und Profit und die Buckower Elegien zu entdecken. Versinken sie irgendwann, etwa 1989/90, im Sumpf, können sie sich ja am eigenen Zopf oder Bart wieder herausziehen.

Übrigens hatte auch Orwell, der manchen als halber Anarchist gilt, keine fleckenlose Weste. Michael Shelden versichert uns: »Ein Diener kümmerte sich nur um seine Kleidung und machte sein Bett, ein anderer machte sauber und leerte den Nachttopf, und ein dritter bereitete die Mahlzeiten zu.« Natur- und detailgetreuer könnte es kaum geschildert werden. Vielleicht färbte hier der Beruf seines Gegenstandes auf den Biografen ab. Orwell hielt sich damals – als junger Mann – für fünf Jahre im Dienste des Empires in Burma auf, wo er es bald bis zu einer Art Bezirkssheriff brachte. Er schrieb noch schlecht, war aber im gehobenen Polizeidienst. Als er dann gut schrieb, leerte er seinen Nachttopf immer eigenhändig.

Was mich selber angeht, stand ich zuletzt, 2003–6, in Diensten der hiesigen Puppenfabrikkommune, wo ich unter anderem das Amt des Müllbeauftragten bekleidete. Keiner stampfte die Tonne so gut wie ich, keiner warf die Gelben Säcke weiter. Bei deren geringem Gewicht erfordert das einiges Training; bei Gegenwind sollte man damit rechnen, daß einem ein Zacken aus der Krone bricht. Einmal wäre es in der Puppenfabrikkommune sogar fast zum Aufstand gekommen. Da der »routierende« Kloputzdienst nicht gerade glänzend funktionierte, platzten P. und L. schließlich die Kragen. Sie verkündeten auf dem Plenum: »Wir übernehmen den Job fest.« – »Was denn, ihr wollt das immer machen?« – »Ja, sicher, machen wir gern.« Ein Sturm der Entrüstung folgte! Mit Klauen und Zähnen wurden Basisdemokratie und Rotations-prinzip verteidigt. Doch die beiden Kommunarden setzten sich durch. Nach einigen luxuriösen Monaten hatte dann auch der letzte seinen stürmischen Einspruch vergessen.



Der Geologe Kurd von Bülow (1899–1971) wirkte laut Brockhaus ab 1921 an der Preußischen Geologischen Landesanstalt; 1935–46 und ab 1952 war er Professor in Rostock. Er diente also sowohl den Braunen wie den angeblich Roten, nicht unser erster Fall. Zuletzt forschte Von Bülow auch über die Geologie des Mondes, aber dort gab es damals noch keine Anstalten, die ihn hätten weiterbeschäftigen können.

Nach seinem Eintrag auf der Webseite der Uni Rostock war der Geologe 1946 zunächst wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft (1937) aus dem Schuldienst entlassen worden. Dieser Wille zur Reinigung des ostdeutschen Volkskörpers scheint aber nicht lange vorgehalten zu haben. Der Eintrag unterstreicht auch Von Bülows militaristische Neigungen: »bis 1940 Wehrgeologe in Belgien und Frankreich, ab 1943 Kriegsverwaltungsrat im Wehrgeologenstab Berlin« – wenn das kein imposanter Titel ist ..?

Ähnlich gefällt mir ein Buchtitel des Geologen: Wie unsere Heimat wohnlich wurde. Das dürfte sich allerdings auf den ersten Weltkrieg beziehen, erschien das volkstümliche Werk doch bereits 1933.

Der Internist Max Bürger (1885–1966) war sogar lückenlos 1937–57 Professor in Leipzig. Er habe maßgeblich über das Altern geforscht. Im Gegensatz zu Von Bülow steht er auch bei Klee. Als Nazi (Parteieintritt 1937) habe er in Leipzig »kriegswichtige Hepatitis- und Kreislaufforschung« sowie »Menschenversuche« zum Verhalten bei »akutem Sauerstoffmangel« durchgeführt. Na, schönen Dank: Nationalpreis DDR 1952. Die Uni Leipzig hält einen kleinen Persilschein für ihren berühmten Weißkittel bereit. Etwas kritischer äußert sich Sandra Blumenthal (2023) in der Deutschen Biographie.



Dem schweizer Maler Max Buri (1868–1915) aus dem Kanton Bern bewilligt Brockhaus 4 ½ Zeilen. Warum wurde er nur 46? Fehlanzeige. Buri war seit 1903 im Dorf Brienz ansässig, wo er sich, unmittelbar am See, ein stattliches Haus kaufen konnte – vermutlich mit Hilfe seiner Schwiegereltern, ist er doch seit 1898 mit der Tochter eines Mühlenbesitzers Frieda Schenk verheiratet. Buris plakativ vorgetragene Szenen aus dem ländlichen Alltag wühlen keinen Schmutz und keine Probleme auf. Komik haben sie kaum. Sie tragen ihm jedoch Kunden und etliche, auch internationale Auszeichnungen ein, die ihn bekannt und wohlhabend machen. Lange genießen kann er das nicht. Im Mai 1915, während woanders Weltkrieg tobt, fällt der 46jährige nicht, wie es naheliegend gewesen wäre, in den Brienzersee, vielmehr unweit davon in Interlaken, wo er angeblich seine Frau und die gemeinsame Tochter Hedy abholen möchte, vom Landungssteg in die Aare. Dieser Fluß verbindet hier Brienzer- und Thunersee. Vielleicht waren Mutter und Tochter auf einem Linien- oder Ausflugsdampfer unterwegs gewesen. Zudem besaß das Städtchen schon damals Bahnanschluß. Was nun den Kunstmaler angeht, behauptet Gertrude Zimmerli, er sei »infolge eines Schwindelanfalles« vom Steg ins Wasser gekippt.* Buri stirbt kurz vor Mitternacht im nahen Hotel du Lac an Herzversagen.

Man könnte hinter Buris Schwindelanfall sicherlich, wenn nicht Wiedersehensfreude, dann Angst vor den beiden Weibern wittern; mehrere Quellen sprechen allerdings eindeutig von einem Unfalltod. Wir glauben es, hat doch sein Landsmann Eugen Ruch versichert: »Er konnte über eine Unwahrheit ebenso erbost sein wie über ein nicht gelungenes Bild.« Ruch schildert Buri** als »herbe Malerseele« mit Hängeschnauzer, gesellig und trinkfreudig. Da liegt Schwindel fern.

* Sikart (Kunstlexikon) 1998/2015, online https://recherche.sik-isea.ch/en/sik:person-4022828:exp/in/sikart/actor/list
** in der schweizer Monatsschrift Du, 8/1948




Der Chirurg Heinrich Bürkle de la Camp (1895–1974) scheint ebenfalls eine weiße Weste zu haben. »1934–62 Professor in Düsseldorf und Direktor des Krankenhauses Bergmannsheil in Bochum«, folglich lückenlos knapp 30 Jahre lang. Brockhaus hebt seine Leistungen als Unfallchirurg hervor. Anders Klee: Parteieintritt 1937. »Nach 1945 Persilscheinschreiber für Himmlers Leibarzt Karl Gebhardt.« Bundesverdienstkreuz 1950 [oder 60?]. Ab 1963, nun aus Altersgründen jäh des Lehrstuhls beraubt, kommt Bürkle im Beirat für das Sanitäts- und Gesundheitswesen beim Bundesverteidigungsministerium unter. Übrigens wurde Leibarzt Gebhardt, schon ein Jugendfreund Heinrich Himmlers, in Nürnberg gleichwohl zum Tod verurteilt und 1948 (mit 50) in Landsberg hingerichtet. Offenbar hatte man ihm zahlreiche Foltern an KZ-Häftlingen nachgewiesen, die einem bereits beim Lesen den Atem nehmen. Himmler hatte sich gleich bei Kriegsende umgebracht. Hauptsache, Bürkle wurde knapp 80.



Vom niedersächsischen Maler und Versschmied Wilhelm Busch (1832–1908) bringt Brockhaus ein hübsches farbiges Blatt aus der weltbekannten Bildergeschichte Max und Moritz. Die beiden Lausbuben sägen gerade den Steg an, auf den sie Schneider Böck zu locken gedenken, damit er in den Dorfbach fällt. Ihre Vorfreude auf den Streich ist unübersehbar. Etwas spät fällt mir allerdings auf, daß sie bei dieser Anordnung doch einige Mühe gehabt haben müssen, nicht selber im Wasser zu landen. Sie stehen nämlich beide nahe des langen Schnittes, den Max gerade mit der Tischlersäge anbringt, auf der besagten, nicht durch Pfosten abgestützten Brücke. Somit drohen sie sich den berüchtigten Ast abzusägen, auf dem sie selber sitzen – sofern sie sich nicht im letzten Augenblick mit akrobatischem Sprunge an die Ufer retten. Eben diese Maßnahme könnte freilich auch vorzeitig für den Zusammenbruch des Steges sorgen. Damit wäre der geplante Streich ins Wasser gefallen.

Hier deutet sich an: möchte sie glaubwürdig sein, ist stilisierende, verknappende Kunst nicht so einfach. Immerhin stimmt bei Busch die Säge. Ich habe mir bereits als Raumaustattergeselle und Kommunarde oft gesagt, um die Erdnähe der SchriftstellerInnen sei es überwiegend kläglich bestellt. Die meisten könnten eine Tischlersäge wahrscheinlich noch nicht einmal halbwegs in der Lotrechten halten. Sie können uns reizende Sonette von Shakespeare über fürstliche Finsterlinge vorsingen, aber keine Sense dengeln. Ich erinnere auch an die Dienstboten. In dieser Hinsicht zielt meine Kritik keineswegs nur auf das Ausbeutungs- und Befehlsverhältnis, das immer gegeben ist. Vielmehr bedauert sie den entlohnenden Dichter oder Denker als entfremdetes Wesen. Alle diese wertvollen ding- und alltagsnahen Erfahrungen, die er seinem Personal überläßt, kann er nun nicht selber machen. Er entfernt sich vom Erdboden. Was Wunder, wenn er abgehobenes Zeug schreibt und uns vor allem mit seinen Seelenkrämpfen kommt – oder denen seines Hundes. Noch so ein Dienstbote.

Im übrigen fördert der Verzicht darauf, sich bedienen zu lassen, selbstverständlich die Unabhängigkeit. Die postmoderne Welt ist wahren Heerscharen von »Experten« und unabdingbaren Gerätschaften ausgeliefert. Als immer schlimmer empfinde ich dabei den Terror, den die IT-Branche mehrmals täglich auf mich einprasseln läßt, sobald ich meinen Laptop anschalte. Es ist der sogenannte alternativlose Terror, denn ohne mich diesem zu unterwerfen, wäre ich, in gesellschaftlicher Hinsicht, sowieso schon längst abgehängt. So lockt die IT-Branche mich Dummböck auf den einzigen Steg unseres Dorfes.



Immerhin wird uns Brockhaus etwas später verraten, Erwin Chargaff, ein nicht ganz unbekannter Zeitgenosse und Berufskollege des Biochemikers, Professors und Nobelpreisträgers Adolf Butenandt (1903–95), habe »auch zeit- und wissenschaftskritische Schriften« verfaßt. Der Österreicher war vor dem deutschen Faschismus in die USA geflüchtet. Drei essayistische Titel von ihm führt das Lexikon sogar an. Aber hätte es diesen Gesichtspunkt nicht eigentlich auch weglassen können? Denn mit dem gegenteiligen zeit- und wissenschaftskonformen Wirken Butenandts verfährt Brockhaus just in dieser Weise. Er begnügt sich mit dem vergleichweise unverfänglichen Hinweis, »1936–72« sei Butenandt »auch Direktor des Kaiser-Wilhelm- bzw. (seit 1948) Max-Planck-Instituts für Biochemie in Berlin, Tübingen und München« gewesen. Dabei erweist allein der Eintrag bei Klee Butenandt als strammen Faschisten, dem man in keiner schlecht beleuchteten Seitenstraße nach Einbruch der Sperrstunde begegnen möchte. Bekenntnis zu Hitler schon 1933 sowie im folgenden Zusammenarbeit mit verschiedenen Menschenversuchlern, Militaristen und natürlich auch wieder mit dem Gesundheitsboß Karl Brandt. 2001 gab es Juso-Versuche, Butenandt aus der Ehrenbürgerliste von Bremerhaven zu streichen. Das scheint jedoch irgendwie verebbt zu sein.



Beim Schriftsteller Dino Buzzati (1906–72) könnte manchem siedendheiß einfallen, zu Butenandts Zeiten habe es ja auch in Italien einen Faschismus gegeben. Oder gab es ihn vielleicht für Buzzati nicht? Der Brockhaus-Eintrag könnte genau diesen Eindruck erwecken. Er sei »Chefredakteur des Corriere della Sera« gewesen, erfahren wir lediglich. Wann, wird nicht gesagt. In seinen »phantastisch-realistischen« Prosawerken werde die Fragwürdigkeit der Existenz beklagt.

Nach der deutschen Wikipedia hatte Buzzati Jura studiert und eine Offiziersschule besucht. Der Redaktion des weltberühmten »Abendkurier« habe er, nur mit Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg, von 1928 bis zu seinem Tod angehört, zuletzt als Chefredakteur. In der erwähnten Pause habe er als Marineoffizier und Kriegsberichterstatter in Nordafrika und Sizilien gewirkt. 1966 heiratete er.

Die Schwester-Einträge auf englisch und italienisch scheinen nicht beträchtlich ergiebiger zu sein. Ich verzichte auf ihr Studium und empfehle einen halbwegs aufschluß-reichen und kritischen Beitrag des Bloggers Julian Zündorf von 2020.* Danach war die Gleichschaltung der Medien unter Mussolini deutlich weniger heftig als bei uns. Buzzati sei sowieso ein eher »unpolitischer« Kopf gewesen. Aber ein vaterlandstreuer Offizier dürfte er ja wohl trotzdem gewesen sein? Nach Zündorf nahm ihm das niemand krumm, eher vielleicht im Gegenteil. Buzzati habe nach Kriegsende lediglich ein »kurzes Berufsverbot« hinnehmen müssen. Dann begab er sich wieder in die liberale Tretmühle des Corriere della Sera – in der er zeitlebens das Gefühl gehabt habe, sein Leben zu verplempern. Mit 65 erlag er einer Krebserkrankung.

* https://www.lectorinfabula.de/2020/11/22/buzzati_tatarenwueste/



Unter »Brâncuși« erwähnte ich kürzlich die Kunstwissen-schaftler und Konzeptfritzen Kudielka und Gerz aus meiner Westberliner Künstlermodellzeit. Hier gesellt sich nun der Nordamerikaner James Lee Byars (* 1932) hinzu, den Brockhaus ins Spezialfach »individuelle Mythologie« steckt. 1986 habe er unserem Düsseldorfer Guro Joseph Beuys die Totenfeier ausgerichtet. Unverzüglich in Band 10 nachgeschlagen, was das sei, Individuelle Mythologie, werde ich belehrt, das Spezialfach wurde in der Stadt meiner Schulzeit, Kassel, gezimmert, nämlich 1972 auf der documenta 5. Es enthält den bekannten willkürlichen Installations-Krempel, der sich philosophisch gibt. Mit Materie belastet er sich nur noch so geringfügig wie möglich. Schließlich hat jede Nachkriegskunstakademie dem künstlerischen Nachwuchs die Ohren vollgetrommelt, er habe sich endlich »vom Gegenstand zu lösen«. Im Brockhaus taucht das immer mal wieder als Lobeswort auf: es gelang dem Betreffenden, die Höhen der Abstraktion, der Religion, des Nebulösen zu erklimmen. Aufs Schreiben bezogen, heißt es deshalb im selben Band 4 zum australischen Schriftsteller Peter Carey (* 1943), er habe sich »von der realistischen Erzähltradition gelöst«. Meiner Ansicht nach ist die durchgehende postmoderne Marschroute unübersehbar: Entkörperlichung. Abschaffung des Raumes – und erst damit auch der Zeit. Digitalisierung bedeudet nichts anderes. Letztlich handelt es sich um den aberwitzigen Versuch, den Tod zu überwinden, wie auch Erwin Chargaff wiederholt erläutert hat. Darüber möchte man auf der einen Seite gern lachen; auf der anderen wachsen freilich die vielfältigen Kosten des Versuchs inzwischen ins Astronomische. Nach Corona- und Klimawahn ist es das größte Verlustgeschäft, das die Menschheit je angepackt hat. Die Pyramiden waren Kreiskegel des Brettspiels Fang den Hut! dagegen.



Der slowenischer Schriftsteller aus dem Raum Ljubljana (Laibach) Ivan Cankar (1876–1918) stammte von einem armen, dafür kinderreichen Schneider ab. Sein auffallend frühes Ableben verstört Brockhaus wie meistens nicht. Anschließend sollen ihn ungefähr alle kulturpolitischen Lager seines Landes für sich reklamiert haben, wodurch er sich letztlich zum »größten Nationaldichter« seines Landes erhoben sah – er erlebte es nur nicht mehr mit. Dank Förderern hatte der junge Cankar das Abitur machen und in Wien ein Studium des Maschinenbaus aufnehmen können, das er freilich bald zugunsten des hauptberuf-lichen Schreibens an den Nagel hängte. Ab 1909 lebte er vorwiegend erneut in Ljubljana. Als Sozialdemokrat und Fürsprecher eines eigenständigen südslawischen (jugoslawischen) Staates außerhalb der habsburgischen Monarchie schrieb Cankar ungeschminkt vom Elend des Volkes, dabei nicht ohne Sinn für Komik der kafkaesken Art. Er verfaßte vorwiegend erzählende Texte. Im Lebenswandel drückte er sich um Ehe und andere Etiketten. Mönch war er nicht.

Nach freundlicher Auskunft des Wiener Mediziners und Slowenisten Erwin Köstler, Übersetzer einer in Klagenfurt erscheinenden deutschen Gesamtausgabe der Werke Cankars, sind die Todesumstände durch zeitgenössische Zeugnisse (von France Dobrovoljc, Lojz Kraigher u.a.) recht gut belegt. Cankar wohnte damals am Kongreßplatz. Eines Abends Ende Oktober 1918 kam er mehr oder weniger betrunken von einem Treffen mit Freunden zurück und stolperte im Treppenhaus, worauf er rücklings in den kleinen Innenhof des Gebäudes fiel und sich eine Verletzung am Hinterkopf zuzog, die man zunächst als Prellung abtat. Nach vorübergehender vermeintlicher Genesung stellten sich aber epileptische Anfälle und immer neue Schwächeanzeichen ein. Wahrscheinlich waren durch den Sturz Gehirnblutungen, vielleicht sogar ein Schädelbruch erfolgt. Diese Verletzungen verpaarten sich freilich mit einem allgemein schlechten Gesundheitszustand des abgemagerten und nervlich zerrütteten Schriftstellers. Dabei hatten sicherlich auch Kaffee, Tabak und Alkohol eine beträchtliche Rolle gespielt, die man sich ja gern gegen wieder andere Gebrechen verordnet. Unter all diesen Belastungen »versagte« Cankars Herz am 11. Dezember, rund sechs Wochen nach dem Mißgeschick im Treppenhaus. Er starb mit 42.

Wie es aussieht, wartet die slowenische Verlagswebseite Mladinska knjiga mit Streiflichtern von Cankars Liebschaften auf. Demnach* hatte er im Laufe der Jahre durchaus einige, aber das über ihn umlaufende Klischee vom wilden Schürzenjäger wird zurückgewiesen. Ob die Letzte im Bunde, Milena Rohrmann (wohl 1895–1945), bei dem angeschlagenen Literaten Erfüllung fand, scheint niemand mit Sicherheit zu wissen. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie und war von Beruf Lehrerin. Jedenfalls habe sie ihm nach jenem Absturz im Treppenhaus seelisch und finanziell zur Seite gestanden. Nach seinem Tod trat sie als seine »Braut« auf und sorgte für seine Bestattung im Rohrmann‘schen Familiengrab. »Wahrscheinlich ist es ihrer engen Verbindung zu Cankar zu verdanken, dass sie ihr Leben psychisch krank beendete.« Na, herzlichen Dank. Leider erfährt man darüber nicht mehr. Man staunt lediglich, was für betörende weibliche Geschöpfe dieser Galgenstrick eingewickelt haben soll. Auch im Liebesbriefschreiben soll er Meister gewesen sein.

* https://www.mladinska-knjiga.si/dobrezgodbe/beremo/cankarjeva-zenska-angel-greh-pastirica", Stand 2023



Hätte es beispielsweise Ulrich von Hutten gewollt, wäre er, Hutten, bereits mit 24 (statt 29) Hofrat gewesen. Mit 35 kam er in den Sarg. Wahrscheinlich entsprach dem einstigen Frühsterben eine Frühreife der Zeitgenossen, ob sie nun Ritter oder Schuster, Gelehrter oder Trunkenbold waren. Ein Zeitgenosse Huttens, Doktor Johannes Carion (1499–1537) aus Bietigheim bei Stuttgart, war beides, wie man gleich sehen wird. Brockhaus übgeht diese Zwittrigkeit. Geboren als Sohn des Zimmermanns Nägele und kaum die Universität in Tübingen absolviert, wurde der Schwabe schon 1518 beim Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg als »Hofmechanikus« angestellt, also mit bestenfalls 20 Jahren. Joachim war einerseits Gegner der Reformation, andererseits Bruder jenes Erzbischofs Albrecht von Brandenburg, der den zunehmend aufmüpfigen Hutten förderte. Auch Carion stand mit Reformatoren wie Philipp Melanchthon, Luther und Georg Sabinus auf durchaus gutem Fuß. Er lehrte am Spandauer Hofe Mathematik und Astrologie, befaßte sich auch mit Medizin und mauserte sich rasch zum engsten Berater und Vertrauten des galligen Kurfürsten.

Zu Carions Tübinger Lehrern hatte der zeitgemäß endzeitgestimmte Johannes Stöffler gezählt. Im Sommer 1524 ging Joachims Vertrauen bereits so weit, daß er sich von Carion davon überzeugen ließ, die Sündflut, die Stöffler schon für den Februar des Jahres vorausgesagt hatte, werde nun am St.Heinrichs-Tag eintreffen, nämlich am 15. Juli. Die Angelegenheit gestaltet sich spannend, geht aber glimpflich aus – so jedenfalls beim Schriftsteller Werner Bergengruen in seinem 1940 erschienenen Roman Am Himmel wie auf Erden. Erstaunlicherweise wurde dieser Roman von den Nazis geächtet, obwohl er im Grunde Staatstreue, Volksgemeinschaft und Schicksals-ergebenheit von vorne bis hinten predigt. Carion thronte mit in dem Boot, das andere über die Spreekanäle zu treideln hatten. Er wird überall als ausgesprochen trink- und tafelfreudig geschildert. Einem um 1530 entstandenen Ölgemälde von Lukas Cranach dem Älteren zufolge stand er dem Umfang von Bergengruens detailreichen 800-Seiten-Wälzer kaum nach. Da hatte sich der Feinschmecker, damaligem Antikisierungs-Brauch gemäß, ohne Zweifel einen treffenden Namen ausgesucht, leitet sich doch »Carion« von griech./lat. Caryophyllon ab, womit das indische Gewürz »Nußblatt« gemeint war, bei uns »Gewürznägelein«, später (schwachsinnigerweise) »Gewürznelke«.

So weit ich sehe, ging am besagten St.Heinrichs-Tag, nach der Welt, auch das Vertrauensverhältnis zwischen Joachim und Carion nicht unter. Der Kurfürst verwendete den trotz seiner Leibesfülle »gewandten und weltkundigen« Doktor selbst für diplomatische Missionen, darunter die Anbahnung einer zweiten Ehe seines Sohnes und Thronfolgers Joachim II., nämlich mit Hedwig von Polen. Da diese Hochzeit (1535) erst zwei Jahre vor Carions Tod begangen wurde, dürfte er bis zuletzt in kurfürstlichem Dienst gestanden haben. Dieser gewährte ihm anscheinend genug Freiraum, um sich auch erfolgreich als Schriftsteller zu betätigen. Seine populären astrologischen Schriften, darunter etliche »Prognostiken« (Voraussagen), wurden damals viel gelesen. Da für den »gemeinen« Mann gedacht, schrieb der Ex-Nägele sie auf deutsch. Mit seinem Hauptwerk, 1532 in Wittenberg veröffentlicht, konnte er allerdings erst posthum hervortreten, nachdem es von Melanchthon und Caspar Peucer überarbeitet worden war: einer an der Bibel orientierten Weltgeschichte. Das überarbeitete Werk erschien 1572 als Chronicon Carionis und blieb für Jahrzehnte das beherrschende Kompendium für den universalgeschichtlichen Unterricht. Es erlebte auch außerhalb des Reiches zahlreiche volkssprachliche und lateinische Drucke.

Was Carions Hausstand an der Spree, vielleicht auch an der Elbe in Magdeburg, und gar sein Gemüts- und Liebesleben angeht, zeigt sich auf mein Nachhaken hin (2014) selbst der langjährige Bietigheimer Stadtarchivar Stefan Benning überfragt. Die Quellenlage ist das Gegenteil einer Überschwemmung. Nebenbei wurde dem Hofastrologen, dem einige Kollegen eine ausgeprägte nekromantische Neigung ankreideten, die Doktorwürde (als Mediziner), laut Johannes Schultze (1957) und entgegen der Unterstellung Bergengruens und anderer Autoren, erst 1535, nämlich durch Sabinus verliehen. Einig sind sich die ForscherInnen immerhin über Carions »lasterhafte« Trunksucht, so Luthers Rüge. Ihr soll er auch am 2. Februar 1537 mitten bei der Ausübung (in Magdeburg) zum Opfer gefallen sein. Die erstaunlich weihelos und launig verfaßte Grabinschrift hält fest: »Dr. Johannes Carion, Vertilger ungeheurer Weinkrüge, Wahrsager aus den Gestirnen, hochberühmt bei Machthabern, ist beim Gelage im Wettkampf erlegen. Christus verzeihe gnädig dem so plötzlich aus dem Kreise der Zechenden Zusammengebrochenen.« Benning nahm zunächst an, sie stamme von Georg Sabinus, aber laut Wikipedia ist diese Zuweisung fragwürdig. Das räumte Benning 2009 in einer kleinen »Ehrenrettung« ein.*

Wie gesagt, in erotischer Hinsicht ist der dicke Doktor ein unbeschriebenes Blatt für uns. Vielleicht hätte er sich mit Begeisterung die sogenannte Madonna mit dem langen Hals, entstanden 1534/35, übers Bett gehängt, wenn er bereits davon gewußt hätte. Sie war dem in Parma, Oberitalien, wirkenden Meister des Manierismus Francesco Mazzola, genannt Parmigianino, gelungen, der seinen Pinsel aufgrund einer nicht genau überlieferten Krankheit 1540 für immer sinken ließ. Mit 37 war er nicht älter und nicht jünger als der Weinkrug-Vertilger Carion gewesen.

* https://www.geschichtsverein-bietigheim-bissingen.de/?page=texte/berichte/2009_carion.html



Sollte sich in Nordamerika dereinst ein Bund freier Republiken herausbilden, wird er die kirchlichen Feiertage abschaffen, dafür jedoch ein paar regelmäßige Spottage einführen. Ich beschränke mich auf drei naheliegende Beispiele. Am 26. Juni gilt es, General George Armstrong Custer und gleich auch seine an der Niederlage beteiligten Brüder Thomas und Boston auszulachen. Es war die berühmte, ausnahmsweise für die PrärieindianerInnen siegreiche Schlacht am Little Bighorn River, die im Sommer 1876 im heutigen Montana stattfand. Die Custers zogen trotz ihrer drückenden militärischen Überlegenheit den Kürzeren, weil sie zu viele Fehler machten. Alle drei waren noch keine 40. Alle drei fielen, und zwar im Verein mit immerhin fünf Kompanien der US-Army. Das heißt, Hauptmann Thomas Custer fiel auf ausgezeichnete Weise, indem ihn nämlich Rain in the Face erschlug, der aufgrund einer früheren Festnahme durch den Hauptmann noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte.

Nehmen wir jetzt den 11. August. Bekanntlich sattelten die Yankees im Zuge der »Erschließung des Wilden Westens« zunehmend vom Pferd aufs Auto um. Das machte sie auch in zwei Weltkriegen siegreich. Ökologische Bedenken und Entsetzen über »Kollateralschäden« auf den eigenen, heimischen Straßen stellten sie bis auf Weiteres zurück. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg stieg ein neuer genialer Bildender Künstler am Sternenbanner auf. Mit seinem berüchtigten »Action Painting« wirbelte der Maler Jackson Pollock genug Staub auf, um die Preise für seine Gemälde bis zum Mond steigen zu lassen. Mit dem damit verbundenen Ruhm und Erwartungsdruck wurde er allerdings nicht so leicht und schnell fertig wie mit seinen buchstäblich auf die Leinwand geworfenen Kunstwerken: er litt zunehmend an »Arbeitsblockaden«, was zum Beispiel bedeutete, je weniger er malte, desto mehr soff er. Leider wurde aber sein Führerschein nicht mitblockiert. Pollock hatte mit seiner Gattin Lee Krasner unweit von New York City ein Haus in East Hampton auf Long Island. Dort baute der 44jährige Künstler am späten Abend des 11. August 1956 mit seinem schicken Cabriolet Marke Oldsmobile in betrunkenem Zustand einen schweren Unfall. Er nahm eine Kurve der ihm wohlbekannten Fireplace Road zu schnell und krachte in ein Gehölz. Seine Geliebte und Beifahrerin Ruth Kligman, 26, wurde »nur« schwer verletzt; deren 25 Jahre alte Freundin Edith Metzger und Pollock selber dagegen bissen ins Gras. Aber die Witwe war ja unversehrt. Deren Karriere als Vermögensverwalterin und Vermarkterin des bekannten »Actionpainters« und vorbildlichen Verkehrsteilnehmers fing jetzt erst richtig an.

Bald nach Pollocks ruhmreichem Ende kam das neuartige und aufwendige US-Raumfähren-Programm ins Rollen. In diesem Rahmen schickte sich die Raumfähre Challenger (»Herausforderer«) am 28. Januar 1986 zu ihrem 10. und allerdings auch letzten Flug an – sie explodierte 73 Sekunden nach dem Abheben von Cape Canaveral, wie Brockhaus weiß. Fähre und Nutzlast wurden dadurch zerstört; alle sieben Astronauten der Besatzung kamen um, darunter zwei weibliche. Das war also schon ein deutliches Fanal der postmodernen Frauenemanzipation. Weitere Unglücke mit Toten folgten, aber das wird mir jetzt zuviel. 2011 wurde das »Space-Shuttle-Programm« der NASA beendet. Bernd Leitenberger* schätzt dessen Gesamkosten (bei 30 Jahre Laufzeit) auf mindestens 300 Milliarden US-Dollar zum Kurs von 2010, wobei er natürlich ökologische, soziale, moralische Kosten übergeht. Schon dieser Betrag läßt sich von normalsterblichen Menschen verdammt schwer vergegenwärtigen. Sagen wir deshalb der Anschau-lichkeit halber: mit 300 Milliarden könnte man sicherlich den Gazastreifen mitsamt seiner BewohnerInnen einrollen, auf mehrere US-Flugzeugträger packen und in der Freien Republik Kalifornien wieder ausrollen. Dort soll das Klima sowieso viel angenehmer als in der Öde namens Palästina sein.

* https://www.bernd-leitenberger.de/shuttle-kosten.shtml



Meine Ansichten über »Heimat« können Sie bei Bedarf mit Hilfe meines Blog-Registers kennenlernen. Ganz verkürzt gesagt, ist für mich Heimat da, wo ich mich wohl fühle und wo ich Wurzeln schlagen kann, nicht aber, wo mich äußere, ungewählte Umstände wie durch einen Sandsturm hingezwungen haben. Ich nehme also stark an, im südlichen Usbekistan hätte ich mich auch schon vor ein paar tausend Jahren nicht gerade sauwohl gefühlt. Darauf bringt mich, gleich nach der Raumfähre, der Ruinenhügel Chaltschajan, der ebendort, zwischen Persien und China eingeklemmt, um 1960 freigelegt worden ist. Die Trümmer zeugen von einer altertümlichen Festung und verschiedenen Monumentalbauten. Überreste höfischer Kunst gibt es auch. Da liegt der Gedanke an die antiken Kulturen in Mexiko oder in den Andenrepubliken nahe, die weder vor tropischen Schwitzhöllen noch höchsten, teils vergletscherten Berggipfeln zurückschreckten, um dem Boden ein paar Maiskörner und viele mächtige Säulen oder Hinkelsteine von Heiligtümern abzuringen. Vielleicht ist es nicht übertrieben, schon dem vorchristlichen Menschen einen angeborenen Siedlungs-Masochismus zu bescheinigen. Schließlich wird heute allgemein angenommen, die berüchtigte »Wiege der Menschheit« habe in Afrika gestanden, möglichst nahe am Äquator, wo es ausgiebig Atem- und Wassernot gibt. Im anderen Extrem wird der Frühmensch von seinen Grillen nach Alaska, Sibirien oder gar bis Spitzbergen getrieben, wo man sich sofort den Hahn abfriert, sobald man pinkeln will. Warum hat sichs der Frühmensch nicht irgendwo am Mittelmeer gemütlich gemacht, an der italienischen oder türkischen Riviera beispielsweise? Weil er sich tüchtig vermehren und vor der Platznot über den ganzen Erdball flüchten muß. Letztlich läuft das freilich nur auf meinen alten Seufzer hinaus, der Mensch könne alles, nur nicht maßhalten.



Statt den bekannten Naturforscher und Schriftsteller Adelbert von Chamisso zu behandeln, will ich den Expeditions-Maler Ludwig Choris (1795–1828) einschieben, denn den kennt Brockhaus nicht. Der Sohn eines Hochschullehrers in Charkow, Ukraine, profitierte davon, das Licht der Welt vor dem Siegeszug der Fotografie zu erblicken, aber es war auch just dieser Umstand, der ihn nicht alt werden ließ. Als er 1815 in Sankt Petersburg an Bord der Brigg Rurik zu einer bald darauf weltberühmten Erdumsegelung aufbrach, war er gerade einmal 20. Gleichwohl konnte er zeichnen und malen und war auch in Naturkunde beschlagen. Und da er auch der Naturgetreuheit verpflichtet war – jedenfalls entschieden mehr als etwa imperialistischem Dünkel oder Rassenhaß – leistete er mit seinen Abbildungen aus Übersee, darunter die Philippinen, Hawaii und die Beringstraße, unschätzbare Dienste zur Kenntnis und Erforschung fremder Flora, Fauna und Menschen.

Einige gebildete LeserInnen werden die rund dreijährige Reise um die Welt durch Chamissos Bericht kennen, der knapp 20 Jahre später, 1836, als eigenständiges Buch des Berliner Schriftstellers erschien. Offiziell »Titularge-lehrter« der Expedition, war der junge Chamisso mit Zeichner Choris eng befreundet. Etwas weniger harmonisch gestaltete sich nebenbei Chamissos Verhältnis zum Leutnant der russisch-kaiserlichen Marine Otto von Kotzebue, der das Unternehmen leitete. Der war ein Sohn eines berühmten süddeutschen Mordopfers. Otto war oft schlecht gelaunt. Beide, Kapitän wie Titulargelehrter, hatten auch ihre Plage mit dem gemeuchelten Alten, brauste ihnen doch aus jedem Hafen, in dem sie in Übersee anlegten, dessen ruhmreicher Name entgegen, wie Chamisso erwähnt. Selbst die Bibliothek auf den Aleutischen Inseln (bei Alaska) habe im wesentlichen aus einem ins Russische übersetzten Band mit Werken August von Kotzebues bestanden. Der Mannheimer Schriftsteller war vor allem für Bühnenstücke gefeiert worden.

Was Choris betrifft, begab er sich 1819, nach Bewältigung der großen Reise, nach Paris, wo er sich unter anderem in Lithographie ausbilden ließ, damit die verschiedenen gedruckten Reiseberichte um Illustrationen bereichert werden konnten. 1821 wurde sein »Lithographisches Reisewerk« auch im Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Stände vorgestellt oder besprochen. Im folgenden Jahr veröffentlichte er einen eigenen Reisebericht in französischer Sprache (Voyage pittoresque autour du monde), der Textbeiträge von Chamisso und dem bekannten Pariser Naturforscher Georges Cuvier einschloß. 1826 erschienen 24 weitere Lithographien unter dem Titel Vues et paysages des régions équinoxiales. Ein Jahr darauf tappte Choris in die Falle. Er ließ sich im Auftrag des Musée des Jardins des Plantes auf eine Mittel- und Südamerikareise ein, um dortige Pflanzen zu sammeln und Porträts der Indios zu liefern. Über die Antillen, New Orleans und Veracruz kam er 1828 nach Mexiko. Die Hauptstadt erreichte er nicht mehr, wurde der begabte 33jährige Künstler und Forscher doch bei Xalapa von schnöden Strauchdieben überfallen und ermordet. Einzelheiten sind anscheinend nicht bekannt. Hier winkt unter Umständen eine reizvolle Forschungsaufgabe für hiesige Doktoranden, die sich schon seit längerem einmal das eindrucksvolle Land zwischen Texas und dem Golf von Kalifornien ansehen wollten. Mordopfer gegenwärtig, ohne Dunkelziffer, im Schnitt 94 pro Tag. Die Vergleichszahl für das um 1/3 bevölkerungsärmere Deutschland ist ungefähr 0,7. Möchten Sie also heute ermordet werden, müssen Sie bis morgen warten.



Über den Eintrag zu Erwin Chargaff (1905–2002) kann ich nicht meckern. Als publizistische Großtat rechne ich dem Biochemiker und Essayisten, der an der New Yorker Columbia University bestallt war, nach wie vor seinen den Überfall der Nato auf Jugoslawien verdammenden FAZ-Artikel vom Mai 1999 an, der ganze Legionen von umgefallenen »Linken« beschämte.* Auch sonst verdanke ich Chargaff zahlreiche Anregungen und sogar ein paar kurze private, mich ermutigende Luftpostbriefe. Aber er bescherte mir auch einen Reinfall. In einer Fußnote seiner Erinnerungen Das Feuer des Heraklit hatte Chargaff Célines Reise ans Ende der Nacht zu den »größten französischen Romanen dieses Jahrhunderts« gezählt und die »meisterhafte Bosheit« des Beobachters Céline gepriesen – prompt besorgte ich mir das große Werk. Und nach 50 Seiten schmiß ich es verärgert in die Ecke. Es stammt von 1932. Neben fehlender Anschaulichkeit ging mir vor allem die Menschenverachtung und Selbstgefälligkeit des Ich-Erzählers gegen den Strich. Céline muß sich für einen tollen Hecht gehalten haben – und wie der Reim es will, hat er selbstverständlich auch immer recht. Zwar spricht sein Erzähler viel von den eigenen Ängsten, doch macht ihn das nicht sympathisch. Er hat nur Angst, seine Wichtigkeit könne sang- und klanglos vom Erdboden verschwinden. Wenn Vauvenargues spottet, es sei schwer, jemanden so hoch einzuschätzen, wie dieser selbst es wünsche, hatte er sicherlich auch schon Landsmann Céline im Auge. Warum sich nun auch Chargaff noch für diesen eher schlecht schreibenden, dazu mindestens zwielichtigen Zeitgenossen erwärmte, ist mir schleierhaft. Vielleicht wollte er einen Widerhaken gegen seine Vorliebe für Goethe, Hölderlin, Stifter setzen.

* »Aufschrei des einzelnen / Die Schlacht- und Schießgesellschaft«, 15. Mai 1999



Den zufriedenstellenden Eintrag über Thomas Chatterton (1752–70) möchte ich etwas ausweiten. Nach gängiger Meinung brachte sich der heutzutage recht bekannte englische »Dichter« und Fälscher, mittels Gift, schon mit 17 Jahren aus Gram über seine Verkennung um. Sicherlich sei auch Geldnot hinzugekommen, hatte sich doch sein Lehrvertrag mit dem Bristoler Rechtsanwalt John Lambert erübrigt, nachdem dessen Lehrbub von Philologen als literarischer Betrüger entlarvt worden war. Ferner habe sich Chattertons Vorstellung, dafür in London einen »Durchbruch« als Literat oder wenigstens Journalist zu erzwingen, im bekannten dortigen Nebel aufgelöst.

Die Vorgeschichte: Rund zwei Jahre vor seinem »Freitod« hatte Chatterton mit angeblichen Funden aufhorchen lassen. Er wollte in Bristol Gedichte und Trauerspiel-Fragmente entdeckt haben, die ein Mönch namens Rowley im 15. Jahrhundert verfaßt hatte. Auch in diesem Fall von Hochstapelei ließen sich zunächst etliche Fachleute täuschen, darunter der berühmte Erfinder der gothic novel (des Schauerromans) Horace Walpole. Mehr noch, der blutjunge Advokatengehilfe soll den Geist der betreffenden verflossenen Zeiten derart gekonnt nachempfunden und außerdem schöpferisch bereichert haben, daß mancher sogar an überragende Wiedergeburts-Fähigkeiten Chattertons zu glauben begann. Allerdings entsprach dessen gothic revival auch dem Zeitgeist des englischen Frühkapitalismus. Dieser Mode folgend, hatte Chatterton, der ohnehin ein Träumer gewesen sein soll, wahre Berge der entsprechenden Literatur verschlungen. Nebenbei bemerkt, hatte er seinen Vater, einen Küster mit starken musikalischen und okkulten Neigungen, schon vor der Geburt verloren, da klammert man sich vielleicht an überlieferte großartige Gestalten, sofern kein Ersatz in Sicht ist.

Immerhin gingen die Geniestreiche des Jünglings nach und nach in zahlreiche Kunstwerke ein, darunter die 1956 in Hamburg uraufgeführte Tragödie Thomas Chatterton von Hans Henny Jahnn. Vermutlich hatten es Jahnn, neben der Genie-Frage, auch die engelshaften Züge des Knaben angetan, wie sie auf zeitgenössischen Bildnissen zu bewundern sind. Andere Quellen geben Chatterton als bedauernswerten, im Elend lebenden Sohn einer Näherin aus, während aus wieder anderen eher auf einen zynischen und hochnäsigen Jüngling geschlossen werden kann.

Jedenfalls soll er sich zuletzt als überflüssig empfunden haben. Der 11. Ausgabe der Encyclopædia Britannica von 1911 zufolge hatte er sich in seiner Dachkammer einen Trank mit Arsenik bereitet. Vorher habe er, was von seinen Manuskripten eben greifbar war, in kleinste Stücke gerissen. Möglicherweise hatte das der Autor des betreffenden Artikels auf einem 1856 von Henry Wallis geschaffenen Gemälde gesehen. Wie man vielleicht bestätigen wird, hat sich Chatterton bei Wallis derart wohlgefällig auf der schäbigen Liege hingestreckt, daß sich alle lebensmüden Kunstfreunde eigentlich nur nach einem Tütchen Arsenik sehnen können. In Wahrheit dürfte er über Stunden hinweg an Übelkeit, Krämpfen, Durchfall, inneren Blutungen, schweren Koliken gelitten haben. Meist stirbt der Vergiftete an Nieren- und Kreislauf-versagen – unter Umständen erst nach Tagen. Ein sachgemäßes möglichst schonendes Sichvergiften ist eine Kunst für sich, mindestens so schwer wie das Fälschen von Altertümern, und es steht zu befürchten, diese Kunst habe Chatterton nun nicht auch noch beherrscht.

Freilich gibt es auch in diesem Fall wieder ein paar wissenschaftlich angestrichene Legenden-AnkratzerInnen. So habe ein Team der University of Bristol aufgrund umfangreicher Durchforstung der vorhandenen Quellen den starken Verdacht, maßgebliche romantische Interpreten hätten Chattertons Situation und Ableben verzerrt dargestellt, meldet 2004 ein britisches Blatt.* Zum einen habe sich der junge Literat in London durchaus gut von Veröffentlichungen ernähren können; zum anderen sei sein angeblicher Selbstmord sehr wahrscheinlich ein Unfall gewesen. Fälscher Chatterton, ohnehin Opiumesser, habe wohl versehentlich eine falsche Dosis Arsen als Medizin gegen eine Geschlechtskrankheit eingenommen. Wie er sich letztere zugezogen habe, verrät Dr. Nick Groom, der Teamchef, natürlich nicht.

* Danielle Demetriou, »Reports of 18th century Romantic icon's suicide were 'greatly exaggerated'«, Independent, 26. August 2004: https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/books/news/reports-of-18th-century-romantic-icons-suicide-were-greatly-exaggerated-53318.html



Wieder bringt Brockhaus die Herzlosigkeit auf, einen viel zu frühen Tod mit Schweigen zu bedecken. Der franzö-sische Komponist Ernest Chausson (1855–99) stammte aus wohlhabendem Hause. Schüler von Massenet und Franck, schätzte er auch Wagner und führte in Paris einen begehrten Salon für KünstlerInnen aller Art. Zu seinen Freunden zählte Debussy. Sein Poème für Violine und Orchester, op. 25, wohl das bekannteste Werk Chaussons, schrieb er für den gefeierten belgischen Geiger Eugène Ysaye, der damit bei seinen Konzertreisen zuverlässig Beifall einheimste. Wenige Jahre nach der Vollendung dieser »Sinfonischen Dichtung«, im Juni 1899, wurde Chausson wahrscheinlich seine Radfahrlust, möglicherweise auch seine angebliche Neigung zu »Depressionen« zum Verhängnis. Der 44 Jahre alte vollbärtige, dafür stirnblanke Gatte der deutlich jüngeren Pianistin Jeanne Escudier und fünfache Vater radelte während einer Sommerfrische in der Kleinstadt Limay (rund 50 Kilometer westlich von Paris), wo er ein Haus besaß, eine abschüssige Straße hinab, prallte gegen eine Mauer oder Hauswand und war auf der Stelle tot. Der Vorfall ist ungeklärt, die Selbstmordtheorie hat wenig Anhang. Die junge Witwe kam noch auf über 70.

Auch Chaussons Lehrer César Franck (1822–90) hatte Unfallpech, wenn auch erst mit 67. Er zog sich im Sommer 1890, ein Jahr nach der Uraufführung seiner D-Moll-Sinfonie, in Paris bei einem Zusammenstoß seiner Pferdedroschke mit einem Pferdeomnibus Kopf- und Fußverletzungen zu, deren Folgen zumindest dazu beigetragen haben dürften, daß er wenige Monate später, im November, einer Brustfellentzündung nichts mehr entgegen zu setzen hatte. Er starb in seinem Haus am Boulevard du Montparnasse. Nebenbei wiegt die angeführte Sinfonie meines Erachtens keine gute Sonate auf, vor allem nicht Francks eigene Sonate in A-Dur für Violine (oder Flöte) und Klavier von 1886.



Das fragwürdige Staatsgebilde Chile ähnelt einem 4.300 Kilometer langen Schlauch, der mehrere Klimazonen auszuhalten hat. Im Norden läuft er, so Brockhaus, in einer »extrem trockenen subtropischen« Wüstengegend, im Süden in einem ganzjährig eingeschalteten Kühlschrank namens »Feuerland« aus. Hier hat sich der Tourist bereits vor verärgerten Eisbären zu hüten. Die Hauptstadt des Schlauches, Santiago de Chile, liegt ungefähr in der Mitte und beherbergt, als Ballungsraum, allein schon die Hälfte der 19 Millionen Chilenen. Einer von ihnen war im Jahr 2012 ein hübscher junge Mann aus San Bernardo bei Santiago de Chile, Daniel Zamudio Vera. Er arbeitete als Verkäufer in einem chinesischen Bekleidungsgeschäft. Er war homosexuell gestimmt und machte daraus keinen Hehl, soweit ich weiß. Sein Traum war es, Theaterwissenschaft zu studieren und diese Ausbildung als Dressman zu finanzieren. Aber dazu kam es nicht mehr, weil er Anfang März 2012 das Unglück hatte, bei einem nächtlichen Streifzug durch den hauptstädtischen Park San Borjia auf vier Neonazis im Alter zwischen 19 bis 26 Jahren zu stoßen. Nach den polizeilichen Ermittlungen folterten sie ihr Opfer geschlagene sechs Stunden lang. Eine Polizeistreife fand den schwerverletzten Zamudio gegen Morgen und brachte ihn ins Krankenhaus. Er wies unter anderem ein verstümmeltes Ohr, zwei gebrochene Beine und Brandwunden an mehreren Körperstellen auf. Am Monatsende erlag der 24jährige vor allem seinen inneren Verletzungen. Die Untat erregte in ganz Lateinamerika viel Aufsehen und Entsetzen. Sie beschleunigte auch die Verabschiedung eines chilenischen Gesetzes gegen aufs Geschlecht zielende Diskriminierung. Die mutmaßlichen Täter, noch im März gefaßt, wurden 2013 zu hohen Haftstrafen verurteilt.



Vom britischen Kunsttischler Thomas Chippendale (1718–79) sehen wir, fotografiert, einen Armlehnstuhl, der vor allem durch seinen farbenfrohen, geblümten Bezug besticht. Wenn einer darin Platz nähme, wäre der Wirkung dieses laut Brockhaus »gewirkten« Bezuges natürlich aufgehoben. Steckte er überdies in einem geblümten Kleid von anderer Farbgebung, käme es womöglich zu einem Gemetzel, weil sich die beiden Stoffe bissen. Aber in den meisten Fällen von Sitzmöbeln, die sich Entwürfen prominenter Hand verdanken, ist sowieso nicht daran gedacht, sie zum Sitzen zu benutzen. Sie sollen bestaunt werden: weil sie eben aus dem Hause Chippendale oder aus dem Bauhaus stammen. Nimmt man trotzdem einmal für länger darin Platz, steht man mit Rückenschmerzen wieder auf. Bei dem fotografierten Armlehnstuhl zum Beispiel fehlt im stumpfen Winkel zwischen Sitzfläche und Rückenlehne jede Andeutung einer nierenschonenden Vorwölbung. Aber Chippendale war eben Tischler, kein Orthopäde.

Von diesem Gesichtspunkt des Eindruckschindens einmal abgesehen, kennt man das Mobiliar als Thermometer, das Besuchern den Charakter des jeweiligen Möblierten verrät. So läßt sich die betrübliche Verfassung mancher anarchistischen Kommune bereits am Zustand ihrer Stühle und Polstermöbel ablesen. Jeder Stuhl wackelt; aus jedem zweiten Sessel quellen Innereien; nehmen drei Leute gleichzeitig auf einem Sofa Platz, sind sie in der Staubwolke nicht mehr zu sehen. Als Wracks vom Sperrmüll gekommen, kümmern diese Sitzmöbel gerade noch so viele Jahre vor sich hin, wie die anarchistische Kommune hält. Vor rund 20 Jahren, als ich selber verschiedenen Kommunen angehörte, war ich eine Zeitlang bemüht, aus ähnlichen Objekten, die ich sorgfältig instandsetzte und einheitlich bezog, Sitz- oder Tischgruppen zu schaffen, doch es dauerte nicht lang, bis sie in alle Winde oder Zimmer verstreut waren. Ich mußte meiner Berufsehre verbieten, sich gekränkt zu fühlen.

Nebenbei bemerkt, war meine späte Berufswahl ohnehin nur eine Notlösung gewesen. Als abgedanktes Künstlermodell um 1990 nach Kassel heimgekehrt, lag ich teils meiner Mutter auf der Tasche, teils trug ich Zeitungen aus. Dann schlug mir ein Freund vor, irgendeine vom Arbeitsamt geförderte Umschulung zu beantragen. Da im Berufsbildungszentrum der Handwerkskammer gerade jemand abgesprungen war, der den Gesellenbrief als Raumausstatter angestrebt hatte, sprang ich dort ein. Und siehe da – Teppichböden, Tapeten und Gardinen interessierten mich nicht sonderlich, doch dem Polstern konnte ich auf Anhieb Liebreiz abgewinnen. Es war ein sinnliches Vergnügen, das den vielseitigen und ästhetisch gestimmten Menschen herausfordert. Meine Ausbilder oder späteren Chefs hielten mich sogar für bemerkenswert begabt und förderten mich entsprechend. Das muß ich ihnen also lassen, obwohl wir ansonsten leicht aneinander gerieten und uns um 2000 endgültig entzweiten. Das Handwerk ist eine, die Befehlsgewalt eine andere Sache.



Brockhaus hat die Gelegenheit versäumt, allen FernsehsprecherInnen ein gutes, nacheifernswertes Beispiel zu geben. Die studierte US-Journalistin aus Ohio Christine Chubbuck (1944–74) war zuletzt, bis zu ihrem Tod, als Reporterin und Moderatorin in Sarasota, Florida, beim Fernsehsender WXLT-TV tätig, auch Channel 40 genannt. In ihrer Vormittagssendung Suncoast Digest des 15. Juli 1974, einem Montag, faßte die 29jährige einen folgenschweren, offensichtlich halb spontanen Entschluß. Als die Filmrolle mit dem Bericht über eine Schießerei in einem Restaurant des örtlichen Flughafens klemmte, schaltete Kamerafrau Shay Taylor zur Moderatorin der Show zurück. Daraufhin teilte Chubbuck ihrem Publikum schlagfertig mit, gemäß der Tradition des Senders, sie stets mit den frischsten Blut- und Ekelvorfällen »in living color« zu versorgen, sähen die Damen und Herren zu Hause nun alternativ einen Selbstmordversuch. Schon setzte sie sich, laut Sarasota Herald-Tribune vom nächsten Tage, den Lauf einer Pistole hinters rechte Ohr, drückte ab und fiel, von ihrem wehenden langen, schwarzen Haar begleitet, mit dem Oberkörper vornüber, also gleichsam dem Fernsehpublikum in den Schoß. Dann sorgte der geistesgegenwärtige Technische Leiter dafür, daß auch der Bildschirm schwarz wurde. Aber von dem vorausgehenden Knall dürften noch alle Teelöffel in Floridas Küchen gezittert haben. Chubbuck hatte die Pistole aus einer unter ihrem Pult verborgenen Einkaufstasche gezogen. Nun tobten die Telefone des Senders. Chubbuck starb noch am selben Tag im Krankenhaus.

In den zurückliegenden Wochen hatte sie in Überein-stimmung mit ihren Vorgesetzten an einer Sendung zum Thema Selbstmord gearbeitet und sich in diesem Rahmen beiläufig beim Sheriff nach der sichersten Methode des Sicherschießens erkundigt. Angeblich hatte sie seit Jahren mit »Depressionen« zu kämpfen und war deshalb auch schon häufig in Behandlung gewesen. Ihr jüngerer Bruder Greg sprach oder spricht* von »bipolar disorder«. Sie sei Perfektionistin mit makaberem Humor gewesen; vielseitig begabt, jedoch unstet; viel bewundert, aber mit Selbst-zweifeln geschlagen. Die attraktive Frau habe nicht verhehlt, noch immer »Jungfrau« zu sein, doch entspre-chende Annäherungsversuche zerstoben. Wahrscheinlich litt sie an diesem Mangel an engen Freundschaften am meisten. Dem Bruder zufolge bastelte sie Kinderpuppen, von denen sie immer welche mitsichführte. Auch in der Einkaufstasche mit der Pistole hätten sich zwei Puppen gefunden.

Horatia Harrod** glaubt, die »Krankengeschichte« von Chubbuck werde meist überbewertet. Man gehe dabei den Vorurteilen der zeitgenössischen Quellen auf den Leim. Dagegen sprächen Chubbucks letzte Worte (vor der Kamera) deutlich von ihrem Unbehagen an dem Seifenoper-Kurs ihres Senders. Einige Arbeiten von ihr waren zugunsten von Geschichten gekippt worden, die mehr »Sensation« hatten. Selbst ihr Bruder Greg habe bestätigt, daß Chubbuck diese Tendenz im US-Journalismus verabscheute. Ich wage hier nicht zu richten, spreche mich aber im Sinne meiner Eröffnung unbedingt dafür aus, Chubbucks mutige Tat insbesondere kerngesunden heutigen Nachrichtensprechern von Fernsehsendern zur Nachahmung ans Herz zu legen. Das Ekelhafteste an diesen Sendungen sind ja keineswegs die Bilder und Nachrichten, von denen Chubbuck sprach, vielmehr ist es die gefolgstreue, karrieredienliche Ungerührtheit, mit der diese Bilder und Nachrichten, etwa von der Raumfährenabschußrampe auf Kap Canaveral, Florida, oder aus dem zertrümmerten, qualmenden Gazastreifen, von der einen oder anderen aufpolierten Knechtsvisage dargeboten werden. Die adretten TV-Ansage-Puppen meiner Kindheit bildeten in dieser Hinsicht sicherlich keine Ausnahme, aber womöglich verstanden sie sich lediglich auf den Anschein von Ungerührtheit. Ihre heutigen Kollegen dagegen sind abgestumpft, wenn ich verschiedenen Gewährsleuten trauen darf. Hier verfängt keine Umschulung mehr. Schickt sie nach Feuerland auf die Eisbärenjagd, allerdings ohne Maschinenpistolen.

* laut Christine Pelisek in People, 11. Februar 2016: http://people.com/crime/christine-chubbuck-brother-remembers-journalist-who-killed-herself-on-air/
** im Telegraph, 2. Oktober 2016: http://www.telegraph.co.uk/films/2016/10/02/death-by-television-why-did-christine-chubbock-commit-suicide-li/




Beim US-Magier Chung Ling Soo (1861–1918) war sicherlich keine Absicht, höchstens Mutwillen im Spiel. Brockhaus übergeht den berühmten getürkten Chinesen. Einst nur ein schnöder Schlosser namens William E. Robinson, hatte sich der Zauberkünstler von der Ostküste um 1900 kurzerhand auf die Asienwelle seiner Zeit geschwungen und damit, als Wunder wirkender »Chinese«, Karriere gemacht. Knapp 20 Jahre darauf, inzwischen fast 57 Jahre alt, starb er in London im Dienst, weil er beim sogenannten Kugelfang auf der Bühne des Wood Green Empire Theaters versehentlich tatsächlich durch die Brust geschossen wurde. Wie die HerausgeberInnen Gisela und Dietmar Winkler im Sammelband Das große Hokuspokus* dokumentieren**, erkannte die gerichtliche Untersuchung, die sich auch auf Fachleute Scotland Yards stützte, entgegen zahlreichen Mord- und Selbstmordgerüchten auf Unglücksfall. Der Magier pflegte die vom Publikum gezeichnete Kugel mit Hilfe eines doppelbödigen Bechers unbemerkt an sich zu nehmen und zu vertauschen, ehe das Gewehr geladen wurde. So war er imstande vorzugeben, er habe die aus dem Gewehr abgefeuerte Kugel mit einem Steingutteller vor seiner Brust »abgefangen« – falls die Nummer klappte. Diesesmal jedoch versagte die Umleitvorrichtung im geschickt präparierten Gewehr, wie die Untersuchung ergab. Während normalerweise beim Abschuß lediglich Pulver explodierte, ohne Schaden anzurichten, wurde nun aufgrund einer durchgerosteten Schraubenverbindung tatsächlich jene eingetauschte Kugel abgefeuert, mit dem das Gewehr vor den gebannten Augen des Publikums geladen worden war. Sie zerriß Robinson alias Soo die Lunge. Er starb am Morgen nach der abendlichen Vorstellung (vom Samstag, den 23. März 1918) in einem Londoner Krankenhaus. Den haarsträubenden Grund seines Todes erfuhr er nicht mehr.

* Ostberlin 1981
** Will Dexter: The Riddle of Chung Ling Soo, 1955/1973

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