Dienstag, 5. Dezember 2023
Risse im Brockhaus 3

Ariane heißen die Trägerraketen, die seit gut 40 Jahren in immer neuen Ausführungen von der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) ins All geschickt werden. Es gab »natürlich« schon einige Fehlstarts und Explosionen, wie auch Brockhaus nicht verschweigt. Immerhin scheinen dabei keine toten Flieger anzufallen, nur verpulverte Nutzlasten, etwa Satelliten, von den Geldern nicht zu schweigen. Allein die jeweilige Rakete soll mindestens 150 Millionen Dollar kosten, und die Lasten und die Starts sind auch nicht ganz umsonst zu haben. Wir dürfen gespannt sein, was aus diesem Geldverbrennungsprojekt wird, wenn es, möglicherweise schon im kommenden Jahrzehnt, gar keine sogenannte Europäische Gemeinschaft mehr geben wird.

1986, gerade noch rechtzeitig vor Band 2, hätten die Experten in Kourou, Französisch-Guayana, eine Ariane wegen eines Fehlers im Antriebssystem »wenige Minuten nach dem Start gesprengt«, behauptet Brockhaus. Den Huckepack-Fernmeldesatelliten (die sogenannte Nutzlast) ebenfalls. Wer großzügig ist, kann dieser Mitteilung einen Anflug von Bedenken gegen Raumfahrtprogramme entnehmen. 10 Jahre darauf stürzte die russische Sonde Mars 96 ab, was wiederum etwas später zu einer Schimpf-kanonade meines Gudensberger Zeitungszustellers Bott führte, in Geschichte Nr. 8. Dummerweise hatte diese »Sonde« auch etwas Plutonium an Bord. Dann stellten sich Fehlzündungen – und Lähmungen in der irdischen Leitstelle ein, sodaß sich die Sonde nicht mehr lenken ließ. Presseberichte hielten Bott und andere, darunter etliche AustralierInnen, in Angst und Schrecken: Wo wird sie niedergehen? Sie tat es schließlich zumindest teilweise im Pazifik bei Chile. Wikipedia versichert jedoch, größere Teile, darunter die mit dem Plutonium, seien bereits vorher im Orbit verglüht. Da war Bott Verschwörungs-theoretikern aufgesessen. Na, im Orbit ist schon bald so viel gut aufgehoben wie in unseren Weltmeeren.

2016 runzelte ich selber über zwei Ossietzky-Artikel die Stirn. Der erste* feierte »eine späte Würdigung für eine einmalige Frau, die einzige in der Geschichte der Weltraumforschung, die vier Generationen von Raumfahrzeugen maßgeblich mitgestaltet hat«. Die Bürgerin der SU Galina Balaschowa war nämlich eine Architektin und Designerin gewesen, die sich auf Orbiter geschmissen hatte, hielten die sowjetischen Kommunisten doch kräftig bei der Eroberung des Weltraums mit. Ein Herr Meuser verfaßte dann endlich ein Buch über Balaschowa, das Kollege Altenburg offensichtlich wie im Flug gelesen und genossen hat. Dabei hatte dieser Kollege, Autor des mehr oder weniger altkommunistischen Blättchens mit dem feuerroten Umschlag, das Glück, von nicht einem Funken kritischen Verstandes belästigt zu werden.

Ähnlich mutete mich der zweite** Fall an. Hier macht uns der Autor mit den fesselnden Versuchen der bekannten TeilchenbeschleunigerInnen des Genfer CERNs bekannt, das Geheimnis der sogenannten Antimaterie zu lüften – die man zum Zwecke der Erforschung allerdings erst zu erzeugen hat, damit sie wenigstens ein paar Minuten lang am »Leben« gehalten werden kann. Die Frage, warum das gut und wichtig sein könnte, fällt Kollege Orlick nicht im Traum ein. Die gewaltigen Kosten der Teilchen-Spielereien unserer AtomphysikerInnen klammert er konsequent aus. Zwar erwähnt er Ängste vor Gefahren oder Gespenstern, die möglicherweise aus diesen Experimenten wie aus gewissen Reagenzgläsern erwüchsen, macht sie aber gleich lächerlich. Die auf die enorme Sprengkraft von Antimaterie gerichteten Begierden von Militärs hält er für abwegig, weil die dazu erforderliche Menge selbst in »Milliarden von Jahren« gar nicht herstellbar sei. Das ist ohne Zweifel beruhigend. Orlick weiß genau, wie sich Teilchen, die es eigentlich noch gar nicht gibt, verhalten werden. Er liebt das Spiel mit dem Feuer, wie so viele Forscher- oder KünstlerInnen, siehe Genossin Balaschowa aus dem Reiche Lenins und Stalins, Jahrgang 1931. Sie soll inzwischen die 90 überschritten haben. Abends sitzt sie in ihrem Schaukelstuhl und tätschelt die kleine Nachbildung der Rakete, die ein hoher Regierungsvertreter ihr verehrt hat.

Auf die Ideologie scheint es ohnehin nicht anzukommen. Der große gemeinsame Nenner aller Technokraten in West und Ost ist der inbrünstige Glaube an Fortschritt und der entsprechende Machbarkeitswahn. Mit gewissen »markschreierischen« Presseberichten über die faustischen Experimente in Genf konfrontiert, habe der Physiker Walter Oelert »lapidar«, so Orlick sichtlich erfreut, entgegnet: »Was wir geschaffen haben, ist das erste Element im Periodensystem der Antielemente. Wir haben gezeigt, dass es Antiatome wirklich gibt.« Hier leuchtet das Credo aller Technokraten durch, das ich neulich schon in meinen Nasen-Erwägungen zur Raumfahrt (unter »Krieger, Johann«) aufspießte: Was immer wir machen, es beweist, es ist machbar. Was und mit welchem Ziel, ist dabei scheißegal. Gott war schließlich auch kein Moralist, wie der Zustand der Welt in den vergangenen zwei Millionen Jahren bezeugt.

* Herbert Altenburg, »Ein Leben unter Sternen«, Ossietzky 7/2016
** Manfred Orlick, »Vor zwanzig Jahren: Antimaterie ante portas«, Ossietzky 2/2016




Ein ähnliches Vertrauen auf Gott und dessen Schöpfung bekundete (um 620 v.Chr.) der »griechische Dichter und Musiker« Arion, den Brockhaus als »Wegbereiter der Tragödie« preist. Über ihn gibt es eine beliebte Legende. Nach dem Sieg in einem Sängerwettkampf auf Sizilien mit Prämien überhäuft, stellten ihn habgierige, neidische Schiffer auf der Heimfahrt vor die Wahl, über Bord zu springen oder ermordet zu werden. Allerdings durfte er noch ein letztes Lied singen. Das lockte prompt ein Rudel Delphine an – und Arion sprang. Bei Albrecht Dürer landete er (1514) mitsamt seinem Sack voll Wertsachen breitbeinig genau auf dem Rücken des prächtigsten Delphins, mit dem er nun also gen Korinth ritt. Dürer stattete den Retter sogar mit zwei steil emporragenden Stoßzähnen aus. Ob der Künstler den schwulen Zug seines Aquarells beabsichtigte, ist mir nicht bekannt.



Die russische Großstadt Armawir am Kaukasus ist heute knapp so groß wie Kassel. Brockhaus nennt sie einen »Bahnknoten«. Arion regt mich nun an, einen Druckfehler einzuschmuggeln, außerdem lyrische Mittel anzuwenden.

Von Armawir, der Schönen am Kuban, / die man meist als Bahnknoten anpreist, / wäre ich noch stärker angetan, / hielte sie für Freier Banknoten bereit.



Brockhaus kennt 11 Arnolde, darunter den englischen »Dichter und Kritiker« Matthew Arnold (1822–88), der zeitweise, in Oxford, sogar »Professor für Dichtung« gewesen sein soll. Dagegen verheimlicht uns das Universallexikon einen Erfurter Juristen, Philosophen, Privatdozenten, Organisten, Klavierlehrer und (vor allem) Schriftsteller, Ignaz Ferdinand Arnold (1774–1812) mit unvollständigem Namen. Heute hätte der Sohn eines kurfürstlichen Oberkämmerers sein dauerhaftes gutes Auskommen als Autor von Heftchenromanen gehabt. Seine überall »enorm« genannte Produktivität brachte nämlich im Löwenanteil keineswegs musikwissenschaft-liche oder lokalhistorische Arbeiten hervor, vielmehr Räuber-, Schauer-, Gespenster- und Liebespistolen. Damals jedoch ließen ihn etliche teils gesellschaftlich, teils persönlich bedingte Widrigkeiten stets in Geldnöten schweben, ja schließlich, mit 38 Jahren, sogar »im eigentlichen Sinne verhungern«, wie es laut Thomas Kaminski*, etwas übertrieben, zwei Jahre nach Arnolds Tod in einem amtlichen Bericht heißt. Das fing schon mit den Schulden seines überraschend gestorbenen Vaters an, die Arnold abzutragen hatte, und hörte nicht mit den Winkelzügen der Verleger auf, die es schon damals liebten, ihre Autoren dreist auszunutzen und übers Ohr zu hauen. Ferner hagelte es Verleumdungsklagen – ziemlich unabhängig von dem lästigen Umstand, daß Erfurt von 1806–14 von den Franzosen beziehungsweise deren prunkliebendem Kaiser Napoleon besetzt war.

Im übrigen hatte der vielbegabte und vielschreibende Thüringer mit seinem Naturell zu kämpfen, das sich leider von heutiger Nachwelt, wie es aussieht, nur noch andeutungsweise erhellen läßt. Von seiner Kinderstube wissen wir gar nichts. Ein einschneidendes Erlebnis dürfte Arnolds Hochzeit mit Maria Anna, Tochter eines Klostervorstehers, im Herbst 18oo gewesen sein. Bald darauf müsse es zu einem »heftigen Nervenzusammen-bruch« und einem vorübergehenden Aufenthalt in einer Irrenanstalt gekommen sein, schreibt Kaminski – warum, schreibt er nicht. Man kann sich natürlich aufgrund eigener Erfahrungen mit jähen sexuellen Erfordernissen und nicht minder jähem Verlust der junggesellenhaften Selbstherrlichkeit seinen Reim darauf machen. In der Gemeinde der Herrenhuter im nahen Neudietendorf habe sich der von Hause aus fromme, ansonsten eher aufklärerisch gestimmte Doktor der Philosophie allmählich wieder erholt und erneut zum Federkiel gegriffen. Schließlich kostet Krankheit Geld; auch Arnolds Mutter war bereits pflegebedürftig. Dazu kommen zwei von Anna Maria geborene Kinder. Zu allem Unglück soll die schwer geprüfte Gattin, nach Constantin Beyers Worten, auch noch von einem »unheilbaren Krebs im Gesichte« befallen worden sein. Das riecht schon stark nach Psychosomatik.

Für Kaminski läßt sich Arnolds kräfteraubende Vielschreiberei nicht nur mit dessen drückenden Geldsorgen, sondern auch mit dessen Entschlossenheit erklären, diesem Elend gerade so eingehend wie möglich zu entfliehen. Aus den Tagebüchern des erwähnten Stadt- und Zeitgenossen Arnolds, Constantin Beyer, zitiert er dazu: »Ein Glück wars für ihn, daß seine Phantasiespiele, die er sich schuf, ihn das in der Chimärenwelt genießen ließen, was er in der wirklichen nicht genoß und vermöge seiner beschränkten Lage nicht genießen konnte. In seinen Romanen brachte er so oft es nur sein konnte, eine Schilderung und bis aufs kleinste Beiessen, keine Souce und keinen Salat vergaß [er] (…) Auch ließ er alle hübschen Mädchen aus Liebe zu seiner Person fast toll werden, denn in seinen mehrsten Romanen spielt ER die Hauptrolle …«

Im Oktober 1812 erlag der eingebildete Frauenschwarm, je nach Quelle, einem »bösartigen Nervenfieber« oder einem »nervösen Gallenfieber«. Das zweite führt die Witwe in einer Anzeige auf, mit der sie um Sach- oder Geldspenden bittet. Was aus Anna Maria und den beiden Kindern dann noch wurde, wird mir vermutlich niemand verraten können. Zum Verstorbenen und dessen Auszehrung steuert Beyer den Gesichtspunkt des Grolls bei, der bekanntlich ähnlich nagend oder bohrend wie Hunger sein kann. Arnold hatte erst vor wenigen Wochen, aber mit viel Mühen den Posten eines Sekretärs der Erfurter Universität ergattert. Ein Abt Muth soll ihm dabei viele Knüppel zwischen die Beine geworfen haben. Just der Ärger darüber habe Arnold in die Krankheit gestürzt, »von der er nicht wieder aufstand«.

* Nachwort zum Reprint von Arnolds Schrift Erfurt in seinem höchsten Glanze während der Monate September und Oktober 1808, einem streckenweise subversiven Bericht vom sogenannten Erfurter Fürstenkongreß. Hrsg. Franz-Ulrich Jestädt und Horst Moritz, Erfurt und Waltershausen 2008.



Arthur I. (1187–1203) hatte es zwar schon zum Herzog von Bretagne gebracht, doch er mußte, soweit wir wissen, auch schon als Teenager wieder abtreten, nämlich in den Sarg. Da war er wohl ungefähr 15 Jahre alt. Im Grunde hatte seine Pechsträhne bereits vor seiner Geburt begonnen. Er lernte seinen Vater, den Herzog der Bretagne Gottfried II., gar nicht kennen, da der Ärmste kurz vor der Niederkunft seiner Gattin bei einem Turnier in Paris von einem Pferd zertreten worden war. Dann geriet der Sprößling in die ränke- und verlustreiche englisch-französische Balgerei um die Macht. Die Einzelheiten erspare ich uns. Was Arthurs frühes Ende angeht, hatte ihn Johann Ohneland um den englischen Thron betrogen, wie jedenfalls Arthurs Mutter Konstanze und eine Menge französischer Adeliger meinten. So belehnte Konstanze ihren Sprößling, unter Rückendeckung durch Frankreichs König Philipp II. August, mit weiteren französischen Herzogtümern und nötigte ihn, sich im Sommer 1202 an die Spitze eines Heeres zu setzen, um diese Belehnung, zunächst in Poitou, auch wirksam werden zu lassen. König Johann Ohneland klebte jedoch insofern nicht an seinem englischem Thron, als er Arthur bei dessen Belagerung von Mirebeau (wo Johanns Mutter Eleonore Hof führte) übertölpelte und gefangen nahm. 1203 von William de Braose nach Rouen überführt und dort eingekerkert, verschwand der umstrittene edle Knabe nahezu spurlos in der Versenkung.

Die HistorikerInnen gehen heute zumeist davon aus, Johann habe ihn töten und verscharren lassen, wie es auch schon, mit einem »wahrscheinlich« verziert, im Brockhaus steht. Die zeitgenössischen Margam Annals wollen es genauer wissen: der betrunkene und »vom Teufel besessene« Johann habe den Arthur am Gründonnerstag in der Burg von Rouen eigenhändig erschlagen und seinen Leichnam, mit einem Stein beschwert, in die Seine geworfen. Das wäre dann noch nicht der letzte Racheakt des eisernen Johann gewesen. Da William de Braose nach Arthurs Verschwinden stark in Johanns Gunst gestiegen war, wurden die beiden der Komplizenschaft verdächtigt, und in der Tat klagte Williams Frau Maud den König Johann viele Jahre später im Rahmen eines Streites des Mordes an Arthur an. Darauf wurde sie mitsamt ihrem ältesten Sohn ins Gefängnis geworfen, wo sie verhungerten, während sich Schurke William dünne machen konnte.

Wie so oft, fanden auch diese mit manchem Herzblut verbundenen Schauergeschichten ihren malerischen und literarischen Nachhall, unter anderem in Shakespeares Drama König Johann, worin der Knabe Arthur erst auf der Flucht aus dem Kerker sterben muß. Friedrich Dürrenmatt machte 1968 (Uraufführung in Basel) eine Art in herrschenden Kreisen spielende Gangsterkomödie aus Shakespeares Werk, die ich leider nicht kenne. Ihre Moral soll sein, der kleine Mann sei immer der Dumme. Diese Befürchtung kenne ich allerdings.



Vielleicht hätte Brockhaus den Adelssproß besser gestrichen, um dafür Platz für ein weitgehend unbekanntes Mordopfer aus Bayern zu haben, das nicht viel älter als Arthur, aber offenbar keine Prinzessin war. Sonst fände man etwas mehr über die junge Frau. Einen Führerschein dürfte die 25jährige Maria-Luise Artmeier († 1974) aus München-Obermenzing jedenfalls besessen haben. Laut einer Auflistung* ungeklärter Münchener Mordfälle der Süddeutschen Zeitung schleuderte im Juni 1974 gegen Mitternacht ein roter Ford Escort über die Schleißheimer Straße, erfaßte zwei Fußgängerinnen und blieb schließlich in einem Trambahnhochgleis hängen. Am Steuer habe die blutüberströmte Obermenzingerin gesessen, sterbend. Ihr Mörder – falls es ein Mann war – hatte ihr ein Messer ins Herz gestoßen. »Was sich vorher abgespielt hat, kann nicht mehr geklärt werden. Die Obermenzingerin war mit Freunden beim Essen, stieg dann in ihr Auto an der Wertherstraße. Dort muss ihr ihr Mörder aufgelauert haben und in den Wagen gestiegen sein.« Das wars. Vor allem über die Lebenssituation des Opfers erfährt man im gesamten Internet kein Wort. Auch die Bemühungen der Kripo bleiben völlig im Dunkeln. Im Sommer 2024 werden vermutlich wieder die bekannten Häppchen ausgestreut.

* 28. Dezember 2013: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/ungeloeste-mordfaelle-missbraucht-und-erdrosselt-1.1851983



Brockhaus kennt einen zionistisch gestimmten hebräischen Schriftsteller namens Ascher Ginzberg, Deckname Achad Haam, der um 1900 wirkte. Schon ein Sohn des Erzvaters Jakob soll Ascher gehießen haben. Mir war freilich um 2000, als ich in der nordhessischen Kreisstadt Korbach wohnte, die dortige Altstadtgasse Ascher lieber. Im Ascher, der auf knapp 300 Meter längs der alten inneren Stadtmauer verlief, hätte ich nur zu gern Adresse gehabt. Die in grammatischer Hinsicht männliche Gasse war ruhig und romantisch. Laut dem Nordhessen Frank Löwenstein* hat dieser seltsame Straßenname weder etwas mit einem Aschenbecher noch mit dem verheerenden Stadtbrand von 1536 zu tun, ist er doch bereits in etwas älteren Urkunden zu finden. Löwenstein bietet noch einen möglich Bezug zu Sumpf- und Gemeindeland, dagegen nicht zu den Juden an, die es auch in Korbach immer gab, jedenfalls bis zu einer gewissen »Reichskristallnacht« des Jahres 1938, wo auch die dortige, unterhalb der Kilianskirche gelegene Synagoge in Flammen aufging. Wie es aussieht, hat die Herkunft des seltsamen Straßennamens bislang als ungeklärt zu gelten.

Das seltsamste Haus des Aschers trägt die Nummer 14. Man hatte im Jahr 1734 ein Steinhaus an den Roten Turm der Stadtmauer angebaut, um ein schönes Amtsgefängnis zu gewinnen. Später, ab 1860, wurde dieses Gebäude dann zum Wohnen freigegeben, wobei es bis heute geblieben ist. Der Turm wurde bei Umbauten zum Teil abgetragen. Dieses Domizil wäre aber nichts für mich gewesen. Im einstigen Kerker hatten soundsoviele angebliche Schwerverbrecher vor ihrer Hinrichtung gezittert. War der festgesetzte Tag, dem stets eine Menge schaulustiger BürgerInnen entgegen fieberten, gekommen, hißte der Stadtknecht auf dem ehemaligen Wehrturm die rote, die Blutfahne nämlich. Daher bis heute: Ascher 14, Roter Turm.

* https://seite119.de/Ascher_Korbach.html



Offensichtlich hat Brockhaus die rotgrünen Zeichen der Zeit 1987 noch nicht erkannt. Er findet nichts dabei, die systematische Selbstvergiftung vieler Pflanzen durch »lichtabhängige Kohlenstoff-Assimilation« zu verharmlosen. Sie liefere die für heterotrophe Organismen notwendigen energiereichen Verbindungen. Man spricht auch von Photosynthese. »Die bei diesen Prozessen stattfindende Spaltung des Wassers setzt molekularen Sauerstoff (O²) frei, der zum größten Teil ausgeschieden wird und somit den durch die Atmung aller Organismen verbrauchten Sauerstoff in der Luft regeneriert.« Für Feldhasen und uns selber ist die Angelegenheit also nicht ganz so gefährlich. Näheres können Sie, bei Interesse, meinem Verkohlungs-Boogie entnehmen.



Daß Brockhaus die belgische Königin Astrid von Schweden (1905–35) mit nur sechs Zeilen abspeist, finde ich eigentlich in Ordnung, obwohl ihr Autounfall leider nur in Klammern erwähnt wird. Meine folgenden Ausführungen richten sich allerdings eher gegen ihren Gemahl Leopold III., der in Band 13 auch nur 13 Zeilen hat. Der liebe König war nämlich an jenem Autounfall stark beteiligt. Wie meine drei oder vier StammleserInnen bereits wissen, zählt die Bemerkung, der Fahrer oder die Fahrerin hätten »die Kontrolle über ihren Wagen verloren«, im Zusammenhang mit Autoverkehrsunfällen zu den Lieblingsformeln internationaler Berichterstattung, Lexika eingeschlossen. Sie bietet den angenehmen Vorteil, jede persönliche oder gesellschaftliche Verantwortlichkeit unauffällig ins Reich der Fabel oder noch besser: der Verschwörungstheorie zu verweisen. Dafür war eben »höhere Gewalt« im Spiel. Möglicherweise entstand die Formel 1933 im politischen Bereich, als das deutsche Volk durch einen dummen Zufall die Kontrolle über seinen Staat verlor. Jedenfalls werden in der Folge Legionen von hitz- und hohlköpfigen Fußballprofis, Popstars, PolitikerInnen, Millionenerben oder Throninhabern an ihren Lenkrädern vom Schicksal überwältigt. So auch im Falle Leopolds, mit dem Astrid seit 1926 verheiratet war. Er war der älteste Sohn des belgischen Königs Albert I., dessen Vorgänger wiederum der berüchtigte Leopold II. gewesen war, der von 1865 bis zu seinem Tod im Jahr 1909 unter anderem über beträchtliche Landstriche in Afrika geherrscht und dort unsägliches Leid angerichtet hatte.

Als Astrid im Sommer 1935 mit ihrem Gatten Urlaub in der Schweiz machte, war sie 29. Sie galt gleichermaßen als besonders anmutige, mütterliche, großherzige und »skandalfreie« Königin. Am 29. August unternahm das Herrscherpaar eine Autospazierfahrt »inkognito« ohne seine bis dahin drei Kinder. Ob die Königin zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem viertem Kind schwanger ging, ist in den Quellen umstritten. Kurz nach neun Uhr vormittags geschah es also: König Leopold »verlor« bei Küssnacht am Vierwaldstättersee auf der kurvenreichen Uferstraße »die Kontrolle« über seine eher gemächlich fahrende Nobelkarosse Packard 120-C, ein für damalige Verhältnisse so kräftiges wie schnittiges Cabriolet, das daraufhin die steile Uferböschung hinunterstürzte. Entgegen sonstiger Gepflogenheit hatte Leopold selbst gesteuert, nicht sein Chauffeur Pierre Devuxst. Dieser hatte im Fond des Wagens gesessen. Zudem war dem Packard noch ein Begleitfahrzeug gefolgt, vermutlich mit Leibwächtern besetzt. Während sowohl der 33 Jahre alte König wie sein Chauffeur mit geringen Verletzungen davonkamen, wurde Astrid, wohl beim Zusammenstoß des offenen Wagens mit einem Baum, auf die Böschung geschleudert. Sie starb noch am Unfallort an ihren schweren Kopfverletzungen.

Dem Hechtsprung des Packards folgte der mediale Steinschlag auf den Fuß. 2010 heißt es dazu in einem Gedenkartikel des Züricher Tages–Anzeigers: »Der Tod Astrids wurde zum Medienereignis. Am Nachmittag erschien ein Extrablatt der Luzerner Neuesten Nachrichten. Journalisten aus der ganzen Welt machten sich auf den Weg nach Küssnacht. Gleichzeitig flog Walter Mittelholzer exklusive Bilder von der Einsargung der Toten in einer gecharterten DC2 der Swissair zu einer internationalen Presseagentur nach London. Noch am Unfalltag verließ der Sarg per Bahn die Schweiz. In der Bahnhofshalle von Luzern drängten sich die Schaulustigen. Auf dem Bundeshaus standen die Fahnen auf Halbmast.«

Nun konnte sich die Traumhochzeit von 1926 als Traumbegräbnis vollenden. Den Bildjournalisten zuliebe wurde Astrids arg entstellter Kopf in Bandagen gelegt, ehe sie unter den Augen oder Ohren der Weltöffentlichkeit in die königliche Gruft der Liebfrauenkirche zu Laeken in Brüssel gesenkt wurde. Den Textjournalisten schärfte man neben der Schlagzeile Das Ende einer großen Liebe ein, Leopold habe seinen drei Kindern schon gleich nach dem Unfall streng verboten, zukünftig über ihre Mutter auch nur ein Wort zu verlieren – so gewaltig war sein Schmerz. Außerdem habe er verfügt, in ihrem Gemach dürfe nichts angerührt werden, während er Astrids blutverschmierten Rock in seinem eigenen Gemach verstaute. Den Unfallwagen hatte er Mitte September mit offensichtlicher Billigung der zuständigen Behörden an einer tiefen Stelle bei Meggenhorn im Vierwaldstättersee versenken lassen. Den würden Lenins eidgenössische Getreue nicht mehr in die Finger bekommen. Wer heutzutage auch nur einen Fernseher in den Vierwaldstättersee würfe, hätte mit der Todesstrafe zu rechnen – sofern er kein König oder Parlamentsabgeordneter wäre.

Immerhin war der Unfallwagen vor seiner Versenkung von Fachleuten der kantonalen Motorfahrzeugkontrolle untersucht worden. Danach wiesen Bremsen und Steuerung des 1.600 Kilogramm schweren Acht-Zylinder-Sportwagens keine Mängel auf. Dem Polizeibericht zufolge schieden auch schlechter Straßenzustand oder widrige Witterungsverhältnisse als Unfallursachen aus. Somit konnten die Spekulationen blühen wie in Küssnacht die Kletterrosen, zumal die vorhandenen Aussagen einer Wüste glichen. Nach einem Artikel Jost Auf der Maurs, der 2006 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist*, gab es mit dem Spenglergesellen Friedrich Krebser lediglich einen Augenzeugen. Dem Polizisten Adi Kälin gegenüber hatte Krebser die Geschwindigkeit des Packards auf 70 bis 80 Stundenkilometer geschätzt. Nach Krebsers Darstellung wies die mit Straßenkarte bewehrte Astrid gerade zum Berg Rigi, worauf auch Leopold dort hin blickte. In diesem Augenblick sei das rechte Vorderrad des Packards über den Bordstein ausgeschert. Der Fahrer müsse daraufhin Gas gegeben haben, da das linke Hinterrad beschleunigte. Der Wagen machte einen Satz, prallte gegen einen Birnbaum und schlidderte die Böschung hinunter Richtung Schilf. Kurz darauf sei das Begleitfahrzeug losgeprescht, um Hilfe zu holen. Es kehrte mit den beiden Ärzten Armin Jucker und Robert Steinegger zurück, die Astrids Kopfverletzungen begutachteten und ihren Tod feststellten.

Erstaunlicherweise ist bei Auf der Maur kein Wort der Stellungnahme zu bekommen, die man sich von Leopold selbst, seinem Chauffeur und seiner Begleitmannschaft erwartet hätte. Er teilt vielmehr mit, Polizist Adi Kälin habe damals am Unfallort notiert: »Die in Betracht kommenden Personen verweigerten jede Auskunft und die Mitteilung ihrer Personalien. Ein Herr in Chauffeur-uniform gab schließlich nach mehrmaliger Aufforderung seinen Pass ab. Er sagte nur: ‚Ich bin nicht selbst gefahren, sondern mein Herr.‘« Erst im Rathaus Küssnacht und im Beisein des belgischen Konsuls Von Moos, so Auf der Maur, habe sich eine Begleitperson Leopolds zu der Erklärung herbeigelassen, bei der Verunglückten handle es sich um die belgische Königin. »Aber da ist der Leichnam bereits eingesargt und auf dem Weg in die Villa Haslihorn.« Die lag bei Luzern. 2010 behauptet Grenzecho-Redakteur Gerd Zeimers, Leopold selber sei »zu den tragischen Ereignissen nie befragt« worden.** Aber tragisch waren sie jedenfalls. Schon wieder Höhere Gewalt.

Man kann sich nun aussuchen, ob damals lediglich die bekannte blaublütige Hochnäsigkeit waltete oder ob die Herrschaften aus Belgien womöglich irgendetwas zu verbergen hatten. Immerhin, das blutverschmierte Kleid war von Leopold gerettet worden, auch wenn er es wahrscheinlich niemals der Brüsseler Kriminalpolizei oder den dortigen Gerichtsmedizinern unter die Nase rieb. Der Schweizer Bundesrat war daneben untertänigst genug, die Gemeinde Küssnacht und einen weiteren privaten Eigentümer zu nötigen, dem Staat das Unfallgrundstück zu verkaufen, damit es dem trauernden König geschenkt werden könne. Der hatte sich nämlich in seinen glücklicherweise kaum verletzten Kopf gesetzt, am Unfall- oder Tatort eine Gedenkstätte zu errichten. Nach der Übereignung bestellte er bei etlichen belgischen Architekten und Künstlern eine Kapelle, die vermutlich unter den Kronen des Kitsches im Guinness Buch der Rekorde verzeichnet ist. Mit Rücksicht auf die bekannte Armut des belgischen Königshauses wurde sie zumindest teilweise mit Hilfe der belgischen Veteranenvereinigung finanziert, die dafür 50.000 Franken Spendengelder gesammelt hatte. Auf die Idee, das Geld in eine Gedenkstätte für auch nur eine dunkelhäutige Bewohnerin des kolonialen Kongo zu stecken, wären die Veteranen selbstverständlich nicht im Traum verfallen. Die Einweihung der Astrid-Kapelle fand im Sommer 1936 statt, parallel zur Berliner Olympiade. Weitere gewaltige Kosten entstanden um 1960, als die Kapelle versetzt wurde, weil sie sich, nach Ansicht diverser Behörden, als untragbares gefährliches Hindernis für den touristischen Auto- und Fußgängerverkehr herausgestellt hatte. Der Rubel muß rollen.

Nebenbei war Leopold III. 1951 von Baudouin auf dem Thron abgelöst worden, weil inzwischen zu vielen Belgiern die Rolle, die dessen Vater während der Besatzung Belgiens durch die deutschen Faschisten gespielt hatte, gar zu fragwürdig vorgekommen war. Überdies hatte Leopold III. während des Krieges den Fehler gemacht, sich erneut zu verheiraten, diesmal mit der »bürgerlichen« Flämin und Golferin Mary Lilian Baels. Damit hatte er für sehr viele BelgierInnen (vor allem die wallonisch gesinnten) einen unverzeihlichen Verrat an der »göttlichen« Astrid begangen. Dagegen scheinen sie ihm niemals krumm genommen zu haben, daß er sie ins Jenseits befördert hatte.

Eine Außenseiterposition unter den Begutachtern des Falles nimmt der Anthroposoph Fedor Kusmitsch ein, der seine Informationen 1935 aus erster Hand bezogen haben will. Auf dieser Grundlage behauptet er 2001 im Rahmen eines ausführlichen Artikels über die drohende, von »westlichen Logen« und Kapitalzentren wie Brüssel befehligte Neue Weltordnung, Leopold habe damals auch seinerseits »inoffiziell« einen befreundeten Mechaniker beauftragt, »den Wagen und insbesondere die Lenkung zu untersuchen. Der Experte reist in der Folge nach Brüssel, um Leopold Bericht zu erstatten: beide Lenkachsen seien angesägt gewesen, berichtet er Leopold. Dieser schweigt darüber und läßt das Wrack des Wagens an der tiefsten Stelle im Vierwaldstättersee versenken.« Aber nicht etwa, um den Packard nicht mehr sehen zu müssen oder um späteren Schnüfflern ein Schnippchen zu schlagen! Vielmehr wollte Leopold der Öffentlichkeit die schmerzliche Erkenntnis ersparen, bei dem angeblichen Unfall habe es sich »in Wirklichkeit«, so Kusmitsch, »um einen fehlgeschlagenen Königsmord« gehandelt.*** Dagegen beharrt Wikipedia bis zur Stunde auf jener verbreiteten Version mit der verlorenen Kontrolle, ohne uns diesbezüglich mit Einzelheiten zu belästigen.

Der ganze Rummel wiederholte sich 1997, wenn auch in größerer Dimension und Perfektion, nachdem »Lady Di« Diana Spencer (36), die sagenumwobene Ex-Gattin des britischen Thronfolgers Charles, mit ihrem steinreichen ägyptischen Liebhaber Dodi Al-Fayed (42) in einem Mercedes S 280 sitzend, vor den Tunnelpfeiler einer Pariser Stadtautobahn geprallt war. Spencers Begräbnis wurde weltweit von geschätzt 2,5 Milliarden Menschen verfolgt.

* »Der Tod der Schneekönigin«, NZZ, 27. August 2006: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleEEQE0-1.55902
** »Die Königin küsst die Nacht«, Grenzecho, 28. August 2010: https://www.grenzecho.net/art/zz/hier-und-heute/die-koenigin-kuesst-die-nacht
*** Fedor Kusmitsch in Nummer 21/22 der Symptomatologischen Illustrationen, Basel 2001, S. 11




Der laut Brockhaus »letzte Herrscher des Inkareiches vor der spanischen Eroberung durch Pizarro« Atahualpa (1502–33) wurde ein Opfer der weltumspannenden christlichen Niedertracht. Allerdings kann er selber auch nicht gerade ein Weichei gewesen sein, wie das Lexikon andeutet: Erst im Vorjahr habe er seinen Stiefbruder Huascar vom Thron des Teilreichs Cuzco (heute in den peruanischen Anden) gestürzt und das Reich so geeinigt. Bei dieser »Einigung« soll es, anderen Quellen zufolge, zu blutigen Säuberungen durch den siegreichen Bruder gekommen sein. Doch schon am Jahresende wurde dieser seinerseits von den Spaniern in Cajamarca überwältigt und eingesperrt. Nun machte er dem bekannt habgierigen Boß Francisco Pizarro den Vorschlag, ihn gegen Lösegeld laufen zu lassen. Er werde seine Untergebenen anweisen, seine Zelle bis über Mannshöhe mit goldenem oder silbernem, eingeschmolzenem Geschmeide zu füllen. Als Pizarro verblüfft zögerte, sicherte ihm Atahualpa zu, auch noch zwei andere Räume des Steinhauses, in dem er gefangensaß, vollpacken zu lassen. Darauf erklärte sich Pizarro mit dem Vorschlag einverstanden. Nach Monaten waren Tempel und Paläste auf Atahualpas Befehl geplün-dert und die Gefängnisräume mit eingeschmolzenen, unersetzlichen Gold- und Silberschmiedearbeiten vollgestopft. Es sollen knapp 18.000 Kilogramm gewesen sein. Doch die Spanier hielten ihr Versprechen nicht. Während sich Pizarro zwecks Berichterstattung an seinen König auf Heimreise begab, machten sie dem Gefangenen einen fadenscheinigen Prozeß und erwürgten ihn (Ende Juli 1533) publikumswirksam auf dem Platz in Cajamarca mit der Garotte. Damit war dem letzten Widerstand der Inkas die Spitze abgebrochen.

Der Vorfall erzeugte reichlich künstlerischen Niederschlag. In Deutschland und den Alpenländern landete Jakob Wassermann vor rund 100 Jahren mit seiner Erzählung Das Gold von Caxamalca einen Publikumserfolg. Wikipedia meint, darin sei Atahualpa zur »prototypischen Figur des Edlen Wilden von kindlicher Unschuld und Reinheit« erhoben worden. Ich kenne diese Erzählung nicht.

Der Tod des erfolgreichen jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann, mit erst 60 Jahren, ging anscheinend auch nicht völlig ohne Ärger ab. Er hatte seit 1919 eine Villa in Altaussee, Steiermark, wo der jüngere Schriftsteller Robert Neumann zeitweise ebenfalls ein Haus besaß. In seinen Erinnerungen behauptet Neumann, just an Wassermanns Todestag, dem 1. Januar 1934, habe der ältere Kollege vergeblich versucht, sich bei seinem Verleger 2.000 Mark zu leihen. Dabei soll er freilich das Opfer einer falschen Telefonverbindung geworden sein. Jedenfalls traf ihn der Mißerfolg hart – und prompt auch der Schlag. Da hatte das Neue Jahr prima angefangen. Andererseits mußte Wassermann auf diese Art den sogenannten Anschluß Österreichs an Nazideutschland (1938) nicht mehr erleben. Neumann etwa wich nach London aus.

Neumanns Darstellung* legt allerdings nahe, im ganzen sei Wassermann eher sowohl ein Opfer seiner Eitelkeit wie seiner ersten Ehefrau Julie gewesen, die die von ihm erbetene Scheidung mit immer neuen Geld- oder Rechteforderungen hinausgezögert hatte. Wassermanns zweite Gattin hieß Marta; sie war deutlich jünger als er. Sie hatte sich gleichfalls literarisch versucht, ging jedoch nach Wassermanns Ableben in die Schweiz, um bei Carl Gustav Jung Analytische Psychologie zu studieren. Später unterhielt sie eine psychotherapeutische Praxis in Ottawa, Kanada. Das wäre nichts für Atahualpa gewesen. Wikipedia teilt mit, während seiner Gefangenschaft habe er sich sogar mit den feindlichen Militärs Hernando Pizarro (der Bruder) und Hernando de Soto angefreundet. Überdies habe er Francisco Pizarro, um sich dessen Wohlwollen auch wirklich zu sichern, zu dem ganzen Geschmeide seine junge Schwester Quispe Sisa angeboten! Und in der Tat, Pizarro nahm sie mit Handkuß und machte ihr zwei Kinder.

* Ein leichtes Leben, von Neumann eigenhändig gekürzte Ostberliner Ausgabe von 1975, S. 284–90



Auf etlichen nächsten Seiten trachtet Brockhaus, mir das Atom nahezubringen und mich ferner in die Geheimnisse von Atomgesetzen, Atommodellen, Atommeilern, Atommüll und so weiter, übrigens wenig später auch der Atonalen Musik einzuweihen. Aber ich will nicht. Ich erinnere mich noch ziemlich genau daran, vor Jahrzehnten wie so viele mit der bekannten sonnigen, gelbroten Anti-Atom-Plakette herumgelaufen zu sein und schon damals gedacht zu haben, dieser ganze komplizierte, kostspielige und oft hochgefährliche Wissenschaftskrempel werde uns bloß aufgezwungen – kurz, ich weigerte mich kurzerhand, mich eingehend damit zu befassen. Es interessierte mich nicht, wie ein Atomreaktor funktioniert. Es interessierte mich noch nicht einmal, wie ein Geschirrspülautomat oder ein Mobiltelefon funktioniert. Es genügte mir, wenn ein paar kluge, kritische Köpfe Bedenken gegen derartigen »Fortschritt« anmeldeten. Für mich fand hier ein Atom- und Atonal-Terror statt, dem nichts lieber gewesen wäre, als mich in Überflüssigem zu ertränken. Ich erinnere auch an die vielen im Meer oder im Orbit stationierten Raketen beziehungsweise deren Stufen oder Krümel. Oder nehmen Sie die schon gestreiften Gesetze. Sie vernebeln ja beileibe nicht nur Atomprogramme; Tag für Tag werden wir mit Betriebsanleitungen, Verordnungen, Gesetzespaketen bombardiert, an denen ein schlichter Bürger nur verenden kann. Zufällig hat sich das verdienstvolle Autorengespann Bräutigam/Klinkhammer gerade in diesen Novembertagen unter der Überschrift »Staatlich vorangetriebene Zensur und Meinungsterror werden deutsche Staatsräson« durch ein Labyrinth von jüngsten, wie immer gut verbrämten Vorschriften aus dem PR-Bereich gekämpft.* Ich danke den Kollegen sehr – und erkläre unmißverständlich: mit dieser Scheiße möchte ich nichts zu tun haben. Schließlich habe ich Brennholz zu machen, Brot einzukaufen, den Fehler in meiner Fahrradbeleuchtung zu finden und nicht zuletzt den Brockhaus durchzukauen – und dergleichen ist schon hart genug.

* https://www.nachdenkseiten.de/?p=106628, 13. November 2023



Auch zum Historiker Hermann Aubin (1885–1969) teilt Ernst Klee* vorsichtshalber mit: »Nicht NSDAP.« Was aber sonst, deutet Brockhaus wie gewohnt nur an: 1925 Professor in Gießen, 1929 in Breslau, 1946 [bis 1954] in Hamburg. 1950 und 1957 wurde er (im Westen) durch die beliebten Festschriften geehrt, war er doch »führend in der Ostforschung«. Klee dagegen erläutert handfester: »Erklärte Polen ‚zur rein deutschen Kulturlandschaft‘. Am 11. 10. 1939 Mitverfasser einer Denkschrift der Publikationsstelle (ein Agitationszentrum antiöstlicher Volkstumspolitik) im Geheimen Preußischen Staatsarchiv Berlin-Dahlem zur ‚Eindeutschung Posens und Westpreußens‘ und sofortigen ‚Umsiedlung‘ von zunächst 2,9 Millionen Polen und Juden. (..) Ab 1952 Herausgeber der Zeitschrift für Ostforschung.« In dieselbe Kerbe haut Wikipedia mit einem ausführlichen Eintrag. Aubin habe unter Hitler zu den Vordenkern territorialer Verände-rungen und einer Bevölkerungszusammensetzung im Sinne einer ethnischen »Entmischung« gehört und überhaupt »ein hohes Maß an Kontinuität« während der drei unterschiedlichen Regime von Weimar bis Bonn verkörpert. Eine vom »Kalten Krieg« unverseuchte Debatte über Aubins tragende Rolle kam anscheinend erst in den 1980er Jahren in Gang – und heute kommt sie zu spät. Im ersten Band seiner Wirtschaftsgeschichte Deutschlands behandelt Hans Mottek die frühste Expansion und Kolonisation gen Osten, über Elbe und Saale hinaus. Das war um 1100. Sie sei mit brutalen Gewalttaten verbunden gewesen und habe zur Ausrottung eines Teils der westslawischen Bevölkerung und zur Germanisierung eines anderen Teiles geführt. »Sie hat die Beziehungen zwischen den Deutschen und Slawen auf Jahrhunderte hinaus vergiftet.« Davon kann derzeit noch Frau Baerbock zehren.

* Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Fischer-TB-Ausgabe Ffm April 2015, S. 20/21



2006 brachte die kleine saarländische Zeitschrift Die Brücke meine Betrachtung über Fotografie und Film »Klappe zu, Affe tot«. Sie begann mit dem folgenden Abschnitt.

Elstern sehen so aus, wie sie John James Audubon (1785–1851) vor rund 200 Jahren malte. Das kann ich als Vogelkenner versichern. Das Vorwitzige und Gaunerhafte ihrer Bewegungen fing er ebenfalls ein. Wir könnten, was unsere Unterrichtung angeht, getrost auf die Fotografie verzichten. Wir brauchten sie überhaupt nicht. Leider hat sich nämlich längst unser Unvermögen gezeigt, die eine oder andere technische Erfindung nur zum Teil, nur begrenzt zu nutzen. Ich nenne neben der Kamera bloß Auto und Computer. Die Technik duldet keine Grenzen. Statt durch Reproduktionen lassen sich Gemälde natürlich auch anders verbreiten, etwa durch Stiche oder Lithografien. Oder SchriftstellerInnen schildern sie nicht weniger gut wie sie Herrn Tobias Wendehals oder den oberhessischen Vogelsberg beschreiben. Wem das zu ungetreu ist, der möge sich zu den Gemälden hinbegeben.

Am besten scheint mir allerdings beraten, wer sich an die Fersen der Vögel selber heftet. So verfuhr Audubon. Unter großen Entbehrungen unternahm er viele Reisen, um die Vögel Nordamerikas an ihren Orten aufzusuchen. So wurde er nebenbei zum bewanderten Ornithologen. In solcher Liebesmüh lernt man die Objekte seiner Begierde gründlich kennen, achten, schätzen. In Lewis Mumfords Mythos der Maschine wird erwähnt, Audubon habe Tauben, Wachteln oder Stare nicht nur erlegt um sie zu malen, sondern auch etlicher hübscher Mahlzeiten wegen. Hoffentlich nahm er – uns zuliebe – statt der Flinte Pfeil und Bogen. Denn wie sich Gewehr, Kamera und der rasche Blick auf Reproduktionen gleichen, entsprechen Pfeil und Bogen der mühsamen Annäherung. Der Laie wird auf 40 Schritte mit Pfeil und Bogen keine Scheune treffen, aber mit einem Gewehr. Gewiß erfordern solche Annäherungen viel Geduld und Zeit. Noch im Barock waren gedruckte Noten zu rar und kostspielig für den gewöhnlichen Musikstudenten. So sah sich ein Jüngling namens Johann Sebastian Bach gezwungen, auf seinen Reisen durch Deutschland jede Partitur, die er zu studieren gedachte, eigenhändig abzuschreiben, was so lästig wie eindringlich gewesen sein dürfte. Gewiß entging ihm durch diese aufwendige Arbeit so manches lehrreiche Musikstück. Doch es ist besser, wenige Dinge gründlich als zahllose Dinge oberflächlich zu kennen. Letztlich gewinnen wir dadurch sogar Zeit, weil sich auf den Oberflächen doch viel Überflüssiges räkelt.

Als so um Spitzweg herum die ersten chemisch behandelten Platten belichtet wurden, war sich noch niemand darüber im klaren, wie gewaltig die Fotografie die allgemeine Verflachung befördern sollte. Walter Benjamin sah es um 1930 dann wohl ein, fand es aber prima so. Sein massenrevolutionäres Sätzchen, jeder heutige Mensch könne den Anspruch vorbringen gefilmt zu werden, ließ er sogar kursiv drucken. Dankeschön, Walter! Inzwischen hat sich im Haushalt zur Waschmaschine die Videokamera gesellt. Die Flut von mehr oder weniger reellen Abbildern ist nicht mehr aufzuhalten. Wer will mir weismachen, er könne unter diesen Umständen noch irgendetwas so verdauen wie Audubon seine Tauben?



Unter einem Aufzug wird hier ein Lift verstanden, nämlich, nach Brockhaus, die bekannte »ortsfeste Förderanlage für Personen oder Lasten«, die an Platz- oder Fesselungsangst leidende Personen wie ich grundsätzlich nie betreten. Seit mir das Schicksal des Klassischen Philologen Gustav Löwe unterkam, meide ich zusätzlich sogar die Schächte, in denen noch gar kein Fahrstuhl eingebaut ist. 1883 zog der Fortschritt auch in die Universitätsbibliothek der kleinen Stadt Göttingen ein, wo Löwe beschäftigt war. Die dortige Bibliothek bekam einen Neubau, und für diesen war eben auch ein Fahrstuhl vorgesehen. Ohne diesen Fortschritt wäre der studierte Philologe, der sich bereits als Mitarbeiter an Ritschls großer Plautus-Ausgabe verdient gemacht, aber inzwischen seine Berufung im Bibliothekswesen gefunden hatte, womöglich noch in 200 Jahren nur in engsten Fachkreisen bekannt. In seiner Eigenschaft als Kustos der Universitätsbibliothek stürzte Löwe am 14. Dezember bei einer Begehung des Neubaus in den Fahrstuhlschacht und starb zwei Tage darauf, ohne sein Bewußtsein wiedererlangt zu haben.* Er war 31. Im Brockhaus wird er übergangen.

* August Wilmanns, »Dr. Gustav Löwe: Nekrolog«, Centralblatt für Bibliothekswesen, Band 1 (1884), S. 190



In seinem lehrreichen Buch Das Wunder der Sprache erwähnt Walter Porzig einen Bauern, der einen astronomischen Vortrag besucht. Daß man die Bahnen der Sterne berechnen könne, begreife er ja, sagt der Bauer in der Diskussion; wie man jedoch ihre Namen herausbekom-men habe?

Ich hoffe, Sie lachen. Die meist im Gebirge anzutreffende gelb blühende Primel Aurikel wurde von dem einen oder anderen Zweibeiner nach lat. auricula = »Öhrchen« benannt, angeblich wegen der Form ihrer rosettig angeordneten, immergrünen und etwas fleischigen Blätter. Eine hübsche Pflanze, wenn auch giftig. Allerdings werden die Bestandteile der Natur selten auf Anhieb endgültig benannt. Einer läßt einen Versuchsballon steigen – und etweder folgen ihm Scharen oder kein Schwanz. Die Namen müssen sich also in der Regel erst durchsetzen. Zu den großen Ausnahmen zählen vor allem die Namen, die von Päpsten in den sogenannten Kanon gedrückt werden, etwa Goethe oder Georg Baselitz, aber das betrifft ja nur den kulturellen Bereich.

Hat die Natur Glück, kommt der sogenannte Volksmund auf die reizendsten Dinge. Die Sträucher des Pfaffenhütchens (Früchte kaltrot mit einem Maiskorn statt einer menschlichen Birne drin) stehen fast in jedem Auwald, sogar in meiner Gartenwildnis. Dagegen habe ich die kleine Blume Katzenpfötchen erst einmal in meinem Leben getroffen, und zwar bei Trendelburg oberhalb der Diemel an einem sonnigen Hang. Sie reckt ihren rosig-haarigen Blütenstand in der Tat wie eine auf dem Rücken liegende einbeinige Katze empor. Sehenswert auch die Pilze Ziegenbart (alternativ: Goldgelbe Koralle) und Specht-Tintling. Dieser meist schlanke Pilz erinnert, schwarz-weiß, an das Gefieder von einigen Spechten oder der Elstern.

Damit bietet sich noch ein Blick auf ein paar Vögel an. Bienenfresser, Neuntöter und Zaunkönig sind ohne Zweifel überzeugend benannt. Etwas ärgerlich stößt mir stets die Wasseramsel auf. Diesen sich hin und wieder behaglich auf einem Stein im Bach wiegenden Wirbelwind nur wegen der Nähe in Kleid (vorwiegend braun) und Größe Amsel zu nennen, war ja wohl ein schlechter Scherz. Im Gesang liegen geradezu Welten zwischen den beiden. Und beobachten Sie einmal die Jagd des Wirbelwindes nach diversem Wassergeziefer. Oft scheint der Vogel im Wasser um sich zu schlagen oder vom Bachgrund wie ein Korken wieder empor zu schnellen. Eine Freundin schlug deshalb einmal treffend vor, künftig vom Wasserboxer oder Wasserkorken zu sprechen – aber sie war keine Päpstin, ihr Vorschlag bürgerte sich nicht ein.

Ein wahrer Skandal ist der Name Mittelspecht. Möchten Sie, falls sie von Berufs wegen Häuser entwerfen, gern als Herr Mittelarchitekt angeredet werden? Ich habe ihn insgeheim Bartlosenquäker getauft, wegen seinem angeblichen Gesang, der zum Weglaufen ist. Es gibt also mehrere Sorten Spechte. Folglich werden Familien oder Gattungen ausgerufen, beispielsweise ähnlich einfallslos: die Meisen = die Schwächlichen. Und da sie nun alle winzig sind, fängt der Ornithologe an, sie nach Blau-, Kohl-, Weiden-, Hauben-, Beutel- und Pepitameisen zu verlesen. Genauso armselig wäre es, alle führenden PolitikerInnen Banditen zu nennen. Laut Brockhaus sind das »gewerbsmäßige Verbrecher«, die sich oft in »förmlichen Genossenschaften« zusammenschließen. Aber das greift dem Stichwort Kriminelle Vereinigung vor.

Ich hätte fast meine Rosen vergessen. Als ich vor rund 15 Jahren hier einzog, fand ich drei VertreterInnen vor, die ich vom Häuschen aus stets im Blick habe. Es geht ihnen gut, obwohl ich sie keineswegs, durch Gießen und Düngen etwa, verhätschele. Am größten ist die zart rosa blühende Heckenrose, ein üppiger Busch. Versäumt man es zwei oder drei Jahre, sie zurückzuschneiden, benötigt man für den Durchgang eine Machete. Dieser Busch wird von zwei Zuchtrosenstöcken flankiert. Der recht Stock blüht flammend rot, geradezu revolutionär. Der linke dagegen weiß, wobei er vor allem im November an den Blüten einen Anflug von Rosa zeigt. Er blüht nämlich zweimal im Jahr, kaum zu glauben. Leere ich morgens einen Eimer mit Schmutzwasser oder meinen Aschekasten aus, versäume ich es nie, meinen Zuchtrosen zuzunicken und ein paar freundliche Worte mit ihnen zu wechseln. Das Problem ist nur, daß ich bislang die korrekte Anrede umgehen muß, weil ich mich nie entscheiden konnte, welche Zuchtrose nun Sanja Milenkovic und welche Pauline Groß sei.

Beide Mädchen bissen mit ungefähr 15 Jahren ins Gras. Sanja, sonst Gymnasiastin in Belgrad, erwischte es am 30. Mai 1999 in ihrem mittelserbischen Heimatstädtchen auf der inzwischen traurig berühmten Brücke von Varvarin. Ein Tornado-Kampfflugzeug der Nato hatte die Moravabrücke jenseits allen Kriegsgeschehens am hellichten Sonntag zerschossen. Es hinterließ im ganzen 10 Tote und 17 Schwerverletzte, alles harmlose Pfingstmarkt-besucherInnen. Sanja war jedoch das jüngste Todesopfer, nur deshalb meine Heraushebung. Ihr Tod brachte ihre Mutter Vesna an den Rand des Wahnsinns.

Das Sinti-Mädchen Pauline war ab 1940 mit ihren Eltern und Geschwistern in verschiedene »Zigeunerlager« der Stadt Frankfurt/Main gesteckt worden. Das Internet kennt diese Pauline nicht. Im ganzen werden die Todesopfer des deutschen Faschismus aus den Reihen der Roma & Sinti, je nach Quelle, auf 200.000 bis 500.000 geschätzt. Viele davon kamen in einem KZ um. Viele wurden auch zuletzt noch in den »Zigeunerlagern« ermordet. Was Pauline angeht, soll sie 1945 im Lager Kruppstraße noch kurz vor Kriegsende an Unterernährung gestorben sein.*

Das angeführte schmale Buch bringt ein Porträt-Foto, das die dunkelhaarige Pauline Groß, mit Schleife im Haar, wohl als ungefähr 10jährige zeigt. Der Gesichtsausdruck kann nur erschütternd genannt werden. Dabei spricht keineswegs nackte Angst, ja noch nicht einmal Eingeschüchtertheit aus ihm. Man blickt der Hoffnungslosigkeit und unheilbarem Mißtrauen in die leicht verkniffenen dunklen Augen. Man mache sich einmal die elende Kindheit solcher Mädchen und Jungen klar. Man fahre einmal über Weihnachten nicht nach Mallorca, sondern nach Gaza.

* Barbara Bromberger / Katja Mausbach, Frauen und Frankfurt. Spuren vergessener Geschichte, Verlag VAS in Ffm, 1987, S. 72/73



Brockhaus kennt eine Ausspähung – freilich nur eine, nämlich die von Staatsgeheimnissen. Auf diese verweist er nach dem Stichwort und einem Pfeil. Mehr nicht. Aber vielleicht kommt das ja noch, etwa unter »Spionage«. Besonders spannend finde ich den inzwischen gewaltig ausgeweiteten umgekehrten Fall, bei dem staatliche Organe den Bürger ausspähen. Dürfte ich die Mikrofone, Videokameras und Computerprogramme, die Tag für Tag meinen Weg durch das Städtchen Waltershausen oder die Weltliteratur verfolgen, auf eine Spesenrechnung setzen, wäre ich längst ein wohlhabender Mann.



Die sechs Brockhaus-Zeilen zum Zoologen Hansjochem Autrum (1907–2003) zeigen sich noch rücksichtsvoller als im Falle des Ostforschers Aubin. Der verdiente Mann lebte eben noch, da durfte man ihm nicht auf die Füße treten, die ihn 1939, Ernst Klee zufolge, als Dozenten in das Luftfahrtmedizinische Forschungsinstitut des Reichsluftfahrtministers geführt hatten. Der Minister, der seine Flotten gerade gen Frankreich, England und Rußland auftanken ließ, hieß Hermann Göring. In der Bonner Demokratie war Autrum dann Professor in Göttingen, Würzburg, München. 1995 brachte er sogar das Werk Mein Leben heraus, Untertitel Wie sich Glück und Verdienst verketten. Im Jahrbuch 2003 der Bayerischen Akademie der Wissenschaften durfte Gerhard Neuweiler in einem Nachruf (auf den Seiten 316 und 321) beiläufig feststellen: »Er war Parteimitglied [1. Mai 1933!] und wurde auch in SA-Uniform gesehen. (..) Mit Hansjochem Autrum hat die Bayerische Akademie einen ihrer letzten großen Patriarchen alten Stils verloren. Wir verdanken ihm viel und Bedeutendes.«



Brockhaus kennt nur Rolfs ungleich bekannteren jüngeren Bruder Hermann. Der brachte es bis zum Sekretär des Zentralkomitees der SED. Solchen steilen Aufstieg konnte man natürlich vom sächsischen Schlosser und Funktionär der KPD aus jüdischem Hause Rolf Axen (1912–33) schlecht verlangen, weil er nur 21 wurde. Neben seiner Heimatstadt Leipzig waren seine Hauptwirkungsorte Zittau und Bischofswerda. Im September 1933 verhaftet, starb Rolf Axen noch im selben Monat »an den Folgen von Misshandlungen während der Vernehmungen im Polizeipräsidium Dresden«, also durch die dortige Gestapo.*

Soweit ich weiß, waren zu DDR-Zeiten mehrere Straßen und/oder Einrichtungen nach diesem jungen und anscheinend todesmutigen antifaschistischem Kämpfer benannt, wohl hauptsächlich in Leipzig und Zittau. Aber bekanntlich »wandte« sich die DDR um 1990 dem Freien Westen zu, und damit mußte zum Beispiel eine ehemalige Leipziger Polytechnische Oberschule ihren Namensgeber Rolf Axen verleugnen. Einziges Überbleibsel dieser Art soll bislang die ehemalige Bahnhofstraße im Leipziger Stadtteil Kleinzschocher sein, in der Axen zumindest zeitweise gewohnt hatte. Sie wurde gleich nach Kriegsende, am 1. August 1945, nach ihm benannt. Mal sehen, ob diese Rolf-Axen-Straße auch noch die Wende Großdeutschlands zum waffenstrotzenden Gesundbetungsstaat übersteht.

Immerhin macht sich das Dresdener Stadtmuseum für Axens Grabstätte auf dem Israelitischen Friedhof stark – obwohl oder weil sie beinahe kauzig wirkt. Sie weist zwei Grabsteine auf, die im wesentlichen nur im Sterbedatum übereinstimmen. Dazu liefert das Internet sogar eine Erläuterung (4. April 2022) mit Foto.

* André Loh-Kliesch, Leipzig-Lexikon, Stand 2023: https://www.leipzig-lexikon.de/biogramm/Aksen_Rudolf.htm



François Noël »Gracchus« Babeuf (1760–97). Angeblich hatte man die Monarchie gestürzt. Nun hat die Metropole Paris selbst »nach Robespierre« noch 1.800 Ballsäle zu bieten, bei ungefähr 600.000 Einwohnern. Entsprechend wimmelt sie von Stutzern, Strolchen und Spitzeln. Die schlitzohrigsten Strolche, voran Lebemann Paul de Barras, retten sich vor der allgemeinen Unübersichtlichkeit ins fünfköpfige »Direktorium« des Nationalkonvents und spielen »Bürgerliche Revolution«. Die Massenarmut bekommen sie selbstverständlich nicht in den Griff. Das ist die Stunde der Verschwörung der Gleichen unter »Gracchus« Babeuf. Der ehemalige Landvermesser und Journalist aus der Picardie war vielleicht nicht der Hauptorganisator, aber ohne Zweifel der »Cheftheoretiker« dieser Bewegung, die ein recht radikales sozialistisches Programm verfocht. Arbeit für alle, dafür auch Zuteilungen für alle. Die Produktion erfolgt nach Plan. Für das Inland wird das Geld abgeschafft. Auch das Wuchern der Städte ist einzudämmen. Aber wie steht es mit der Bürokratie? Den Staat wollen auch die Gleichen nicht antasten. Selbst am Terror gegen »Staatsfeinde« halten sie fest, obwohl sie in dieser Hinsicht sogar Robespierre verurteilt haben, dessen »uneingelöstes« Erbe sie anzutreten gedenken. Vielleicht wird Babeuf die große Ausnahme abgeben, den guten Tyrannen. Ilja Ehrenburg behauptet, damals hätten breite Volksschichten ihre Hoffnungen in diesen abgezehrten Untergrundkämpfer gesetzt. Andererseits übersieht der Sowjetrusse nicht, daß die Massen allmählich revolutionsmüde geworden waren. Und das wirkungsvolle Gift gegen die erwähnten Spitzel hatte auch Die Verschwörung der Gleichen nicht erfunden. Ein Streik der Spitzel blieb leider Ausnahme: sie hatten verlangt, der Konvent möge sie von »Assignaten«, »Mandaten« oder dergleichen Papiermüll verschonen und sie stattdessen in dem traditionellen Silbergeld entlohnen. Fuchs Barras ging zum Schein darauf ein. So verrieten sie auch die Aufstandspläne der Gleichen wieder brav, und Barras ließ die führenden Köpfe (im Mai 1796) verhaften.

Ehrenburgs vorzüglicher Babeuf-Roman* besticht durch Knappheit, sprechende Details und eine seltene Art von zornigem, trockenem Witz. An seiner Darstellung sowohl des Massenelends wie der Verkommenheit der »revolutionären« Elite ist wahrscheinlich kaum zu rütteln. Eine andere Frage ist, ob er dieser Lage mit seinem Babeuf nicht einen etwas zu schönen Hoffnungsschimmer entgegenhält. Das soll nicht heißen, er malte ihn schwarz oder weiß. Sein Babeuf ist aufbrausend und einfältig, rechthaberisch und gutmütig in schöner Abwechslung. An seiner Frau Marie Anne Victoire Langlet und ihren gemeinsamen fünf Kindern (die vornehmlich in seiner Abwesenheit aufwachsen) scheint Babeuf fast sentimental zu hängen; andererseits schreibt er Marie aus dem Gefängnis: »Die Liebe zum Vaterland erstickt in mir alle anderen Gefühle. Ich war immer aufrichtig zu Dir, ich sage Dir unumwunden: Wir Jakobiner, wir Besessenen, sind durchaus nicht zartfühlend, nein, im Gegenteil, wir sind verdammt hartherzig. Du sagst, daß Du beschlossen hast zu sterben. Was kann ich Dir darauf antworten? Stirb, wenn Du willst.«

Das Hartherzige sind Dinge wie Gleichheit, Gerechtigkeit, ja selbst Freiheit. In der Natur kommen diese »Dinge« nicht vor. Sie sehen von persönlichen Vorlieben genauso wie von persönlichen Schwächen ab. Zu den vielen Repräsentanten und zugleich Opfern dieser Hartherzigkeit zählt der schon andernorts erwähnte junge Konvents-kommissar Saint-Just. Was Marie betrifft, verwarf sie ihren Entschluß. Sie wurde über 80 – für damalige Zeiten enorm.

Wahrscheinlich war Babeuf, wenn nicht bereits durch seine entbehrungsreiche Jugend als Sohn eines Deserteurs aus der französischen Armee, schon durch einen Haftbefehl in den Untergrund und die Ausweglosigkeit getrieben worden, mit dem ihn die Richter aus Amiens seit November 1794 verfolgten. Angeblich hatte er sich als Verwaltungschef von Montdidier bei der Versteigerung eines Gemeindegrundstücks einer Urkundenfälschung zwecks Begünstigung eines verdienten Revolutionärs schuldig gemacht. Ehrenburg behauptet, bei dieser Beurkundung sei Babeuf lediglich arglos in eine Falle getappt, die ihm sein langjähriger Widersacher Longcamp stellte, »ehemals königlicher Staatsanwalt, jetzt selbstverständlich Patriot und Republikaner«. Auf diese Weise habe ihn Longcamp aus der Picardie vertreiben und überall verleumden können: »Da seht ihr, dieser Gleichheitsapostel ist der banalsten Fälschung fähig, und alles nur wegen Geld! Jetzt hat er sich aus dem Staube gemacht und lebt in Paris einen vergnügten Tag.« Ich kann diesen Fall nicht beurteilen, kann jedoch versichern, die Methode hat bis heute nichts an Beliebtheit eingebüßt.

Bei Ehrenburg erscheint der beinahe mönchisch lebende Babeuf auch nicht als ruhmsüchtig. Dagegen heißt es im Zusammenhang mit seiner letzten Verhaftung und dem sich anschließenden, weit weg von Paris in der Kleinstadt Vendôme inszenierten Schauprozeß gegen die Gleichen in der deutschsprachigen Wikipedia, aus unbekannten Gründen habe die Regierung den Sozialisten Babeuf als den Anführer der Verschwörung dargestellt, »obwohl wichtigere Leute als er darin verwickelt waren; seine eigene Eitelkeit spielte ihnen dabei in die Hände.« Vielleicht ging er in der Tat in der großen Rolle des Märtyrers auf. Immerhin hatte er wiederholt seine Bereitschaft zum Sterben bekundet. Ende Mai 1797, inzwischen 36 Jahre alt, wurde er gemeinsam mit Augustin Alexandre Darthé, der erst 27 war, zum Tode verurteilt. Andere Angeklagte bekamen Verbannung oder Freispruch, wobei dem »verdienten Postmeister« Jean-Baptiste Drouet mit stillschweigender Billigung des Direktoriums zur Flucht verholfen worden war. Drouet hatte am 21. Juni 1791 den fliehenden Ludwig XVI. erkannt und dessen Verhaftung veranlaßt. Dadurch war er in den Nationalkonvent beziehungsweise Rat der Fünfhundert – und nun vom Schafott gerutscht.

Unmittelbar nach der Urteilsverkündung hatten die beiden Hauptangeklagten vergeblich Selbstmord versucht. Es mangelte an einem geeignetem Dolch; sie hatten sich mit einem zurechtgefeilten Eisen »nur« schwer verletzt. Anderntags, nach Ehrenburg jedoch im Morgengrauen und deshalb nur vor schmalem Publikum, kamen sie auf der Place d'Armes von Vendôme unter die Guillotine. Fachleute der Revolution höhnen gern, der fehlende Dolch sei bezeichnend für den ganzen »Dilettantismus« der Gleichen gewesen. Man könnte sie mit der Nase auf den Staatsstreich stoßen, der nur zwei Jahre später erfolgreich verlief, obwohl er mindestens genauso stümperhaft ausgeführt worden war. Mit ihm kam der kleinwüchsige Napoléon Bonaparte in den Sattel. Er hatte die besseren, vor allem finanzkräftigeren Steigbügelhalter.

* Die Verschwörung der Gleichen, Berlin 1929
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