Freitag, 1. Dezember 2023
Tollers Strick

Der Schriftsteller Ernst Toller, am 1. Dezember 1893 als Sohn jüdischer preußisch-polnischer Kaufmannsleute geboren und nach Ernüchterung im Ersten Weltkrieg zunächst auf führenden Posten der linksradikalen »Münchener Räterepublik« aktiv, wurde nicht eben alt. Er erhängte sich im Mai 1939 unmittelbar nach Francos Madrider Siegesfeier in seinem Hotelzimmer in New York City. Er war 45. Er hatte von seinem Exil aus (seit 1933 in der Schweiz, um 1937 Nordamerika) unermüdlich für antifaschistische Projekte gewirkt, voran zur Unter-stützung des republikanischen Spanien. Toller habe sich »in völliger Verzweiflung über die Trägheit der demokra-tischen Welt und die Brutalität der faschistischen Führer« umgebracht, schreibt Berufs- und Gesinnungsgenosse Gustav Regler später in seinen Erinnerungen.* Aber das dürfte wieder einmal nur ein Viertel der Wahrheit gewesen sein. So war es Toller trotz seines Namens mißlungen, in England als Dramatiker, in Hollywood als Drehbuchautor Fuß zu fassen. Ferner hatte ihn (1938) gerade seine erheblich jüngere Ehefrau verlassen, die Schauspielerin Christiane Grautoff, die ihm durch einige Jahre hinweg eine große Stütze gewesen war. Nun war ihr die Bürde »Toller« wohl zu schwer geworden; man kann es ihr schlecht verdenken. Toller kam nämlich kaum mehr aus seinen zunehmend von Schlaflosigkeit begleiteten »Depressionen« heraus. Laut Wolfgang Frühwald hatte er sich schon um 1935 in London in psychoanalytische Behandlung begeben, bis ihn diese »Krankheit« wenige Jahre später »überwältigt« habe. So dürfte der Madrider Fanfarenstoß Tollers ganzes Elend und seinen Griff zum noch zu musternden Strick »lediglich« beschleunigt haben.

Obwohl laut polizeilichem Steckbrief von 1919 eher schmächtig und keine 1,70 groß, war Toller sicherlich ein anziehender Mann. Der Verleger Fritz H. Landshoff**, mit dem Toller auch befreundet war und streckenweise (in Berlin und Amsterdam) eine Wohnung teilte, bescheinigt ihm einerseits große Güte, Hilfsbereitschaft und neben einem »oft kindlichen Sinn für Humor« eine »leiden-schaftliche Hoffnung auf eine bessere Welt«. Andererseits sei freilich auch Tollers Eitelkeit nicht zu übersehen gewesen, »deren er sich so durchaus bewußt war, daß sie beinahe rührend wirkte – seine gelegentliche Freude an der nie versagenden Wirkung seines besonders, nicht nur auf Frauen wirkenden Charmes, der zeitweise die Zweifel, die er an sich selbst hatte, beschwichtigen konnte –, und seine heimliche Liebe zum Luxus, deren er sich ein wenig schämte, weil er sie nie vor seinem Gewissen rechtfertigen konnte.«

Man will es kaum glauben, daß dieser Mann dereinst, bis 1924, geschlagene fünf Jahre in bayerischen Gefängnissen gesessen hatte, und das zu einem guten Teil auch noch freiwillig – falls er als Autobiograph nicht ein wenig schöngefärbt hat. Die fünfjährige Haftstrafe hätte sich sogar sehr leicht durch ein Todesurteil erübrigen können. Sie war eine Folge von Tollers »Rädelsführerschaften« in jener kurzlebigen Münchener Räterepublik, die er später klipp und klar als »Fehler« bezeichnete. In dieser Haftzeit erschrieb er sich seinen Ruhm als bekanntester, noch vor Kollegen wie Brecht, Kaiser, Sternheim gefeierter Dramatiker der Weimarer Republik. Jeder wird den einen oder anderen Titel schon einmal gehört haben, Masse – Mensch etwa, ein Stück, mit dem Toller seine Zelle hätte aufwischen können, so sehr trieft es von Pathos, oder Hoppla, wir leben! von 1927. Diese damals viel Aufsehen erregende Revue um eine gescheiterte Revolution und die Charakterruinen, die sofort von den Barrikaden auf die siegreiche Seite wechseln, ist ungleich genießbarer, weil sie sich aller Durchhalteparolen und eines »Happy Ends« enthält. Karl Thomas, der aus einer Irrenanstalt entlassene Ex-Revolutionär, läßt als Hilfskellner des Grand Hotels in letzter Sekunde seinen Plan fallen, den Arbeiterverräter und Minister Wilhelm Kilman zu erschießen – stattdessen geht aber das Licht aus und der Schuß wird trotzdem abgegeben, nur von einem anderen, vaterländisch gestimmten Attentäter. Nun wird der Mord prompt Thomas angehängt, zumal er seine Absicht dazu beim Verhör nicht verhehlt. Selbst seine Ex-Genossen schenken seinen Beteuerungen, ein anderer habe geschossen, keinen Glauben. Im Gefängnis macht dann zwar noch die Nachricht die Runde, der wahre Täter sei gefaßt worden, Thomas somit unschuldig, aber da ist es zu spät, weil sich dieser in seiner Verstörtheit und Verzweiflung in seiner Zelle erhängt hat. Damit hätte mancher hellsichtige Mensch erahnen können, wie es 12 Jahre später dem Dramatiker selber ergehen würde.

1933, schon auf dem Sprung ins US-Exil, legte Toller mit Hilfe seines Freundes Landshoff seine unbedingt empfehlenswerten Jugenderinnerungen vor.*** Darin behauptet er, in seiner Häftlingszeit habe er eine vielversprechende Fluchtmöglichkeit im Verein mit einem Freund und vermittels eines Zahnarztbesuches nach langen quälenden Abwägungen ausgeschlagen, weil er die Arbeit an seinem Drama Hinkemann nicht unterbrechen wollte. Der Freund nimmt die Möglichkeit wahr und entkommt. Darauf habe das Justizministerium Reisen zum Zahnarzt umgehend verboten. In diesem Zusammenhang äußert sich Toller auch zu der Begnadigung, die man ihm 1919 bereits nach sechs Monaten Haft angeboten hatte. »In Berlin wurde mein Drama Die Wandlung gespielt, mehr als hundertmal, der bayerische Justizminister wollte eine Geste der Großmut zeigen und mich freilassen. Ich verzichtete auf den Gnadenakt, ihn annehmen, hieß die Heuchelei der Regierung unterstützen, es widerstrebte mir hinauszugehen, während die Arbeiter weiter gefangen bleiben sollten.«

Vor dieser Weigerung muß man sicherlich den Hut ziehen, wenn auch der Vorfall mit dem Zahnarzt zeigt, daß sie wahrscheinlich kein Akt reiner Selbstlosigkeit war. Schließlich kam Toller jetzt zum nahezu ungestörten Schreiben. Und zudem hatte er vermutlich auch seinen Genuß an dem Ruf als unbeugsamer Freiheitskämpfer. Das sollte ihn freilich noch in die Zwickmühle führen, wie Landshoff erkannte. »Der Gefangene hielt ganz Deutschland in Atem – der Freigelassene war seiner Märtyrerkrone beraubt und einer strengen Kritik unterworfen.« Aus diesen Schattierungen machte Toller aber keinen Hehl. Nach meinem Eindruck war er ein ungewöhnlich ehrlicher und selbstkritischer Revolutionär und Schriftsteller, wie gerade auch sein gut geschriebenes Erinnerungsbuch bezeugt. Darin stellt er sogar einmal ausdrücklich heraus, wie oft die Motive eines Aufbegehrenden heillos vermischt und letztlich undurchschaubar seien, auch für diesen selbst. Eben deshalb, sage ich nur nebenbei, sind sie auch oft die Quellen des Umfallens oder Verrates. Beim Rebellen spielten »Gefühle, Begierden, Erinnerung, ja vielleicht die Sonne, der Sturm, eine Speise, ein Getränk, die Ahnen« mit, erläutert Toller. Dem Knaben Ernst im posener Landstädtchen Samotschin legt er in den Mund: »Alle Erwachsenen sind schlecht, alle. Sie sind stärker als wir, aber man kann sie überlisten, wenn man schlau ist. Unsere Räuberbande ist schlau. Ich bin der Hauptmann.«

In der Münchener Räterevolte hat dann die Schlauheit versagt. Tollers Gegenspieler Genosse Eugen Leviné, gleichsam über nacht aus Berlin angereist, führt bereits den kommunistischen Zickzackkurs vor, den die KPD während der gesamten Weimarer Republik an den Tag legen wird. Nicht der hehre Zweck bestimmt die Mittel, sondern das kaltblütige Pokern um die Macht. Gleichwohl beklagt Häftling Toller, in Freiheit noch Vorsitzender der Münchener USPD, die Hinrichtung Levinés, die er einen Justizmord nennt, ganz unmißverständlich. Die Grausamkeiten und Demütigungen seitens der siegreichen Gegenrevolution, die Toller ausbreitet, sind kaum zu fassen. Aber gegen Ende seines Buches kommt er auch noch einmal auf die Zwiespältigkeit der Haft zurück. Kurz vor der Entlassung stehend, habe ihn jäh die Angst vor der neuerlichen Freiheit angefallen. Er sei sogar nahe daran gewesen, sich umzubringen. Trotz vieler Schikanen, die er erdulden mußte, habe ihn das Gefängnis doch immerhin versorgt und geschützt. Jetzt drohten ihm neue Kämpfe; auch hätten Tausende Erwartungen an ihn, die er vielleicht nicht erfüllen könne. Diesen Anfall überwand er zunächst.

Was Tollers Exiljahre angeht, spricht Landshoff von einem »manisch-depressiven« Krankheitsbild. Das paßt ja recht gut zu den Schwankungen, die ich bereits gestreift habe. Es paßt auch zu der Sache mit dem Strick. Während die eine Quelle von Tollers Bademantelgürtel, die andere von der Seidenkordel seines Nachthemdes spricht, soll es nach Landshoff ein stinknormaler Strick gewesen sein. Toller habe Christiane ausdrücklich angewiesen, diesen Strick, »den er auf Reisen, besonders in den letzten Jahren, immer bei sich haben wollte«, beim Kofferpacken nie zu vergessen, teilt der Freund mit. Vielleicht wird die Frage des Selbstmordgerätes stets ungeklärt bleiben. Nur eins steht fest: Toller packte seinen Koffer offensichtlich nie eigenhändig. Dafür war er vielleicht schon zu zerrüttet.

* Das Ohr des Malchus, Köln 1958, S. 509
** Amsterdam, Keizersgracht 333, Querido Verlag, Berlin 1991,
S. 112–18 + 121
*** Eine Jugend in Deutschland, Amsterdam 1933, hier Stuttgart (Reclam) 2011, zur Haft bes. S. 220/21 + 234, mit umfang- und aufschlußreichem Anhang von Wolfgang Frühwald

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