Mittwoch, 25. Oktober 2023
Kummerkastenonkel (3)

Lieber KO, an meinem Windfang steht eine mordsdicke Trauerweide, die mein Häuschen recht günstig beschattet, wie ich bislang, wegen des bevorstehenden Hitzetodes der Menschheit, eigentlich dachte. Von diesem Trumm sind neulich zwei Äste auf meinen Plattenweg gefallen. Ich sage Ihnen, die sind dicker als ich selber! Ich kam gerade vom Einkaufen. Als ich den Kühlschrank einräumte, ließ mich ein ohrenbetäubendes Krachen durchs Küchenfenster blicken. Da sah ich die Bescherung. Mein Nachbar kam gleich angerannt, um Fotos zu machen und mir zu versichern, daß mir die Äste um ein Haar auf den Kopf gefallen wären, sei »sehr unwahrscheinlich«. Das gehe aus einschlägigen Statistiken hervor. Stattdessen jammerte er um das Nest einer Amselbrut, das er in dem Gewirr der Zweige entdeckte. Er ist nämlich fanatischer Vogelschützer. Muß ich demnach keine Angst mehr um mich oder wenigstens mein Häuschen haben? Darf die Weide stehen bleiben? Denn der Hitzetod läßt ja augenscheinlich auf sich warten. Ergebenst Ihre Jennifer D., Bad Langensalza.

Liebe Frau D., Ihr Nachbar ist vermutlich schon älter? Der Grips vieler Zeitgenossen hat nämlich leider Amselformat, besonders dann, wenn er nach jahrelanger Gehirnwäsche eingeschrumpft ist. Über die Wahrscheinlichkeit von Unfällen, Krankheiten, Glückstreffern und so weiter verbreiten die Massenmedien weitgehend statistisch untermauerten Käse. Sie gaukeln uns eine Berechenbarkeit vor, die es gar nicht geben kann. In der Regel sind ja in solchen Fällen Zufälle im Spiel, die von unzähligen Faktoren abhängen, nie jedoch von Gesetzen. Der Zufall folgt keinem Gesetz. Wann der innen schon faule mordsdicke Weidenast abbrechen wird und wann Sie vom Einkaufen zurückkommen, können auch Gaus und Einstein nicht ausrechnen. Vielleicht betritt im Augenblick der Gefahr statt Ihnen ein Verkaufsagent für kleine, schnuckelige Rasenmähroboter das Haus, aber vielleicht kommt auch gerade keine Menschenseele, höchstens der Rottweiler Ihres Nachbarn. Kluge Volksmünder wüßten: »Da steckt niemand drin.« Dagegen ist es klar wie Kloßbrühe: Falls Sie die Trauerweide fällen oder auch nur beträchtlich stutzen lassen möchten, benötigen Sie Belege ohne Ende. Sie rennen von einem rotgrünen Bürokraten zum anderen, sodaß der Kummerspeck, den Sie vielleicht angesetzt haben, im Nu wieder weg ist.


Lieber KO, kürzlich bat ich einen als »engagiert« geltenden Rechtsanwalt in einer sozialpolitischen Frage per Email um Ratschlag, wobei ich ihm auch ein Pdf mit Dokumenten Dritter zu dem Thema anhängte, das mein Anliegen ganz gut verdeutlichte. Ich dachte, mich trifft der Schlag! Seine Antwort traf nach zwei Minuten ein, ehe ich mein Postfach überhaupt geschlossen hatte. »Nix für ungut, lieber Herr T.«, hob er an – und dann hielt er mir irgendeine Unschicklichkeit meiner Anfrage vor und gab dazu auch einen allgemeinen erläuternden Link, unter dem Herr Hochmut, wie ich ihn einmal nennen will, Dutzende von Dingen auflistet, die einer falsch machen kann, beispielsweise ihn zu duzen oder ihm noch nicht einmal die Chance zu geben, den Kaffee zu verdienen, den er täglich in sich hineinkippt. Ein ekelhafter Typ. Ist der noch normal? Oder alternativ? Wie sich versteht, kann ich den Link nicht anführen, weil mich Hochmut sonst vielleicht prompt wegen Beleidigung verklagt. Da winkte ihm dann wenigstens Verdienst. Ergebenst Ihr Michael Tossen, Aurich, Nordfriesland.

Lieber Herr T., Hochmut ist normal. Deshalb ist er auch modern oder zeitgemäß, wie man so sagt. Da Sie von zwei Minuten berichten, dürfte er es sich erspart haben, Ihnen persönlich die Leviten zu lesen, vielmehr seinen Roboter vorgeschickt haben. Der klopft jede eingehende Mail in Windeseile auf all die störenden Elemente ab, die einen reibungslosen und somit einträglichen Betrieb der Kanzlei Hochmut vereiteln würden. Ich nehme auch stark an, Hochmut tritt seinen Klienten nur noch selten leibhaftig gegenüber. Das meiste regelt er per Telefon oder Email, wobei diese Einrichtungen zunehmend so wirksam programmiert werden, daß Hochmut sie kaum noch bedienen muß. Ein Tastendruck, und sie machen genau das Richtige für ihn. Früher wurden die Befehle hauptsächlich von Menschen aus Fleisch und Blut gegeben – heute erledigen das eben die Maschinen. Sie sind nämlich weitaus weniger für die lästigen Störungen moralischer Natur anfällig. Bricht ein Computer oder ein Kraftwerk zusammen, sind sie nicht gleich todkrank oder jedenfalls gekränkt; man tauscht sie hurtig aus, und weiter geht es mit dem Fortschritt der Menschheit. Hochmut würde selbstverständlich nicht von Befehlen sprechen. Für ihn sind einfach »Sach- und Systemzwänge« am Werk, gegen die man sowieso nichts ausrichten könne. Sie verlangen unerbittlich: verdiene Geld, benehme dich wie ein Lump, empfinde die absurdesten oder grausamsten Dinge, Einrichtungen und Sitten eben als so normal, wie Hochmut ist.


Lieber KO, mein Neffe G. hat eine Meise. Er wollte schon immer »Dichter« werden, und nun hat ihm ein Jenaer Trödler einen völlig überteuerten, an sich schlichten, kleinen Tisch aus Tannenholz angedreht, an dem angeblich Goethes Schreiber John etliche berühmte Werke des Herrn diktierenden Geheimrates aufgezeichnet hat. Indem er jetzt nur noch an diesem lächerlichen Tisch auf seinen Laptop einhackt, erhofft sich G. natürlich, in wenigen Jahren ebenfalls nur noch Werke von Goetheschem Kaliber hervorzubringen. Es handelt sich sozusagen um stark verkürzte Wilhelm Meisters Lehr-jahre. Muß ich meinen Neffen jetzt dem Psychiatrischen Dienst melden? Ergebenst Ihr Engelbert Schuch, Apolda.

Lieber Herr S., melden Sie lieber Goethe. Und alle seine professoralen SpeichelleckerInnen. Melden sie aber auch Gottfried Kapp, obwohl er mir eigentlich recht sympa-thisch ist. Der rheinländisch-südhessische Schriftsteller (1897–1938) rühmte Goethe und insbesondere dessen angeblichen Meister-Roman über den Klee, wie dem Band mit Briefen Kapps zu entnehmen ist. Dabei handelt es sich doch beim Wilhelm Meister ohne Zweifel um einen betulichen, schulmeisterlichen, »artigen« Schmarren, der mich jede Wette zu Tode gelangweilt hätte, wenn ich ihn damals, nachdem ich Kapps Empfehlung gefolgt war, nicht wütend und mutig nach ungefähr 100 Seiten Richtung Zimmerofen gefeuert hätte. Es wird mir immer rätselhaft bleiben, wie die jeweils einflußreichen und tonangebenden Sprachrohre des Geisteslebens es schaffen, breitesten Massen, wider alle Vernunft, Phänomene beziehungsweise Hirngespinste wie Goethe, Einstein, Urknall und Klimawandel als abküssenswerte Meilensteine unseres kulturellen Werdens zu verkaufen. Eine enge Freundin von mir behauptet allerdings, es sei keineswegs rätselhaft. Es habe vor allem etwas mit dem Mehrheitsdenken zu tun. [Siehe Nasen-Anhang Nr. 36] Der Mensch unterwerfe sich gern, und je mächtiger das ihn beherrschende »Narrativ« sei, umso sicherer wähne er sich. Nebenbei sei Mitlaufen natürlich auch viel bequemer als Gegen-den-Strom-Schwimmen.
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