Donnerstag, 7. September 2023
Stellwerk mit Suppe

Dieter Hödel mein Name. Glauben Sie nicht, mein Ruhm sei vom Himmel gefallen. Eher fiel er aus dem stillgelegten Stellwerk meines Heimatortes. Das war die Kreisstadt Kelm. Wir schrieben um 1950. Schon deutlich über 20, hatte ich allen Entbehrungen der Nachkriegszeit zum Trotz das Abitur nachgemacht. Ich wollte unbedingt »Papier-tiger« werden, zunächst Journalist. Damals bedrängten mich Hunger und Enge. Meine Mutter hatte in ihrer 3-Zimmer-Wohnung in einer Mietskaserne am Gänsebach mich, vier Geschwister und auch noch Untermieter am Hals. Ich hätte ihr Los nur zu gern verbessert, aber wie?

Da lernte ich beim Schach im Cafe Rosenhang den jungen Schuhmacher Ellwangen kennen. Der umgängliche Mann war meine Rettung. Er bot mir kurzerhand den Oberstock des ehemaligen Stellwerks an. In diesem turmartigen Gebäude durfte er, amtlich abgesegnet, bis auf weiteres kostenfrei zugleich schustern und hausen. Er mußte lediglich ohne elektrischen Strom auskommen. Der Kelmer Bahnhof lag, nicht zuletzt wegen der anliegenden Rüstungsfabrik, völlig in Trümmern. Man errichtete gerade weiter nördlich einen neuen. Das Stellwerk war jedoch den Bomben entgangen. Wie sich versteht, hatten die BesatzerInnen das Stellpult und andere wertvolle Geräte längst herausgeholt. Immerhin waren die Scheiben der ausgedehnten Glaskanzel, durch die man alle Gleise und Signale im Blick hatte, durchweg heil geblieben. So konnte ich plötzlich nach Herzens Lust Ausgucker im Mastkorb spielen, in die Schreibmaschine hämmern und den Redakteuren in den Ohren liegen, wenn auch noch nicht per Telefon. Ich pflegte immer brav auf Ellwangens Sohlen ins Pressehaus am Obermarkt zu latschen.

Daneben half ich meinem Gönner beim Austragen von geflickten Schuhen oder bei anderen Besorgungen, etwa von Leder. Er hatte nämlich einen Handwagen. Damit schaffte ich sogar einen Herd heran, den wir gemeinsam in den Oberstock hievten. Nun konnte ich für uns beide kochen, mit Abbruchholz. Nach einigen Wochen tauchte allerdings Gerbereichef Fuhr, von dem wir Leder auf Rechnung bezogen hatten, mit seinem Lloyd-Kombi vorm Stellwerk auf und verlangt fluchend Einlaß und sein Geld. Der beleibte Lieferant war derart wütend, daß er mit seinem Wagenheberhebel zunächst ein Erdgeschoß-Fenster zertrümmerte. Da paßt er aber nicht durch. Für die schönen großen Fenster im Oberstock hätte er eine Leiter benötigt – hatten wir nicht. Dann rückte er freilich der Tür zuleibe, die er aufzubrechen versuchte. Prompt raunte mir Ellwangen mit einem Nicken nach oben zu: »Der Herd!« Auf diesem brodelte gerade ein großer Topf mit Kartoffelsuppe. »Trage den Topf zur Fensterbank«, fuhr Ellwangen fort. »Sobald du ihn ausgekippt hast, entriegele ich die Tür und mache den Sack fertig! Der ist ja gemeingefährlich!«

Ich verstand; schließlich hatte ich so manchen Ritterroman gelesen. Ich rannte nach oben, klinkte einen Fensterflügel der Glaskanzel, der genau über der Eingangstür saß, nahezu geräuschlos auf, nahm den Topf vom Herd und goß ihn über dem Wüterich aus, der uns bedrängte. Er fluchte natürlich und ging zu Boden. Immerhin verhütete Fuhrs Hut die ärgsten Verbrennungen. Wir fesselten und kne-belten ihn zunächst einmal. Dann hatte er wutschnaubend mitanzusehen, wie die beiden Stellwerker sein Auto inspizierten. Aha, der Herr Fabrikant war auf Hamstertour gewesen! Wir entdeckten allerlei Eßwaren, darunter Wildbret aus dem Staatsforst. Während ich sofort eine Rehkeule in die Pfanne haute, da die Kartoffelsuppe ja teils auf Fuhrs Hutkrempe, teils im Gras lag, sicherte Ellwangen dem Fabrikanten zu, er werde nicht verraten und in der Lokalpresse angeprangert, falls er noch ein wenig Geduld mit der Zahlung habe. Darauf mußte er sich natürlich zähneknirschend einlassen. So ließen wir ihn fahren.

Ich gestehe, nach einigen Jahren, als ich auch Erzählungen verfaßte, blies ich die Geschichte romantisch auf. Nun hatte der Fabrikant noch eine blutjunge, knackige Blon-dine im Wagen gehabt. Von unserem beherzten Wider-stand tief beeindruckt, lief sie gleich zu uns über. Der dicke Gerberreichef mußte den Kampfplatz ohne sie verlassen. Sie beriet mich beim Braten der Rehkeule – und gegen Abend überwand sie sogar meine natürliche Schüchtern-heit. Wie sich versteht, wurde alsbald geheiratet. Mein Kampfgefährte, der Schuster, war Trauzeuge.

Nun bin ich schon Greis. Im jüngsten Großen Brockhaus habe ich bereits sieben Zeilen, mit Paßfoto. Der Verlag Fugenmogel hat neulich sogar eine Werkausgabe von mir herausgebracht, immerhin sieben Bände. Die Suppen-geschichte hat er allerdings wohlweislich gestrichen.
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