Samstag, 22. Juli 2023
Kummerkastenonkel (2)

Lieber KO, ich bin noch Schülerin und bekomme wenig Taschengeld. Aber die neue Platte von Meier & Nagel mußte ich natürlich haben. Und siehe da, sie ist wirklich klasse, weil sie für 11 Euro verkauft wird! Ich betone: für genau 11 Euro, also nicht etwa für 10,99, wie das ja leider gang und gäbe ist. Unserem Mathe-Lehrer habe ich einmal ins Gesicht geschleudert, das sei doch Volksbetrug. Er verwies mich an unsere Kunst-Lehrerin. Die meinte, diese gebrochenen Zahlen wirkten doch ohne Zweifel viel hübscher und interessanter, als so fette plumpe Dinger wie 10 oder 50 oder 100 Euro. Das nahm mir etwas den Wind aus den Segeln. Was meinen denn Sie? Ergebenst Ihre Maltje B., Hildburghausen.

Liebe Frau B., wenn Sie »Volksbetrug« ins Spiel bringen, muß ich Sie an die Volksweisheit erinnern, man gewöhne sich an alles. Damit rechnen unsere Verkaufsstrategen. Vor immerhin 30 Jahren brachte Rio Reiser sein Album Über Alles heraus. Darauf ist auch der schmissige und bissige Song 9,99 zu hören. Was jedoch machen diverse Online-Firmen zur Stunde? Sie bieten das neuwertige, knallbunt gestaltete Album für 16,99 an, ohne rot zu werden. Sie wissen genau, das Volk lechzt bereits genauso nach gebrochenen Preisen wie nach gebrochenen Knochen. Deshalb fällt auch keiner unserer Außenministerin Baerbock in den Arm, wenn sie, »Rußland ruinierend«, eiskalt mit dem Atomkrieg spielt. Die Leute wünschen verarscht und in Weltkriege gezogen zu werden, weil sie das inzwischen, seit 1914, eben so gewöhnt sind. Sie haben auch die sogenannte, völlig überflüssige, fruchtlose und sündhaft teure »Rechtschreibreform« tadellos geschluckt. Wer heute noch wagt, Fluß statt Fluss zu schreiben, wird gleich in demselben ertränkt.

Sie werden unter Umständen einwenden, andererseits stünden die Leute doch oft gerade auf möglichst runden Zahlen. Ihr Vater gedenke seinen in zwei Jahren anstehenden 50. Geburtstag ganz groß zu feiern und spare schon eifrig darauf. Dabei leidet er vielleicht schon gegenwärtig an Magengeschwüren, die ihm zunehmend den Genuß von Schweinshaxen mit Thüringer Sauerkraut verderben. Warum feiert er dann lieber nicht schon heute, mit 48, ganz groß? Weil das Ihrer Frau Mutter gar zu peinlich wäre. Niemand feiere beispielsweise ein 48jähriges Betriebsjubiläum, wenn er genauso gut noch zwei Jahre weiterarbeiten und Rentenversicherung abführen könne, wie es ja auch Emmanuel Macron wolle. Nur der Einsatz für runde Sachen sei nachvollziehbar und handhabbar zu machen. Wenn Sie einem Katastrophen-helfer erzählen, das Erdbeben habe schon 9. 877 Todesopfer gefordert, geht er doch gar nicht erst hin. »Fast« 10.000, oder eben »rund« 10.000, müssen Sie ihm erzählen, dann rennt er sofort los, um dieses epochale Ereignis nur nicht zu verpassen. Zwar dürften dem Opfer Nr. 9.999 und dem Opfer Nr. 10.001 die quantitativen Unterschiede ziemlich egal sein, sobald sie genauso tot wie das Opfer Nr. 10.000 sind, aber die Geschichte wird ja nicht für Opfer, vielmehr für Sieger und Überlebende gemacht.

Hier hätten wir womöglich eine Klammer für meine Über-legungen, liebe Frau B. Der Wunsch nach Verkomplizie-rung (9,99) und Vereinfachung (10.000) dürfte sich in der Menschheit, pauschal betrachtet, einigermaßen die Waage halten. Wann nun welcher jeweils zur Geltung kommt, bestimmt freilich nicht die Menschheit, vielmehr das Pack, das über geeignete Philosophen, Lehranstalten und Massenmedien verfügt, somit die Menschheit beherrscht.


Lieber KO, neuerdings muß ich mir ein Büro mit zwei Pferdenarren teilen. Ich bin schon bald ein wandelndes Lexikon für Schritt, Trab, Galopp und so weiter. Jetzt legen sie mir ans Herz, meinem Siebenjährigen ein Shetlandpony zu kaufen – falls Sie nicht im Bilde sind: letztlich nichts anderes als ein etwas aufgeblähter Kurzhaardackel. Würde ich es aber so nennen: plumper Kurzhaardackel, wäre ich binnen einer Woche aus dem Büro gemobbt. Noch befremdlicher ist ihr Wort für die Anweisungen oder Befehle, die der Reiter seinem Untertan via Gewichtsverlagerung, Schenkeldruck, Zügelzug, manchmal auch Gerte oder Peitsche zu erteilen hat. Sie nennen es reiterliche Hilfen, ungelogen! Ja, wenn ich meinem Buben im Rooter klammheimlich das Internet sperre und ihm morgens statt Popcorn Reißzwecken ins Müsli mische – ist das dann eine gelungene Erziehungs-beihilfe ..? Ergebenst Ihr Markus R., Treffurt.

Lieber Herr R., die ZweibeinerInnen sind der verlogenste Schlag, der seit der Altsteinzeit auf diesem Planeten herumläuft. Der Kulturphilosoph Friedell behauptet, in der griechischen sogenannten Antike, oft von sogenannten Demokraten in den Himmel gehoben, hätte die Verlogenheit bereits die tollsten Blüten getrieben. Die bekannte Schreckensherrschaft der Französischen Revolution wurde nicht etwa von Oberschurken wie Robespierre, Danton und Saint-Just angeleitet, vielmehr von einem 12köpfigen Wohlfahrtsausschuß … Das klang doch kaum nach den vielen tausend Köpfen, die rollen mußten. Man munkelt bereits, das nächste rotgrüne Bundeskabinett werde sich, zwecks Gewinnung der wahlberechtigten Wanderschaft, Talfahrtausschuß nennen. Wer sich weigert, an der Talfahrt der deutschen Volkswirtschaft teilzunehmen, kommt erst einmal in Schutzhaft, und zwar ohne Fernsehen und Handy. All diese Hilfen sind also Hüllwörter – nur wird dieser korrekte Begriff, Hüllwort, im Rahmen der nächsten Rechtschreibreform verboten. Ob Sie sich dann von Ihrem Gehalt noch Reißzwecken leisten können, lieber Herr R., darf bezweifelt werden. Schließlich sinnt Ihr Arbeitgeber unentwegt auf Kostendämpfung, nimmt somit eifrig Lohnraub mit Samthandschuhen vor.

Ähnlich häßlich und fehlleitend wie die eben gestreifte faschistische Schutzhaft dürfte der angeblich in antifaschistischem Geiste bemühte Holocaust sein. Erwin Chargaff, damals schon seit Jahrzehnten in New York City ansässig, nennt diese Wortprägung 1983 (in seinem Büchlein Kritik der Zukunft) »dumm«; sie sei »dem amerikanischen Fernsehmisthaufen entsprossen. So etwas sollte keinen Namen haben, denn Namen erzeugen Fächer, in die man das zum Vergessen Bestimmte zu den Akten legt.« Damals bürgerte sich das überseeische Kunst- und Schlagwort – das die gnadenlose Verfolgung der Juden im Faschismus meint, übrigens unter Ausklammerung anderer Opfergruppen – gerade auch im Deutschen ein. Inzwischen ist jeder, der unter Aufbietung von neun Buchstaben den »Holocaust« beklagt, automatisch auf der Seite der Guten. Um was es eigentlich geht, braucht er ja nicht unbedingt zu wissen. Alle Hüllwörter sind auf Ablenkung, Irreführung, Verdummung angelegt.

Vielleicht darf ich noch auf eine Abart des Verhüllens hinweisen, das Verniedlichen. Mein kinderreicher Nachbar bekam ein schwarzes Kätzchen geschenkt, das begreiflicherweise Puma hieß. Kaum war es jedoch drei Tage im Haus, rief alle Welt es Pumi. Unter diesem Namen wird es nun verhätschelt, am Schwanz gezupft oder in die Seite getreten, je nach dem. Eine Tante von mir meldet sich am Telefon stets mit »Hier ist die Moni«, obwohl sie einem knapp 80jährigen Schlachtroß gleicht. Mein Neffe Emil ist, wie so viele, in die gegenwärtige deutsche Außenministerin vernarrt und spricht beim Skat in der Kneipe nur noch von seinem Baerböckchen. Durch Verniedlichung werden die Dinge und Zustände vereinfacht und sozusagen gleichgeschaltet. Dadurch werden sie erträglicher und handhabbarer. Drückt jedem ein Handy in die Hand, und jeder hält sich für einen Gott.


Lieber KO, jedesmal, wenn ich auf dem Grab meiner alten Mutter die Petunien gieße, muß ich an dem wuchtigen Granitstein irgendeines Herrenreiters vorbei, der die Inschrift wie folgt krönen ließ: »Lebe frei, sterbe stolz« … Also, wissen Sie, gegen die Freiheit hätte ich ja gar nichts einzuwenden. Aber Stolz ..? Vor einigen Jahrzehnten wurde ich bereits dazu angehalten, auf die DDR stolz zu sein, doch just meine Mutter meinte, wenn nicht der liebe Gott, dann hätte sie uns ja wohl das Moskauer Politbüro in den Schoß geworfen – die DDR, meine ich. Oder was meinen Sie? Ergebenst Ihre Almut F., Stendal.

Liebe Frau F., ein Hoch auf Ihre verblichene Frau Mutter! Mit dem Schimpfwort Herrenreiter haben Sie ja selber schon angedeutet: Stolz hat stets einen herrischen, oft auch einen hochmütigen Zug. Der Mann ist auf seine Herkunft, seinen Grundbesitz, sein rassiges Pferd, seinen Schnauzbart und seine Siegesserie im Schachspiel stolz – alles seins, aber nichts davon hat er sich frei erworben. Schließlich hat er sich seine Herkunft und die Hormone, die seinen Bart sprießen lassen, so wenig erwählt wie Ihre in Stendal aufgewachsene Frau Mutter die DDR. Somit ist er auf Geschenke des Zufalls stolz, hält sie freilich immer für sein Verdienst. Mitleid, etwa mit zerlumpten Tagelöhnern oder mit Zeitgenossen, die das sogenannte Schicksal mit hübschen Gesichtszügen auszustatten vergaß, kennt er nicht. Hat seine Gattin einen steilen Busen, rühmt er diesen bei den Clubabenden, als hätte sie ihn einst in der Gebärmutter eigenhändig gedrechselt. Aber was soll ich Sie noch länger langweilen, Sie wissen dies alles ja längst. Das Gesündeste wäre es ohne Zweifel, dem überheblichen Geschehen, das die ZweibeinerInnen »hinterher Geschichte nennen« (Ernst Kreuder), einfach durch sogenannten Freitod zu entgehen. Aber dann droht die Auferstehung! Um 1990 besuchte ich, von Kreuzberg aus, hin und wieder eine Freundin, die unweit jenes Friedhofs wohnte, der im Winkel Soldiner-/Wollankstraße liegt, heute wohl Wedding oder Mitte. Eben dort führte sie mich einmal zu einem bestimmten Grab. Als wir uns diesem näherten, legte sie bereits einen Zeigefinger an ihre küssenswerten Lippen. Dann hielt sie an und nickte schmunzelnd auf die Inschrift. »Gehet leise / ich schlafe nur«, war da am Kopf des Sandsteins eingemeißelt.
°
°