Samstag, 22. Juli 2023
Horten oder abstoßen?
ziegen, 18:46h
Wer irgendwann unbedingt als »guter« Schriftsteller eingestuft werden möchte, sollte sich nicht zu viel erzählen lassen – beherrscht er die Kunst des Weglassens, hat er bereits halb gewonnen. Allerdings ist der Feind unglaub-lich hartnäckig. Ich sclber schreibe seit nunmehr rund 25 Jahren auf Anhieb in der Regel immer noch zu ausufernd und entsprechend langatmig. Man hält alles, was einem auf der Zunge liegt oder was schon länger im Gehirnfach Einfälle schmort, für viel zu wichtig. Warum? Weil man in sich selbst, in die »eigenen« Geschichten und Interessen, vor allem jedoch Potenzen verliebt ist. Dämmert dem Autor im Zuge des Schreibens deshalb der Verdacht, dies und jenes habe er wohl besser zu opfern, sieht er bereits die Hexe den Dolch schärfen, mit dem sie ihm das Gemächte abzuschneiden gedenkt.
Die Herkunft des bekannten Wahlspruchs less is more (weniger sei mehr) liegt anscheinend im Nebel. An seiner Genialität dürfte kaum zu rütteln sein. Er stimmt fast immer. Achten Sie einmal darauf, wie sich etwa die vielen Beispiele und Vorfälle in schlechten Abhandlungen oder Erzählungen gegenseitig entkräften und den ganzen Text mit der Blässe und Saftlosigkeit eben von Nebel oder von Käse überziehen. Das gilt selbst für einzelne Worte. Bringen Sie ein eher selten benutztes Wort wie rütteln in einem kurzen Essay oder gar in einem Absatz mehrmals, wird es notwendig stumpf und damit entwertet. Es rüttelt dann an einer anderen wichtigen Säule guter Texte, dem möglichst anschaulichen, treffenden und persönlichen Ausdruck. Durch die zügellose Wiederholung geht Ihr Zauberwort sozusagen den Bach hinunter. Wenden Sie nicht ein, so arm sei der Wortschatz der deutschen Sprache ja nun auch wieder nicht, daß sich nicht immer noch ein erfrischendes Wörtchen fände! Dreimal nichts – aber jede Regel hat ihre Ausnahmen. Der reiche Wortschatz ist nur dazu da, Ihnen die beste Auswahl zu ermöglichen. Mag es auch für rütteln oder gar zermürben je 20 Synonyme oder ähnliche Worte geben – in jedem neuen Zusammenhang gibt es lediglich ein Wort, das nun angebracht ist und somit, wie Rüpel sagen, »reinhaut« und hinfort im Glanz aller nur gedachten Bezugspunkte erstrahlt.
Selbstverständlich schmerzt opfern. Es tut besonders Leuten wie mir weh, die zeitweise unter der Fuchtel ihres Großvaters aufgewachsen sind. Der Werklehrer und Wandersmann Heinrich V. aus Kassel-Bettenhausen trennte sich gleichermaßen ungern von Dingen wie Leuten. Deshalb nahm er ja auch seine Tochter Hannelore und deren Knirpse bei sich auf, nachdem sie sich ihrerseits von ihrem Gatten getrennt hatte. Heinrich war eben anhäng-lich, treu, pflichtbewußt – leider auch als Frontsoldat im Zweiten Weltkrieg. Zu Hause, in der engen Mietwohnung, kam so schnell nichts bei ihm um. Die Seiten der Tageszeitung zum Beispiel – mehrmals gefaltet und dann aufgeschlitzt – verwandelte er in Klopapier. Die Blätter wurden in einem offenen Holzkästchen gestapelt, das an der Klowand hing. Im vorderen Brettchen ein V-Aus-schnitt, damit die Blätter mühelos zu entnehmen waren. Durch beharrliches Knautschen ließ sich der Lesestoff, der stets für Kurzweil sorgte, halbwegs geschmeidig machen. Eine härtere Phase stand bevor, wenn das Kursbuch der Bundesbahn abgelaufen war. Die gelbgetönten Seiten knisterten wie lackiert und impften einem gnadenlos das Wesen der Zahlen ein.
Den Weg zur Bettenhäuser Volksschule (in Kassel-Ost), wo mein Großvater unterrichtete, legte er durch Jahrzehnte auf seinem sorgfältig gepflegten schwarzen Drahtesel zurück. Erspähte er einen Bindfaden, der sich in der Weißdornhecke am Uferweg der Losse verfangen hatte, hielt er an und ließ ihn in seine Knickerbocker wandern. Seine Baskenmütze war ebenfalls schwarz. Regnete es, schützte ihn sein Kleppermantel, der grau und aus Gummi war wie die Fahrradschläuche. Von diesen trennte er sich, wenn sie ihm keine Lücke mehr für einen Flicken boten. Hatte ihm eine Reißzwecke einen Platten eingebracht, fand sie meine Großmutter Helene beim Auspacken der Satteltaschen wieder, vielleicht ins Komißbrot gepinnt, das er am Bettenhäuser Dorfplatz im Konsum kaufte. Bei aller Strenge, Spaß muß sein. Da sich auf diese sparsame Weise auch eine Menge verkrümmter, rostiger Nägel ansam-melte, hieß es auf dem Amboß im Keller ein Viertelpfund geradeklopfen, wenn ich etwas ausgefressen hatte. Unangenehmer war nur Unkraut jäten. Er hatte einen Schrebergarten. Zu Reichtum kam er auf diese Art nie, aber ich glaube, der interessierte ihn auch nicht. Für ihn bargen die Dinge kein Machtpotential, sondern Verwend-barkeit. Verwendungsfähiges durfte man nicht ver-schwenden.
Man könnte nun vermuten, als Schriftsteller sollte ich doch eigentlich Heinrichs Sammeltrieb geerbt haben. Aber es kam, wie schon eingangs angedeutet, anders. Ich wurde Minimalist. Sobald ich den Eindruck haben kann, etwas nie mehr zu benötigen, lasse ich es über Bord gehen. Nicht ganz so skrupellos verfahre ich mit Personen. Besitz belastet mich nur. Gewiß habe ich wegen meiner Wegwerfwut hin und wieder bittere Reue zu erleiden. Vor Jahren warf ich sogar meinen Zeichenblock aus der Gesellenzeit (um 1995) in einen Papiercontainer. Er enthielt einige packende freie Zeichnungen, wie ich glaube, etwa von einem abgeschlagenen Sessel, aus dessen Gurtung einem die nicht mehr verschnürten Sprungfedern beinahe wie entfesselte Zauberlehrlinge oder wie Faustschläge aufs Auge fuhren. Ausgediente Töpfe, Koffer, Beschläge, Werkzeuge und dergleichen hebe ich nie auf, owohl ich sie gelegentlich händeringend vermisse. Der Minimalist will Sauberkeit, Übersicht, reinen Tisch. Er will mit möglichst wenigem auskommen, auch in Texten. Manche Bücher, meistens schlechte, benutze ich nur als unumgängliche Quellen, etwa für meine Nasen. Dann gönne ich sie nicht etwa der Recyling-Industrie oder verderbe nachfolgende LeserInnen durch sie; vielmehr zerlege ich sie und entfache über Wochen hinweg mit Hilfe einiger zerknüllter Buchseiten meinen Zimmerofen. Für die Thüringer Allgemeine oder die Süddeutsche Zeitung empfehle ich, dasselbe Verfahren schon vor ihrer Lektüre anzuwenden.
Von sämtlichen Büchern, die ich gelesen habe, bewahre ich kleine Notizzettel auf, die ich in einer Art Karteikasten einordne. Sie können notfalls auch als Belege dienen. Der Kasten ist nicht größer als jenes von meinem Großvater bevorzugte Komißbrot. Beim Wandern brachte Heinrich uns Enkeln einmal an einem Baggersee das Ditschen bei. Man läßt einen flachgeschliffenen Kieselstein so geschickt aus dem Handgelenk knapp über das Wasser flutschen, daß er möglichst oft aufditscht; er soll viele Hopser machen. Das ist nun eher eine Art der Vervielfältigung, nicht wahr? Nach manchen Quellen versuchten sich in dieser Gymnastik bereits Homers Helden Herkules und Jason, wenn sie auch, statt Steinen, ihre Schilde dazu benutzt haben sollen. Per Sidenius, Hauptfigur des Pontoppidan-Romanes Hans im Glück, lenkt sich am Strand des Sundes mit dem Ditschen von der drohenden Aussicht ab, seine hochfliegenden Hafenbaupläne ins Ostseewasser fallen zu sehen. Er war Ingenieur. Pontoppi-dans großangelegtes Werk erschien, auf dänisch, um 1900.
Während jene Quellen auf erforderliche Bedingungen wie einer Rotation der abgeschnellten Scheibe oder Mangel an Gegen- und Seitenwind hinweisen, scheint es für Heinrich Mann (1905) eher auf Zahlungskraft anzukommen. Professor Unrat, mit der Künstlerin Fröhlich an der Ostsee in der Sommerfrische, »zuckte die Achseln über den Brasilianer, der anstatt flache Kiesel über das glatte Wasser springen zu lassen, Markstücke dazu nahm …« Das wäre meinem Großvater nicht so schnell eingefallen, schon mangels Geld. Dies alles habe ich nur bereit, weil es in meinem Komißbrot steht.
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