Mittwoch, 12. Juli 2023
Dudows letzte Regiearbeit

Vor 60 Jahren verlor die DDR ihren berühmtesten Filmregisseur, Slatan Dudow, geboren 1903. Man dürfte zumindest seinen »proletarischen« Pionierfilm Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? von 1932 kennen. Später, nach dem Exil in Frankreich und der Schweiz, ging der bulgarisch-stämmige, mit Brecht befreundete Kommunist nach Ostberlin und drehte für die in Babelsberg ansässige DEFA. Doch er war selber erst 60, als er eines feierabends unfallweise zu Tode kam. Hat ihn am Ende just die DEFA auf dem Gewissen, wie der Journalist und Filmexperte Ralf Schenk zu glauben scheint?

Im Sommer 1963 drehte Dudow im östlichen Brandenburg auf einem Gutshof Szenen seines Streifens Christine, der unvollendet bleiben sollte. Der Drehort, wohl Heinersdorf, lag bei Fürstenwalde/Spree. Ebendort hatte der 60jährige am frühen Morgen des 12. Juli 1963 einen tödlichen Autounfall. Einzelheiten nennt, soweit ich sehe, niemand. Schenk erläutert aber immerhin*, Dudow sei nach den anstrengenden Dreharbeiten »auf dem Weg nach Berlin« gewesen – »und weil die DEFA-Direktion ein paar Monate zuvor aus Sparsamkeitsgründen beschlossen hatte, personengebundene Chauffeure auf ein Minimum zu reduzieren, lenkte er seinen Wagen selbst. Neben ihm, dem vor Müdigkeit immer wieder die Augen zufielen, saß seine Hauptdarstellerin Annette Woska. Sie überlebte den Crash, lag Wochen im Koma, erfuhr auch danach lange nicht vom Tod ihres Regisseurs …«

In einem Porträt aus einem gleichsam amtlichen Sammelband** über frühe führende DDR-Revolutionäre liest sich die Sache anders. Es stammt vom prominenten Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase. Danach war Dudow am Lenkrad eingeschlafen. Dies aber mitnichten auf dem Weg nach Berlin (gen Westen), vielmehr nach seinem recht nahen Häuschen in Saarow am Scharmützelsee, der südlich von Fürstenwalde liegt. Der Regisseur hatte dort eine Datscha, die er vor allem im Sommer gern nutzte. Mit »seiner Familie«, wie Kohlhaase reichlich unbestimmt formuliert, wohnte er in Berlin-Pankow. Beide Domizile waren anscheinend nur gemietet. Aber der »blaue Mercedes«, von dem Kohlhaase spricht, war unmißver-ständlich Dudows Privateigentum. Zum Umgang mit dieser Limousine aus dem Westen teilt der Filmautor Einzelheiten mit. Zunächst sei sie von einem Fahrer gesteuert worden, den die DEFA stellte, dann von einem, den der Starregisseur aus eigener Tasche bezahlte. Schließlich habe er sich jedoch in den Kopf gesetzt, sie eigenhändig zu fahren. Er machte also den Führerschein und erfreute sich daran. Einen harmlosen Unfall, bei dem er im Winter gegen eine mit Streusand gefüllte Kiste fuhr, nahm der vierschrötige, untersetzte, wuchtige Filmkünstler offensichtlich auf die leichte Schulter. Dann kam der verhängnisvolle Julitag 1963. Kohlhaase poetisiert: »Der Tod hat sich hinter einen Baum gestellt, um ihn zu erwarten.« Der Sensenmann war schuld.

Die von Schenk bemühte anrührende Geschichte von der arglistigen DEFA verschmähte Kohlhaase. Überdies verzichtet er aber nicht nur auf Andeutung der örtlichen Verkehrslage – er übergeht sogar die im Koma gelandete Beifahrerin Dudows. Woska kommt bei ihm nicht vor. Das ist schon ein dickes Ding.

Theater- und Filmstar Angelica Domröse, geboren 1941, hatte als 17jährige ihren ersten Film unter Dudows Leitung gespielt. In ihren Erinnerungen*** bestätigt sie Kohlhaases Sicht auf den blauen Mercedes und Dudows Begierde, ihn unter seine Lenkrad-Regie zu zwingen. Sie behauptet zudem, der alternde Filmregisseur, der (laut Kohlhaase) schon immer zu Sarkasmus, Aufbrausen und Sturheit neigte, sei wiederholt durch die Führerschein-Prüfung gefallen. Aber darauf will ich nicht herumreiten. Eine recht befremdliche Tatsache erblicke ich zum einen darin, daß auch Domröse, wie Kohlhaase, ihre Geschlechts-, Alters- und Berufsgenossin Annette Woska kaltblütig unter den Tisch fallen läßt. Sie scheint sie nicht zu kennen – obwohl sie mit Kohlhaase befreundet war, der jede Wette um die Rolle Woskas als Beifahrerin wußte. Nebenbei ist Woska auch im Internet nahezu unbekannt; noch nicht einmal die Lebensdaten sind zu haben. Wikipedia erwähnt lediglich, aufgrund ihrer schweren Verletzung bei dem Unfall habe sie »lange Zeit nicht filmen« können. Später, nach ihrer Heirat mit dem Regisseur Dieter Roth, habe sie jedoch, nun als Anette Roth, noch in mehreren DEFA-Filmen mitgewirkt. Wo sie zur Zeit von Christine wohnte, verrät kein Mensch. Vielleicht ruhte sie sich zumindest streckenweise in der Datscha am Scharmützelsee auf dem Eisbärenfell aus. Man erfährt auch nicht, ob sie mit Dudow möglicherweise vor Fahrtantritt ein paar Gläschen Sekt auf das Ende der anstrengenden Dreharbeiten geleert hatte. Falls es Pressemeldungen gab, sind sie mir nicht zugänglich. Erfahrungsgemäß kein Verlust.

Halten wir uns an die Literatur. Nach Ausweis ihres wenig empfehlenswerten Buches schätzte Angelica Domröse, neben dem Alkohol, insbesondere Katzen, Uhren – und Autos. Zeitweise fuhr sie einen roten Fiat-Sportwagen, dann einen weißen Porsche. Von den vielen VEB- oder LPG-Arbeiterinnen, die Domröse von den Kinosessel-reihen her anhimmelten, einmal abgesehen, konnten selbst zwei deftige Autounfälle ihre Vernarrtheit nicht verscheuchen. Einen baute ihr erster Ehegatte Jiri Vrstala, ein Clown. Den anderen hatte sie selber als Beifahrerin eines DEFA-Chauffeurs. Sie lag Wochen im Krankenhaus. Ob und wie jeweils Dritte zu Schaden kamen, geht aus ihren Erinnerungen nicht hervor. Vielleicht hatten die Dritten zufällig mehr Glück als Woska. Als das Lübbe-Buch entstand, um 2000, fuhr Domröse einen Mini-Cooper.

Denke ich ganz allgemein an den nachäffenden Wahnsinn der Verkehrspolitik der SED, könnte ich ebenfalls zum Alkoholiker werden. 2003 zog ich nach Thüringen. Als ich damals durch Städte wie Eisenach oder Mühlhausen ging, kam ich aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Während sich die Linienbusse im Wettstreit mit den modischen, breitmäuligen »Gelände«-Limousinen durch die engen Gassen zwängten, sah ich hier und dort noch einasphaltierte Straßenbahnschienen aufblinken. Am liebsten hätte ich mich verzweifelt hingeworfen und meine Zähne in die stillgelegten Schienen geschlagen. Diesen Schwenk vom spurtreuen Massenverkehr zur verstärkten Automobilisierung nahmen die ostdeutschen »Sozialisten« in den 1970er Jahren freiwillig, ja mit Begeisterung vor! Da war Dudow gerade erst angefault.

* Ralf Schenk: Artikel in Filmdienst 14/2003, präsentiert auf https://www.defa-stiftung.de/defa/publikationen/artikel/142003-der-mann-der-kuhle-wampe-drehte/
** Die erste Stunde, Hrsg. Fritz Selbmann, Lizenausgabe im Buchclub 65, Ostberlin 1969, S. 103–13
*** Ich fang mich selbst, aufgeschrieben von Kerstin Decker, Gustav Lübbe Verlag 2003, bes. S. 74/75, 106 ff, 169, 175 ff



An Dudows Christine war damals auch der 34 Jahre alte Schauspieler Günther Haack (1929–65) beteiligt, als Luftschaukelarbeiter Georgi und einer von etlichen Geliebten der titelgebenden Landarbeiterin. Dagegen war er nicht an Dudows Autounfall beteiligt. Das kam erst zwei Jahre später. Mit seinem 33jährigen Kollegen Manfred Raasch (1931–65) und wohl noch anderen DDR-Bühnenkünstlern saß er im Juni 1965 vor oder nach einem Auftritt im Bitterfelder Kulturhaus (die Quellen widersprechen sich) in einem Auto, das zwischen Delitzsch und Leipzig auf der F 184 verunglückte. Fahrer soll der »unter Alkoholeinfluß« gestandene Regisseur Hans Knötzsch gewesen sein, der deshalb später vor Gericht kam.**** Raasch und Haack erlagen ihren Unfallver-letzungen. Raasch, unter anderem beliebter Sänger von sogenannten »Seemannsliedern«, hatte 1963 die Single Die Liebe ist immer an Bord / … dann ist mein Glück gemacht herausgebracht, Amiga Nr. 4 50 406. Als Bundesverkehrsminister würde ich diese Scheibe gleich zwischen dem Autopiloten und der Innenraum-Überwachungskamera zwangsweise in alle Neuwagen einbauen lassen.

Im Gegensatz zu Filmzar Dudow konnte sich der gelernte Schlosser und Lokführer Helmut Scholz (1924–67) bis zum letzten Atemzug durch die Gegend fahren lassen, soweit sie umzäunt war. Als sein Chauffeur im März 1967 aus mir unbekannten Gründen Scholzens »schwere« und sicher-lich einige Devisen fressende »Regierungslimousine«, so der hämische Spiegel (15/1967), an der Autobahnabfahrt Beelitz (südlich von Berlin) in einen »Trümmerhaufen« verwandelte, war Scholz erst 42 – und dennoch seit 1959 sowohl stellvertretender Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn wie Vize-Verkehrsminister der DDR. Der schwerverletzte Fahrer des Verdienten Eisenbahners Scholz überlebte möglicherweise. Der Unfall soll sich nachts ereignet haben. Entsprechend sieht die Quellenlage aus.

Ich will die Gelegenheit nutzen, um zusätzlich an drei Sängerinnen zu erinnern, die in einem Lexikon der Frühverstorbenen, falls es noch einmal dazu kommt, nicht fehlen sollten. Die Bulgarin Pasha Hristova (1946–71), in der Hauptstadt Sofia aufgewachsen, war mit einer mal strahlenden, mal glutvollen Stimme gesegnet. Ihren »Durchbruch« hatte sie gleichwohl erst 1967 oder 68 auf einem Schlagerfestival in der russischen Stadt Sotschi am Schwarzen Meer. Das paßte zu ihren dunklen Haaren, die sie meistens kurz und eher züchtig enganliegend trug. Wie sich versteht, sah sie auch im übrigen hinreißend aus. Nichts mehr von den Reißbrettern, zwischen denen sie, als gelernte technische Zeichnerin, womöglich versauert wäre. Man hatte ihr, angeblich nur aufgrund ihrer stimmlichen Begabung, den Besuch einer Schule für Unterhaltungs-musik gestattet. Jetzt erobert sie als Gesangsolistin des Orchesters Sofia die ihr erreichbare Welt. Mit unverfänglichen Stücken wie Eine bulgarische Rose oder Wehe, Wind, wehe bringt sie alle verhärteten Herzen des »Ostblocks« zum Schmelzen. Aus zerbrochener Familie kommend, war Pasha bei ihrer Großmutter aufgewachsen. Angeblich hatte sie sogar das Bett mit ihr geteilt. Die Großmutter ermöglichte ihr Geigenunterricht, und Pasha hing sehr an ihr. Bindet uns die englische Wikipedia keinen Bären auf, erwachte die halbwüchsige Enkelin eines morgens an der Seite eines kalten, steifen Leichnams und lernte das Gruseln.

Am 21. Dezember 1971 ist sie selber daran. An diesem Tag soll die Hristova nach Algier fliegen, um an Bulgarischen Kulturtagen mitzuwirken. Doch die Maschine kommt in Sofia kaum in die Luft, berührt nach einer heftigen seitlichen Windböe mit einer Tragfläche die Piste, zerschellt und geht in Flammen auf. Von den 73 Insassen sterben 32, darunter die 25jährige Schlager- und Chansonsängerin und ihr zweites, noch ungeborenes Kind. Dieses Ungeborene stammte von ihrem Orchesterleiter Nikolay »Fucho« Arabadzhiev, mit dem Pasha, nach einer ersten gescheiterten Ehe, zusammengelebt hatte. Er starb an ihrer Seite. Die Untersuchungsberichte geben War-tungsfehler als Unglücksursache an, die möglicherweise nicht aus Fahrlässigkeit, sondern mit Bedacht erfolgt seien, um die Aufdeckung krimineller Machenschaften zu verhindern. Die Angelegenheit bleibt undurchsichtig.

Bekanntlich lebt halb Bulgarien von der Rosenzucht oder dem Rosenöl-Export. Was Wunder, wenn der Schlager Eine bulgarische Rose dort im Jahr 2000 zum »Lied des Jahrhunderts« erkoren worden ist.***** Es soll kaum einen Bulgaren geben, der das Lied nicht kenne. Soweit ich sehe, wird die bulgarische Rose, entgegen einer vom westdeutschen Nachkriegsschlager geprägten Erwartung, nicht der bezaubernden Sängerin, sondern von dieser dem Besucher Bulgariens überreicht. Er möge sie als schöne Erinnerung mitnehmen, an die Berge und Seen des Landes, und »an uns alle«. Demnach scheint das Lied die Gemeinschaft hoch zu halten und einen vergleichsweise milden Patriotismus zu verströmen.

Die in der Großstadt Posen aufgewachsene Polin Anna Jantar (1950–80), ursprünglich Szmeterling mit Nachnamen, entpuppte sich bald nach ihrer bulgarischen Kollegin als publikumswirksame sozialistische Schlagersängerin. Sie gewann auch auf Festivals im Ausland etliche Preise. Als sie im März 1980 aus den USA zurückkehrte, wurde der Szmeterling zerquetscht. Das Flugzeug »Mikołaj Kopernik«, in dem Jantar saß, ging mittags kurz vor der Landung in Warschau zu Bruch. Wahrscheinlich war an der russischen Maschine ein Turbinenschaden aufgetreten. Dem Piloten Pawel Lipowczan wurde der erfolgreiche Versuch gutgeschrieben, seine Maschine an bewohnten Häusern vorbei zu bugsieren. Er kam ebenfalls um. Mit Lipowczan und der 29jährigen dunkelhaarigen Künstlerin Jantar, die eine Tochter, die spätere Sängerin Natalia Kukulska, zurückließ, starben 85 weitere Menschen. Sollte an der Himmelspforte zufällig ein stets zu Scherzen aufgelegter Engel Wache geschoben haben, begrüßte er Jantar vielleicht mit dem Titel ihres Liedes Najtrudniejszy pierwszy krok von 1973: »Der erste Schritt ist der schwerste«. Oder er spielte aus dem Internet ein offensichtlich zeitgenössisches Musikvideo****** ein, in dem Jantar ihr Lied Za wszystkie noce (»Für all die Nächte«) zwischen nagelneuen Autos und Flugzeugen, ja sogar als Pilotin in einer Flugzeugkanzel vorträgt.

Am 24. März 2015 sorgt ein »crash« in Mitteleuropa für 150 Tote. Verletzte gibt es nicht, weil keiner der Insassen überlebte. Ein Airbus aus Barcelona, Ziel Düsseldorf, war nach längerem »Sinkflug« an den Französischen Alpen zerschellt. Die französischen und deutschen ErmittlerInnen behaupten, der seelisch kranke Co-Pilot habe sich im Cockpit der Maschine eingeschlossen und den Airbus dann mit Absicht zum Absturz gebracht. Zu den Fahrgästen zählten beispielsweise die im Ruhrgebiet lebende 33jährige Opernsängerin Maria Radner (1981–2015), ihr Ehemann Sascha Schenk und deren gemeinsames Söhnchen Felix, knapp zwei Jahre alt. Im letzten Auftritt ihres Lebens hatte Altistin Radner in Barcelona die Erdgöttin »Erda« in Wagners Siegfried gegeben. Sie starb in rund 1.500 Meter Höhe. Dasselbe gilt ferner für eine ganze (10.) Schulklasse aus Haltern am See, Kreis Recklinghausen. Mit ihr wird es geradezu makaber. Die 16 SchülerInnen und zwei Lehrerinnen des örtlichen Joseph-König-Gymnasiums kehrten von einem Schüleraustausch-Besuch in Spanien zurück. Usprünglich hatten sich mehr SchülerInnen für die einwöchigen Ferien beworben, als Plätze vorhanden waren, hieß es in Agenturberichten.******* Deshalb seien die Plätze durch Losentscheid vergeben worden.

**** »Oberstes Gericht verwarf Berufung«, Neues Deutschland 25. Januar 1966
***** Yoan Kolev / Petar Georgiew für Radio Bulgaria, 14. Februar 2015: https://bnr.bg/de/post/100521608/1971-eine-bulgarische-rose
****** https://www.youtube.com/watch?v=xy4AB4t2gh4
******* https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/id_73415084/germanwings-unglueck-schueler-aus-haltern-am-see-wurden-ausgelost.html, 25. März 2015

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