Sonntag, 21. Mai 2023
Riesenrad

Hier und dort wies ich bereits auf die erstaunliche Fähig-keit des Zweibeiners hin, Überflüssiges zu erfinden und, je nach dem, zu genießen oder zu fürchten. Man denke nur an den Stöckelschuh oder die Mittelstreckenrakete. Der Yankee George W. G. Ferris (1859–96), ein Bauingenieur in Pittsburgh, der Stahlkocherei von Pennsylvania, beglückte uns vor ungefähr 130 Jahren mit dem Riesenrad. Schnödes Straßenpflaster, damit die Gäule der Republik nicht im Schlamm versinken, und eine leicht gewölbte Steinbogenbrücke, die (1904) den eher schmalen Hauptfluß Kus meiner Freien Republik Mollowina überspannt – das wäre Ferris auf die Dauer zu langweilig gewesen. Zwar hatte er zunächst im Eisenbahn- und Brückenbau gearbeitet. Um 1890, inzwischen verheiratet, gründete er eigene Firmen. Dann jedoch nahte die für 1893 in Chicago, Illinois, geplante sogenannte Weltausstellung. Die Organisatoren suchten fieberhaft nach einem ungewöhnlichen Bauwerk, das imstande wäre, den Pariser Eiffelturm (von 1889) in den Schatten zu stellen – und Ferris hatte den entscheidenden Geistesblitz: ein großes Rad, das statt Wasser Menschen beförderte. Man genehmigte sein Projekt schließlich unter der Bedingung, er habe es selbst zu finanzieren.

Nun waren solche Dinger nicht unbedingt brandneu, aber das von Ferris war einzigartig riesig. Das Ferris Wheel oder Riesenrad maß im Durchmesser rund 75 Meter und wies 36 breite, aufgehängte Gondeln auf, in denen jeweils 60 Personen Platz finden konnten. Allein die auf zwei Zwergeiffeltürme gehievte Achse wog fast 90.000 englische Pfund.* Tatsächlich fand Ferris' Ding regen Publikumszuspruch. Nachdem das Fest gelaufen war, verstrickte er sich allerdings in Rechtsstreitigkeiten wegen seiner Verbindlichkeiten an Lieferanten und seiner Forderungen an die Eintrittsgeld-EinzieherInnen und verschuldete sich deftig. Davon litt seine Gesundheit wahrscheinlich mehr, als wenn man ihn in einer schleudernden Kabine seines Rades an den Sitz gefesselt hätte. Und als er 37 war, gab ihm eine Typhus-Erkrankung den Rest.

Ärgerlicherweise lese ich nirgends von einem schweren Betriebsunfall am Chicagoer Ferris Wheel. Behelfen wir uns also mit einem Unglück, das am 23. Mai 2021 – einem Pfingstsonntag, wie viele Quellen betonen – am norditalienischen Monte Mottarone geschah. Nach dem Riß eines Zugseils und dem anschließenden Versagen der Zwangsbremsung raste die Kabine Nr. 3 der Seilbahn Stresa–Monte Mottarone bergabwärts gegen die nächste Stütze, sprang vom Seil und krachte zu Boden. Von 15 Insassen kamen 14 zu Tode. Nur ein Fünfjähriger überlebte, als Waise. Um ihn entbrannte dann nebenbei ein anhaltender widerlicher Sorgerechtsstreit. Was die Absturzursachen angeht, wird Mitarbeitern des Betreibers vorgeworfen, sie hätten die Tragseilbremsen unwirksam gemacht, um geschäftsschädigende Stockungen zu vermeiden.** Ansonsten wird Materialermüdung im Zugseil und Fahrlässigkeit bei dessen regelmäßig vorgeschriebener Überprüfung vermutet.

Fehlt noch der Hinweis, gerade mit dem vielen heiklen Überflüssigen, das uns überschwemmt, lasse sich prima Geld verdienen. Neben den Mittelstreckenraketen sind das beispielsweise die Raumfähren und Drohnen, mit dem das Weiße Haus beliefert wird, oder auch unsere rheinmetal-lischen Panzer und Kanonen, die nach Kiew gehen.

* Jamie Malanowski, »The Brief History of the Ferris Wheel«, Smithsonian Magazine, Juni 2015: https://www.smithsonianmag.com/history/history-ferris-wheel-180955300/
** https://www.nau.ch/news/europa/gutachten-zu-todlichem-gondelabsturz-verzogert-sich-weiter-66208300, 24. Juni 2022

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