Mittwoch, 3. Mai 2023
Tilla und der Heuwagen

Ein Leserbrief an die Vesseler Post

In der letzten Sonntagsbeilage bringen Sie einen heimat-kundlichen Beitrag über die Brandbekämpfung in den mittelalterlichen Fachwerkstädten unserer schönen nordhessischen Heimat. Das ist sicherlich verdienstvoll. Wenn Sie darin aber beiläufig behaupten, noch zur Zeit der bismarkschen Sozialistengesetze sei zum Beispiel »das halbe Städtchen Karlskirchen um ein Haar durch eine Feuersbrunst in Schutt und Asche gelegt« worden, halte ich es, gelinde gesagt, für stark übertrieben. Außerdem ist es reichlich verwaschen. Legen wir also die Karten auf den Tisch; alle Beteiligten sind ja sowieso schon verwest. Ich muß es wissen, denn meine Mutter Hannelore hat mir oft genug von Tillas Heldentat erzählt. Das schwarzgelockte Mädchen war eine Tochter des angesehenen Karls-kirchener Verlagsbuchhändlers Alois Stubenrauch. Meine Mutter stammt aus der örtlichen Lehrerfamilie Hempel, die mit den Stubenrauchs stets gut befreundet war. Schließlich vertrat man dieselben demokratischen und pazifistischen Auffassungen.

Nun ja, Stubenrauchs Tochter Mathilde, genannt Tilla, nicht ganz, wie man wohl sagen darf. Ihren Bogen aus Eschenholz mußte sie sich zum Beispiel heimlich beschaffen. Folglich konnte das biegsame, hübsche, freche Mädchen auch nicht auf dem Dachboden des stattlichen väterlichen Gebäudes Ecke Markt- und Untergasse trainieren. Sie hatte eine Scheibe im Hessischen Hof hängen – in dem langen Nebengebäude, wissen Sie, wo man heute noch die Kegelbahn findet. Der etwas rundliche, pausbäckige Wirtssohn Fritz war ihr nämlich gewogen, um es harmlos auszudrücken. Den Sommer über trainerte sie meistens im Wald. Fritz ging manchmal gleich mit. Einmal erlegte sie einen aufgeschreckten Feldhasen, den mußte er schleppen. Sie trug schließlich ihre Angelrutentasche, in die sie in allen Fällen, wo Tarnung erforderlich war, ihren Flitzebogen zu zwängen pflegte. Als leidenschaftliche Anglerin war sie durchaus bekannt. Dann gab es noch den schmächtigen Gustav, Sohn eines Sprengmeisters von den Madener Steinbrüchen, ein wahres Mauswiesel (der Sohn), und schließlich die kirschmundige Lehrerstochter Mechthild, auch sie schon eine Hempel. Diese vier jugendlichen BürgerInnen hatten um 1880 einen Geheimbund gegründet, den sie, sicherlich gleichfalls aus Gründen der Tarnung, BC nannten, ungekürzt Büchner-Club. Bundesziel war die Befreiung der Welt von Knechtschaft und Dummheit.

Schon bald ergab sich die Möglichkeit, in den Bundeszielen zunächst ein wenig zurück zu stecken. Zwei behelmte Poli-zisten hatten den jungen, blonden, nahezu hünenhaften Zimmermann Kuno Dippel wegen angeblich »aufrüh-rerischer« Reden und der Verbreitung ähnlich gearteter Druckerzeugnisse vom Baugerüst am Karlskirchener Hospital weg festgenommen und in eine Arrestzelle des Amtsgerichtes am Holzweg gesperrt. Das war im April 1883. Tilla war damals 16. Für sie war es klar wie Kloßbrüh, dem Mann mußte geholfen werden, denn sie schätzte ihn gleich aus mehreren Gründen. Der Club schloß sich ihrer Meinung an. Solange Kuno in der Arrestzelle saß, war freilich wenig zu machen. Deren Fenster war durch drei fette Eisenstäbe geschützt, durch die sich allenfalls Gustav hätte zwängen können, das Mauswiesel. Dann wurde die öffentliche Verhandlung gegen Kuno festgesetzt, und zwar auf den 5. Juni 11 Uhr – ein Dienstag, falls sich meine Mutter nicht geirrt hat. Immerhin sprach nichts dagegen, wenigstens einen mit Zettel umwickelten Stein durch Kunos Gitterstäbe zu werfen. Ungefähr um 11 Uhr 30 werde ein vierhebiger Zweifingerpfiff ertönen, bekam der Zimmermann zu lesen. Daraufhin habe er Unwohlsein vorzuschützen und zum mittleren Saalfenster zu wanken, frische Luft schöpfen. Dann werde er schon sehen, wohin er sich zu hechten habe. Nach geglücktem Sprunge habe er sich zur Ruine der Alten Molkerei zu schleichen. Dort werde er für die weitere Flucht mit seinem Gesellenbrief, Kleidung, Proviant sowie ein wenig Geld versorgt. Gez. BC.

Gewiß lag der Gerichtssaal im Obergeschoß selbst für den Sprung eines mutigen hünenhaften Zimmermanns ein bißchen zu hoch, zumal vor den niedrigen Kellerfenstern noch eine schmale, kniehohe Böschung zur Straße abfiel. Aber Tilla hatte die zündende Idee gehabt. Es war ja die Zeit der ersten Heuernte, und von den Wiesen am Odenberg her schaukelten bereits ab Montag die hochbeladenen Leiterwagen von Gut Gleim durch die halbe Stadt. Gustav hatte sich bei seinem Patenonkel, dem Bauer Wegener, eigens unverfänglich erkundigt, ob es im Lauf der Woche noch Regen gebe; sie wollten zelten. Der Onkel hatte seine Pfeife aus dem Mundwinkel gezerrt und heftig den Kopf geschüttelt: »Nie und nimmer, Bub! Da kannst du meine Tabakspfeife drauf wetten!« Das war also geklärt. Da sich der prachtvolle Gutshof der Gleims Richtung Amtsgericht an den Untermarkt anschloß, konnten ihn die Gespanne von Osten her wahlweise auf der Vesseler Straße oder über Holzweg und Untergasse ansteuern. Fritz nahm verständlicherweise 20 Minuten nach 11 den Holzweg. Er, Mechthild und Gustav hatten den Heuwagen kurzerhand am Dachswäldchen auf der Landstraße gekapert. Das war so gegangen: Mechthild hatte im Laufen eine Klapper aus Blechbüchsen ans Heck gebunden, und als Stöffels Wilhelm, der dritte Pferdeknecht des Guts, brummelnd anhielt und nachsah, was da hinten los sei, gaben ihm Fritz oder Gustav – meine Mutter ist sich nicht mehr ganz sicher – eins mit der Faust ans Kinn, während ihm Mechthild natürlich schöne Augen machte. Sie zerrten ihn ins Wäldchen und vermummten, fesselten und knebelten ihn, nicht ohne ihn vorher seiner Joppe und seines stadtbekannten grünen Tiroler Huts zu berauben. Fritz zog das Zeug über und schwang sich auf den Kutschbock. Die beiden anderen verkrümelten sich zu Fuß. Sie sputeten sich allerdings, weil sie den Ausgang der Unternehmung unbedingt vom Dachboden des Hessischen Hofes aus verfolgen wollten. Fritz hatte dort sein Fernrohr für sie hinterlegt.

Dem Amtsgericht direkt gegenüber lag der sogenannte Stadtpark: ein Streifen mit mehreren alten, recht hohen Laubbäumen, mehr nicht. Hier hatte Tilla inzwischen unauffällig in einer Kastanienkrone Platz genommen. Als sie die Hufeisen der dickbäuchigen Kaltblüter und das Quietschen der Leiterwagenachsen hörte, wurde es ernst. Sie guckte sich in ihrer dämmrigen Laube fast die Augen aus, kam es doch nun auf Maßarbeit an. Tatsächlich, unter dem grünen Tiroler Hut grinste Fritz. Er brachte sein Fuhrwerk genau vor dem Gerichtssaal zum Stehen, spannte wie der Blitz die beiden Gäule aus und scheuchte sie mit wohlmeinenden Klapsen Richtung Untergasse, schließlich kannten sie den Weg im Schlaf. Er selber tauchte in die meistens tote Gasse Hinter dem Amtsgericht, wobei er Stöffels Hut in die nächste Hecke stopfte. Jetzt ließ Tilla den vereinbarten vierhebigen Zweifingerpfiff erschallen. Und siehe da, 20 Sekunden später flogen die beiden Flügel des mittleren Saalfensters auf. Kuno schwang sich auf die Fensterbank und stieß sich gekonnt ab. Während sich im Saal schon erstes Geschrei erhob, landete Kuno auf der Heufuhre – und zeigte auch gleich noch eine Rolle vorwärts, damit er auf der anderen Wagenseite auf die Straße gleiten konnte. Im Wegrennen zuckte er nur leicht zusammen, als er den Brandpfeil zischen hörte. Davon wußte er ja nichts. Tilla hatte ihn aus der Kastanie abgefeuert. Die Heufuhre stand sofort in Flammen. Gewiß waren die beiden uniformierten Saaltürwächter inzwischen ans Fenster gestürzt, aber das lodernde Heu verbot ihnen zunächst die Verfolgung des entwichenen Strolches. Sie mußten dem aus dem Schlaf geschreckten Amtsgerichtspförtner erst einmal beim Löschen helfen. Er goß von unten, sie gossen von oben, was die vorhandenen Eimer hergaben. Nach fünf oder acht Minuten kam sogar noch ein Gespann der offiziellen Karlskirchener Feuerwehr angetrabt. Aber da hatte sich auch Tilla längst aus dem Staub gemacht. Ihren Bogen holte sie freilich erst in der nächsten Nacht aus der Kastanie. Er kam wie immer in die Angelrutentasche.

Der Leiterwagen brannte bis auf die Achsen und ein paar Eisenbeschläge ab. Verletzte waren nicht zu beklagen. Die TäterInnen blieben bis zur Stunde unbekannt. Zimmer-mann Kuno Dippel setzte sich zunächst in die Schweiz ab. Später ging er, wie so viele, nach Amerika. Das war vielleicht ein Fehler, würde aber wohl im Augenblick zu weit führen.

Jetzt werden Sie mich vielleicht hämisch nach dem Verbleib des armen, unschuldigen Pferdeknechts Stöffel fragen. Kein Problem! Meine Mutter versichert mir, man habe ihn damals bereits nach einer knappen Stunde aus seiner jämmerlichen Lage im Dachswäldchen befreit. Schließlich sei der Büchner-Club kein gar zu roher Verein gewesen. Fritz hatte den beiden Gäulen einfach ein Schild ans Zaumzeug gehängt, aus dem hervorging, wo Stöffel zu finden sei.

Gez. Ignaz Hempel, Karlskirchen
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