Sonntag, 26. März 2023
Casey Jones
ziegen, 09:46h
Der vielbesungene US-Bürger ist vor allem für seine (angebliche) Selbstlosigkeit bekannt. Geboren am 14. März 1863 in Kentucky, brachte er es bei diversen Eisenbahn-gesellschaften bis zum Lokomotivführer. Als sein Personenzug am 30. April 1900 mit unverschuldeter Verspätung und daher mit Volldampf von Memphis, Tennessee, nach Canton, Mississippi, brauste, drohte im Städtchen Vaughan, mitten in der Nacht, unvermutet ein Riesenunfall, weil ein Güterzug auf dem Durchgangsgleis abgestellt worden war. Heizer Sim Webb, wohl auch von seiner Hautfarbe her ein Schwarzer, erkannte es dank einer Kurve noch rechtzeitig und veranlaßte so seinen Chef, mit aller Macht das Tempo zu drosseln. Gleichwohl zeichnete sich ein Aufprall ab. Deshalb habe Jones geschrien: »Spring, Sim, spring!« Das tat er denn auch, als der Abstand nur noch 100 Meter betrug. Webb kam mit glimpflichen Verletzungen davon. Jones dagegen, der hartnäckige Bremser, zuletzt nur noch rund 55 km/h schnell, büßte, erst 37, sein Leben ein – als einziger von den Insassen des Personenzugs. Deshalb galt er hinfort als Retter und Held.
Etwas zwielichtig kommt mir jedoch die Rolle von Webb vor. Niemand scheint sich zu fragen, woher das Wissen um jene angebliche Aufforderung Jones' »auszusteigen« stammt. Meines Erachtens kommt nur der Kohlenschauf-ler als Quelle in Frage. Und ich wäre nicht verblüfft, wenn er die Aufforderung erfunden hätte, um im Vergleich zu dem zukünftigen Helden nicht etwa als Hasenfuß dazustehen. Der Chef hatte ihm einen Befehl erteilt, und den mußte er selbstverständlich befolgen …
Über die Persönlichkeit des Befehlshabers ist leider so gut wie nichts zu erfahren. Er war eben selbstlos und mutig – man glaubt es eigentlich nur schwer. Täusche ich mich nicht, teilten Grateful Dead meine Skepsis bereits 1970 auf ihrem Album Workingman's Dead. Sie geben Casey Jones echt frech als einen Junkie, einen Typen auf »high speed«, der vor wie hinter sich nichts als »trouble« hat und vielleicht doch besser tot wäre. Der Rat wird befolgt – nicht nur vom Casey des Liedes, sondern auch von zahlreichen Rockmusikern, wie wir wissen, Mrs. Janis Joplin eingeschlossen. Da diese aber sowieso nur inbrünstig brüllen, nicht singen konnte, war der Verlust für die Musikgeschichte kaum katastrophal. Anders im Falle Jerry Garcias. In einem Video, das im Internet fischbar ist, bringt der umwerfende Sänger und Lead-Gitarrist der »Dankbaren Toten« auch den Casey-Jones-Song zu Gehör. Seine brüchige, oft verschwebende Stimme betört mindestens 3o Mal mehr als die von Joplin, Van Morrison und erst recht meine eigene. Das Verschweben hatte Garcia auch in seinen Gitarrenriffs drauf – und im Leben. Er zerrüttete seine Gesundheit über Jahre hinweg zielstrebig, bis er, 1995, mit 53 Jahren starb.
Ich bin Liedermacher, somit kein Experte für Rockmusik. Gleichwohl habe ich den Eindruck, Garcias Band habe damals ein bis dahin unbekanntes Klangbild in die Rockmusik eingeführt: wie hingetupft, gleichsam impressionistisch, von Schwermut und Klassenkampf gleichermaßen meilenweit entfernt. Würde mich jemand fragen, ob es ein Paradies gäbe, würde ich erwidern, es gibt die Musik von Grateful Dead. Andererseits hat es ohne Zweifel auch um 1970 bereits die Hölle gegeben, an deren Einfahrt eine Fackelträgerin und ein Weißes Haus stehen. Die Eisenbahn spielte eine wesentliche Rolle bei der sogenannten Erschließung des Westens der USA. Dann nahmen sie sich den Pazifik vor. Das Blut der jeweiligen UreinwohnerInnen floß in Strömen. Ich wäre also nicht verblüfft, wenn Casey Jones kein kühner und tapferer Proletarier, vielmehr der übliche Imperialistenknecht gewesen wäre.
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