Sonntag, 12. März 2023
Albarose bleibt bei Schwarz

Albaroses Ausblick wird mit jeder Linkskuve besser, weil ihr eingenickter Mitstreiter Roberto, die Latschen voran, ein paar Zoll weiter in den Mittelgang rutscht. Albarose sitzt ihm gegenüber auf der anderen langen Bank des Zugwaggons. Über Robertos kohlschwarze, erstaunlich krause Schädelzierde segeln die Dörfer und meist schon abgeernteten Äcker des Bezirks Voos, wie Albarose ihrer handlichen Weltkarte entnommen hat. Man scheint hier wenig Hügel zu haben. Aber Störche. Ein kleines Mädchen hat es eben herausgekräht und auch gleich selber mit den Armen gerudert. Die meisten Reisenden im Waggon tuscheln oder schnarchen. Roberto schnarcht immerhin nicht. Seine Erschöpfung ist vielleicht kein Wunder, hat er doch gerade wieder minutenlang auf Albarose eingeredet, sie hätten beide »gegen diese Schnapsidee« ihr Veto einzulegen. Er meint das Einwanderungsgesuch der AbchasierInnen. Die beiden sind zum SP unterwegs, dem Süßen Plenum. Es findet halbjährlich in immer einer anderen Bezirkshauptstadt des Planeten statt, diesmal im Städtchen Rövers, Mißtucky. Das Gesuch der Erdlinge hat die Tagesordnungsnummer 17.

Der Planet Die Süße ist nur auf einem breiten äquatorialen Gürtel besiedelt, in geografischen Werken auch »Bauch-binde« genannt. Es gibt keine Länder, keine wichtigen Grenzen. Bei drei Millionen Süßlingen und rund 100 Bezirken umfaßt ein Bezirk im Schnitt 30.000 Leute. Abweichungen sind bedeutungslos, weil jeder Bezirk stets drei Delegierte zum SP schickt. Das wird vom Süßen Rat (SR) organisiert. In ihm sitzen lediglich 30 Leute; er pflegt mit den Plena zu wandern. Er nimmt nur wenige planetarische Aufgaben wahr, beispielsweise den Schienenfernverkehr – oder eben den Empfang von Raumschiffen … Viel wichtiger sind die Leitungen der nahezu selbstständigen, vergleichsweise übersichtlichen Bezirke. Städte über 3.000 Leute werden vermieden, ansonsten gleichfalls in Dörfer (meist um 800 Leute) unterteilt. Fundament der Dörfer und damit der süßen Welt überhaupt sind die Grundorganisationen, abgekürzt GO's. Sie zählen allenfalls 100 Köpfe. Auf der Süßen gibt es nur eine Sprache. Örtliche Färbungen in den Ausdrücken und Sitten sind unbedeutend. Die Bezirke können leicht gewechselt werden, sofern man eine aufnahmewillige GO findet. Wörter wie »Familie« und »Staat« lernten die Süßlinge erst durch den Kontakt mit den Erdlingen kennen.

Obwohl schon Ende 30, ist Albarose in der Tat eine blühende Erscheinung. Dabei kommt ihr erweiterter Name gar nicht von Blumen, vielmehr von den Blütenknospen des Rosenkohls. Wird dieses zartbitter schmeckende Gemüse in einer der neun GO's ihres Dorfes als Mittag-essen angeboten, läßt Albarose unter Umständen sogar ein Stelldichein mit einem begnadeten Juckler platzen. Man erweiterte ihren kindlichen Namen, als sich noch eine andere Alba einer GO des Dorfes anschloß. Diese Frau heißt seitdem Albanuß, weil sie auf Walnußbäumen steht.

Albarose hat die typische olivbraune Haut der Süßlinge, nur eine ausgesprochen samtige. Ihre sanft schaukelnden Brüste können selbst altgediente Ratsleute rasend machen, falls sich Albarose einmal über die Zeitung beugt, aus der sie der jungen Frau eigentlich einen wichtigen Artikel vorlesen wollten. Natürlich weist sie auch die typischen dunklen Augen und Haare auf. Diese trägt sie lang, fast bis zu den Brüsten. Beides läßt sich also gut werfen, Busen und Haartracht. Es wäre allerdings verfehlt, Albarose eitel oder kokett zu nennen. Dazu ist sie zu gut in sozialen und metaphysischen Belangen geschult. Sie lehrt sogar selber, nämlich in einer dörflichen Bildungsgruppe (BG), die von ihr geleitet wird. Im ganzen hat ihr Dorf gegenwärtig drei BG's. Albaroses Angebot lautet: Physik / Kosmologie / Handwerkskunde. BG-Leiterin Albarose ist nämlich eine ausgefuchste Sattlerin. Das Dorf liegt in einer Pferdezuchtgegend. Ihre GO heißt Wiesenschaum. In deren Werkstatt hat Albarose eine eigene, gut bestückte Werkbank. Schärft sie auf ihrem dicken Brett aus weichem Pappelholz mit dem Halbmond die Kante eines Lederriemens aus oder führt sie zwei stumpfe Sattlernadeln an einer geplatzten Taschenecke in den vorgebohrten Löchern überkreuz und zieht den gewachsten Faden dann jeweils mit sanftem Nachdruck an, kann sie jenen Juckler ebenfalls vorübergehend vergessen. Wie sich versteht, beteiligt sie sich auch an der dörflichen Garten- und Feldarbeit. Erst unlängst hatten sie Kartoffelernte. Setzt man gerade dabei nicht die gymnastischen Übungen ein, die sich Albarose im Laufe ihrer Jugend beigebracht und angewöhnt hat, kann man alles Juckeln getrost vergessen. Die Kartoffellese geht ins Kreuz. Schafft sich das Dorf jedoch eine sogenannte, von Pferden gezogene Vollerntemaschine an, geht die Ernte oft auf die Augen: wegen des aufgewirbelten Staubs. Also Schutzbrille auf – und die beschlägt natürlich prompt.

Albarose ist in ihrem Kreis recht bekannt und beliebt, doch an einem SP nimmt sie zum ersten Mal teil. Ihr Bezirk, Filium mit Namen, hat sie, Roberto und Schüttelmag als Delegierte bestimmt. Schüttelmag ist nur schon früher gefahren, um unterwegs eine verflossene Geliebte zu besuchen. Schüttelmag ist schon über 60. Ja, sie macht sich, im Gegensatz zu Albarose, gar nichts aus jenen bemerkenswerten Ruten, die Männer in der Regel zwischen den Beinen mit sich führen, aber man muß ihr bescheinigen, daß sie über diese häufige Verirrung zwischen Männern und Frauen, die die Süßlinge meist Juckeln nennen, noch nie ihren Kopf geschüttelt hat. Danach heißt sie nämlich so. In Schüttelmags Dorf gibt es so gut wie keine alltägliche Situation, die sie nicht mit Kopfschütteln bedenken würde. Ein Gaul versucht sie in die Hand zu beißen; ein Knirps zupft sie an der Schürzentasche, in der sie bekanntlich gern getrocknete Datteln versteckt; auf dem Plenum der GO legt sich ein weißhaariger Greis jäh für die Raumfahrt ins Zeug – Schüttelmag schüttelt ihren Kopf. Die Geste birgt natürlich den Vorteil, auf so gut wie alles zu passen. Sie kann Unglauben, Mißbilligung, Nachsicht, Erschrecken, Rührung und noch vieles mehr bedeuten. Letztlich stellt sie freilich immer die Geste der leichten Gehirnerschüt-terung dar.

Roberto, um 50, ist ein alter Hase, der schon mehrere SP's auf dem Buckel hat. Eigentlich überragt er Albarose bestenfalls um eine Daumenbreite, doch im Augenblick wird er gar zu lang. Deshalb stößt ihn Albarose mit ihrer Stiefelspitze gegen die Schuhsohle. Schließlich könnte jemand stolpern. Da grummelt er irgendwas und rappelt sich wieder einen Fuß höher. Augen und Mund macht er gar nicht erst auf. Albarose vermutet stark, er nimmt ihr die Zurechtweisung nicht krumm, weil er sehr wahrscheinlich in sie verliebt ist. Aber dazu kann sie ja nichts. Sein leicht verknittertes Gesicht findet sie sogar witzig. Dagegen ist es ihm leider nicht vergönnt, den von manchen Medizinern so bezeichneten Hormonspiegel seiner Mitstreiterin in Wallung zu bringen. Ja, säße ihr jetzt die blonde Kaukasus-Palme gegenüber beziehungs-weise rutschte sie Albarose und ihrer Möse Zoll für Zoll entgegen! Dann sähe die Sache schon anders aus.

In jenem Vortrag, der ihn so ermüdete, legte ihr Roberto einen Artikel über die Schwerelosigkeit im All ans Herz, den er jüngst studiert hatte. Schon dieser Gesichtspunkt sei wohl geeignet, die AbchasierInnen für Einfaltspinsel zu halten. Nach monatelanger Anreise im Schwebe- und Entkräftungszustand taumelten diese Leute dann aus der Landefähre – so Roberto – und seien doch zu so gut wie nichts Vernünftigem mehr zu gebrauchen. Jetzt hätten sie für Monate, wenn nicht für immer, erneut mit Muskel- und Knochenschwund, Muskelkater, Kopfschmerzen, Schwindel, überhaupt Kreislaufproblemen und dergleichen mehr zu kämpfen. Meine Güte! hatte sich Albarose insgeheim an der Möse gekrault. Wenn nun der Schwund auch die Rute der Raumfahrer ergreift ..? Dann ist guter Rat teuer.

Sie stehen inzwischen seit gut drei Jahren mit den AbchasierInnen in Funkkontakt. Man tauschte bald auch Fotos und Filme aus. Das hat viele Süßlinge, nach den ersten Veröffentlichungen, zunächs am meisten verblüfft: Auf der Erde haben sie nicht nur unterschiedliche Sprachen, sondern auch Haar- und Hautfarben! Sogar Gold und Rot sind vertreten. Der lange Blonde, den sie zuweilen auch »blonde Palme« nennt, stach Albarose gleich in einem kurzen Film von einem Fest auf dem ausgedehnten Hof der Kaukasus-Kommune ins Auge. Er schlenderte lässig übers Hofpflaster und hielt hier und dort inne, um mit anderen Kommunarden oder Besuchern herzhaft zu lachen. Dabei flogen seine schulterlangen blonden Locken wie möglicherweise die Gischt von dem »Schwarzen Meer«, das sie da, am Fuß des Kaukasus-Gebirges, angeblich haben. Albarose war ganz hingerissen von dem Kerl. Später studierte sie einen Artikel über die unterschiedlichen Längenmaße hier und dort. Die Süßlinge rechnen Längen in Fuß. Von den Erdlingen erfuhren sie, der dortige Meter (100 Zentimeter) sei mit Hilfe der Lichtgeschwindigkeit geeicht worden, und die sei ja im ganzen Sonnensystem gleich. Somit lassen sich die Längenmaße leicht umrechnen. Danach ist 1 Meter = 3,33 Fuß. Nun schloß Albarose aus Vergleichen aufgrund des vorhandenen Bildmaterials, ihre »blonde Palme« müsse mindestens 1 Meter 9o messen, ergo 6,33 Fuß – fast sechseinhalb Fuß! O wie gerne hätte sie sich als Liane um diese Palme gewunden …

Der Planet Die Süße verfügt schon seit rund 10 Jahren über zwei Sternwarten, auf jeder Halbkugel des Planeten eine. Sie arbeiten gut – fettes Fernrohr, Radioteleskop, Sende- und Empfangsanstalt und neuerdings sogar ein schlaues Übersetzungsprogramm im Computer. Die globale irdische Verkehrssprache ist Englisch. Die erwähnte Kaukasus-Kommune umfaßt rund 50 Leute. Anscheinend setzten sie sich fast alle nach und nach aus anderen Staaten der Erde nach Abchasien ab. Wie es freilich aussieht, hat es nicht viel genützt. Sie hätten allmählich die Schnauze voll, versicherten sie dem Nachbarplaneten etwas überraschend im vergangenen Jahr. Immerhin hatten sie es damals schon zu einer eigenen Sternwarte auf einem Gipfel des Kaukasus-Gebirges gebracht. Ihrer Kommune hatte sich nämlich ein Mensch angeschlossen, den sie als »Millionär« bezeichnen. Der habe das alles »finanziert«, wie sie sich ausdrücken. In der Süßen Post hieß es, das Finanzieren liefe über ein Hirngespinst, das sie auf der Erde »Geld« nennen. Die Süße Post (SP) ist das zentrale einheimische Monatsblatt. Die Redaktion wird auf den halbjährlichen Plena gewählt oder abgewählt. Im allgemeinen werden in sämtlichen Bezirken Druckerzeugnisse bevorzugt. Das Internet bemüht man hauptsächlich für Benachrichtigungen und Organisatorisches. Taschencomputer gibt es nicht.

Übrigens hatte zur Frage der Sternwarten ein heftiger Kampf getobt. Ihre Genehmigung durch das Süße Plenum hätte fast zu einem Umsturz geführt. Viele Süßlinge waren nämlich anfänglich gegen die geplante Einrichtung. Sie sei völlig überflüssig, geradezu »Luxus«. Es sei schon hart genug, zwei Hüttenwerke für die Eisenbahnschienen, diverse Stahlträger und den Stahlbeton der Windradpfeiler betreiben zu müssen. Aber die MetaphysikerInnen setzten sich durch. Albarose hatte sich damals auf deren Seite geschlagen. Als entscheidende Waffe stellte sich ein Aufsatz des damaligen planetarischen Schiedsrates Ben Lusowitsch »gegen kosmologisches Duckmäusertum« heraus. Schon der Planet für sich genommen stelle doch alles andere als eine heile Welt dar, meinte Lusowitsch. Er sei mit üblen Naturerscheinungen, Krankheiten, Unfallgefahren und allerlei Eifersüchteleien geschlagen. »Denkt auch an die nicht wenigen Mitmenschen auf Schott, die sich, vielleicht verständlicherweise, für häßlich, schwierig oder irgendwie sonst mißraten halten. Solche Ungerechtigkeiten, die sich haarsträubender Zufälligkeit oder entfernt ausgeheckter Teufelei verdanken, lassen sich durch kein schönes Konsensprinzip und kein ausgeklü-geltes Programm der Volksbildung ausmerzen. Und dann kommt die Unverfrorenheit hinzu, uns ausgerechnet auf diesem Planeten und in diesem anscheinend gefühlskalten Winkel des Universums auszusetzen. Hat man uns etwa gefragt, ob wir das wünschen? Hat uns einer erläutert, in welchem Zusammenhang diese Angelegenheit Universum steht und was sie eigentlich soll? Nein, man hat uns brave oder zähneknirschende Unterwerfung abverlangt. Aber das geht vielen von uns zurecht gegen den Strich. Und deshalb wären Sternwarten nützlich. Schließlich könnten sie uns früher oder später womöglich gestatten, unsere bedenk-liche kosmologische Lage mehr oder weniger aufzuhellen. Soweit für heute, liebes Volk.«

Lusowitsch konnte damals nur vom Planeten Schott sprechen, weil der Planetenname Die Süße noch beinahe brandneu ist. Warum die dünn besiedelte Kugel bis dahin einfach Schott hieß, weiß bis zur Stunde kein Schwein. Es ist nicht überliefert. Durch den Kontakt mit der Erde erfuhren sie jedoch, es gibt auch salzige Planeten. Die weisen sogenannte Meere auf, oft sehr ausgedehnte. Selbst Abchasien liegt, wie bereits angedeutet, an einem Salzwasser, dem Schwarzen Meer. Dagegen hat der dann umgetaufte Planet Schott nur ein paar größere Seen vorzuweisen. Das nennen die Erdlinge Süßwasser. Für den Verkehr ist das durchaus vorteilhaft – bei Fernreisen, wie jetzt von Albarose und Roberto, umfährt man die Seen kurzerhand. Die Züge, meist um 200 Stundenkilometer schnell, fahren mit elektrischem Oberleitungsstrom. Der wird, für den gesamten Planeten, ausschließlich im abgelegenen Landstrich Windpark erzeugt. Dieser Landstrich ist völlig unbesiedelt. Roberto war einmal dort – gräßlich. Die ganzen kargen Gebirge sind mit hohen Pfeilern gespickt, an deren Ende die Windräder sitzen. Das beruhte auf dem Plenumsbeschluß, den rund drei Millionen Bewohnern dieses Planeten den täglichen Anblick von solchen routierenden, nicht gerade gesundheitsförderlichen Ungetümen gefälligst zu ersparen.

Auf der Süßen bedürfen alle personellen oder sachlichen Entscheidungen von Bedeutung des Konsens'. Kommt keine Einstimmigkeit zustande, bleibt es einstweilen beim Status quo. Es sei denn, die Unzufriedenen wetzen ihre Krallen und schreiten zum Umsturz! Das hat es, solange Albarose lebt, schon mehrmals gegeben, ob planetarisch oder in irgendeinem Bezirk. Es ist der Süßen eigentlich nie schlecht bekommen. Tote wurden stets vermieden. Was sie auf der Erde »Schuß- oder Feuerwaffen« und »Kriege« nennen, hat man auf der Süßen sowieso nicht. Leute, die so etwas erfinden und verbreiten, können ja nicht mehr ganz dicht sein, lautet hier die landläufige Meinung. Von daher ist Robertos Unbehagen über das Gesuch der AbschasierInnen durchaus nachvollziehbar. Schließlich sind sie da unten, auf der Erde, alle von derselben Sorte.

Pia Kinnock, die amtierende planetarische Schiedsrätin, hat sich über dieses Thema neulich ihre Gedanken gemacht. Vielleicht bestehe das Grundproblem der Erdlinge darin, nicht Maßhalten zu können, schrieb sie in der Süßen Post. Denn es sei ja nicht so, daß sie auf der Süßen alle in Fellen herumliefen und mit Keulen um sich schlügen. »Wir haben die Eisenbahn, das Internet und die Sternwarten entwickelt«, schrieb Pia. »Da könnten wir selbstverständlich auch Maschinenpistolen und Raumschiffe entwickeln. Aber wir tun es nicht. Und warum nicht? Weil wir die Folgen bedenken. Ja, können das denn die Erdlinge nicht, diese Superschlauen ..? Anscheinend nicht. Möglicherweise wird das durch einen unwidersteh-lichen Drang verhindert, alles, was machbar erscheint, tatsächlich auch sofort zu machen.«

Das ließ sie am Ende ihres Beitrages so stehen. Prompt hagelte es natürlich LeserInnenbriefe. Das sei keine befriedigende Erklärung! Warum sie denn jenen wahllosen Tätigkeitstrieb besäßen? Und wo sie ihn, bitte schön, her hätten? An dieser Stelle hakten die Kommunarden aus dem Kaukasus ein, denen die Astronomen den Beitrag geschickt hatten. Sie schrieben zurück, »machen« hätte wohl etwas mit »Macht« zu tun. Der Erdling dulde keine Grenzen. Er leide an einem tiefen »Minderwertigkeits-gefühl«, das er wahrscheinlich der sogenannten irdischen »Kinderstube« verdanke. Die Erde sei, offenbar im Gegensatz zur Süßen, seit Urgedenken ein elender familiärer Laden gewesen. Immer hatten darin Familienoberhäupter, Clanchefs oder sonst welche Häuptlinge das Sagen gehabt. Das stoße natürlich beim Nachwuchs immer wieder auf Unmut, wenn nicht Haß. Jene »Kinderstube« sei eine einzige Brutstätte für Mißgunst, Schleimscheißerei und Mordgedanken. Sie sei die Schule des Machtkampfes, der auf der Erde in allen Bereichen tobe. Nein, sie hätten wirklich, wie neulich schon gesagt, endgültig die Nase von diesem Laden voll. In jüngster Zeit seien die Erdlinge bereits dazu übergegangen, sich künstliche, völlig absurde »Feinde« zu schaffen, weil ihnen beliebte alte »Feinde« ausgegangen seien. Jetzt kämpften sie bereits gegen Kohlewasserstoffe und das eine oder andere Grippevirus, das sie zur Pest erhöben, falls sie auf der Süßen von dieser schon einmal gehört hätten. »Aber dies alles führt vielleicht fürs erste zu weit. Wie steht es denn nun um unser Gesuch?«

Die Kommune hatte mit einem mächtigen Nachbarn Abchasiens verhandelt, Rußland. Die Russen verfügten nämlich nicht nur über Sternwarten, sondern auch über Raketenstartrampen und Raumschiffe. Schließlich zeigten sie sich bereit, der Kommune ein Raumschiff zu leihen. Allein dessen Landefähre faßt maximal 80 Personen. Trotzdem soll das Schiff enorm schnell sein. Als Gegenleistung erbaten sich die Russen lediglich das Absetzen eines Satelliten auf ungefähr halbem Wege, zudem diverse eigene Beobachtungen und Daten der Raumschiffbesatzung. So einigten sie sich. Die Reise werde voraussichtlich knapp sieben Monate dauern, das nähmen sie locker in Kauf, um endlich von diesem Erde genannten Scheißhaufen fortzukommen, schrieben die Kommunarden.

Albaroses Blick verfing sich jetzt in einer Zeile schlanker, leuchtend gelb verfärbter Pappeln, die ungefähr wie ein Kamm über Robertos Haupt schwankten. Sie durcheilten inzwischen den Bezirk Gellert, der anscheinend mit vielen Flußläufen gesegnet war. Albarose hatte auch schon ein paar Wassermühlen ausgemacht. So recht, wie ja Ben Lusowitsch damals ohne Zweifel hatte – für Albarose stellte Die Süße doch eine vergleichsweise angenehme Wohnstätte dar. Vor allem dann, wenn sie mit den Zuständen auf der Erde verglichen wurde, die sie dank den Abchasiern inzwischen recht gut kannten. Sah sie unvoreingenommen in ihren Hormonspiegel, könnte sie wohl selbst ein ganzer blonder Pappelhain nicht dazu bewegen – oh entschuldige bitte, Kamerad! Albarose muß ihren Gedankengang jäh unterbrechen, weil plötzlich die Zugsirene heult. Prompt stemmt sich die Delegierte aus Filium mit leicht eingewinkelten Armen gegen ihren rechten, in Fahrtrichtung sitzenden Nachbarn, denn das hat sie bei Katastrophenübungen so trainiert. Schon kreischte die Schnellbremse des Zuges. Alle Insassen werden nach vorn gepreßt. Roberto reißt im Fortkugeln die Augen auf …

Als der Zug steht, erklingt die beruhigende Stimme der Zugführerin. »Liebe Leute, ich hoffe, ihr seid alle unversehrt. Die Erste-Hilfe-Schränke befinden sich auf den Plattformen zwischen den Waggons. Soweit ich sehe, ist der nächste Bahnübergang blockiert. Ich steige jetzt mal aus und untersuche die Angelegenheit.«

Keine zwei Minuten, und die Zugführerin läßt sich erneut vernehmen. Wie alle wissen, hat sie ein winziges, drahtloses Mikrofon am Blusenausschnitt klemmen; bis dahin rief sie auf diese Art getreulich die Stationen aus. Jetzt schildert sie:

»Wie es aussieht, ist auf dem Bahnübergang eine kleine, von fünf Kindern befehligte Eselskarawane stecken geblieben. Während die Esel versuchen, von den frisch geernteten Eßkastanien zu naschen, die sie in ihren je zwei Tragkörben befördern, werden sie von einem Teil der Kinder ziemlich grob beschimpft. Der andere Teil sitzt oder balanciert auf den Balken der Schranke und lacht sich ins Fäustchen … Also, ich werde euch ..! Seht mal zu, daß ihr mit euren Eseln Leine zieht, sonst krachts! … Na also … Liebe Leute, die Kinder scheinen ein Einsehen zu haben. Ich gehe jetzt mal wieder zurück. Vermutlich fahren wir in wenigen Minuten weiter.«

Roberto grinst schief und reibt sich ausgiebig die linke Seite. Er hat inzwischen seinen Platz wieder einge-nommen. Albarose zwinkert ihm versöhnlich zu. Die Leute ringsum kichern – wohl eher wegen Roberto als wegen der Esel treibenden Rotznasen am Bahnübergang. Schließlich war Albaroses Mitstreiter wie ein Rohrkolben durch den halben Waggon gerollt.

Kaum in Rövers eingetroffen, warf sich Albarose einem Kerl aus der GO, in der sie untergebracht war, an den Hals. Etwas Ähnliches war wohl zu erwarten gewesen. Der junge Mann trug seine schwarzen Haare sogar deutlich kürzer als Albarose selber. Und das Gesuch? Wurde selbstverständ-lich abgeschmettert. Pia Kinnock schrieb den Bittstellern einen langen Brief. Den können Sie in der nächsten Süßen Post lesen.
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