Sonntag, 26. Februar 2023
Spitznamen, aufgespießt

Ein selbstgestrickter köstlicher Spitzname wird leider nie ans Ohr der Welt dringen, weil er in meinen 2012 verfaßten Erzählungen Zeder Zamir steht, die ich inzwischen zurückgezogen habe. Überwiegend in der kroatischen Küstenstadt Zamir spielend, ranken sich diese drei Erzählungen um den jungen Kriminalkommissar Danilo Matavulj aus dem dortigen Polizeipräsidium am Ziegenmarkt. Im Rahmen einer Fahndung stößt er auf den Snookersalon Haus der Weißen, erwärmt sich für das Spiel und wird bald aktives Mitglied in dem vielversprechenden Club, der eben Zeder Zamir heißt. Man kämpft bereits in der Zweiten Nationalliga – und ist wild entschlossen, auch in die Erste zu gelangen. Chef des Salons und Mann-schaftsführer im Club ist der verschmitzte, rundliche Erih, den freilich keiner so ruft. Als »Einpeitscher« beim »Durchmarsch« von der Bezirksliga zur Zweiten Nationalliga hatte Erih nämlich jeden gelungenen Ball, jeden Neuling und jeden Sportreporter mit der Versiche-rung begrüßt: »Zamir steigt auf!« Deshalb hieß er schließlich überall so: Zamirsteigtauf … Das ist die verhießene Köstlichkeit.

Nebenbei nutzte ich das Werk zu einem Seitenhieb auf Simo Matavulj. Das ist ein angeblich bedeutender heimischer Dichter, der nun »zufällig« ein Namensvetter meines Kriminalkommissars geworden war. Als sein Hauptwerk, Pflichtlektüre in jeder höheren Lehranstalt, gilt der 1892 verzapfte Roman Bakonja Fra-Brne, dt. Seine Herrlichkeit Frater Brne. Dieser Roman spielt just in dem Küstenstrich von Zamir und dort vorwiegend in einem auf einer Flußinsel gelegenen katholischen Kloster. Danilos aus Deutschland stammender Clubkamerad Fritz hat ihn sogar gelesen. Beim Forellenessen unter einem Oliven-baum poltert der lange, blonde Deutsche plötzlich los:

»Das Werk ist eine Katastrophe! Die Lexika behaupten, es sei angenehm volkstümlich, es sei knapp, es sei humorvoll. Aber nichts davon stimmt. Es langweilt durch ausführliche Schilderungen banaler Ereignisse und auch banaler Streiche, wie du dich vielleicht noch erinnern wirst. Ausgeprägte Merkmale des Volkscharakters wie etwa Hinterhältigkeit, Doppelmoral, Frömmigkeit, mit Bauernschläue gepaarte Strohdummheit stellt das Werk nie in Frage. So sind die Leute eben. Ihre Schlechtigkeiten werden tausendmal von ihrer Kunstfertigkeit im Reden, Prahlen, Lügen aufgewogen, vor der Lehrer Matavulj wiederholt seinen Hut zieht. Natürlich stellt er auch die alles beherrschende Kirche, ob katholisch oder orthodox, nie in Frage. Im Gegenteil, sie ist die große Wohltäterin des Landes. Matavulj verleiht den mehr oder weniger feisten Schmarotzern, die sich in ihren Klosterzellen bedienen lassen und im Nebenberuf allesamt Wucherer sind, ausgefallene Spitznamen wie Backtrog, Wedelschwanz, Latte, und schon hat er sie liebenswert gemacht. Über Politik redet sein Werk schon gar nicht. Ich will Matavulj eine gewisse literarische Begabung nicht absprechen, aber sein Horizont scheint mir doch recht begrenzt. Gegen Claude Tilliers Landarzt Onkel Benjamin gehalten würden Matavuljs Mönche und Popen, so dick sie auch sind, in der Tat zu einer bedeutungslosen Zaunlatte schrumpfen. Aber irgendein Zaunkönig hat seinen Roman zur Weltliteratur erklärt – und jetzt müssen sich sogar Deutsche und Franzosen damit abmühen. Bist du eigentlich mit diesem Matavulj verwandt?« Nein, Danilo war es Gottseidank nicht.

Der uralte, bis heute weltweit beliebte Gebrauch von Spitznamen dürfte vor allem die Stumpfheit unserer Normalnamen bezeugen. Diese treffen das Wesen oder zumindest die eine oder andere hervorstechende Eigenschaft des Benannten so gut wie nie. Nicht selten beleidigen sie ihn sogar. Das Übel verwundert wenig, werden die Normalnamen doch in der Regel Säuglingen verpaßt. Das Entsetzen stellt sich mit 13 oder 16 ein, wenn ein junger Mensch begreift, er habe sich im ungünstigen Falle noch für etliche Jahrzehnte Luise oder Dieter, womöglich sogar Dieter Müller rufen zu lassen. Dem trug man in meinem Rhein-Oder-Bund (ROB) durch die Bestimmung Rechnung, jedes ältere Kind könne sich bei dringendem Wunsche eigenhändig umtaufen. Der neue Name wird einfach in die Mitgliederliste der GO (Grundorganisation) des Kindes eingetragen – fertig.

Allerdings steht zu fürchten, damit hätten wir auch schon den einzigen Zug herausgestellt, den alle Spitznamen teilen. Die Grenzen zum Schimpf- und Kosenamen sind so fließend wie zum Pseudonym und zum Künstlernamen. Selbst der bekannte Umstand, daß Spitznamen in der Regel nicht gewählt, vielmehr verpaßt werden, gilt nicht in jedem Fall. Vera Sprosse hätte sich wahrscheinlich nur ungern selber auf diesen gesichtshaften Namen getauft, entsproß er doch ihren Sommersprossen. Ihre Mitstreiterin Vera die Lerche dagegen hatte den ornithologischen Namen nach den ersten Proben des Kommunechors mit Vorbedacht als Versuchsballon steigen lassen, denn sie wußte durchaus, was sie an ihrer betörenden Sopranstimme hatte. In der Tat kam der Name auf Anhieb an und bürgerte sich in der kurzen Zeit ein, die eine Feldlerche dazu benötigt, vier oder fünf Eier zu legen. Für die andere Vera im neuen Chor blieb dann sozusagen nur noch ein Plätzchen in der Leiter. Damit waren die beiden Veras zukünftig unverwechselbar.

Wahrscheinlich stellt die Vielfalt unter den Spitznamen sogar das Chaos im Vogelreich in den Schatten. Und ein Rundblick beweist, so gut wie nichts ist vor ihnen sicher. Ein Krieg um die bayerische Erbfolge, der 1778/79 zwischen den traditionell rauflustigen Preußen und Österreichern ausgetragen wurde, ist in vielen Büchern als Kartoffelkrieg bekannt. Um 1600 gingen im Raum Köln »schlechte« Münzen um, die aufgrund ihres geringen Silber-, dafür hohen Kupfergehalts rasch dunkel anliefen. Von lat. maurus=Mohr abgeleitet, pflegte sie der Volksmund Möhrchen zu nennen. Viele andere handfeste Gegenstände, von Musikinstrumenten über Automobile bis zu Gebäuden, müssen sich beispielsweise Spitznamen wie Schifferklavier, Drahtesel, Käfer, Ente, Langer Eugen, Bonnies Ranch gefallen lassen. Mit der zuletzt genannten Bezeichnung ist eine seit Jahrzehnten in Berlin-Reinickendorf angesiedelte Einrichtung gemeint, die offiziell und vornehm Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik heißt. Um 1980 war sie in Westberliner Sponti-Kreisen bekannter und gefürchteter als Helmut Kohl, für dessen mächtiges Haupt Hans Traxler und das Satireblatt Titanic just zur selben Zeit die Abbildung einer Birne bemühten. Trotz zahlreicher Ganovenstreiche durfte Kohl dieselbe nicht nur behalten; der Spitzname ging sogar rasch auf die ganze Person des beliebten beleibten Bundeskanzlers über und somit, wie dieser selbst, in die Geschichte ein. Übrigens war auch Traxler kein Unschuldsengel, vielmehr Dieb, hatte doch bereits der Franzose Charles Philipon seinen König Louis-Philippes ab 1830 in der Zeitschrift La Caricatur als Birne ausgegeben.

Spitznamen sollen möglichst treffend und möglichst ausgefallen sein. Die Spitznamen der beiden Veras reißen vielleicht nicht vom Hocker, aber von Sprosse zu Lerche liegt immerhin schon ein gewisser qualitativer Anstieg vor. Allerdings kann man sich über die Gesangsqualitäten unserer heimischen Feldlerchen streiten. Mancher Naturfreund sagt sich bei seinen sommerlichen Streifzügen, sie behielten ihr hastig hervorgequetschtes Zeug besser für sich. Der rundliche italienische Tenor Giuseppe Fancelli, 1872 bei der Mailänder Aida-Erstaufführung dabei, zählte zu den gebeutelsten Vertretern seines Fachs. Verdi bescheinigte ihm: »Eine schöne Stimme, aber eine Nudel!« In einer anderen Oper soll Fancelli nach Dutzenden von Aufführungen gefragt haben, ob er eigentlich den Geliebten, Nebenbuhler oder Bruder gebe? Er hatte den Ehemann zu singen. Massenet hatte den Eindruck, Fancellis gesamtes dramatisches Ausdrucksvermögen beschränke sich auf die Geste, seine beiden Hände mit gespreizten Fingern vorzustrecken – weshalb er ihm den Spitznamen Fünf und fünf ist Zehn verlieh. Das ist eigentlich noch besser als Zamirsteigtauf.

Bei einem Mann, der um 1000 als Herzog von Bayern, später auch Kärnten, seinen Reichtum und Einfluß gut zu mehren verstand, konnte man sich schon eher einen Reim auf seinen Spitznamen machen: Heinrich der Zänker. Das gilt auch für die Königin von Kastilien und Aragón Johanna die Wahnsinnige (um 1500), die täglich den Sarg ihres früh verstorbenen Gatten geöffnet haben soll um nachzusehen, ob seine Leiche noch da sei. Ein anderer deutscher Herzog könnte zu mehreren Mißverständnissen Anlaß geben. Er tut es auch. So wird Ernst der Fromme, der um 1650 Sachsen-Gotha regierte, unter Historikern und Lexikonschreibern gern als reformfreudiger Freigeist gehandelt, obwohl er, wie sich Sigmar Löfflers mehrbändiger Stadtgeschichte von Waltershausen entnehmen läßt, an Hexen glaubte und nicht dagegen einschritt, daß während seiner Regierungszeit »Dutzende von Frauen, nachdem man sie eingekerkert und gefoltert hatte, auf dem Scheiterhaufen« landeten.

Das heißt leider keineswegs, wir dürften Ernsts Spitznamen ironisch verstehen. Der Herrscher duldete die Ketzerverfolgung bona fide, in gutem Glauben. Er war nicht »wahnsinnig«, vielmehr fromm. Womit wir bei der gar nicht so seltenen Methode angelangt wären, einen Menschen treffend und ausgefallen zu benennen, indem man ihn nach dem Gegenteil seiner gemeinten Eigenschaft bezeichnet. Wenn ich mich nochmals selbst anführen darf: In meinem Bott-Buch wird ein hervorragender Baßgitarrist von hünenhafter und weichlicher Statur Baby Schwalenhöfer, in meinem Roman Konräteslust ein Felsbrocken von Bauer mit Händen wie Schaufeln Hämmerchen gerufen. Beide empfinden diese Spitz- durchaus als Kosenamen. Daneben ist es auch nicht der schlechteste Kniff, einen Spitznamen durch Bezug auf einen Normalnamen zu schaffen. So werden die im 19. beziehungsweise 20. Jahrhundert recht einflußreichen Biologen Thomas Huxley und Richard Dawkins gern als Darwins Bulldogge und Darwins Rottweiler bezeichnet. Da beide Briten waren oder sind, gleich noch einen dritten: den vorzüglichen Snookerspieler Paul Hunter, der leider 2006 mit knapp 28 Jahren starb. Profi war der blonde, meist glänzend frisierte Junge bereits mit 17 geworden. Seinen Spitznamen bezog man auf einen Fußballer, indem man Hunter den Beckham of the Baize taufte, den Beckham des grünen Snookertuches also.

Die eleganteste Lösung ist es sicherlich, einen Spitznamen maßschneidernd neu zu erfinden. Das gelang der Wiener Bevölkerung um 1930 sogar in einer Verknüpfung mit der eben genannten Methode. Den Erinnerungen des ungarischen Dramatikers Julius Hay zufolge war der reaktionäre Kanzler Engelbert Dollfuß (kein Spitzname!) »ein politischer Intrigant von seelisch und körperlich kleinstem Format« gewesen. Wien taufte ihn Millimetternich. Nach derselben Quelle soll Hays Kollege und Genosse Johannes R. Becher seinen Spitznamen von wiederum einem dritten Kollegen und Genossen, dem dänischen Schriftsteller Martin Andersen Nexö, empfangen haben: Johannes Erbrecher, wie ich schon andernorts mit Genuß erwähnt habe. Hier lassen Wortspiel und Kalauer grüßen. Eine völlige Neuschöpfung gelang dagegen, wem auch immer, im Falle der Kasseler Originale Ephesus & Kupille. Das Gespann aus zwei mehr oder weniger großen arbeitsscheuen Schlawinern hatte seine Hochzeit in den 1920er Jahren. Während der gelernte Bäcker Johann Georg Jäger seinen Spitznamen seinem Lieblingsspruch verdanken soll »Groß ist Diana, die Göttin der Epheser!«, bezog ihn sein Eckensteher-kumpel Heinrich Adam Ernst, Sohn eines Drehorgel-spielers, von einem angeblichen Augenleiden, das er der Musterungskommission mit der Versicherung »Ich honn was an der Kupille!« aufband.

Kommen wir mit einem anderen Polit-Ekel zum Schluß dieser Betrachtung, ehe sie sich zu einer stumpfsinnigen Doktorarbeit auswächst. Laut Ewald Grothe zählte Ludwig Hassenpflug (1794–1862) zu den markantesten und unbeliebtesten deutschen Politikern des 19. Jahrhunderts. 1832 ist der studierte Jurist bereits kurhessischer Innen- und Justizminister und damit de facto Ministerpräsident. Da er es als seine Hauptaufgabe betrachtet, die noch junge liberale Landesverfassung auszuhebeln, hat er viel Streit mit der kurhessischen Ständeversammlung. Er zieht sich allein vier Ministeranklagen zu, ein Novum in der bis dahin geschriebenen deutschen Verfassungsgeschichte. Als Meinungsverschiedenheiten mit dem Kurprinzen Friedrich Wilhelm hinzukommen, weicht Hassenpflug vorüber-gehend auf Posten in umliegenden Kleinstaaten aus, so Sigmaringen und Luxemburg. 1840 kann er, wie ersehnt, in preußischen Dienst treten, allerdings zieht er sich als Präsident des Greifswalder Oberappellationsgerichts Verfahren wegen Urkundenfälschung und Veruntreuung von Staatsgeldern zu. Zunächst mit 14 Tagen Gefängnis bestraft, wird er in dritter Instanz freigesprochen und tritt 1850 erneut in kurhessische Dienste. Ein schlesischer Weber soll dazu bemerkt haben, die Kleinen hinge man – und so weiter. Unsere pandemiebesessenen Gesundheits-minister Spahn und Lauterbach werden ihren pfiffigen Schädel bestimmt noch aus der Schlinge ziehen, die im paradiesischen Apfelbaum von der berüchtigten Schlange gebildet wird.

Als Regierungschef des nunmehrigen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (von Hessen-Kassel, wie der Staat auch oft genannt wird) wiederholt Hassenpflug seine Attacken auf alle, inzwischen von 1848 beflügelten revolutionären Errungenschaften. Selbst die Prügelstrafe führt er wieder ein. Die Ständeversammlung setzt ihm mit einer Steuerverweigerung zu. Als er versucht, die Verfassung durch Kriegsrecht und landesherrliche Dekrete zu unterlaufen, provoziert Hassenpflug einen bis heute in der deutschen Geschichte einmaligen »Generalstreik« des Offizierskorps: 241 von 277 kurhessischen Offizieren reichen im Oktober 1850 ihr Entlassungsgesuch ein. Daraufhin gehen der Fürst und sein oberster Büttel die Bundesversammlung um Besatzungstruppen an, darunter neben Österreichern die berüchtigten »Strafbayern«, was das Ansehen der Obrigkeit im Lande auf einen Tiefpunkt sinken läßt. Hassenpflug war ohnehin schon vorher landesweit verhaßt. Zudem entsteht dadurch eine echte Kriegsgefahr.

Allerdings haben Wilhelm und Hassenpflug – beide mit ähnlicher Arroganz und Selbstüberschätzung gesegnet – auch wieder ihre Differenzen, so in Finanz- und Kirchenfragen. Minister Hassenpflug dankt im Oktober 1855 ab und zieht sich als Pensionär (aus Kassel) nach Marburg zurück. Er schmiedet im Ruhestand vor allem an seinen autobiografischen Rechtfertigungen. So spricht er in der »Textwüste« (Harald Stockert) seiner Denkwürdig-keiten von seinem unerläßlichen Kampf gegen »die Frechheit der Bewohner des Landes«. Als er nach einigen Schlaganfällen mit 68 das Zeitliche segnet, atmen die Frechdachse auf: der Hessenfluch ist von ihnen genommen.
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