Sonntag, 5. Februar 2023
Von Schlagworten und Milchglasscheiben
ziegen, 10:03h
In einem Artikel über die zunehmende Presseunfreiheit erwähnt der Autor eines sogenannten linken, meist recht gut redigierten Blattes Querdenker-Demonstrationen, an denen sich oft »gewaltbereite Neonazis« beteiligt hätten. Da brauche ich keine Bullen. Das Wort »gewaltbereit« trifft mich bereits wie ein Keulenschlag. Ich hätte es eher in der FAZ erwartet, die spätestens auf die »gewaltbereiten Linken« einhackt, wenn in der Main-Metropole wieder einmal Deutsche-Bank-Fensterscheiben eingeschmissen worden sind. Selbstverständlich ist das Wort »gewaltbereit« selber brutal. Verleumdet es nicht, dann lenkt es zumindest ab, und das ist viel. Zum Beispiel lenkt es von der tagtäglichen Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung unserer Bankiers und unserer MinisterInnen ab. Gegen die sind ein paar einflußlose Neonazis mümmelnde Kaninchen. Unsere Bankiers und unsere MinisterInnen überschwemmen aber nicht nur »Entwicklungsländer« mit knebelnden Krediten oder die Ukraine mit Rheinmetall-Panzern, sie kennen und schätzen auch die feingewebten, gut vertuschbaren Formen der Gewalt. Und von denen lenkt das Wort ebenfalls ab. Gerichtsbeschlüsse, Behördenbescheide, Schlagzeilen, Gehirnwäsche und väterliche Seitenblicke haben schon mindestens soviel Unheil wie Waffen und Fäuste angerichtet. Nur gibt es für jene »sanfte« Gewalt keine Zollstöcke, während Gewehre, Einschußlöcher und durch brüllende Nazis verursachte Blaue Flecken wunderbar zählbar sind.
Freiheitlich und kritisch gestimmte Redaktionen hätten also Schlagworte wie gewaltbereit oder neuerdings Pandemie (ohne Gänsefüßchen) gnadenlos auszumerzen, ob es dem Autor nun gefällt oder nicht. Würden sie aber dadurch nicht genau jene vom zitierten Autor beklagte Presseunfreiheit mehren, nämlich indem sie zensieren? Für mein Empfinden nicht. Es entspräche nur ihrem Mandat. In den kleinen Freien Republiken meiner utopischen Erzählungen werden die Redaktionen der zentralen Blätter stets gewählt – wenn nicht unmittelbar von der Vollversammlung, dann halbjährlich auf der Landesdelegiertenkonferenz. Genau auf diesem Wege können Sie auch jederzeit abgewählt werden, falls man ihr Wirken als selbstherrlich oder stümperhaft erachtet. Ansonsten, in der täglichen Redaktionsarbeit, entscheiden sie nach bestem Wissen und Gewissen.
Allerdings scheint die Sache mit dem Mandat in unseren, nicht freien Breiten auf betrüblich dünnen und wackligen Füßen zu stehen. Im vergangen Sommer befragte ich das Internet einmal stippvisitenartig, wie es eigentlich um die offizielle Verfassung unserer (für mich) wichtigsten linken / alternativen / systemfeindlichen Blätter bestellt sei. Was ich da zu lesen bekam, auch in den Blättern selbst, war ganz überwiegend 1. verflucht wenig, 2. schön verwaschen. Eigentumsverhältnisse? Entscheidungsstrukturen? Regelmäßige Rechenschaftslegung? Offene Buchführung? So gut wie nichts. Die Blätter bevorzugen für ihre Redaktionsstuben Milchglasscheiben. Sie verweigern somit genau jene »Transparenz«, die sie unablässig, in den Artikeln, im Mund führen. Stattdessen Beteuerungen der Redaktionen, sie seien volksnah, zögen sets ihren pompösen »Beirat« zu Rate, hätten auch den Lesern gegenüber immer ein offenes Ohr für Kritik und was sie dergleichen noch an Senf zur Hand haben. Mit anderen Worten: sie lassen sich nur wirksam kritisieren und kontrollieren, sofern es ihnen gefällt. Dagegen nehmen sie die unablässig erbetenen Spenden gern rund um die Uhr entgegen.
Hier liegt der alternative Hase natürlich im kapita-listischen Pfeffer. All diese Redaktionen sind zu ihren Blättern oder Portalen gekommen, wie beispielsweise die Familie Carl Henschel um 1800 zu ihrer Kasseler Glocken- und Geschützgießerei: durch fürstlichen Segen oder gleich durch Selbstermächtigung. Zufällig hatten sie eben das Geld, die Schwungkraft und die Gewandtheit dazu. Und konnten sie sich einmal etablieren, haben sie sofort jene Macht, die bekanntlich gern zu Kopfe steigt, auch in den angeblich kritischen Schädeln. Versuchen Sie einmal, weil Ihnen zuviel gegen den Strich geht, ehrenwerte, nie von unlauteren Motiven angeleckte Kollegen wie Albrecht Müller, Roland Rottenfußer, Eckart Spoo abzusägen. Da brauchen Sie mindestens 50.000 oder 200.000 MitstreiterInnen und viel Geduld. Sie müssen also das systemübliche Recht des Stärkeren geltend und Umsturz machen. Genau das, die Revolution, wird aber, wie Brandt-Verehrer Müller zum Beispiel schon bestsellerartig erkannt hat, im Kapitalismus nicht gern gesehen.
Ob und wie die linken / alternativen / systemkritischen HerausgeberInnen und Redakteure entlohnt werden, scheint übrigens gleichfalls zur Privat- oder Intimsphäre zu zählen. Diesbezügliche Angaben sowie konkrete Zahlen meidet man ähnlich konsequent wie in gewissen rotgrün befehligten Instituten die Impftoten. Mir persönlich ist das egal, weil ich »professionelle« Schriftstellerei seit Jahrzehnten für einen sozialen Irrweg halte, den ich lieber meide. Folgen »systemfeindliche« Publikationen in der Regel der basisdemokratischen Gepflogenheit, keine Autorenhonorare zu zahlen, finde ich es eigentlich in Ordnung. Aber dann sollten sie sich vielleicht auch in ihren Eigentums- und Entscheidungsstrukturen und in ihrem Geschäftsgebaren als Basisdemokraten bewähren. Wenn nicht, wirkt die Annahme eines Artikels leicht als Gnadenerweis.
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