Samstag, 21. Januar 2023
Hölderlin mit Hut

Im kommenden März hat er 180. Todestag. Was wird das erst 20 Jahre später geben! Die Stadt Tübingen wird ihren berühmten Hölderlin-Turm großzügigerweise für die Dauer des Festjahres (2043) auf die Zugspitze versetzen (knapp 3.000 Meter), damit er höher als der Moskauer Fernsehturm sei. Denn was ist ein Aleksander Puschkin gegen einen Friedrich Hölderlin! Ein wangenknochiger, kraushaariger Stümper.

Zugegeben, um 30 konnte ich mich noch durchaus für das eine oder andere Gedicht des schwäbischen Bürgersohnes erwärmen. »Täglich geh ich heraus, und such ein Anderes immer, / Habe längst sie befragt, alle die Pfade des Lands …« Das schien sich doch gut mit der Verzweiflung und Unschlüssigkeit zu decken, die ich von mir selber kannte. Auch die seltene Mischung aus Einfalt, Schlitzohrigkeit und Hochmut im Tonfall imponierte mir. Aber in Hölderlins Fall stimmt es übrigens nicht. Er hat nie etwas »anderes« gesucht. Vielmehr suchte er »immer« nur sich selbst. Er war bis ins Mark eigensüchtig. Deshalb hat er mir auch als Charakter, soweit ich davon wußte, nie imponiert. Geldnot kannte er zeitlebens nicht. Bauern oder Handwerker, selbst die engen Bundesgenossen auf dem Stift, interessierten ihn lediglich, sofern sie lyrisch ausschlachtbar waren. Menschliche Nähe fürchtete er wie der Teufel das Weihwasser; zu Weibern natürlich erst recht. Die konnten von ihm aus alle »klanglos schlummern«, wie es in Menons Klagen weiter heißt. Sein einziges Trachten ging dahin, für seine wehleidigen Verse bewundert und mit Lorbeerkränzen überschüttet zu werden. Daß so einer, der es im Grund von Kind auf war, verrückt wird und in Türmen oder auf Zugspitzen endet, ist wohl kaum verblüffend.

Womöglich wenden Sie ein: da kann er ja nichts dazu – für seine Erbanlagen, seine Kinderstube (mit zwei verflucht früh verstorbenen Vätern und einer erdrückenden Mutter) und seine penetrante Schwärmerei. Das ist goldrichtig. Aber ich habe die Unfreiheit auf Erden oder gar im gesamten Kosmos nicht erfunden. Das waren die griechischen Götter, die Hölderlin so gern im Munde führte. Die Mutter hatte ihn unbedingt auf eine Pfarrstelle hieven wollen. Dagegen wehrte er sich zäh und sogar erfolgreich. Gleichwohl frömmelte er in seinen Versen auch ohne Kanzel hartnäckig weiter. Möglicherweise hatte er seine Buchstabengläubigkeit unmittelbar von Martin Luther geerbt. Das Gesetz, die Schrift, die Form gehen erbarmungslos über alles. Sein Gedicht Mein Eigentum hebt mit folgenden vier Versen an. »In seiner Fülle ruhet der Herbsttag nun, / Geläutert ist die Traub und der Hain ist rot / Vom Obst, wenn schon der holden Blüten / Manche der Erde zum Danke fielen.« Viel geschraubter und umständlicher geht es nicht mehr. Warum schreibt er nicht einfach: »Der Herbsttag ruht in seiner Fülle. Die Trauben sind geläutert, die Haine leuchten vom roten Obst. Die ersten Blütenblätter fallen.« Er schreibt es nicht, weil es das Versmaß und seine Eitelkeit verletzen würde.

Vielleicht sollte ich mich lieber mit Hüten statt noch länger mit Hölderlin befassen. Der Grund wird Ihnen spätestens am Schluß dieses Beitrages einleuchten. Jedenfalls ist es ein dankbares Thema, sind doch alle die Kopfbedek-kungen, die an Türme, Blumenbeete, Hütten, Lorbeer-kränze oder Zugspitzen erinnern, kaum noch zu zählen. Hier scheint der niederländische Maler Dieric Bouts mit seinem um 1465 geschaffenen Abendmahlsaltar wohltuend heraus zu fallen. Er hat sich in diesem personalreichen Gemälde selbst verewigt, wie KennerInnen versichern. Obwohl bescheiden am Rande der heiligen Tafel versteckt, läßt sich der offenbar hagere Künstler kaum übersehen, trägt er doch eine leuchtend rote Mütze. Allerdings wirkt sie recht hoch, sodaß sie seinen erstaunlich langen Schädel fast bis zur Saaldecke streckt. Wahrscheinlich enthält sie zur Hälfte nur Luft, wenn nicht das viele Geld, von dem Bouts vermutlich träumte.

Einer der vielen brutalen Psychopathen auf dem preu-ßischen Thron war Friedrich Wilhelm I., Regierungszeit 1713–40. Er soll ungefähr die Gestalt einer Dampfwalze besessen haben. Statt nun elegante Kopfbedeckungen zu sammeln und damit ein ganzes königliches Museum zu füllen, verfiel er auf die Idee, mindestens sechs Rheinische Fuß große Soldaten zu sammeln. Das entsprach knapp 1 Meter 90, für damals riesig. Am Ende umfaßte sein berüchtigtes Leibregiment der Langen Kerls gut 3.000 Personen, die man ihm in ganz Europa und sogar Übersee mit List und Gewalt und viel Geld zusammengeraubt hatte. Auf ihren Beruf oder ihre Verstandeskraft kam es dabei nicht an – Hauptsache lang. In diesem Sinne wissen heute auch alle Karikaturisten, wem der weiße Nordamerikaner seine herausragende Stellung verdankt: seinem schwarzen Zylinder. Der Mensch ist nicht von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, vielmehr verlängerbar. In dieser Achse liegt sein ganzer Stolz. Unten tun es hohe Schuhabsätze oder notfalls Schuheinlagen, wie Schauspieler Heinz Rühmann (1,65) am Beginn seiner Laufbahn wußte; oben eben Hüte oder gar in »Pickeln« (Dornen) auslaufende Helme.

Die Krönung der Kopfbedeckung stellte freilich schon bei den alten Ägyptern die Krone dar. Die Leute, die dem steilhäuptigen Pharao die Füße zu küssen hatten, durften allenfalls Mützen tragen. Zwar wurde oft betont, mit der Kopfbedeckung ziehe sich der Inbegriff von Amts- oder Manneswürde, zuweilen auch Rebellion, durch die Geschichte, doch die Frage der Länge kommt meist zu kurz. Hölderlins Halbgott Friedrich Schiller sah in dieser Hinsicht sonnenklar. Sein Tell weigert sich, jener von einem Hut bekrönten Stange, die für den kaiserlichen Landvogt Hermann Gessler steht, mit entblößtem Haupt seine Referenz zu erweisen, weil er sich nicht geringer vorkommt als ein Vogt. Er kann sich somit, den Hut ziehend, nicht kleiner machen. Zur Strafe verhöhnt ihn Gessler durch das Ansinnen, Tell habe seinem eigenen Sprößling ausgerechnet einen Apfel von der Birne zu schießen! Doch wir wissen es: Tells Armbrust zitterte nicht, er bewahrte ruhig Blut.

Dagegen zeigt uns Peter Härtling mit seinem Hölderlin* einen in Tübingen studierenden dünkelhaften Heißsporn. Damals hatten Hilfslehrer vor den Stipendiaten ihren Hut zu ziehen. Einem gewissen Majer mißfiel dies jedoch, sodaß ihm der junge Hölderlin eines schlechten Tages mitten auf der Münzgasse den Hut vom Kopf schlug. Majer wäre eben verkleinerungspflichtig gewesen. Einmal in die Senkrechte verlegt, kommt die Freiheit für Diener oder Knechte einer Senkpflicht gleich. Sollte die Kunst der Übertreibung im Infamen gipfeln, wurde sie übrigens von den Maoisten besser beherrscht als von den Karikaturisten. In der chinesischen »Kulturrevolution« zwangen die Roten Garden die gestürzten und geächteten Größen zum Tragen armlanger, spitzer Tüten, die »Schandhüte« hießen. Das hatte Bouts vorausgeahnt.

* Roman von 1976, hier dtv-Ausgabe München 1993, S. 142
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