Samstag, 21. Januar 2023
Täglich Wunder

Ein von mir geschätzter randständiger Autor kündigt sein nächstes Buch in einem Artikel beiläufig für Ende Oktober an. Pustekuchen. Mitte November bestelle und bezahle ich es schon einmal. Am Monatsende wage ich den Verlag um die Auskunft zu bitten, ob das Buch bereits gedruckt oder wenigstens geschrieben sei. Nach einigen Tagen kommt immerhin eine Antwort: das Buch sei fertiggestellt, man wisse aber noch nicht, wann es gedruckt werden könne. Das Buch kommt im Neuen Jahr.

Nur eine ärgerliche Kleinigkeit? Das schon. Aber wenn sich die ärgerlichen Kleinigkeiten häufen? Dann wachsen sie Jahr für Jahr in den blauen Himmel, den einem die liebe Mitwelt so gern in Aussicht stellt. Ich fürchte allerdings, die meisten Leute nehmen diese Pyramiden aus nicht eingehaltenen Versprechungen und den entsprechenden Vertröstungen wegen ihrer Üblichkeit gar nicht wahr. Der randständige Autor verspricht sein nächstes Buch, weil er bereits seit 3 1/2 Jahren keines mehr vorgelegt hat. Die Welt könnte an seiner Produktivität oder an seiner Lebendigkeit zweifeln. Vati verspricht für Sonntag Drachensteigen, um endlich seine Ruhe zu haben. Am Sonntag fährt er zu einer Konferenz. Die Werbung verspricht Tag für Tag Wunderdinge; der Politiker verspricht die gleitende Jugendrente, weil er sowieso schon mit einem Bein in der Kiste steht. Niemand wird die ZuvielversprecherInnen StraftäterInnen schimpfen oder sie gar zur Rechenschaft ziehen. Denn was sie tun, gilt als urmenschlich. Jeder ist schließlich darauf erpicht, sich selbst in möglichst gutes Licht zu rücken, den anderen dafür über den Tisch zu ziehen. Jeder fühlt gewaltige Kräfte in sich schlummern, die nur noch nicht alle geweckt worden sind. Wenn die grüne Außenministerin einer ungefähr Gartenteich großen karibischen Insel verspricht, sie werde »Rußland ruinieren«, darf man sicher sein, die Frau glaubt daran.

Scheinen sich angeblich linke / alternative / systemkri-tische Leute oder Einrichtungen besonders gern in fahrlässiger Übertreibung oder Ignoranz zu üben, hängt es vielleicht mit ihrer Freude darüber zusammen, daß wir »bürgerliche« Tugenden wie Zuverlässigkeit, Bescheiden-heit, Höflichkeit in der Postmoderne endlich über Bord geworfen haben. Das war ja doch nur Sand im Geschäfts-getriebe. Jetzt ruht er, mit dem Plastik, auf dem Meeresgrund.

Ich will Ihnen trotzdem zu der altmodischen Faustregel raten: Versprechen Sie stets etwas weniger, als sie voraussichtlich einhalten können. Wird es dann sogar mehr, hat der Betreffende die Überraschungsfreude noch dazu.
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