Sonntag, 8. Januar 2023
Besuch bei Ettö

Die alten Kastanien der nach wie vor bezaubernden Friedhofsalle tragen pünktlich ihre weißen und roten Kerzen. Die Allee führt von dem kleinen Flecken mit Gräbern aus frei durchs Feld, endet aber schon nach rund 200 Metern am Wassergraben des Gutshofs. Die Aprilsonne steht jenseits des traditionsreichen Anwesens über dem nahen Wiehengebirge. Ettös Zimmer, die ehemalige Räucherkammer im quadratischen Herrenhausturm, wies vier runde Fenster auf, in alle Himmelsrichtungen. Aus drei von ihnen hatte er stets das Wiehengebirge vor Augen. Im April vor 45 Jahren, 1977, wurde Ettö auf diesem kleinen, gutseigenen Friedhof begraben. Locke hatte mich eisern untergefaßt, sonst wäre ich bis ins bewaldete Wiehengebirge geflüchtet, um mich im Unterholz zu verkriechen. Jetzt werde ich von den letzten Kastanien her lautstark und anhaltend von einer Singdrossel beschimpft, was mich allerdings kaum verblüfft. Auf dem schlichten Grabstein meines einstigen Geliebten ist zu lesen Edmund Tröger, genannt Ettö – das ist korrekt. In einer Vase vor dem Stein stehen sogar leicht angewelkte Schnittblumen, sicherlich von der Kommune. Die Kommune, damals, mit Kindern, über 30, heute nur noch um 20 Personen stark, dürfte auch die Singdrossel angespitzt haben, mir tüchtig einzuheizen, falls ich in diesem Jahr wieder käme. Ich klaube einen dicken Kiesel auf und werfe ihn in die Baumkrone, in der die verdammte Singdrossel hocken dürfte. Prompt zetert sie noch mehr, zieht aber immerhin Leine. Ich setze mich auf die betagte, rissige einzige Friedhofsbank und lasse mich von der Sonne kitzeln. Ettö kann mich nicht mehr kitzeln.

Unsere Liebschaft war noch keine zwei Jahre alt. Ettö hatte mich in der Stadtbücherei von Lübbecke erspäht, die ich trotz meiner Jugend leitete, und sofort Feuer gefangen. Selbstverständlich kannte ich ihn, wenn auch vorwiegend nur aus dem Sportteil der Neuen Osnabrücker Zeitung. Er spielte bei Concordia auf Linksaußen. Er war damals schon ein Star – und gleichwohl auch schon Kommunarde. Es war eine merkwürdige Zeit. Ettö glich einem vergleichweise langhaarigen braunen Wiesel, während sein Busenfreund Locke deutlich länger und ansonsten blond war. Locke, mit bürgerlichem Namen Jost Kraushaar, hatte schulterlange und eben prächtig gelockte blonde Haare. Er war der unbestrittene »Spielmacher« oder »Mittelfeld-Regisseur« der Concordia. Er und Ettö hatten mit dem Osnabrücker Club den Aufstieg in die Erste Bundesliga geschafft und genasen damals schon fast den Ruhm des einst für den Hamburger SV tätigen Gespanns Uwe Seeler / Klaus Stürmer. Einmal sah ich einen Fernsehfilm über Concordias Hochzeit – und ich muß einräumen, das Zusammenspiel von Ettö und Locke, so zusammen geschnitten, war streckenweise atemberau-bend. Zentimetergenaue Steilpässe aus dem Mittelfeld auf den linken Fuß des spurtenden Ettö; Flanken von der linken Eckfahne aus genau auf den wippenden Blondschopf des vorgerückten Busenfreundes; Tore am Fließband, natürlich ausschließlich von diesem Gespann, und so weiter …

Eigentlich machte ich mir schon damals eher wenig aus Fußball. Das spielte dann auch bei unserem letzten Streit eine Rolle. Allerdings war neuerdings Ettös unermüdliches Wirken an seiner türkisfarben lackierten Adler-Schreibmaschine hinzugekommen. Ettös Turmzimmer lag im 3. Stock unmittelbar unter dem spitzen Dach. Statt einer Tür hatte es nur eine Luke, die man, als Besucherin, von der steilen Stiege aus seitlich hochklappen mußte. Und sofern und sobald ich damals noch bei Ettö auftauchte, war die Adler, die auf seinem erlesenen Nußbaum-Beistell-tischchen thronte, schon wieder ein Stück gewachsen. Bei meinem letzten Besuch glich sie bereits einem türkisgefärbten Albatros. Dann entwickelte sich der Streit. Im Ergebnis lag Ettö eins tiefer, im 2. Stock, auf den Dielen und regte sich nicht mehr, wie ich entsetzt von oben sah.

Gewiß war Ettö auch vom Kommuneleben in Beschlag genommen. Viel Freizeit blieb da nicht übrig. Immerhin wurden er und Locke von manchem, etwa Unkrautjäten im Garten, befreit, weil sie schließlich Fußballprofis waren und gerade in dieser Eigenschaft auch das mit Abstand meiste Geld in den Kauf von Gut Stockhausen gesteckt hatten und überdies Monat für Monat auch in die Tageskasse warfen. Sie durften sogar einen Wagen mitnehmen, wenn sie sich jede Woche für in der Regel drei Tage zwecks Training und Mannschaftsbesprechungen in Osnabrück aufhielten oder samstags zum Heimspiel anzutreten hatten. Sie verfügten über eine kleine Wohnung unweit des Stadions, in der gelegentlich auch andere Kommunarden übernachteten. Die Autostrecke vom Gut, das nahezu am Stadtrand von Lübbecke liegt, nach Osnabrück beträgt knapp 40 Kilometer. Die Eisenbahn wäre recht umständlich gewesen: man mußte erst, von Lübbecke aus, nach Bünde fahren und dort umsteigen. Genau diesen Weg pflegte ich nach meinem Umzug und noch heute vormittag zu nehmen. Ich besitze gar kein Auto. Ich hatte mich bald nach Ettös Tod erfolgreich bei der Osnabrücker Uni-Bibliothek beworben und zog es dann vor, Lübbecke und dessen Gerüchteküche schleunigst zu verlassen. Fuhr ich von Osnabrück aus mit der Bahn zum Friedhof, schaute ich in den ersten Jahren auch regelmäßig bei Locke und seiner Gefährtin herein. Sie bewohnten das niedliche, spitzbedachte Torhäuschen an der östlichen Wassergrabenbrücke. Begegneten mir andere Kommunarden, machten sie entweder schlagartig dicht oder rangen sich ein paar scheinheilige Fragen nach meinem Befinden ab. Dann stiegen Locke und Meike aus und verschwanden nach Santa Lucia, Uruguay, um dort einen Snookersalon zu eröffnen. Er wird inzwischen von ihrer Tochter geleitet. Die ekelerregende Kommerziali-sierung des deutschen Ligafußballs war ja um 1980 gar nicht mehr aufzuhalten; das hätte selbst ein Trainer Jost Kraushaar nicht geschafft. Seit diesem Verlust mied ich den Gutshof mehr und mehr. Zu dem Argwohn gegen mich kam der zunehmende offensichtliche Anpassungskurs der Kommune, der mir entschieden gegen den Strich ging, Stichwort Rotgrün. Inzwischen müßte der Friedhof eigentlich vor lauter Corona-Opfern schon aus allen Nähten platzen, weil die Kommune 2020 auch auf den Panikkurs der Merkel-Regierung einschwenkte. Plötzlich liefen diese Arschlöcher sogar auf dem eigenen ummauerten Hof mit sogenannten Atemschutzmasken herum, wie ich vom Friedhof aus mit Hilfe meines kleinen Taschenfernglases sah. Ich hätte fast einen Lachanfall bekommen, aber das wäre unschicklich gewesen.

Ettö hatte sich plötzlich in den Kopf gesetzt, einen Roman zu schreiben. Er hatte einen Osnabrücker Germanisten kennengelernt, der ihm, aufgrund einer Kurzgeschichte Ettös, die in der Jahresschrift Muschelhaufen erschienen war, »beachtliches literarisches Talent« bescheinigt hatte. Vielleicht war der Germanist auch Fußballfan gewesen, ein Schmeichler also. Der Roman sollte natürlich um zwei Figuren kreisen, die dem bekannten Gespann der Concordia zum Verwechseln ähnlich sahen. An dem verhängnisvollen Apriltag eröffnete mir Ettö außerdem, eine gewisse »liebreizende« blonde Bibliothekarin spiele ebenfalls mit. Ich fuhr ihn gleich an, das solle er nur nicht wagen. Ich war ja sowieso geladen, weil er mich die Woche über schon wiederholt am Telefon vertröstet hatte. Diese »Verweigerung« von mir, nämlich in die Literaturge-schichte einzugehen, kränkte ihn offensichtlich bis ins Mark. Er beschimpfte mich als Ignorantin, dumme Kuh und so weiter und wollte mich hinauswerfen. Ich bestand aber törichterweise auf einer Erörterung unseres wechselseitigen Grolls. Da riß er die Lukentür auf, daß sie an die Wand knallte, und zerrte mich dann wütend ebenfalls zu der Öffnung, damit ich ihm endlich aus den Augen und aus dem Sinn schwände. Nun war ich aber durch meine regelmäßigen Yoga-Übungen recht zäh und geschmeidig zugleich. Wir rangelten also. Dann stolperte Ettö über meinen Rucksack, den er mir vor die Füße geschmissen hatte, und fiel kopfüber in das Lukenloch. Beim Fallen fluchte er noch geistesgegenwärtig. Am Fuß der Stiege fluchte er freilich nicht mehr.

Ich benötigte mindestens drei Minuten, bis ich mich einigermaßen von meiner Erstarrung erholt hatte. Dann taumelte ich die Stiege hinab, untersuchte Ettö vergeblich nach Lebenszeichen – und brach wie ein Schloßhund heulend über seiner Leiche zusammen. Nach weiteren langen Minuten wankte ich zum Torhaus. Zum Glück war Locke anwesend. Ich stammelte etwas und veranlaßte so seinen Spurt zum Turm. Er bestätigte meine Diagnose: tot. Er ließ mich erzählen. Er glaubte mir sofort aufs Wort. Dann gab er mich in die Obhut von Meike und ging den Kommunarden Thorsten suchen. Der war nämlich Arzt. Er besaß in Lübbecke sogar eine eigene Praxis. Thorsten regelte die Angelegenheit mit dem Totenschein und verhinderte so das Anrücken der Mindener Kriminal-polizei. Ettö hatte eben einen dummen, tödlichen Unfall gehabt. Die Concordia zog am Stadion schwarze Fahnen auf. Die Sportreporter der Fernsehsender hielten mühsam ihre Tränen zurück.

Ich blicke wieder zu dem frischen Grabhügel in Ettös Nachbarschaft. Sind die verängstigten Kommunarden bislang nicht reihenweise an Corona gestorben, werden die Lücken auf dem Friedhof künftig vielleicht von kommunitären Impfopfern gefüllt. Ich entdeckte das ziemlich neue Grab bereits bei meinem Eintreffen und musterte es mit gerunzelter Stirn. Danach starb unlängst ein Kommunarde namens Michael F., von dem ich nichts weiß, bereits mit 37 Jahren. Warum oder woran, würden sie mir auf dem Gut wohl kaum auf die Nase binden. Die Anpassung kam, die Aufrichtigkeit wich.

An der Uni hatte ich in der jüngsten Panikzeit noch Glück. Zwar wurden auch die Angestellten der Bibliothek bekniet, sich bitteschön »freiwillig« impfen zu lassen, aber die Rücksichtnahme auf mehrere betagte Professoren, die bekanntermaßen in mich verliebt waren, verhinderte bislang das Anlegen der Daumenschrauben beziehungs-weise den Tritt in den Arsch: Posten und Pension ade. Kürzlich habe ich sowieso meinen Rentenantrag eingereicht. Möglicherweise finden Sie mich demnächst in Santa Lucia in Lockes geräumigem Haus. Spanisch trainiere ich bereits seit gut einem Jahr. Meine Tage an der Uni sind also gezählt. Letzte Woche hörte ich, wie es einem 43 Jahre alten Assistenten am Fachbereich Physik ergangen ist, der sich in der Tat gehorsam hatte impfen lassen. Nach drei oder vier Wochen fuhren sie ihn mit Blaulicht in die Klinik der Universität. Sie hätten ihm teils zeigefingerlange Blutgerinnsel aus den Venen gezogen. Ein direkter Zusammenhang mit der Impfung wurde sogar in der NOZ vermutet. Immerhin lebe der Mann noch. Inzwischen kämpfe er um seine Invalidenrente. Von zu Hause aus.
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