Samstag, 31. Dezember 2022
Pöhsnick oder Die Republik dankt ab

Kees ist tot. Somit hat er diesen fragwürdigen Himmels-körper, den womöglich schon bald kein Schwanz mehr kennen wird, vor mir verlassen. Dabei war er, mit 71, sogar zwei Jahre jünger als ich. Eine Botin, die gleich noch jemanden in Frahm, unserem Dorf, besuchte, überbrachte mir seinen letzten Gruß. Er war mein engster Freund gewesen. Die Botin, Raskilde, kenne ich nur flüchtig. Sie kommt wohl ebenfalls bald dran. Dürr wie eine entkernte, vertrocknete Bananenschale, glaubte man ihre Knochen klappern zu hören, als sie auf ihrem Gaul angezockelt kam. Sie stieg gar nicht erst ab. Kees hätte heftiges Fieber bekommen, gekotzt wie ein Wasserfall und buchstäblich nichts mehr zu sich genommen, erzählte sie. Anscheinend haben sie noch einen alten Arzt in Rotten, wo Kees der GO Streifenhörnchen angehörte. Der Mediziner habe von einer mit Darmgrippe gepaarten Lungentzündung gesprochen. Aber sie selber, Raskilde, glaube eher, Kees sei an Gram gestorben. Er hätte im Fieber auch das Bübchen von Maja und Runzeck beklagt, falls ich mich noch an den Vorfall erinnerte. Vim habe das Bübchen gehießen, half sie mir auf die Sprünge. Dabei äugte sie mich auch noch scheinheilig an, dieses reitende Knochengerüst. Selbstverständlich erinnerte ich mich. Jeder hier tut das, soweit es hier noch Leute gibt. Vim war damals keine drei Monate alt – und Kees hatte ihn wohl oder übel erschlagen. Das entsprach dem berüchtigten Abdankungsbeschluß.

Hätten es diese einleitenden Zeilen geschafft, Sie zum Weiterlesen zu ködern? Wenn nicht, macht es auch nichts. Ich werde den Roman sowieso nicht schreiben. Sie können mir allerdings die Idee zu ihm abkaufen – 50.000 Euro, falls Sie außerstande sind nachzuweisen, es handle sich dabei nur um abgestandenen Schimmelkäse, der bereits mehrmals anderen Autoren mißlungenen sei. Bislang bilde ich mir ein, es sei keiner. Gewiß hat es auf Erden schon den einen oder anderen Massenselbstmord gegeben. Ich nenne nur die ungefähr 1.000 SiedlerInnen im Dschungel von Guayana, die sich 1978 von ihrem Sektenchef Jim Jones dazu anstiften oder zwingen ließen, ihrem Planeten endlich ade zu sagen. Aber meine Geschichte spielt gar nicht auf dem Planeten Erde. Und die Leute auf Pöhsnick, wie ich meinen eigenen Planeten kurzerhand taufte, bringen sich keineswegs um, vielmehr fassen sie eines Tages den schon erwähnten Abdankungsbeschluß. Der besagt nicht mehr und nicht weniger als: Ab sofort werden keine Kinder mehr in die Welt gesetzt. Wir sterben aus freien Stücken aus. Damit war das Ende menschlichen Lebens auf Pöhsnick abzusehen. Die Frist betrug allenfalls ein Jahrhundert.

Wie eingangs angedeutet, setzt meine erwogene Erzählung erst ein, als bereits die letzten Jahrzehnte angebrochen sind. Freilich gibt der Ich-Erzähler etliche Rückblenden, denn er muß oder will ja klarmachen, wie es »soweit« kommen konnte. Auch das Wo drängt natürlich nach näherer Erläuterung. Der Planet Pöhsnick ist lediglich in einer fruchtbaren Mulde von rund 80 Kilometern Durchmesser besiedelt. Sonst Mondlandschaft. Die Pöhsnicker Bevölkerung – zum Zeitpunkt des epochalen Beschlusses ungefähr 70.000 Köpfe – nimmt allgemein an, ihre Mulde sei in grauer Vorzeit als Krater eines fremden Himmelskörpers zurückgeblieben. Durch den Einschlag seien gleichsam Keime intelligenten Lebens übertragen worden. Man könnte sogar sagen: auch von Klugheit. Stießen nämlich in der Pöhsnicker Vergangenheit Leute mit kühnen Projekten der Umgestaltung oder Ausweitung vor, wurden sie bald, von nachfolgenden Generationen, zurückgepfiffen. Im großen und ganzen sah man ein, es wäre töricht, den beschränkten Lebensraum auf Pöhsnick zu überreizen. So gab es bis zuletzt kaum Industrie, wohl auch keine Elektrizität. Für den Verkehr genügten Pferde und Fuhrwerke. Selbst die »wilde« Tierwelt nimmt sich schmal und sanftmütig aus. Dafür bietet die Mulde einige äußerst ergiebige und nahrhafte Pflanzen à la Banane, Maniok, Pirijao. Das ist eine Palme. Fleisch wird nicht verzehrt. Raskilde wird von ihrem Klepper jede Wette noch überlebt.

Der Erzähler vermutet selbstverständlich nicht zu unrecht, Raskilde sei schon damals, vor rund 40 Jahren, gegen den Beschluß gewesen. Sie habe nur, wie manche andere, auf ein Veto verzichtet, um den erforderlichen Konsens nicht zu blockieren. Die meisten PöhsnickerInnen begrüßten den Vorstoß, nachdem vor allem Uro, damals Landesschiedsrätin und entsprechend angesehen, auf den Dörfern flammende Reden gehalten hatte. Sie habe die Nase voll, hob sie immer an. Pöhsnick hatte gerade den »Fußballkrieg« überstanden. Soweit sie zurückdenken könne beziehungsweise Dokumente vorlägen, sei es ein ums andere Mal zu Streitigkeiten gekommen, und sie seien nur selten nicht mit Gehässigkeiten und Leid verbunden gewesen. Das habe auch die gefeierte Republikgründung (50 Jahre früher) nicht wirklich abzustellen vermocht, wie man ja gerade wieder gesehen habe. Am übelsten stoße ihr jedoch immer wieder der »Kleinkrieg« auf. Als Landes-schiedsrätin begegne ihr die betrübliche Unfähigkeit zu Eintracht und Glückseligkeit in fast jeder GO, ihre eigene (Marabu im Dorf Glitter) eingeschlossen.

Uro vermied es damals, auf die Jugend einzuhacken. Leuten wie Kees und dem Erzähler war das Problem der Klüfte und Reibereien zwischen den Generationen allerdings sonnenklar. Wie es aussah, ließ es sich auch in der egalitärsten Gesellschaft (gleichberechtigt, gebildet, frei) nie beheben. Die Klüfte schienen sozusagen natürlich zu sein. Die Jugend war stets neugierig, tatendurstig und ihrer verständlichen Unreife zum Trotz vorwitzig und leichtsinnig. Einige jungen PöhsnickerInnen hatte sogar schon von Eisenbahn, Flugzeug, Telefon, Fotografie, Radioteleskop und dergleichen geträumt. Ältere wie der Erähler und Kees konnten das freilich nicht restlos verdammen. Sie hätten selber zu gern gewußt, was die ganze Veranstaltung »Leben« eigentlich solle – und diesbezüglich konnten ja Fernrohre oder Raumschiffe unter Umständen nützlich sein. Gleichwohl hielten sie den Abdankungsbeschluß immer hoch. Für sie stellte »der Mensch« keinen Wert-an-sich dar. Ganz im Gegenteil. Auch der republikanische Pöhsnicker hatte zeitlebens Ärger und Verzweiflung auf dem Buckel. Das Ungemach aus Mäuse- oder Mückenplage, Krankheiten, Unfällen, ungleichen Veranlagungen, Häßlichkeit und den Tod nicht zu vergessen schlug gerade so in der Mulde zu wie einst der fremde Himmelskörper – wenn auch immer schön häppchenweise, nämlich über die Jahre gestreckt und die Leute verteilt. Es war die reinste Willkür. Nur wußte man nicht, von wem, sonst hätte man ihn, diesen Schurken und Folterer, gern anstelle von Vim erschlagen.

Einige Monate nach dem Beschluß tauchten Maja und Runzeck, frisch verliebt, in der erwähnten Mondlandschaft unter. Sie wollten unbedingt ein Kind. Sie hatten ein paar HelferInnen, die sie mit Lebensmitteln und Nachrichten versorgten. Vim kam zur Welt. Aber nach wenigen Wochen war »der Sabotageakt« durchgesickert und zudem lokalisiert. Kees, der Erzähler und die Schiedsrätin aus dem Dorf, aus dem Maja und Runzeck verschwunden waren, erklärten sich bereit, der Sache nachzugehen und sie möglichst zu beheben. Das Versteck erreicht, kam es zu einem Streit, bei dem Vim erschlagen wurde. Die Eltern rannten schreiend, wie die Besessenen, fort. Sie stürzten sich von nahegelegenen Felsen in eine heiße Quelle.

Kees litt damals wochenlang. Es war nicht ohne Ironie, daß die angespannte Situation in dem Versteck gerade ihn zum »Totschläger« machte. Ich könnte mir nämlich denken, er und der Erzähler verkörpern im Gespann einen Gegensatz, den man zuweilen auch geballt in nur einer Person antrifft: den zwischen Demut und Hochmut. Während der Erzähler zur Verachtung neigt, wobei er sich selber nicht ausnimmt, hat Kees eher Mitleid mit den Menschen, die ja wahrlich an ihrer heiklen Lage unschuldig sind.

Den späteren »Fußballkrieg« habe ich bereits hinreichend in meiner Skizze von der Schweinsblaseninsel umrissen.

Interessant dürfte ferner das Problem der Vergreisung sein. Wie bewältigt der schrumpfende Club der Alten seinen Alltag? Gibt es da neue Konflikte? Immerhin, die paar Alten, die noch die Stellung halten, müssen weder Kraftwerke noch die Staatsregierung in Gang halten. Es droht auch kein Übergriff von als Russen verkleideten Angelsachsen. Aber zumindest diese unaufhaltsame, zunehmende Entvölkerung »der Mulde« dürfte »mental« nicht so leicht zu verkraften sein.

Vielleicht findet sich beim Erzähler ein Kränzchen aus Alten zusammen, die gleichsam bis zum letzten Atemzug die Philosophie der Abdankung, mit allen ihren Gesichtspunkten und Widersprüchen, um- und umwälzen. Gab es vielleicht doch so etwas wie den natürlichen »Todestrieb« des Menschen, der ihn zeitlebens in Aggressivität hielt? Warum immer wieder streiten, wenn doch die klimatischen und geologischen Verhältnisse in der Pöhsnicker Mulde so günstig sind? Die Mühsal ständiger oder stumpfsinniger Arbeit für den Lebensunterhalt hatten sie auf Pöhsnick nie. Aber vielleicht hatten sie zuviel Langweile? Sie könnte am Ende sogar den Hauptfeind des Menschen darstellen. Die Langweile mit der blockierten oder nie zu stillenden Neugier gepaart. Mit anderen Worten: die Sinnlosigkeit drückt. Die Ungewißheit nagt. Was soll dieser ganze Kinderkram überhaupt?, bohrt als Frage in jedem, der zwei Beine und keinen Strohkopf hat. »Das Sichfort-pflanzen ergibt jedenfalls keinen Sinn!« stellt Rosa, eine flachbrüstige Greisin von knapp 80, im Brustton der Überzeugung fest. »Nicht unter diesen undurchschaubaren und aufgezwungenen Umständen! Von daher waren der Abdankungsbeschluß und unser beharrliches Festhalten an ihm goldrichtig, ihr Lieben …«
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