Samstag, 24. Dezember 2022
Eine Frau namens Kreuder

Ich hatte mir schon im Sommer vorgenommen, unter diesem Titel an Weihnachten einen MZ-Artikel zu veröffentlichen. Aber inzwischen steht er in meinem Nasen-Lexikon. Schlagen Sie ihn bitte dort nach. Die Frau hieß Irene und war mit dem südhessischen Schriftsteller Ernst Kreuder verheiratet, der vor genau 50 Jahren, am sogenannten Heiligen Abend 1972, seinen teils aufmüp-figen, teils abwegigen Geist aufgab. Er war 69. Ich hörte erst rund fünf Jahre später von ihm, weil sein Buch Die Gesellschaft vom Dachboden bei Dörte auf der Fensterbank gelegen hatte. Ich war damals dankbar in das Kreuzberger Hinterhaus gezogen, in dem mein Mitstreiter (bei Trotz & Träume) Manfred Maurenbrecher wohnte, wohl im 1. Stock. Dörte war eine Freundin von ihm. Ich wohnte nun eins unter ihr, im 2. Stock. Der ganze Seitenflügel war von unsereins belegt, alle Spontis, alle ganze dufte, wie man damals sagte. Und heute denkt man das verklärenderweise erst recht. Zeitweilige Mißstim-mungen, auch den eigenen Trübsinn, klammert der Greis so entschlossen aus wie BüchnerpreisträgerInnen rasch zu vergessen pflegen, daß sie neulich noch in der Gosse lagen.

Den zweitgrößten Lichtblick jener späten 70er Jahre stellte, nach Trotz & Träume, die angehende Bildhauerin S. dar. Sie hatte sich meine Telefonnummer besorgt und teilte mir nun zu meiner Verblüffung fernmündlich mit, sie habe mir kürzlich bei dem Konzert im Kneipenhinter-zimmer Soundso zugehört – ob ich nicht Lust hätte, mich etwas näher mit ihr bekannt zu machen. Himmel, und das mir! Solche Anbaggerungen werden unbedeutenden Liedermachern eher selten zuteil. Schließlich hieß ich nicht Biermann – aber dafür hieß sie auch nicht Domröse. Klein, knackig, dunkelhaarig und frech wie diese war sie gleichwohl. Das ganze Hinterhaus beneidete mich. Später, nach den ersten verliebten Monaten, entschälte sich allerdings ein spröder, widersetzlicher, möglicherweise »feministischer« Kern bei der Künstlerin S., an dem ich mir immer öfter die Zähne ausbiß. Machte ich einmal bei einem gemeinsamen Konzertbesuch, etwa im gerammelt vollen, wackelnden Schuppen Quartier Latein, Anstalten meinen Arm um sie zu legen, damit die Öffentlichkeit trotz des Schummerlichtes und des Zigarettenqualmes sehe, aha, das ist seine Geliebte, die gehören zusammen, das sind ganz Unzertrennliche – fauchte sie mich glatt wie ein schwarzer Jaguar an, ich möge das gefälligst lassen. Sie pochte auf ihre Unabhängigkeit. Baerbocks verheerenden Fehler, sich in die nordamerikanischen Fänge zu werfen, hätte sie niemals begangen. Nebenbei dürfte ihr bald gedämmert haben: dieser H. ist eine krankhaft unschlüssige trübe Tasse, die anscheinend außerstande ist, ihrem Ehrgeiz eine vernünftige, überzeugende Richtung zu weisen. Damit lag sie leider nicht schief.

Wie wohl so mancher kritische Greis, träume ich gern davon, die wichtigsten Liebschaften meines Lebens ohne all das wiederholen zu können, was ich in ihnen falsch gemacht habe. Meine Ehefrau C. zum Beispiel, ohne Zweifel eine wunderbare blonde, mutige, sinnenfrohe Gefährtin, hatte viel unter meinem rechthaberischen und mürrischen Zug zu leiden. Oder nehmen wir I., eine recht humorvolle, außerdem vollbusige Malerin. Ich verbannte sie erbarmungslos in das Gelaß meiner nicht gerade wenigen Nebenfrauen, obwohl ich mir inzwischen alle 10 Finger nach ihr lecken würde. Solche Kränkungen würde ich mir heute nie mehr durchgehen lassen. Sie alle, von C. bis S., wären bestimmt angetan von mir. Aber sie stehen nie unversehens vor meiner Tür – und täten sie es, wären sie vermutlich nicht mehr die Jüngsten.

Zum Ersatz habe ich mich neulich, tagträumenderweise, auf die junge Gefährtin eines rund 40jährigen Mannes geworfen, den ich zeitweise sehr schätzte. Sie leben schon seit mehreren Jahren im Ausland und haben da ein Kind. Steht sie doch plötzlich mit dem verheulten Kind an der Hand spätabends, vom letzten Zug kommend, vor meiner Tür! Ein Bild des Jammers und des Bangens, das zu Herzen geht. Sie murmelt, sie seien ihm durchgebrannt. Ob sie für diese Nacht bei mir unterschlupfen dürften. Selbstverständlich trete ich nach einem langen, flackernden Blick auf die vierbeinige Überraschung wortlos beiseite und deute mit kaum erhobener Hand ins Haus. Die beiden treten ein. Während ich ihnen mit etwas weichen Knien folge, reift in mir die Gewißheit: diesem herrischen Dogmatiker, dem sie entflohen sind, werde ich einmal zeigen, wie man es besser macht.
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