Donnerstag, 15. Dezember 2022
Nasen Waib—Zion

Waiblinger, Emma (1897–1923), heute fast vergessene schwäbische Schriftstellerin, erschießt sich mit 26 in der elterlichen Wohnung in Esslingen aus Gründen, die sich leider auch mit Hilfe zweier immerhin vorhandener Porträts aus der Feder von Kolleginnen*/** nur wenig erhellen lassen. Die Tochter eines zur Schwermut neigenden Buchhändlers hatte zunächst, wahrscheinlich verordnet, Kindergärtnerin und Hebamme gelernt. Aus ihrem 1920 in Heilbronn erschienenen Roman Die Ströme des Namenlos läßt sich mit Vorbehalt schließen, sie hätte gern Medizin studiert. Der aufmüpfige Geist dieses Erst- und Letztlings soll ihr einerseits Mißbilligung, andererseits Begeisterung »vieler Leserinnen« eingetragen haben. Tatsächlich aber arbeitet sie nach der Veröffentlichung doch wieder als Kindermädchen, diesmal beim Schrift-steller und Arzt Ludwig Finckh am Bodensee.*** Eine »heftige Darmerkrankung« zwingt sie zu einem Sanato-riumsaufenthalt. Im Herbst 1923 aus der Schweiz in die Heimatstadt zurückgekehrt, spricht sie von Auswande-rungsplänen (Amerika), lernt Englisch, ersteht eine Schiffskarte und packt bereits die Koffer – um sich Ende November das Leben zu nehmen.

Bei ihrem sozialen und geschlechtlichen Hintergrund fragt man sich eigentlich schon ganz pragmatisch, ob Emma überhaupt schießen konnte und woher sie die Pistole hatte. Und muß nicht nach der Tat auch Polizei im Haus gewesen sein? Die Kolleginnen verraten es nicht. Ihre Familie habe keine Erklärung für diesen Selbstmord gefunden, schreibt Tietz. Nach einem Bericht von Waiblingers Schwester Elisabeth hinterließ sie auch keine Abschiedszeilen. Dafür habe sich im Ofen die Asche ihres zweiten Buchmanu-skriptes gefunden, das dieses Mal einen männlichen Helden haben sollte. Tietz hält es nicht für unwahrschein-lich, Waiblinger sei just in eine solche »Schreibkrise« geraten, wie sie bereits in ihrem ersten Roman geschildert wird. Neben Elisabeth hatte Waiblinger zwei Brüder, wobei der ältere Bruder, Erwin, im Ersten Weltkrieg »fiel«; der jüngere bleibt namenlos. Von einem Porträtfoto blickt uns Emma aus hübschem, leise lächelndem, durch die Wangenknochen etwas slawisch wirkendem Gesicht zum Verlieben an – freilich weiß man als Außenstehender ja nicht, ob sie zum Beispiel nicht hinkte, wenn auch vielleicht »nur« im Gemüt. Über ihr Wesen erfährt man also ebenfalls sehr wenig. Als Hebammenschülerin (in der Tübinger Frauenklinik) soll sie »beliebt« gewesen sein. Ihre Romanheldin, Agnes Flaig – übrigens braunhaarig, von »geradem«, ansprechendem Wuchs und in vorteilhaftem »Kleidlein« sicherlich »hübsch« anzusehen (S. 238) – hatte mit »heftigen Gefühlen« zu kämpfen. Aber Flaig hat sich nicht erschossen, vielmehr zuletzt an die normale Welt angepaßt.

Waiblingers Roman, übrigens »Ludwig und Dorle Finckh gewidmet« und 1921, dnb zufolge, immerhin in zweiter Auflage »4. bis 5. Tsd.« erschienen, ist in der wenig distanzierenden Ich-Form erzählt. Das würde zum Versuch einer jungen Autorin passen, sich über ihren eigenen Werdegang Rechenschaft abzulegen – und ihn dabei selbstverständlich mit einer gesellschaftsfähigen Lösung zu krönen, die ihr selber, außerhalb des Romans, vermutlich oder sogar offensichtlich verwehrt war. Ihre Agnes »kommt an«, wenn ich ein Modewort meiner Zeit benutzen darf. Sie kommt im schwäbischen Mittelstand und im schwäbischen Mittelmaß an. Das auf Ordnung, Sauberkeit, Fleiß und Tugend pochende Hausmütterchen in der jungen Frau siegt über die mal rebellisch, mal schwermütig gestimmte, jedenfalls stets leidenschaftlich glühende Dichterin in der jungen Frau. Als solche hätte sie gern die ganze Welt umspannt. Mit einer dicken Buche am Waldrand war ihr dies einmal als Schulmädchen unter gewaltigem Knacken der Handgelenke gelungen, doch was die Welt betrifft, erwies sich diese dann doch als gar zu übermächtig. So kriecht Agnes zu Kreuze und geht die Ehe mit dem dicken Buchhändler Adolf ein.

Ich wäre nicht verblüfft, wenn die junge Frau Waiblinger die Wonnen sexueller Ekstase nie erfuhr, bevor ihre Pistole krachte und sie, statt nach Amerika, ins Jenseits beförderte. Das Liebesverlangen von Agnes ist riesig, bleibt jedoch an schwärmerischen Beziehungen zu verschiedenen verehrten Mädchen, Frauen, Herren und zum Gymnasiasten Gottfried stehen, der wohl noch rechtzeitig, ehe etwas hätte »passieren« können, durch eine tödliche Krankheit aus dem Verkehr gezogen wird. Daß sie jene Wonnen dann wenigstens noch mit ihrem Gatten erfahren wird, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Das Los von vielen Millionen unterdrückter Frauen allein in Mitteleuropa muß vor dem Anbruch der angeblichen Goldenen Zwanziger Jahre furchtbar gewesen sein.

Als Autorin sucht Waiblinger in einer schlichten, etwas unbeholfenen und entsprechend wortarmen Sprache Verständnis, die zumindest über weite Strecken durchaus anrührt. Waiblinger ist auch selten geschwätzig; sie muß sich zur Mitteilung überwinden. Mit ihrer auffallenden, möglicherweise urschwäbischen Verniedlichungssucht (sie freut sich ausschließlich über »Kleidlein« oder aus der Küche aufsteigende »Gerüchlein«) versöhnt eine sanfte Ironie, die sich selbst bei jener Schreibhemmung der designierten Romanschreiberin Agnes bewährt, die diese dann in Adolfs von einem Schlag Kinder durchtobten »verkommenen« Haushalt führen wird. Der zu Herzen gehende Tonfall der gebeutelten Himmelsstürmerin hat mich wiederholt an Meta →Scheele erinnert. Mit dieser teilt Waiblinger auch den unpolitischen Zug. Von sozialem Aufrührertum kann nicht die Rede sein. Es ist schon viel, wenn sich das Schulmädchen Agnes mit ihren Freundinnen für die vagabundisch angehauchten biedermeierlichen Werke des badischen Schriftstellers Victor von Scheffel erwärmt, gestorben 1886. Buchen und Kuchen ja, aber Fabriken und Kanonen kennt sie nicht.

Tietz streicht allerdings Waiblingers ungewöhnliches Pochen auf Frauenbildung heraus, die Chance auf eine literarische Laufbahn eingeschlossen. Dieses Feld war ja damals in der Tat fast allen niederen wie höheren Töchtern noch nahezu verschlossen. Sie hatten Dienstmädchen oder Hausfrau und Mutter zu werden. Das schmeckte Waiblinger gar nicht; wohl deshalb gab sie etlichen Heiratskandidaten, die sich Tietz zufolge um sie bemühten, Körbe. Tietz weist auch darauf hin, daß Alter ego Agnes ihren Schreibgelüsten keineswegs als »Jugendtorheit« abgeschworen hat; sie verspüre sie am Ende des Romans nach wie vor, habe sie lediglich tief in ihr Innerstes versenkt. Hier liegen »Triebverzicht« und »Verdrängung« auf der Hand, um mit dem damals aufsteigenden Sigmund Freud zu sprechen. Dennoch kommt es mir ähnlich ablenkend, jedenfalls zu kurz gegriffen vor, den tragenden, vermutlich krank oder selbstmordreif machenden Konflikt, wie Tietz, mit dem Widerstreit zwischen »traditioneller Frauenrolle« und »schriftstellerischer Existenz« zu benennen. Wahrschein-lich hätte sich eine Unterstützung genießende und erfolgreiche Schriftstellerin Waiblinger nur etwas später umgebracht, mit 35 oder so. Trifft dieser Verdacht zu, saß der Wurm in ihrem grundsätzlich zerrissenen, für Befriedung ungeeigneten Gemüt.

Ihr schönstes dramaturgisches Glanzlichtlein setzt Autorin Waiblinger leider ausgerechnet bei der Herbeiführung des Happy Ends. Adolf war ursprünglich mit Margret verheiratet, einer älteren Schwester von Agnes, der Agnes nun im »chaotischen« Haushalt zu helfen versucht. Auf Margret wälzt Waiblinger die »schlampige« Hälfte ihres Wesens ab – prompt muß die liebe Schwester dann auch, wie Gottfried, durch Krankheit vorzeitig in den Sarg wandern. Kaum ist Margrets Leiche erkaltet, erlaubt sich Adolf harmlose Anzüglichkeiten und bringt sogar einen Heiratsantrag vor. Agnes ist empört, schmeißt ihre Sachen in den Koffer und verläßt das Haus. Da pfeift es in ihrem Rücken durch die Luft: Der stets zum Scherzen aufgelegte Adolf, der oben im erleuchteten Fenster grinst, hat ihr – »die hast du vergessen« – ihre eigenen Pantoffeln nachgeschmissen! Sie klatschen aufs Pflaster, und Agnes zeigt ihnen selbstverständlich die kalte Schulter. Doch ein paar Monate später reist sie reumütig wieder an. Nachdem sie die Treppen bewältigt hat und klopfenden Herzens ins Canossa der buchhändlerischen Wohnung eingetreten ist, streckt ihr Adolf, der übermütige beleibte Spitzbube, ihre Pantoffeln entgegen: »Ich habe sie damals wieder von der Straße herauf geholt und sie dir aufgehoben; ich wußte ja, daß du wieder kommen würdest.« Da wurde Agnes rot und sah zu Boden. (257)

* Rosemarie Tietz: Anne Schieber, Emma Waiblinger, Isolde Kurz. Drei Schriftstellerinnen in Esslingen am Neckar, Esslingen 1987,
S. 23–42
** Irene Ferchel über Waiblinger in: Literarische Spuren in Esslingen, 2003, S. 133–35
*** Bei Tietz bleibt Finckh unerwähnt. Den Nachschlagewerken zufolge ist der Mann erst im hohen Alter gestorben, 1964, wenn auch leider als Nazi, wie zu fürchten ist. Da er fleißiger Briefeschreiber war, bat ich das Reutlinger Stadtarchiv um Auskunft und erhielt den Bescheid, in Finckhs Korrespondenz fänden sich keine nennenswerten Erwähnungen der Emma Waiblinger.




Walder, Pius (1952–82), österreichischer Holzfäller und Wilderer aus dem Villgratental in den Hohen Tauern, Osttirol. In einer Septembernacht 1982 wurde der 30jäh-rige beim Weiler Kalkstein von zwei Jägern überrascht und sehr wahrscheinlich auch erkannt, obwohl er sein Gesicht mit Ruß geschwärzt hatte. Zwar hatte er, wie man später feststellte, in dieser Nacht nicht einen Schuß aus seiner Flinte abgegeben – aber man kannte diese Brüder ja. Die Gebrüder Walder, vier Stück an der Zahl, waren talweit als wilde und wildernde Gesellen berüchtigt. Als Pius Walder nun flüchtete, schoß Jäger Schett mehrmals auf ihn und traf ihn dabei in den Hinterkopf. Damit hatte Schett für einen Toten, den Racheschwur Bruder Hermann Walders, eine Flut von Zeitungsartikeln, außerdem für etliche Bücher, Lieder und Filme gesorgt. Nicht alle ergriffen für die Walders Partei, doch das Befremden zog sich ziemlich lückenlos durch die ganzen Alpen.

Nach dem Gerichtsverfahren konnte Hermann Walder seinen Schwur nur bekräftigen. Das Urteil sah keinen Mord, wie Hermann selber, sondern lediglich eine »Körperverletzung mit tödlichem Ausgang«. Schett bekam drei Jahre Haft, wovon er nur die Hälfte absitzen mußte. Laut Bernhard Odehnal* war der vorsitzende Richter zufällig ein Kamerad von Schett, nämlich ebenfalls Jäger. Aber die Kumpanei zwischen Jägern und der jeweiligen Obrigkeit oder Elite der Demokratie dürfte ja bekannt sein. Sie trinken aus denselben Geldhähnen und pochen gemeinsam auf das soldatische Recht, im Zweifelsfall von Staats wegen zu töten. Einige BeobachterInnen merken allerdings zurecht an, der postmoderne Wilderer sei in der Regel weder Hungerleider noch Rebell. Das soll sogar Hermann Walder eingeräumt haben. Man wildert aus Spielleidenschaft und bestenfalls noch aus Trotz gegen die anmaßende kapitalistische Einrichtung dieser Erde. Die umfaßt neuerdings auch schon den zunehmend mit Satelliten gespickten Himmel.

Die große Verbrämungskraft der verschiedenen Kauderwelsche, die sich die Eliten leisten, wird glänzend vom bekannten »Jägerlatein« verdeutlicht. Das Wort töten kommt in ihm nicht vor. Man greift vielleicht in die Altersklasse ein oder bringt den edlen Hirsch zur Strecke – aber man bringt ihn nicht um. Ähnlich rücksichtsvoll wie die Jäger zeigen sich auch die Händler. Den Anblick blutverkrusteter Leichen kennen sie nicht. Von den Schachteln im Supermarkt wedeln uns die Hühner die Eier mit lustig flatternden Flügeln geradezu in den Mund; sie wären gekränkt, ließen wir sie auf ihren Eiern sitzen – bevor sie selber in die Suppe wandern. Das rosige Schwein auf dem Dosendeckel quiekt vor Vergnügen, weil es kaum erwarten kann, in Leberwurst verwandelt zu werden. Fröhlich schnatternd und gereckten Halses ziehen die Gänse ums Schmalztöpfchen; sie gieren danach, ihre Köpfe zu verlieren.

Erwischen wir zufällig ein schmalzloses Töpfchen, besteht noch lange kein Grund zur Panik. Es handelt sich nämlich lediglich um eine Mogelpackung. Stecken wir auf längere Sicht zu viel Gänseschmalz in uns hinein, neigen wir zur Korpulenz. E. G. Seeliger behauptet, Fremdworte seien schlecht. Sie gäben im günstigsten Fall die Ansicht eines Dinges, während nur die »eigenwüchsigen« Worte für so etwas wie Erleuchtung, Durchstrahlung, Wesen und Wahrheit gut seien, meint er in seinem Handbuch des Schwindels. Wahrscheinlich hat er recht. Bei Korpulenz steht mir zwar ein Dicker vor Augen, doch warum er dick ist und was davon zu halten sei, deutet dieses Wort nicht an. Nenne ich ihn fett, kommen wir der Sache schon näher. Er hat seiner zarten Verfassung Gewalt angetan. Vermutlich ging das von seiner Mami aus.

Damit sind wir also von Hölzchen auf Stöckchen oder von den Wäldern an der österreichisch-italienischen Grenze auf Faustregeln zum Fremdwortgebrauch gekommen. Ich rate Ihnen, meiden Sie Fremdworte pro Seite zehnmal öfter, als Sie es gewohnt sind. Der Grund liegt selbstver-ständlich nicht in der Undeutschheit der Fremdworte. Er liegt zunächst, mit Seeliger, in ihrer Unanschaulichkeit. Überdies sind sie aber, darin durchaus deutsch, hochnäsig, dünkelhaft, einschüchternd. Während sie von den Eingeweihten auf Anhieb verstanden werden, bedeuten sie den anderen, wie dumm sie sind – die anderen. Damit verbitten sie sich natürlich jeden Zweifel an den Äußerungen des klugen Autors. Wer trotzdem zweifelt, wird erschossen.

* Bernhard Odehnal (Wien), »Gott vergibt, ein Tiroler nie«, Tages-anzeiger (Zürich), 28. Juli 2012: https://www.bernhardodehnal.com/artikel/gott-vergibt-ein-tiroler-nie



Wang Yue (2009–11), chinesisches Großstadtkind. Der Vorfall ist zunächst bezeichnend für den herzlosen Zustand der zivilisierten Länder, in denen man heutzutage leben muß. In einer Gasse der Millionenstadt Foshan (Provinz Guangdong, Südchina) wurde die Zweijährige, auch Yue Yue genannt, am Nachmittag des 13. Oktober 2011 von einem Auto überfahren. Sie war ihrer Mutter weggelaufen.* Nun blieb das Kind blutend auf der belebten Gasse liegen. Eine Minute später kam noch ein Kleinlaster, der es genauso überfuhr. Beide Fahrer hielten nicht an. Zufällig wurde das Geschehen beziehungsweise Nichtgeschehen von der Überwachungskamera einer Eisenwarenhandlung aufgezeichnet. Danach waren es in rund sieben Minuten geschlagene 18 Passanten, die dem Verkehrsopfer ebenfalls keine Hilfe leisteten. Es mußte erst eine 57jährige Müllsammlerin kommen, die sich um Yue Yue kümmerte. Doch das Mädchen starb am 21. Oktober 2011 im Krankenhaus.

Immerhin rief der Vorfall heftige Diskussionen in der chinesischen Öffentlichkeit hervor. Selbstverständlich ist er weder typisch chinesisch noch brandneu. Trotzdem drängt sich die Frage auf, was das eigentlich für ein Gesellschaftssystem gewesen sein soll, das die Leute angeblich 50 Jahre lang »kommunistisch« prägte, aber so gut wie keine entsprechenden Spuren hinterließ – keine Spuren jenes »Mitgefühls«, das etwa die Schriftstellerin Xiao Hong in den vorkommunistischen Zeiten vermißt hatte; keine Spuren dessen, was man in der DDR als »Solidarität« hochgehalten hatte, sogar nicht nur auf Spruchbändern …

Im übrigen steht zu befürchten, Schaulust und Abstumpfung hätten in der Postmoderne eine Vormachtstellung errungen, gegen die wahrscheinlich nichts und niemand mehr ankomme. Leider finde ich keine entsprechenden Statistiken oder Studien. Ich kann jedoch mit einigen weiteren sprechenden Fällen dienen, die ich meinem Archiv entnehme. Im Juni 1981 waren Scharen von Rettungskräften unter lebhafter Anteilnahme von geilen Rudeln der Medien bemüht, Alfredo Rampi (1975–81) in Frascati (bei Rom in den Albaner Bergen) aus einem Brunnen zu bergen, in den er gestürzt war. Der Brunnen war 80 Meter tief, aber nur 30 Zentimeter breit. Ungefähr auf 30 Meter stecken geblieben, rutschte der sechsjährige Junge zu allem Unglück während der Rettungsversuche noch tiefer. Alle Versuche mißlangen. Alfredo starb nach rund drei Tagen schrecklicher Gefangenschaft. Soweit ich sehe, war der Brunnen nicht oder nur mangelhaft abgedeckt, weshalb man den Grundstückseigentümer später zur Verantwortung zog. Was die Rudel der sogenannten Massenmedien angeht, sprach F. G. Jünger bereits um 1950 (in Die Perfektion der Technik) von fliegenhafter Zudringlichkeit. Ihre Rechtfertigung war nie glaubhaft. Was trug das völlig überzogene Aufsehen zu Alfredos Rettung bei? Nichts. Was hatten die Vorbeugung, was »die Wahrheit« oder »die Geschichtsschreibung« davon? Nichts. Was hier allein profitierte, waren diverse Konzerne und ihre journalistischen HandlangerInnen, die sich enorm in ihrer Bedeutung gehoben sahen. Sie waren vor Ort. Sie waren mitten drin. Aber jener »unausrottbare Gegenwartsstolz«, den Ernst Kreuder beklagt hatte, ließ natürlich auch ihr Millionenpublikum wieder ein paar Zentimeter wachsen. Heute hat der Fernsehkonsument schon fast die Höhe seines ungefähr garagentorgroßen Bildschirms erreicht. Er ist dabei. Nichts entgeht ihm – nur das, was er nach Auffassung der MacherInnen besser nicht sehen soll. Er bekommt alles mit, ohne sich auch nur von der Stelle zu rühren. Jetzt erlebt er, wie die Bohrkräne über dem tückischen Kerker des Knaben auffahren. »Ach wie gut, daß unsere Kleinen in Corona-Quarantäne sind!« nicken sich zwei Nachbarinnen in Brüheim an der Nesse erleichtert zu. »Ihnen kann so etwas nicht passieren.«

Etwas später ergatterte der südafrikanische Bildjournalist Kevin Carter (1960–94) mit seinem »Geierfoto« den Pulitzer-Preis des Jahres 1994. Ein etwa zweijähriges dunkelhäutiges Kind ist, wohl vor Entkräftung, im Sand des Sudan zusammengebrochen. Wenige Meter hinter ihm hat sich ein Geier niedergelassen, der es lauernd beobachtet. Carter will seinerseits noch bis zu 20 Minuten darauf gelauert haben, ob der Aasjäger womöglich auch noch wirkungsvoll seine mächtigen Schwingen ausbreiten würde. Das tat er nicht. In der ganzen Zeit hätte Carter das Kind beispielsweise aufheben und zur nahen Ausgabestelle der UN-Hungerhilfe tragen können, mit deren Flugzeug er an diesem Tag eingetroffen war. Immerhin scheint er durch sein über Nacht berühmtes Foto sowohl unter Freunden wie seitens der Öffentlichkeit einiges Befremden geerntet zu haben, das ihm arg zusetzte. Manche KritikerInnen drückten dies recht treffend mit der Bemerkung aus, Carter habe wohl früher oder später geahnt, auf dem Foto seien zwei Geier zu sehen; einer davon sei er selber gewesen. Noch im Erfolgsjahr brachte sich der 33jährige (in Johannesburg) um, aber wohl aus vermischten Motiven.

In meinem 2006 veröffentlichten Aufsatz »Klappe zu, Affe tot« (gegen Fotografie und Verbilderung überhaupt) erwähnte ich ein ähnliches Beispiel abgebrühter Beobachtungstätigkeit aus England. In einem Sheffielder Fußballstadion ist eine Panik ausgebrochen. Wir sehen die verzerrten Gesichter der Fans, die am Schutzgitter erdrückt zu werden drohen. Sie werden auch erdrückt. Der Fotograf Soundso schreitet nicht ein oder reißt sich, weil keine Leiter zur Hand ist, vor Verzweiflung die Haare aus; vielmehr setzt er geistesgegenwärtig einen Schnappschuß, der sogleich durch alle Zeitungen geht und später auch noch einen wichtigen Preis erringt. Indem sie starben, machten ihn die Fans unsterblich. Seine Verdauung ist in Ordnung, und auch die Chefredakteure und PreisrichterInnen schlafen gut, schrieb ich damals. Inzwischen nehme ich an, es war die »Hillsborough-Katastrophe« vom 15. April 1989, die fast 100 Todesopfer und rund 750 Verletzte forderte. Die Welt zeigt davon Bilder, darunter wohl auch das von mir gemeinte Foto vom Schutzgitter.** Den Namen des betreffenden Fotografen kann ich nicht finden. Im selben Text spreche ich, zusammen gezogen, von der Mühe- und Schamlosigkeit des Fotografierens. Kein Mißgeschick ist vor dem Druck auf den Knopf sicher, aber immer wird das Motiv so tadellos dargestellt, daß nichts zu meckern bleibt. Für eine neue Videokamera warb Canon einmal mit dem Spruch, nie sei Perfektion so leicht gewesen. Warum sich im Training mit langen Pässen a lá Günter Netzer auf Erwin Kremers oder am Klavier mit Etüden abplagen, wenn man dies alles schön vergrößert und eingerahmt an die Wand hängen beziehungsweise als Konserve in den Recorder stecken oder am Computer mit einem Mausklick abrufen kann? Dabei Bier und Pizza, wahlweise Reis-Risotto.

Damit zum jüngsten mir bekannten Fall, der jenem Vorfall in China ähnelt. Der dunkelhäutige, aus Nigeria stammende 39 Jahre alte Alika Ogorchukwu, Bürger der mittelitalienischen Küstenstadt Civitanova und verheirateter Vater eines Kleinkinds, hatte aufgrund eines Unfalls seine Arbeitsstelle verloren und betätigte sich seitdem als Straßenhändler. Er mußte sich nun mit einer Krücke behelfen. Er stand immer in einer belebten Einkaufstraße. Er galt als freundlich und friedlich. Prompt brach ein 32jähriger italienischer Kunde am hellichten Tag (29. Juli 2022) aus sehr wahrscheinlich nichtigem Anlaß einen Streit vom Zaun. Rasch zu Raserei gelangt, entwand er Ogorchukwu die Krücke, schlug ihn damit nieder, hockte sich auf ihn und erwürgte und erdrückte ihn – tot. Dann stahl er das Handy seines Opfers und flüchtete. Die Polizei faßte ihn. Sie behauptet, er habe keine rassistischen Beweggründe gehabt. La Repubblica, Junge Welt und ähnliche Blätter sehen das anders. Die Gegend ist für Haß und Gewalttaten gegen Ausländer bekannt. Ein Rechtsanwalt reklamierte pflichtschuldig »psychische Probleme« des Täters.

Nun ist aber zu beachten: Der ganze Streit einschließlich Totschlag trug sich unter den Augen etlicher Passanten zu. Niemand von denen griff ein. Stattdessen hätten viele von ihnen die Szene mit ihrem Smartphone gefilmt, versichern mehrere Quellen, darunter auch die Webseite The Nigerian Voice.*** Es habe allenfalls einige Zwischenrufe gegeben. Dieser Tatbestand ist sicherlich ähnlich bestürzend wie der Mord.

Andere Rechtsanwälte werden vielleicht einwenden, diese neuartigen Bild-Dokumentationen von Verbrechen seien doch geradezu Glücksfälle. Schließlich erleichterten sie die Überführung und Bestrafung vieler TäterInnen. Und damit liegen diese Rechtsanwälte gut im Trend. In der Postmoderne scheint es viel wichtiger zu sein, Verbrechen zu bestrafen als Verbrechen zu verhindern. Das trifft sich wiederum mit der anschwellenden Schaulust der Massen. Die Massen verlangt es nach Sensationen. Sie möchten den Totschlag sehen, die Richter in den Roben, die zusammenbrechende Braut des Täters und dann möglichst auch noch dessen Hinrichtung. Auch dabei fließt natürlich wieder viel Bier oder Rotwein die Kehlen hinab.

* Henrik Bork (Peking), »Protestieren, diskutieren, schönreden«, Süddeutsche Zeitung, 25. Oktober 2011: https://www.sueddeutsche.de/panorama/unfalltod-der-kleinen-yue-yue-in-china-protestieren-diskutieren-schoenreden-1.1172201
** https://www.welt.de/sport/gallery126879507/Die-Katastrophe-von-Hillsborough.html
*** 31. Juli 2022: https://www.thenigerianvoice.com/news/310723/how-a-nigerian-citizen-was-beaten-to-death-in-italy.html




Weinheim, Eva (1918–38), kaufmännische Schülerin, Jugendliebe des thüringischen Schriftstellers Hanns Cibulka. Die tschechisch-sudetendeutsche Stadt Jägerndorf hatte zur Zeit dieser Jugendliebe, die Cibulka mit über 70 in einem schmalen Meisterstück* streift, knapp 25.000 EinwohnerInnen. Das waren ganz überwiegend Deutsche – bis zur Vertreibung aus ihrer eigentlich unbedeutenden Stadt. Immerhin, sie hatte einen Hauptbahnhof. Dort trafen sich Johannes und Eva fast jeden Tag, um gemeinsam nach Troppau in die Handelsakademie zu fahren. Eva wohnte unweit von Cibulkas Elternhaus mit ihrer Mutter zusammen, einer geschiedenen Ärztin. Bei Eva kam zum Makel der deutschen Sprache das Judentum hinzu. Von daher war es möglicherweise nicht das Übelste, wenn sie von den wildgewordenen Wassern der Schwarzen Oppa schon mit 19 aus dem Verkehr gezogen wurde. Für Cibulka war es schlicht niederschmetternd.

Eva – hochgewachsen, wenig weiblich, eher ungesellig – war ein Jahr jünger als Johannes. Sie tanzte gern, küßte gern – das Weitere läßt Cibulka offen. Er rühmt auch ihre Erzählfreude, die viel Phantasie, daneben ihr Judentum verriet. So, wie Cibulka sie hinstellt, war sie zwar immer streng gescheitelt, aber weder verklemmt noch lebens-müde. Sie war sogar geprüfte Rettungsschwimmerin. Warum ging sie aber dann, an einem Junitag nach den schweren Unwettern, zum gewohnten Baden zur Schwarzen Oppa, als diese reißendes Hochwasser führte? Johannes erfuhr es erst Tage später. Er war zu seiner mährischen Großmutter verreist, und Eva hatte die Begleitung ausgeschlagen, weil ihre Mutter von Herzbeschwerden gebeutelt war. Die ganze Stadt sprach von dem rätselhaften Unglück. Wahrscheinlich war Eva von den braunen Fluten über das Wehr gerissen, vielleicht auch von einem wirbelnden Baumstamm getroffen worden. Man suchte zwei Tage lang den Flußgrund und die Ufer ab; man fand noch nicht einmal ihre Badekappe. Sie war und blieb buchstäblich spurlos verschwunden.

»War es Leichtsinn oder hat sich der Tod ganz plötzlich ihrer erinnert, als er ihr eingab, bei Hochwasser baden zu gehen?« fragt sich Cibulka (S. 99). Andere, durchaus denkbare Fragen stellt er lieber nicht. Vielleicht hatte sie seine Abwesenheit und die Unwetter als Chance erachtet, ihn noch rechtzeitig loszuwerden? Oder war sie vielleicht schwanger von ihm und darüber in großen Nöten? Dergleichen erwägt Cibulka nicht – und wer weiß überhaupt, ob und in welchem Ausmaß er sich an die sogenannten Tatsachen gehalten hat. Zwar hat er seine Reise nach Jägerndorf und in seine Kindheit offensichtlich wenige Jahre nach der berüchtigten »Wende« leibhaftig unternommen, aber er ist als Erzähler gereist, nicht als Gothaer Bibliothekar oder gar Stadtarchivar. Und als solcher hat er, soweit ich sehe, sein mit Abstand bestes Buch geschrieben, eindringlich und nüchtern zugleich.

Gewiß zwitschert seine bekannte spirituelle Meise oder besser Wasseramsel, wie man sagen könnte, auch wiederholt aus diesem Alterswerk. Das kann man ihm aber leicht nachsehen, weil es nie den Hauptfluß der Erzählung (Eva W.) und die Trauer um den verfehlten Weg der Menschheit stört. Einige Kritik an ihm habe ich vor Jahren in meinem Buch Der Fund im Sofa durch den Mund des Snooker spielenden Gothaer Kriminalkommissars Armin Köfel vorgebracht. Spricht Cibulka aber 1994 vom wiedervereinigten Deutschland als einer selbstsüchtigen, korrupten, verlogenen »Mehrparteiendiktatur« (S. 105), muß ich ihm doch vergleichsweise große Hellsicht bescheinigen. Hätte sie bis zum Ausbruch der »Pandemie« 2020 vorgehalten? Alte Kumpels wie Adolf Winkelmann, Filmemacher**, oder Vorbilder wie Konstantin Wecker, Liedermacher, sind, wie ich höre, gleich Millionen anderen umgefallen. Wie hätten sich meine Kollegen Hanns Cibulka oder auch Armin Müller »positioniert«, um im beliebten TV-Jargon zu bleiben? Das zu wissen, dafür gäbe ich sogar meine spanische Konzertgitarre her. Ich rühre sie sowieso kaum noch an.

Erwin Chargaff hätte auf meiner Seite gestanden. Jede Wette.

* Am Brückenwehr, Leipzig 1994
** → A-37 Dörnberg. Ferner A-38 Schauermärchen und 39 Skiunfall.




Weininger, Otto (1880–1903), Wiener Kultbuchautor. Als Sohn eines Goldschmiedes und als Kulturphilosoph mit Doktortitel konnte er sich »seiner Leiblichkeit«, so die Grabinschrift, schlecht in irgendeinem Dickicht des Wiener Waldes oder in einem Wiener Bordell entledigen, zumal der österreichische Jude bereits für seine Sinnes-, Frauen- und Judenfeindlichkeit bekannt war. So nahm er sich am 3. Oktober 1903 ein Zimmer in Beethovens Sterbehaus in der Wiener Schwarzspanierstraße 15, um sich am folgenden Morgen ebendort zu erschießen. Erst im Juni war ein dickes Buch des 23jährigen »Genies«, wie manche noch heute meinen, erschienen: Geschlecht und Charakter. Weil es die angedeuteten feindlichen Positionen vertrat, hatte man eigentlich erhebliches Aufsehen erwartet. Tatsächlich schlugen die Wogen des öffentlichen Diskurses aber keineswegs so hoch, daß Weiningers Doktorhut europaweit unübersehbar gewesen wäre. Doch welcher Tumult und welche Umstrittenheit nach jenem tödlichen Schuß ins Herz! Bis 1909 erlebte Weiningers Werk schon 11, bis 1932 noch einmal 17 Auflagen.* Ob man es nun gut oder schlecht fand, man mußte es gelesen haben. Man mußte es nach jeder Lektüre entweder andächtig zwischen Kant, Nietzsche und all die anderen schieben oder über den verbissenen Fleiß staunen, mit der ein solch junger Mann die eigene hybride Verklemmtheit zum philosophischen Weltgebäude erhoben hatte. »An den Nachweis der Alogizität des absoluten Weibes hat sich der Nachweis seiner Amoralität im einzelnen zu schließen.« Hier sprach wahrlich ein Zu-kurz-gekommener, ein Ordnungsfanatiker, ein Schubladenwüterich, wenn auch immerhin nicht ganz so hölzern wie Georg Simmel.

Wird Weininger gern angerechnet, er habe ja »das Weibliche« oder »das Jüdische« nur als Chiffren für Anteile benutzt, die grundsätzlich in jedem Menschen vertreten seien, rüttelt es selbstverständlich an Weiningers Verachtung der (eigenen) Schwäche und an seiner Verherrlichung von Kraft, der Idee des Staates, der Riesenopern Richard Wagners und dergleichen mehr um keinen Zentimeter. Der 20 mal bessere Schriftsteller Friedrich Georg Jünger hält ihm zudem (1972 in den Scheidewegen) zugute, immerhin sei er kein gewalttätiger Mensch gewesen, der etwa auf der Straße mit einem Knüppel auf die Juden, die Frauen oder die Politik- und Staatsverdrossenen eingeschlagen hätte. »Das Massive seiner Angriffe entspricht dem Zugriff, dem er sich ausgesetzt fühlt. Seine Polemik ist ein Akt der Selbstverteidigung und Notwehr. Ohne Angst ist der durchdringende Scharfsinn seiner Kombination nicht zu denken, und diese Angst wächst, bis sie Verzweiflung wird.« Wie sich versteht, konnte Weininger nichts für diese Angst und nichts für seinen Selbsthaß. Aber bei seiner Klugheit hätte er vielleicht wissen müssen, daß sie beide sowohl für die Wahrheitssuche wie für die Literatur stets der schlechteste Ratgeber sind.

Vielleicht fehlte den Weiningern, Mainländern, Michelstaedtern vor allem ein echter Freund? Das Verlangen zumindest des typischen Mannes nach einem solchen dürfte bekannt sein. Der echte Freund ist der uns vorbehaltlos Anerkennende. Damit wäre der erste Kandidat für diese Rolle eigentlich stets der eigene Vater, aber mit dem läuft es meistens schief. Ignoriert er den Sprößling nicht gerade kaltblütig, tyrannisiert er ihn. Seit Sigmund Freud prügelt er nicht mehr so oft, droht jedoch umso hartnäckiger mit »Liebesentzug«. Das Heimtückische an den väterlichen Freunden liegt in der Paarung des Liebenswerten an ihnen mit ihrer Machtstellung. Deshalb hat der Sprößling später, falls er dem Alten in die »Freiheit« entkommen ist, erhebliche Schwierigkeiten, Anerkennung woanders als bei »Autoritäten« zu suchen. Ich spreche natürlich aus eigener Erfahrung. An mir vorüberziehen zu lassen, wievielen namhaften Leuten ich bereits hinterhergerannt bin, bereitet mir immer mal wieder einige Röte im Gesicht, die nicht von der Sonne stammt. Selbstverständlich begehrte man da auch stets rasch auf, sofern es gelegentlich zu einer näheren Beziehung kam. Diese Autoritäten haben es ohne Zweifel nicht leicht. Sie werden von dem, der ihre Freundschaft sucht, gleich doppelt berannt: von einem Bettler um Liebe und von einem Mörder.

* Joachim Riedl, »Weib, Jude, Ich – weg mit allem!«, Zeit, 6. Dezember 1985: https://www.zeit.de/1985/50/weib-jude-ich-weg-mit-allem



Welskopf-Henrich, Liselotte (1901–79). Für ihren Historikerkollegen Audring war sie »die reichste Frau von Treptow«, was ihr freilich keiner angesehen habe. Fotos zeigen eine bieder gekleidete kleine, rundliche Frau, die in jedem Tante-Erna-Laden hinter den Tresen gepaßt hätte. Eine Gegenüberstellung mit ihren beiden wichtigsten weiblichen Romangestalten, den anmutigen Blumen der Prärie mit Namen Queenie Tashina King und Ite-ska-wih, hätte sogar die Stasi als taktlos empfunden. Selbst mit ihrem indianisch umständlichen Familiennamen fällt die Autorin bedauerlich holprig ab. Liselotte Welskopf-Henrich wirkt, als könne sie kein Wässerchen trüben. Doch ihre professionellen Schilderungen von Schießereien, Rodeos und Verfolgungsjagden zu Pferd und per Auto, ferner von Wirbelstürmen und Feuersbrünsten machen jeden neidisch, der kein erklärter Hasenfuß ist.

Im ersten Band ihres Hauptwerkes, der zwischen 1966 und 1980 erschienenen Romanpentalogie Das Blut des Adlers, zählen die Schlägereien nach einem Beatkonzert und in der Spelunke Elisha Fields noch vor dem Bronc-sattellos-Durchgang des Rodeos zu den sportlichen Höhepunkten. Queenies Mann Joe King, auch Stein mit Hörnern genannt, trägt meistens zwei Schulterhalfter unter seiner schwarzen Jacke und stets ein Messer im Stiefelschaft. Er war Gangster, bevor er seine Jugendliebe Queenie eroberte und den dornigen Weg zu einem bewunderten Rodeo-champion, Büffelzüchter, Familienvater, Stammeshäupt-ling beschritt. Die Rachsucht der Rassisten, die das Reservat beherrschen, und sein eigenes Mißtrauen beuteln ihn Tag und Nacht. Doch sein Dakotaname verweist auf seine beispiellose Zähigkeit. Seine Schöpferin beschränkte sich auf »Heimatschutz« durch Deutsche Schäferhunde: ihr Haus in Treptow wurde von einem ganzen Rudel bewacht, das selbst von ihren Freunden gefürchtet war. In der Zähigkeit stand sie ihrem Haupthelden King kaum nach. Zwischen 1951 und 1961 hatte sie bereits das umfangreiche, sechsteilige Jugendbuchwerk Die Söhne der großen Bärin geschrieben. All diese Indianerbücher sind genealogisch und thematisch miteinander verknüpft. Die Pentalogie (5 Bände von insgesamt 2.500 Druckseiten) spielt bereits in den zeitgenössischen Reservaten der USA. Den letzten Band vollendete sie vier Wochen vor ihrem Tod. Sie starb 1979 bei einem Aufenthalt in Garmisch-Partenkirchen mit 77. Sie wurde nicht unpassend auf dem Ostberliner Friedhof Adlershof beigesetzt.

Eine Biografie über die merkwürdige, gleichwohl erfolgreiche DDR-Autorin war überfällig. Der blutjunge Erik Lorenz legte sie 2009 vor. Wie er mitteilt, verkaufte sich allein die deutschsprachige Ausgabe der Söhne bis heute ungefähr 3,5 Millionen mal. Der Stoff wurde auch von der DEFA verfilmt; die Hauptrolle des Harka übernahm Goijko Mitic. Obwohl sie Welskopf-Henrich einigen Verdruß bereitete, wurde diese Verfilmung ein Kassenschlager. Wo blieb das Geld? Was nicht die Hunde oder ihre eigene Taxisucht verschlangen, wanderte vorwiegend in die nordamerikanische Prärie. Nebenbei sind hier alle Beteiligten dem Gott »Automobil« verfallen: die weißen Yankees sowieso – Reservationsarzt Roger Sligh zum Beispiel, die schillerndste Figur aus Adler-Band III, legt die 300 Schritte von seinem Haus bis zur Klinik nie zu Fuß zurück. Auch die Indianer sind in Autos vernarrt, bringen es allerdings selten zu mehr als schrottreifen Schlitten – und schließlich die DDR-Autorin selber, von der Lorenz mitzuteilen vergißt, ob sie vielleicht so viel Taxi fuhr, weil sie keinen Führerschein besaß. Zum Teil überbrachte Welskopf-Henrich ihre Unterstützung für notleidende oder kämpfende IndianerInnen persönlich, denn sie bereiste ihre Romanschauplätze wiederholt. Als mutige Widerstandskämpferin im »Dritten Reich« und anerkannte Althistorikerin, die es bis zu einer Professur an der Ostberliner Humboldt-Universität brachte, erlangte sie die Ausreisegenehmigungen ohne Probleme.

Hauptschauplatz ihrer Adler-Romane ist die Pine-Ridge-Reservation im Staat South-Dakota. Sie liegt südöstlich der bekannten Black Hills. Bis zur maßgeblichen Gebirgsstadt Rapid City – bei Welskopf-Henrich New City – fahren Joe oder sein Wahlsohn, Rächer und Nachfolger Hanska mit ihrem Jaguar mindestens eine Stunde. Laut Wikipedia zählt dieses 11.000 Quadratkilometer große Reservat der Oglala-Lakota-IndianerInnen noch heute zu den ärmsten Gebieten der USA. Arbeitslosenrate 85 Prozent. Viele Familien weder Strom noch Telefon. Dafür viel Alkoholkonsum. Die Lebenserwartung um 50 gilt als eine der kürzesten aller Gruppen der westlichen Hemisphäre. Herzstück der Reservation ist ein Ort, der doppelt Geschichte schrieb: Wounded Knee. 1890 beging hier die US-Armee ein Massaker an etwa 200 bis 300 Lakota-Indianern; 1973 wurde ein Hügel dieses Prärieortes durch Aktivisten und UnterstützerInnen des American Indian Movement (AIM) besetzt und über Wochen hinweg verteidigt. Diesen Kampf stellt Welskopf-Henrich ausgiebig im letzten Adler-Band nach.

Wegen der drückenden Entrechtung und Verelendung der dort lebenden IndianerInnen war die Pine-Ridge-Reservation während der ganzen 70er Jahre ein Unruheherd. Diese Bezeichnung schließt auch die Dürren mit ein, von der das ohnehin karge Prärieland immer wieder heimgesucht wird. Das Stöhnen unter der Hitze und der Wassernot zieht sich bei Welskopf-Henrich durch alle fünf Bände. Rancherin, Kunstmalerin und Mutter Queenie verzehrt sich nach einem Wasserhahn, bekommt ihn schließlich auch, doch als ihr Wahlsohn Hanska und Ite-ska-wih die Blockhütte nach dem gewaltsamen Tod des Ehepaars King zurückerobern können, ist der Hahn aufgrund schadhafter Leitungen wieder tot, weshalb es Wasserschleppen heißt »wie in den alten Siedlerzeiten«. Gleichwohl war dieser Landstrich unterhalb der berühmten mondartig verödeten Badlands die geliebte Heimat der Oglala-Lakota-IndianerInnen. Ihr Aufbegehren in den 70er Jahren kostete, je nach Quelle, 60 bis 300 Indianern das Leben, anderen die Freiheit. Lorenz erwähnt die Fälle des bis heute inhaftierten Leonard Peltier und der erschossenen, mit diesem befreundeten AIM-Aktivistin Anna Mae Aquash; allerdings sollte man seine Darstellung mit Vorsicht genießen.*

Sich als wohlabgesicherte Kommunistin unermüdlich gegen das an den nordamerikanischen Ureinwohnern begangene, zum Himmel schreiende Unrecht gewandt zu haben, dürfte Welskopf-Henrich bereits eine Ausnahmestellung sichern. Ihr Verdienst wird noch gemehrt durch den Umstand, daß sie es als ausgezeichnete Schriftstellerin tat. Sie erzählt stets fesselnd, weil sie die gebotenen dramaturgischen Fäden zu ziehen versteht. Wenn jedoch die drei ersten Bände der Adler-Pentalogie besonders eindringlich geraten sind, verdankt sie es ihrer Sorgfalt und Knappheit im Ausdruck. Diese Bände haben ein Klima der Wahrhaftigkeit und Folgerichtigkeit, dem sich wohl kaum ein Literaturfreund entziehen kann. Selbstverständlich hat das Welskopf-Henrich nicht in ihrem wissenschaftlichen Studium gelernt – da erwartet man eher Gräßliches. Vielleicht färbte ihr Gegenstand auf sie ab, denn der Indianer macht nicht viel Worte. Spricht er aber einmal, hat es sofort Bannkraft.

Leider fällt Band IV der Pentalogie stark ab. Man hätte es eher vom letzten Band erwartet, konnte ihn doch Welskopf-Henrich nicht mehr überarbeiten, was auch zu spüren ist. Gleichwohl ist Band IV erheblich mangelhafter geraten. In der Komposition unausgewogen, verwaschen – beinahe formlos. Jenes einheitliche, uns einhüllende Klima fehlt. Dafür endlose Dialoge; das Buch ist überfrachtet mit Diskussionen. Sentimentale Züge. Überflüssige Brücken, ermüdende Einzelheiten. Modisches Politisieren. Gestelzte Wendungen. Sodann: warum Joe in Mahan verdoppelt werden muß, obwohl er in Wahlsohn Hanska einen würdigen Nachfolger finden wird, bleibt schleierhaft. Dieser Mahan ist eine völlig mißglückte Hauptfigur. Als bloßer Abklatsch von Joe – dem er sogar äußerlich zum Verwechseln ähnlich sieht – gewinnt er nie Charakter. Zum Glück fällt das in Band V nicht so stark auf, weil Joe, in Calgary (Kanada) heimtückisch ermordet, inzwischen durch Hanska ersetzt wird. Zwar zählt Mahan zu den Führern im »Ring« (der Wounded-Knee-BesetzerInnen), doch das Romangeschehen wird von der Unterstützungs-arbeit des jungen Hanska und seiner noch jüngeren Gefährtin Ite-ska-wih geprägt.

Biograf Lorenz entgehen nicht nur solche literarischen Unausgewogenheiten. Er hat auch ein schwaches Auge für die Frauenfrage. Das dürfte freilich kein Zufall sein – Welskopf-Henrich hat es in ihren Romanen selber. Am Schattendasein der Indianerin und an »Chauvis« wie Joe King rüttelt sie nur mit dem kleinen Finger. Häuptlings-sohn Joe darf den Befehlshaber in allen Lebenslagen geben. »Mach etwas zu essen.« Oder: »Tische auf, Queenie.« Cowboy Robert will Vater Halketts Meinung anführen – Joe unterbricht ihn: »Auf dieser Ranch hier gilt allein, was ich sage.« Oder Queenie: »Weißt du, Stonehorn, was du von mir verlangst?« – »Für Geschwätz habe ich keine Zeit.« Beim Zelten geht Joe mit dem Geschirr zum Fluß, um es abzuwaschen. »Das wäre Queenies Arbeit gewesen«, bemerkt die Erzählerin – er tut es nur, um einen Vorwand zum Beobachten zweier Verdächtiger zu haben. Immerhin, in Band III zeigt die Erzählerin Verständnis für eine Sauftour von Henry und Tom, die beide »patriarchalische Väter« haben, »von deren Autorität sie sich bedrückt fühlten«. In einer Selbstschulungsgruppe aus dem ersten Band wird das fragwürdige Wörtchen man erörtert. Joe weist darauf hin, wie sehr durch solche verallgemeinerte Rede persönliche Verantwortung zurückgewiesen wird; der patriarchale Zug der Angelegenheit bleibt ausgespart.

Für Luise F. Pusch wäre die Pentalogie eine Fundgrube grammatischer Absurditäten gewesen. Internatsschülerin Victoria »wird ein Dichter«; Mary Booth »Ratsmann für Ökonomie«. Miss Green, Mormonin: »Wie oft sind wir vertrieben worden und mußten mit Frauen und Kindern durch das ganze Land wandern …« Um es nicht zu unterschlagen: In Band II räumt Welskopf-Henrich sogar unmißverständlich Joes »Herrschsucht« ein. Sie erwägt: »Vielleicht war er nicht gewohnt, daß Queenie Angst hatte, und Angst war ihm überhaupt widerwärtig wie eine schleimige Schnecke. Joe war ein Stein mit Hörnern …« Ein »weibisches Schmuckstück« wie das Amulettkettchen seines Erzfeindes Jenny würde er niemals anlegen. Der frührere Gangsterkumpane hat langes blondes Haar und wirkt überhaupt weiblich. Er haßt seinen Gangsterboß, »weil Mike ein voller Mann war, und Jenny war das nicht.« Da wissen alle Schwulen Bescheid.

Joes abschließende Auseinandersetzung mit Engelshaar-Jenny, der ihn nicht aus den Fängen des Verbrechertums lassen möchte, endet mit einer dramatischen Verfolgungsjagd zu Fuß und per Auto. Jennys Auto explodiert dabei. Man muß Welskopf-Henrich allerdings zugute halten, daß sie den hartgesottenen und dunkelhaarigen Ex-Gangster Joe King trotz seiner bevorzugten Kleiderfarbe nicht schwarz malt. Er mag zur Verschlossenheit neigen, ist aber nie hinterhältig. Auch durch seine verständnisvolle Sorge um die Nöte und Sehnsüchte der Kinder und allgemeiner seine uneigennützige Hilfsbereitschaft nimmt er für sich ein. Ähnliches gilt für seine Gefährtin. Ihre Ängstlichkeit ist mit großem Mut gepaart. Die Hand des zudringlichen betrunkenen Nachbarn Harold Booth nagelt Queenie mit einem Küchenmesser an die Hüttenwand. Als er gar versucht sie zu vergewaltigen, erschießt sie ihn. Was sie nie los wird, ist ihre Nachgiebigkeit, wenn nicht gar Unterwürfigkeit gegenüber Joe. Da ist die nächste Generation schon aus anderem Holz geschnitzt: zwischen Hanska und Ite-ska-wih herrscht eine erstaunliche Gleichberechtigung. Insofern ist Welskopf-Henrich mit ihrer letzten tragenden Frauengestalt noch eine Kurskorrektur gelungen.

Über sie selber in ihrer Eigenschaft als Ehefrau, Mutter (eines Jungen), vielleicht sogar Geliebte oder Ränke-schmiedin erfährt man bei Lorenz wenig. Die Ehe wird als konfliktlos hingestellt. Unter ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern ist sie die unangezweifelte Chefin. Die Frage nach den Geschlechterrollen wird nicht angeschnitten. Platz genug, um diesen Gesichtspunkten nachzugehen, hätte Lorenz gehabt, gibt er doch viel zu ausführliche Referate über den Inhalt und die Quellen von Welskopf-Henrichs Romanen, die die Neugier nach eigener Lektüre bei so mancher Leserin, Männer eingeschlossen, eher abtöten könnten. Immerhin weist er nach der Taxi- auch auf die Titelsucht der kleinen Frau hin. Sie habe stets großen Wert auf die Kenntnisnahme ihrer sämtlichen »Titel, Ämter, Würden und Orden« gelegt [A-40 Titelite]. Da wittert man Kinderstubenlücken, die sich für die Angelhaken eines Biografen geradezu anbieten – Lorenz umschifft die Klippe. Die Mutter ist liebevoll. Der Vater, ein Rechtsanwalt, kommt so gut wie nicht vor. Auch in politischer Hinsicht zieht sich Lorenz für mein Empfinden etwas zu galant aus der Affäre. Er stellt die hohe Würdenträgerin als kritische Sozialistin hin, die im Regime oft aneckte. Er führt auch Beispiele an, etwa die Ungarn- und Pragfrage, doch er präsentiert keine nachprüfbaren Belege für Welskopf-Henrichs angebliches Löcken wider den Stachel. Mein Verdacht (ebenfalls unbelegt): Hier ist der Wunsch der Vater des Lorenz'schen Befundes. Es könnte freilich auch mit seiner Jugend (23) zusammenhängen, wenn er als Biograf grundsätzlich zu wenig unerschrocken umgräbt, nachbohrt und vielleicht Dinge zutage fördert, die ihn selber verblüfft hätten. Doch was er schreibt, schreibt er gut. Er versteht es Sachverhalte darzulegen.

Die Unterbelichtung der Frauenfrage hat genauso DDR-Tradition wie die Verherrlichung von Leidensfähigkeit, Wettkampf und Ruhm, die sich sowohl bei den Prärieindianern wie bei ihrer sie verehrenden Chronistin Welskopf-Henrich findet. Verfolgt ein alter Anarchist, wie sich die Burschen in den Söhnen nach Leistung, Ansehen, Auszeichnung verzehren, sträuben sich ihm alle Haare, falls er noch welche hat. Apropos: auf üppige Haartracht legt der Prärieindianer großen Wert. Laut Lorenz wurde das Kopfhaar sogar gerne künstlich verlängert, bei den Krähen-Indianern teils bis zum Boden. Die Neigung zum Skalpieren ist bekannt. Als Joes Wahlsohn Byron Bighorn – aus dessen kindlichem Blickwinkel ist Adler-Band II meisterhaft erzählt – vor Schulantritt zum Friseur muß, kommt es schon Kastration und Folter gleich. Die üppige Haartracht gilt eben als Symbol des Stolzes; sie bringt viel Ehre und Ruhm ein.

Den Gipfel des Ruhmes stellt in den Söhnen das Opferritual des Sonnentanzes dar, dem sich Donner vom Berge und Stein mit Hörnern alias Harka aus freien Stücken unterziehen. Es ist der brutale Wahnsinn. Den beiden jungen Dakota, die sich bereits vielmals ausgezeichnet haben, wird im Morgengrauen vom Geheimnismann des Zeltdorfes zunächst eine Art Brustlasche verpaßt – durch zwei parallele Schnitte mit dem Messer und anschließendem Durchstich. Durch diese Hautlasche zieht er einen Lederriemen, um ihn dort zu verknoten. Der Riemen ist mehrere Meter lang und am Ende im bemalten Pfahl verankert. An dieser Leine, sie straffend zurückgelehnt, haben die beiden Helden nun für Stunden dem Lauf der Sonne zu folgen. Die Sonne war den Prärieindianern heilig. Deshalb bestand das Tüpfelchen auf der schwarzen Kleidung von Joe und Hanska stets aus einem gelben Halstuch. Schwarz war die Farbe der Menschen im Gegensatz zu anderen Geschöpfen der Natur, wie Welskopf-Henrich im fünften Adler-Band erklärt – somit mehr als nur eine Schmähung gemünzt auf die Weißen. Doch die Sonne verehren, indem man sich von Hitze, Grelle, Hunger, Durst, Erschöpfung quälen läßt? Als Belohnung winken wegweisende sowie das Ansehen und damit den Rang erhöhende »Visionen«. Zum Ende dieses merkwürdigen »Tanzes« heißt es gar, durch Sprünge die Brustlasche aus Haut zu sprengen, um wirklich frei zu sein. Die Blutsbrüder bestehen die Probe. Nach wenigen Tagen sind sie wieder gesund.

Auch Joe und Wahlsohn Hanska gehen selbstverständlich durch den Sonnentanz. Die Autorin stellt das grausame Ritual auch nie in Frage.** Der ganze befremdliche Ehrenkodex der Prärieindianer scheint »voll auf der Linie« des Adolf-Hennecke-Sozialismus gelegen zu haben. Das Ansehen geht dem Indianer über alles. Schon als Knabe hat er keine Schwächen zu zeigen, etwa Langschläferei. Mädchen werden ja ohnehin nicht als »volle Menschen« betrachtet, wie Welskopf-Henrich in den Söhnen immerhin zur Kenntnis nimmt. Im vierten Adler-Band hängt der Knabe Hanska bei der Heimkehr von kräftezehrendem Auftrag »halb schlafend im Sattel«, doch er reißt sich gewaltsam hoch, »um nicht etwa Spott zu ernten«. Schließlich ist er schon an den Turngeräten in der Schule »immer der Beste gewesen«, wie die Autorin in Band V bemerkt. Ihre Leidenschaft fürs Rodeo, bei dem es oft genug zu Schwerverletzten und Toten kommt, verwundert da nicht mehr. Allerdings tritt ihre Sucht nach erbarmungslosem Sozialistischen Wettbewerb in den Adler-Bänden gedämpfter als in den vorausgegangenen Jugendbüchern auf. Noch milder verfährt Biograf Lorenz mit ihr.

Trotz dieser Einwände ist Liselotte Welskopf-Henrich für mich in erster Linie nicht Kommunistin, vielmehr Menschenfreundin. Das schließt sogar die Natur ein. Zu den Großtaten ihres Helden Joe King zählt es, die Büffel wieder ins Land zu holen – er besorgt den Grundstock seiner Zucht in Kanada. Als das erste Büffelgrollen über die Kingschen Weiden rollt, kommen Joes 112 Jahre altem Wahlvater John Okute die Tränen. Daß ich das noch erleben darf. Bevor die Weißen mit ihren Schnellfeuergewehren einfielen, tummelten sich 60 Millionen Büffel in der Prärie. Schon im 19. Jahrhundet sind sie nahezu vollständig ausgerottet. Oft bleiben die Kadaver liegen; die Weißen nehmen nur Zungen und Felle mit. Der weiße Farmer und Nachbar Myer senior bringt die verheerende Ehe von Rassismus & Fortschritt und damit die kolonialistische Hybris im letzten Adler-Band auf den Punkt. Hanskas Vorhaltung »Ihr seid später gekommen. Sagte ich schon einmal. 40.000 Jahre später, Großvater« pariert er mit: »Meinethalben 40.000 Jahre später. Aber in 400 Jahren haben wir euch überrundet.« In der Prärie lagen die Trainingsplätze der Yankees für Vietnam, Irak, Afghanistan, Jemen und was noch alles kommen wird.

* Lorenz stützt sich auf das wohl erstmals 1994 in deutscher Übersetzung erschienene Buch von Mary Crow Dog und Richard Erdoes Lakota Woman. Crow Dog war eine Freundin von Aquash. Wahrscheinlich ist diese Sicht zumindest einseitig, siehe etwa die Artikel über Aquash in der englischen oder deutschen Wikipedia.
** Der Sonnentanz kam bei sämtlichen Stämmen der Prärie und der Plains vor, jedoch in einigen Varianten. Wahrscheinlich stellt ihn Welskopf-Henrich etwas schief und überspitzt dar. Jedenfalls ging es nicht darum, das Augenlicht aufs Spiel zu setzen, wie sie wiederholt unterstellt. Ich verweise auf zwei jüngere Standardwerke: Wolfgang Lindig / Mark Münzel: Die Indianer Band 1, 3. Aufl. München 1985, S. 169 und Royal B. Hassrick: The Sioux, hier als Das Buch der Sioux in deutscher Ausgabe, z.B. Augsburg 1992, S. 272–78.




Werner III. († 1066). Der bei seinem frühzeitigen Ableben wahrscheinlich höchstens 25 Jahre alte Graf von Maden, ein erstaunlich mächtiger, einflußreicher Germane, war auch Reichssturmfähnrich, nämlich ein ausgezeichneter Lehnsmann des Reiches und in der Tat ein enger Vertrauter des noch jüngeren Königs Heinrich IV. Das war der Tropf, dem noch der »Gang nach Canossa« bevorstand, 1077. Übrigens steckte Heinrich dem lieben Werner 1064 Gut und Dorf Kirchberg (bei Fritzlar) zu, was nicht nur den Mönch, Geschichtsschreiber und späteren Abt Lambert von Hersfeld mit den Zähnen knirschen ließ, hatte der Flecken doch just dem Hersfelder Kloster »gehört«. In diesem Stammland der Chatten, heute Nordhessen, damals Grafschaft Maden-Gudensberg, trieben sich fast 1.000 Jahre später die Anarchisten der »Kommune Emsmühle« und der aus Erfurt geflüchtete Ex-Polsterer Bott herum, wie einigen Erzählungen von mir zu entnehmen ist.

Während Bott in einer Dachstube auf halber Höhe des Gudensberger Schloßbergs haust, hatte Graf Werner zumindest zeitweilig gerade über Botts Kopf auf der Obernburg gesessen. Doch der Graf, häufig (vor allem von Lambert*) als Wüterich geschildert, besaß auch verschiedene Immobilien im süddeutschen Raum, wohl überdies Gelüste sie zu mehren. Am 24. Februar 1066 soll er in Ingelheim (bei Mainz) im Rahmen einer Schlacht zwischen seinen plünderlustig gestimmten Gefolgsleuten und ortsansässigen Mönchen oder Bauern durch einen Keulenhieb in das Reich der Nibelungen eingegangen sein.** Möglicherweise fiel er »unglücklich«, nämlich beim Versuch zu schlichten. Chronist Lambert war ja voreingenommen. Heute gelten sogar Werners genaue Lebensdaten als ungesichert.

Worauf man dagegen bis zur Stunde schwören kann, das ist die ungebrochene weltgeschichtliche Rolle des Clandenkens, wie ich es zuweilen nenne. Ob Graf oder Tagelöhner, der typische Werner pflegt seinen Sprößlingen und sonstigen »Angehörigen« jeden Wunsch von den Augen abzulesen, für die Interessen Dritter dagegen eher blind zu sein. Das Glück »der Seinen« ist der höchste aller Werte. Was ihnen gut tut, tut auch dem Selbstwertgefühl ihres Erzeugers, Ernährers oder Knechters gut. Nach einer bündigen Feststellung aus Alains Betrachtungen Über die Erziehung ist der Familiengeist zutiefst barbarisch. Er ist eben Clandenken. Indem es Zufälle wie Geburt (»Blutsverwandtschaft«), Sympathie, Nation über das Menschenrecht stellt, geht das Clandenken weit über Vetternwirtschaft hinaus. Es betrifft vor allem die seelische Existenz. Liebe, Besitzerstolz, Leidenschaft entscheiden hier alles. Das Kind lernt das Buhlen um Gunst von der Pike auf. Wer gefällt, hat Erfolg. Wer meinen Clan mit Schmutz bewirft, bekommt die Pike ins Gesäß. Das gilt leider auch für Kommunen oder Basisgruppen – und sei es, sie müßten sich zu diesem Zwecke erst einmal selber spalten. In diesen Fällen werden die Fraktionen zu neuen Clans.

Franz Schandl spricht hier vortrefflich vom kollektiven Wahn der An- und Zugehörigkeit, die stets Hörigkeit einschließe. Jeder Clan ist der beste Clan der Welt. Damit alle anderen Clane daran glauben, herrscht Krieg. Vor den Schwertern werden die Keulenworte geschwungen, heute beispielsweise Corona-Leugner, Impfverweigerer, Populisten. Die gleiche Waffe ist in den Händen des eigenen Clans eine Ananas oder ein Schoßhündchen, in den Händen des fremden dagegen eine Granate oder ein Kampfhund. Somit bilden Clandenken und Doppelmoral siamesische Zwillinge.

Eigentlich sind freiwillige Zusammenschlüsse von Menschen unterschiedlichster Abstammung, etwa in anarchistisch gestimmten Kommunen, gerade deshalb erfunden worden, um das Clandenken auszuhebeln. Aber man kämpft hier mit einer Fleischgabel gegen einen Felsbrocken. Zur Puppenfabrikkommune zählte zu meiner Zeit Dieter, wie ich ihn einmal nennen will. Da er von Kind auf Angst vor Hunden hatte, verbat er sich jeden Hund auf dem Hof. Immer wieder biß die Hundelobby der Kommune bei ihm auf Granit. Es galt ja das Konsensprinzip: sobald auch nur einer sein Veto einlegt, ist der betreffende Vorstoß abgeschmettert. Eines Tages verliebte sich jedoch Dieters 15jährige Tochter in Hündin Lucy. Und da sie unbedingt mit dieser zusammenleben wollte, wurde Dieter binnen weniger Tage ein anderer. Plötzlich beherrschte Lucy Dieters Wohngemeinschaft und lief frei in Treppenhaus und Hof umher. Aß die Kommune im Hof, strich Lucy ungerührt und unbehelligt um die Beine der Tische oder meine. Dies alles wäre vorher undenkbar gewesen. Eine öffentliche Erklärung, etwa auf dem Plenum, gab es nicht. So kamen meine lieben MitstreiterInnen um einen Vortrag von mir über jenen Alainschen »Familiengeist« herum. Aber ich zog mich dann sowieso bald zurück.

* Ludwig Friedrich Hesse / Wilhelm Wattenbach, Die Jahrbücher des Lambert von Hersfeld, Ausgabe Leipzig 1893, Jahrbuch von 1064, S. 65: https://archive.org/stream/diejahrbcherdes00wattgoog#page/n104/mode/2up
** Jahrbuch von 1066, S. 76: https://archive.org/stream/diejahrbcherdes00wattgoog#page/n116/mode/2up




Wood, Matthew († 2013), Fußgänger in London, 39 Jahre alt. Der britische Hubschrauberpilot Pete Barnes (1962–2013) dagegen war bereits 50, als er am 16. Januar 2013 gegen acht Uhr sozusagen Wood traf. Barnes galt als erfahrener Flieger, der unter anderem im Rettungsdienst, beim Film und im Prominententransport tätig war. An diesem Morgen war er, bei ortstypischen Wetterver-hältnissen (Nebel oder jedenfalls schlechte Sicht), über London unterwegs, um einen Fahrgast abzuholen. Daraus wurde nichts. Barnes verfing sich im Ausleger eines Baukranes, der im zentralen Bezirk Vauxhall neben dem St. George Wharf Tower stand. Der Hubschrauber fiel oder trudelte auf die verkehrsreiche Wandsworth Road und fing Feuer. Neben dem Piloten kam Fußgänger Matthew Wood aus Sutton, Süd-London, um. Er stand im Begriff, das Gebäude zu betreten, wo die Schädlings-bekämpfungsfirma Rentokil saß, die ihn als »Kommunikationsmanager« beschäftigte.* 13 weitere Personen wurden verletzt, mehrere Kraftfahrzeuge zerstört. Focus online wußte anderntags zu melden, Barnes habe auch an dem 2002 veröffentlichten James-Bond-Film Stirb an einem anderen Tag mitgewirkt. Der Evening Standard ergänzte dies durch ein Gespräch mit der 38 Jahre alten Rebecca Dixon, der Mutter von Barnes' zwei Kindern, bei dem sie versicherte: »He was always smiling and making other people feel happy, valued and important.« Beides hätte man Wood sagen müssen.

Etliche Quellen, wohl auf den offiziellen Untersuchungs-bericht der Air Accidents Investigation Branch (AAIB) gestützt, betonen, jener Fahrgast, ein Geschäftsmann, habe sogar vor dem Unglück per Handy wiederholt bei Barnes Zweifel angemeldet, ob man bei diesem schlechten Wetter überhaupt fliegen solle. Das habe Barnes abgewiegelt. Aber welche Quelle will man nun wiederum für diese Behaup-tung haben, wenn nicht den Geschäftsmann? Es ist immer wieder dasselbe. Ein bestimmter Fahrer wird zum Sündenbock gemacht, damit man nur nicht das Verkehrs-wesen antasten muß, dieses ganze irrsinnige System.

Wood wird es mir hoffentlich vergeben, wenn ich ihn gleichsam in den rund 1.130 Toten und doppelt so vielen Verletzten untergehen lasse, die gut drei Monate später, am 24. April 2013, in der Nähe von Dhaka in Bangladesch anfielen. Dort stürzte der acht- oder neungeschossige Gebäudekomplex Rana Plaza ein, der unter anderem mehrere Textilfabriken beherbergt hatte. Als Ursache der Katastrophe wurde später hauptsächlich »grobe Fahrlässigkeit« der Erbauer wie der Betreiber des Gebäudes und, natürlich, die übliche Korruption im Lande angeführt, bei der Tellerminen zu Kuchenformen erklärt werden. Mindestens 2.400 Verletzte! Mangels Namen von Todesopfern sei die übel verwundete, damals 25 Jahre alte Näherin Shila Begum erwähnt, die ein Jahr darauf in Hamburg** um Verständnis und Beistand warb.

* »London helicopter crash: Matthew Wood was 'big-hearted guy'«, BBC News, 17. Januar 2013: https://www.bbc.com/news/uk-england-london-21060651
** Philip Faigle / Marcel Pauly, »Die Schande von Rana Plaza«, Zeit, 22. April 2014: https://www.zeit.de/wirtschaft/2014-04/rana-plaza-jahrestag-hilfsfonds




Wunderlich, Heike (1969–87), sächsische VEB-Stickerin, ermordet. So manchen »reizvollen« Fall muß ich allein deshalb übergehen oder schmerzlich offen lassen, weil mir die finanziellen / logistischen / akademischen Mittel fehlen, den wieder einmal vernachlässigten Blickwinkel auf das Opfer durch eigene Recherchen zu füllen. Im April 1987 wurde die 18jährige Textilarbeiterin Heike Wunderlich aus dem VEB Plauener Gardine auf einer Waldlichtung neben ihrem roten Moped vergewaltigt und erdrosselt aufgefunden. Ihre Leiche war mit blauen Flecken übersät. Über die lebendige junge Frau, eine anziehend wirkende dunkle Langhaarige, erfährt man aus den mir erreichbaren Quellen nicht mehr als dies, sie sei gesellig, aber vorsichtig Fremden gegenüber gewesen. Nach einem heimischen Blatt* wohnte sie, mit Brüdern, noch im Elternhaus. Die Reporterin erwähnt vom Prozeß, ein Bruder sei im Zeugenstand gebeten worden, dem Gericht zu schildern, »was für ein Mensch« seine Schwester gewesen sei. Man spitzt alarmiert die Ohren – und die Reporterin verrät kein Wort von der brüderlichen Schilderung. Wunderlichs Charakter? Oder ihre Sehnsüchte, falls sie welche hatte? Belanglos. Hauptsache ein Mordopfer. Der Fall blieb rund 30 Jahre lang ungeklärt und wirkt auch zur Stunde nicht zufriedenstellend gelöst. Was die Persönlichkeit Wunderlichs angeht, wäre man unter Umständen selbst nach 20 Jahren noch fündig geworden, sofern man sich die Fahrkarte nach Plauen und ein Hotelzimmer geleistet hätte, um verschiedenen Angehörigen, Kriminalbeamten und anderen Einheimischen auf den Zahn zu fühlen. Aber von den Kosten und meinen nicht vorhandenen Referenzen einmal abgesehen, wäre auch das noch immer heikel. Man rührt bei solchen Recherchen leicht Unmut oder gar Angst auf, und wenn es schlecht läuft, hat man gleich für den nächsten Toten gesorgt: sich selbst.

Neuerdings gilt der Fall Heike Wunderlich als erledigt. Das Zwickauer Landgericht verurteilte 2017 einen unge-ständigen 62jährigen Frührentner, der bereits zerrüttet und verwirrt war.** Wichtigstes Indiz sei eine sehr alte DNA-Spur gewesen. Zwar fanden sich auch Sperma-Spuren von zwei anderen Männern, aber denen maßen die ErmittlerInnen keine Bedeutung mehr bei – da sie sich ja nun den Rentner Helmut S. ausgeguckt hätten, so ungefähr die Welt. Allerdings wohnte die Mutter des damals 32jährigen lediglich rund drei Kilometer vom Tatort entfernt. S. kannte sein Opfer nicht, die Gegend jedoch umso besser. Außerdem war der trinkfreudige Angeklagte, zuletzt Kranfahrer, schon wiederholt »mit dem Gesetz in Konflikt gekommen«, auch wegen sexueller Verfehlungen. Er saß mehrmals in Haft. Jetzt hat er Lebenslänglich. Der Widerspruch seiner Rechtsanwälte wurde 2018 verworfen. Wunderlichs Angehörigen sollen mit dem Urteil zufrieden sein. Bedenkt man den riesigen volkswirtschaftlichen und nervlichen Aufwand für solch ein bißchen fragwürdige Gerechtigkeit, kann man sich nur in eine anarchistische Zwergrepublik fortträumen.

Ich will den unbefriedigenden Fall zu einigen grund-sätzlichen Bemerkungen zu meinen Nachforschungen und meinen Quellen nutzen. Womöglich besteht ein gewisser Verdienst meiner lexikalischen Arbeiten bereits darin, all diese, mehr oder weniger durchsichtigen Fälle des meist »zu frühen« Todes zusammen getragen zu haben. Es hat mich vor allem ein langwieriges und stumpfsinniges Abklappern diverser biografischer Listen und einiger Lexika gekostet. Manche Fälle verdanke ich sicherlich auch meiner emsigen, um nicht zu sagen bescheuerten Zeitungslektüre, an der ich über Jahrzehnte festgehalten habe. Im Grunde war ich zwischen 20 und 6o zeitungssüchtig. Allerdings hat sich diese Sucht im Laufe der 40 Jahre zunehmend abgemildert, weil sich einfach zu viel wiederholt. Mancher erkennt das freilich auch in 80 Jahren nicht. Genau darin liegt eine Grundfunktion unserer Presse. Sie serviert ihre »Sagen der Zeit, so wie man Sagen der Vorzeit hat« (Lichtenberg) derart geschickt, bunt, abgewandelt, daß man nie auf die soziologischen Muster kommt, aber immer schön dem »Zeitgeschehen« verhaftet bleibt, an dem sich zigtausend Leute die Goldenen Sporen verdienen, mit denen sie uns auf Trab halten.

Ohne Bücher wäre man dieser Drogenmafia hilflos ausgeliefert. Walden-Hüttenbewohner Thoreau höhnt vor rund 170 Jahren, viele Zeitgenossen ließen sich zu dem Zwecke, das Neuste nicht zu verpassen, schon alle 30 Minuten wecken, erzählten einem dann aber immerhin zum Entgelt, wovon sie gerade geträumt hätten. Heute dürfte die Deckungsfähigkeit zwischen dem Neusten und den Träumen bereits bei über 90 Prozent liegen. Daher zeitgenössische Buchproduktion als Trieb- und Müllabfuhr. Die klassische Lektorierung findet offensichtlich kaum noch statt. Sie wäre zu aufwendig. Im Ergebnis zieht die Schlamperei in den Verlagen Literatur aufs Niveau mündlicher Rede, mehrt also das allgegenwärtige Gequassel. Ehrenburg behauptet in seinen Memoiren, sogar Lenin habe die ewigen Diskussionen unter den Emigranten als fruchtlos gebrandmarkt. Er selber, Ehrenburg, habe fast alles autodidaktisch aus Büchern gelernt. Schulen sind Quasselbuden. Das sage ich auch dann, wenn noch 20 Pandemien ausgerufen werden. Ich habe nie begreifen können, wie sich Denker wie Alain oder Adorno dazu hergeben konnten zu unterrichten und Vorlesungen abzuhalten. Wie sich versteht, fallen auch »Dichterlesungen« unter meine Acht. Ich ächte alles, was Flüchtigkeit züchtet.

Mit der digitalen Vernetzung, Presse eingeschlossen, erreichen wir bereits das Stadium der Auflösung des Geistes. Webseiten wimmeln geradezu von Flüchtigkeitsfehlern. Es macht nichts, weil sie ihr Aussehen ohnehin im Minutentakt ändern. Manche verschwinden auch kurzerhand. Auseinandersetzung ist jedoch auf Feststehendes / Gegenstand / Widerstand angewiesen, wie ich schon früher einmal bemerkte. Deshalb war es mir auch immer verdächtig, wenn die mündliche Kommunikation in Kommunekreisen einen sehr hohen Stellenwert genießt. Sammelndes, klärendes Mit- oder Aufschreiben wird zumindest verpönt, zuweilen verboten. Sind Berichte oder Wunschzettel unumgänglich, strotzen sie von Ausrufungszeichen und Schlagworten, Unterstreichungen und Unklarheit – wie die beliebten »blogs« im Internet. Man umtanzt den Popanz des Authentischen und wundert sich, wenn die Eintagslösungen, die Mißverständnisse und der Groll kein Ende nehmen. Gewiß ist nicht zu leugnen, daß spontane Auseinandersetzungen oft spannungsgeladen sind, woraus sich ihre Beliebtheit erklärt. Sie prickeln, da mit Enthüllung, Geständnis, Herzblut, Tränen, kurz mit Neugier und Angst gewürzt. Doch es bleibt oberflächlich und vorübergehend. Es bleibt das fruchtlose Event der Talkshows. Um zu dauerhaften Linien, Gestalten, Lösungen zu kommen, müßte man schürfen. Das wäre allerdings Arbeit. Es kostet Geduld. Es benötigt Distanz.

Etwas rätselhaft könnte Lichtenbergs anderer, gleichfalls über 200 Jahre alter Satz wirken, nach Zeitung sei Räumung.*** Für mich behauptet Lichtenberg damit, wie Presse Zeit schüfe, so Räumung Platz. So schafft mein beharrliches Ausmisten in allem von mir Gewußten Platz für eine Art einsichtsvoller Gestalt, an der ich mich – wie ich zumindest hoffe – für den Rest meines Lebens noch leidlich würdig aufrechterhalten kann.

* Gabi Thieme, »Mordprozess Heike Wunderlich«, Freie Presse (Chemnitz), 24. Juli 2017: https://www.freiepresse.de/vogtland/plauen/mordprozess-heike-wunderlich-er-soll-unseren-hass-spueren-artikel9958655
** Gisela Friedrichsen, »Lebenslang für den Mann, der sein Verbre-chen komplett vergaß«, Welt, 30. August 2017: https://www.welt.de/vermischtes/article168142300/Lebenslang-fuer-den-Mann-der-sein-Verbrechen-komplett-vergass.html
*** Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen, Auswahlband (Max Rychner) bei Manesse, Zürich 1958, S. 405




Zioncheck, Marion (1901–36), studierter Jurist, Rechts-anwalt, »demokratischer« US-Politiker, Kongreßmitglied in Washington D.C.. Angeblich trat er vor allem für die Kleinen Leute ein. Wie sich versteht, unterstützte er denn auch die beschäftigungspolitischen New-Deal-Maßnahmen des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Sie waren der »Großen Depression« des stets von Krisen geschüttelten Kapitalismus geschuldet. Ich nehme an, 1941 hätte Zioncheck auch den Kriegseintritt der Staaten befürwortet, der letztlich die wirkungsvollste New-Deal-Maßnahme Roosevelts darstellte. Allerdings machte sich auch Zioncheck Feinde. Zwar war der gebürtige Pole ein dunkelhaariger Smarter mit gewinnendem Auftreten, doch bei manchen Kollegen und Journalisten, die noch keinen Riecher für das rotgrüne Entertainment haben konnten, kam er schlecht an, weil er sich »links« gebärdete und sich manche Eskapaden leistete. So soll er betrunken in öffentlichen Springbrunnen getanzt haben und mit seinem Wagen über den geheiligten Rasen des Weißen Hauses gefahren sein. Zionchecks lokaler Wirkungskreis lag in Seattle, Washington. Dort hatte er an einem Fenster im 5. Stock eines Bürogebäudes oder Hotels, in dem er residierte, am 7. August 1936 spätnachmittags seinen letzten Auftritt: der 34jährige sprang kopfüber aus dem Fenster.

Nach verschiedenen Quellen, darunter die englische Wikipedia, schlug er genau vor einem parkenden Wagen auf, in dem Rubye Louise Nix saß. Das war die fesche 21jährige, die er erst vor gut drei Monaten geheiratet hatte. In dieser kurzen Frist war es bereits zu einigen Zerwürfnissen und Versöhnungen zwischen den beiden gekommen, durchsetzt mit Aufenthalten Zionchecks in Irrenanstalten Marylands, denen er aber schließlich, nach einer Flucht, mit Verweis auf seine Abgeordneten-Immunität einen Riegel vorschieben konnte. Dann suchte er also wieder sein Büro in Seattle auf. Manche Quellen behaupten, er habe sich zuletzt auch von seinem Kumpel und Rivalen um den Kongreßsitz, dem Staatsanwalt Warren G. Magnuson, hintergangen gewähnt. Die Ärzte hatten, je nach dem, von »Überarbeitung«, »aufreibendem Lebensstil«, »manisch-depressiver« Neigung gesprochen. Andere hielten ihn kurzerhand für endgültig durchgedreht. Zioncheck selber zog eine politische Grundsatzerklärung vor, wie einem Zettel zu entnehmen war, den er immerhin zum Abschied auf seinem Schreibtisch hinterlassen hatte. Darin behauptete er, die einzige Hoffnung seines Lebens sei es gewesen, das »ungerechte« US-Wirtschaftssystem lasse sich begradigen. In dieser Hoffnung sah er sich anscheinend enttäuscht. Von seinen eigenen Fehlern oder Schäden, gar von seinen Ängsten sprach er lieber nicht.

Jemand mag Reformist oder Anarchist sein: in nahezu sämtlichen Fällen macht er zeitlebens einen Bogen um die letzte Systemfrage, die metaphysischer Natur ist, wie ich einmal sagen möchte. Es ist die Frage nach dem Sinn der ganzen Veranstaltung. Sie quält umso mehr, als die Veranstaltung offensichtlich haarsträubende Ungerechtig-keiten und das entsprechende Leid mit sich bringt. Der eine ist hübsch, der andere häßlich; der eine von Kind auf krank, der andere nicht – daran rütteln kein Kapitalismus und kein Gemeinbesitz in libertärer Hand. Es ist die Frage, wo die Welt herkommt, was sie soll, wie sie endet – niemand weiß es. Alles andere wäre auch erstaunlich, stehen wir doch nicht über der Welt. Vielmehr stecken wir bis über beide Ohren in ihr und sind entsprechend befangen. Diese Befangenheit ist wahrscheinlich sogar die schlimmste Seuche. Bei so manchem Selbstmord mag sie, als Motiv, mitschwingen, ob es der Betreffende nun äußert oder nicht. Es ist das Gefühl hoffnungsloser Unterlegen-heit. Und vielleicht der Protest dagegen.

Der Einwand, mit unserem Geist könnten wir doch prima in die Ferne schweifen, unterliegt einem Trugschluß. Denn die Ferne, das ist bereits unsere Kategorie. Als Instrument einer objektiven Untersuchung taugt sie gar nichts. Wo finge sie denn an und wo hörte sie denn auf, die Ferne? Undenkbar. Leider versagt unsere Vorstellungskraft sowohl vor der Endlichkeit wie vor der Unendlichkeit. In beiden Fällen stürzt sie uns gleichsam in den Sog eines Schwarzen Lochs, von dessen Beschaffenheit wir ebenfalls nicht das geringste wissen. Daher die Angst vor dem Tod. Die Angst gilt nicht der Aussicht, keine Brötchen mit Butter und Feigenmarmelade mehr essen oder nicht mehr besoffen in Springbrunnen tanzen zu können; sie gilt der Ungewißheit.

Das Wissen um den Zusammenhang fehlt uns. Den Plan, den manche kritische Köpfe den Clubs der Superreichen unterstellen, die damit den Kapitalismus zu sanieren oder den ganzen Planeten umzukrempeln gedächten, hätte ich gerne für alles. Wieviele Weltalle umfaßt alles? Warum sollte es in Weltallen organisiert sein? Ginge es vielleicht auch ohne Organisation? Muß es überhaupt etwas geben? Und wenn es nichts gäbe – was gäbe es dann? Wer diese Fragen aufmerksam verfolgt und nachvollziehen kann, wird erkennen, wie hoffnungslos wir dem Behälterdenken ausgeliefert sind. Unsere Gehirnschale möchte auch für alles ein Gefäß. Für Legionen von Astrophysikern und ihre NachbeterInnen tut es notfalls sogar ein punktförmiges Gefäß, das bereits alles enthält – bevor es sich mit einem grandiosen Urknall entfaltet …

Wie bereits angedeutet, gehen diese astro- und metaphy-sischen Fragen so gut wie jedem Menschen – um es proletarisch auszudrücken – schlicht am Arsch vorbei. Ich glaube, diese Menschen regieren sogar die Gespräche, Diskurse, Staaten, Börsen, Bankhäuser dieser Welt. Zuweilen schmücken sie sich mit dem Prädikat der Demut, doch für mich gehören sie zu dem Heer der Gegenauf-klärerInnen. Denn die Antwort, warum mich die angeführten Fragen nicht in Ruhe lassen, liegt auf der Hand. Dazu läßt sich durchaus etwas sagen. Als libertär gestimmter Mensch lehne ich undurchschaubare Verhältnisse grundsätzlich ab. Denn die graue Sphäre der Undurchschaubarkeit ist der ideale Nährboden für Herrschaft. Das geht von den Betriebsgeheimnissen meines Chefs, der kaum ein Dutzend Leute beschäftigte, über den Vatikan und die Bilderberg-Konferenzen bis über das uns bekannte Universum hinaus. Sagt eine angeblich anarchistische Kommune einer Bewerberin, über den Zweck, die Entscheidungsstrukturen und die Mitglieder-zahl der Kommune werde bislang nur gemunkelt, dürfte sie auf dem Absatz kehrt machen. Poche ich aber dem alles gegenüber auf die entsprechenden Auskünfte, verunglimpft man mich als Traumtänzer oder Spinner.

Mein Makel ist es, als ein Teil der Welt auf einem Mitbestimmungsrecht an ihr zu bestehen. Der Rebell verlange nicht das Leben, sondern die Gründe des Lebens, formuliert Camus einen der wenigen Sätze seines Buches Der Mensch in der Revolte, die würdig sind angeführt zu werden. Ich fordere die vielzitierte Transparenz, weil ich andernfalls nur im Dunkeln tappen kann. Eine nicht offengelegte Schöpfung stempelt mich zum Vollidioten oder zum Kind. Davon verstehst du nichts. Sie tritt meine Menschenwürde mit Füßen, die möglicherweise in einigen Milliarden Lichtjahren Entfernung angehoben werden. Ich bin ihr Untertan.

Vielleicht ginge es noch an, wenn wir nur dazu verdonnert wären, mit dem Rätsel der Welt zu leben. Aber ich sagte es schon: sehr oft haben wir auch daran zu leiden. Und dann haben wir, früher oder später, auch noch mit dem Rätsel der Welt zu sterben. Das finde ich das Schlimmste. In einem Sarg mit der Ungewißheit – widerlich!

Dieses Grundsatzreferat, zu dem mich Marion Zioncheck verführte, dürfte dem einen oder anderen Leser einsichtig machen, warum ich mich in meinem gesamten Schreiben an oberster Stelle um Klarheit bemühe.


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