Donnerstag, 15. Dezember 2022
Nasen Sosa—Wagen

Sosa, Julio (1926–64), U-Sänger aus Uruguay, ab 1949 in Buenos Aires tätig, wo er rasch zu Ruhm, Geld und dem Titel »El Barón del Tango« kommt. Was Wunder, wenn sich Sosa, bei seiner Männlichkeit, auch für Sportwagen begeistert und etliche Unfälle baut. Zuletzt, in den frühen Morgenstunden des 25. November 1964, rast er in der Avenida Figueroa Alcorta der argentinischen Hauptstadt mit einem DKW Fissore nach einem »wilden« Ausweich-manöver* gegen den Betonpfeiler einer Lichtsignalanlage, woran er, mit 38, am nächsten Tage stirbt. Von weiteren Personenschäden ist nichts zu lesen. Er allein genügte bereits, um Lateinamerika vorübergehend auf Tränen schwimmen zu lassen. Schließlich war die Angelegenheit, um einen Schlagertitel des Künstlers aufzugreifen, weder Leichtsinn, Schwermut, Größenwahn gewesen; vielmehr »Mala Suerte«, nämlich Pech.

Ich gebe zu, sie war auch ein Zeitproblem gewesen. Stars wie Sosa haben es beträchtlich eiliger als der gewöhnliche Sterbliche, weil sie ja auch viel mehr Geld verdienen müssen als der. Man kennt diesen Zusammenhang vielleicht: Zeit ist Geld. In grauer zähflüssiger Vorzeit war er allerdings unbekannt. Homo erectus hat seinen Faustkeil über eine Million Jahre hinweg nahezu unverändert hergestellt. Auch was unseren gedrungenen und behaarten Vetter aus dem Neandertal angeht, konnten die ForscherInnen für den beachtlichen Zeitraum von 20.000 Jahren keine erwähnenswerte Veränderung in der Werkzeugtechnik auffinden. Dasselbe gilt für die eiszeitlichen Bildwerke, die wir Kunst nennen. Mit der Musik hatte man damals noch nichts am Hut, wie ich stark annehme. Ich belasse es bei dieser Abschweifung und verweise auf die schon etwas abgestandene Betrachtung »Keine Zeit« in A-34.

* Thomas Wirth / Stefan Warter, »Die Schöne in der Fremde«, Magazin Octane, Nr. 13 (wohl von 2014): https://www.octane-magazin.de/die-schoene-in-der-fremde/



Steenken, Hartwig (1941–78), erfolgreicher nieder-sächsischer Springreiter, der 1974 aus dem englischen Hickstead den Weltmeistertitel im Einzel (auf Simona) mit nach Hause nahm. Vielleicht meint so mancher, gegen die Traber und Galopper seien die Springreiter Weicheier. Ich greife damit noch einmal kurz das Thema des Geschwindigkeitswahns auf. Gewiß ist der Springreiter zunächst besser daran, weil er nur darauf zu achten hat, beim Bewältigen des Parcours, wie das Schlachtfeld hier heißt, unter der erlaubten Höchstzeit zu bleiben. Er kann sich also auf die Hindernisse konzentrieren, um Abwürfe (von Stangen und von ihm selbst) zu vermeiden. Können allerdings mehrere ReiterInnen mit »Nullfehlerritten« glänzen (keine Abwürfe, keine Verweigerungen, keine Zeitüberschreitung), wird ein sogenanntes Stechen ausgetragen. Bei diesem geht es, im verkürzten Parcours, noch halsbrecherischer zu, weil nun, bei allen fehlerlosen Ritten, die Durchgangszeit über die Plazierung entschei-det. Hier muß er auf die Tube drücken, daß es kracht.

Im Grunde ist es natürlich immer wieder erstaunlich. Seit Jahrtausenden finden sich jede Menge des Reitens, Rennens, Schwimmens kundige ZweibeinerInnen, denen es eine besondere Genugtuung bereitet, eine schwierige Aufgabe ein paar Sekunden schneller als ein anderer Mensch zu bewältigen – und sei es, sie brächen sich, wie erwähnt, den Hals, worauf ja in der Tat nicht wenige ZuschauerInnen lauern. Vielleicht liegt das an den tiefen Wurzeln des Geschwindigkeitswahns. Mag er auch nicht aus der Altsteinzeit stammen, dann doch zumindest aus jedem Ehebett. Beobachten Sie einmal kleine Kinder. Kaum können sie sich auf ihren krummen Beinen halten, sind sie auch schon auf die Feststellung erpicht, wer zuerst bis zum Gartentor gerannt ist. Dann kommen die Fahrrad-, dann die Ponyrennen. Nun fragen Sie einmal die Rosen im Garten oder selbst die seltenen Türkenbund-lilien, die man etwa (nördlich von Eisenach) im Wald Hainich trifft, was sie von dieser Abstrampelei halten. Da schütteln sie nur ihre durchaus feurigen Köpfe. Sie dächten noch nicht einmal im Traum daran, sich für eine »Plazierung« auch nur ein Bein auszureißen.

Damit zu Steenken zurück. Man glaube nicht, er sei zuletzt vom Pferd gefallen. Neben Pferden liebte er das Fußballspiel. Auch das Autofahren verschmähte er nicht. Er war 36, als er am 12. Juli 1977 nach dem freizeitmäßig betriebenen Fußballtraining in der schweren Limousine eines Freundes mitfuhr. Der Freund steuerte. Es war schon Nacht. In Kaltenweide, keine Viertelstunde von Steenkes Hof in Mellendorf entfernt (bei Hannover), fuhr der Freund aus überall ungenannten Gründen gegen eine Mauer. Steenken erlitt schwere Kopfverletzungen, an denen er ein halbes Jahre darauf, im Koma liegend, starb. Da hatte er nichts mehr von dem ersten Profivertrag eines deutschen Springreiters, den er am 1. Juli 1977 unterschrieben hatte. Er wäre hinfort für den Mailänder Getränkehersteller Campari gesprungen.* Den haben dann die Kameraden und Angehörigen getrunken, vor Schreck.

Ich sprach von einer »Verweigerung«. Sieht der Tribünengast die schäumenden und furzenden Gäule auffällig oft vor Hindernissen bocken, sollte er sich mit dem Gedanken beruhigen, als Pferd täte das vermutlich auch er. Das Pferdeskelett sei von Natur aus weder für das Reitergewicht noch für größere Sprünge noch gar für beides zusammen vorgesehen, schreibt Gerhard Kapitzke in seinem Buch Das Pferd von A bis Z von 1993. Wie Versuche von Verhaltensforschern belegten, sei das Springen dem Pferd zuwider. Wenn das »Sportinstru-ment« Pferd inzwischen veranlaßt werden könne, über zwei Meter hohe Hindernisse im Parcours zu überwinden, sei dies kein Gegenargument. »Durch systematische Zuchtwahl, kontinuierliche Ausbildung und vor allem durch die Angst vor dem 'Raubtier auf dem Rücken' werden Springwunder produziert, die dem Zwang gehorchend das Verlangte tun.«

Manche Pferde sind sogar schon so weit, sich Scheuklap-pen und Atemschutzmasken anlegen zu lassen.

* Dieter Ludwig, »Heute wäre Hartwig Steenken …«, Ludwigs Pferdewelten, 23. Juli 2010: https://www.ludwigs-pferdewelten.de/index.php?option=com_content&view=article&id=846:heute-waere-hartwig-steenken-69-jahre-alt-geworden&catid=7:magazin&Itemid=20
→ Reiten Sie lieber den Billardstock: A-35.




Steiner, Rudolf (1861–1925). Wer dem sagenumwo-benen Begründer der sogenannten Anthroposophie auf den Zahn fühlen will, läuft Gefahr, sich am Berg seiner Bücher die Zähne auszubeißen. Gegen Steiner geht selbst ein Georg Simmel noch als Dichter durch. Steiner schreibt äußerst unanschaulich, umständlich, hölzern. Von so etwas wie Sprachgefühl ist er ähnlich weit entfernt wie der Andromedanebel von der Erde. Die Entfernung beträgt ungefähr 2,5 Millionen Lichtjahre, wobei bereits ein Lichtjahr 9,46 Billionen Kilometer mißt. Bei Galaxien wie unserer Milchstraße oder dem ihr benachbarten Andromedanebel handelt es sich bekanntlich um riesige Sternhaufen. Steiner liebt kosmische Dimensionen, die Substantivierung und allerlei Wortungetüme, die uns wie Wagners Drache das Hirn aus dem Schädel blasen. Im ganzen ist Steiners Wortschatz auffallend und schmerzlich dürftig. Möglicherweise hat er diese Armut aus dem »vollen Seelenleben« bezogen, das er sich öfter bescheinigt.

Der Kern seiner Lehre ist im Nu umrissen. Selber Idealist, behält Steiner den Materialismus – wenn auch getreu der in beiden Lagern beliebten Fortschrittsidee als Höherentwicklung – den Mineralien, Pflanzen, Tieren vor. Nur das Wesen des Menschen wird durch das Denken ausgemacht. Konsequent genug ins Übersinnliche vorgetrieben, schließt dieses Denken das einzelne Ich mit dem Hegelschen Weltgeist, dem Kosmos und dem Strom aller vergangenen und kommenden Zeiten kurz. »So hat sich der physische Erdenplanet herausentwickelt aus einem geistigen Weltwesen«, ist aus Steiners Buch Die Geheimwissenschaft im Umriß von 1910 zu erfahren. Der Mensch gilt ausdrücklich als Krone der Schöpfung. Allerdings wird der einzelne Mensch – verblüffenderweise auch der Planet Erde, wie Steiner weiß – mehr oder weniger oft wiedergeboren. Auch hierin geht es von Nieder nach Höher. Hinken Sie beispielsweise von Kind auf, brauchen Sie nicht zu verzweifeln; Sie müssen nur ein wenig Geduld haben. Am Ende winkt die Vollkommenheit. Um diese aus der peinlichen Nähe solcher bekannten Phänomene wie Gott, Heiliger Geist, Nirwana zu rücken, mußte Steiner ungefähr 150 Bücher schreiben. So lenkt er auch von seiner engen Verwandtschaft mit Leuten wie Platon, Schopenhauer, Ludwig Klages ab.

Klages – 10 Jahre jünger als Steiner – verlegt das Übersinnliche in unsere »Seele«, während er den »Geist« der materialistischen Teufelei zeiht. Vielleicht gingen um 1900 so viele Kosmogonen und Priester um, weil die kommunistischen Gespenster zu handfest zu werden drohten. Immerhin hält Steiner bei allem Versteckspiel Jesus Christus hoch. Deshalb heißt die erbauliche Abteilung der Anthroposophen nicht Waldorf-, vielmehr Christengemeinde. Pädagogik und biodynamische Landwirtschaft, Salbenzubereitung und Geldinstitute unter dem Zeichen eines Mannes zu betreiben, der sich bereitwillig an ein Kreuz nageln ließ – da braucht es viel Kredit. Gewiß haben wir in Steiner weder den ersten noch den letzten Denker, der aus Furcht vor der Freiheit (Erich Fromm 1947) zum Glauben zurückkehrt. Doch nicht jeder ist so schlau, seiner religiösen oder mystischen Wegwei-sung den Anstrich von Rationalität, Naturwissenschaft, Beweisbarkeit zu geben. Damit fußt sie nicht mehr auf Wünschen oder Bekenntnissen, sondern auf »Tatsachen«. Der Glaube wird laborfähig.

So mancher Chemiestudent wäre allerdings von der Dreistigkeit erstaunt, mit welcher Steiner ein ums andere Mal Phänomene, die er soeben vermutet oder behauptet hat, nach wenigen Absätzen (und Ablenkungen) als bewiesen hinstellt. Vielleicht würde er sogar von Steiners Neigung zur Roßtäuscherei sprechen. Dabei gefällt sich Steiner in der Rolle des geduldigen Onkels, der nicht nachläßt, den fehlgeleiteten Kindern gut zuzureden; den anderen Kindern schmeichelt er gern, indem er sie unablässig der »Vorurteilslosigkeit« für fähig hält. Der onkelhafte Tonfall ist wichtig um zu unterstreichen, daß Steiner nur »scheinbar abstrakt« spricht. Das »Nebulose« gewisser Mystiker verurteilt er entschieden. Er haßt Phantasten. Er nämlich spricht aus »vollem seelischen Leben«, aus »gesunder Seelenverfassung« oder »gesundem Sinn«. Er spricht wahr, weil er sich »unbefangener Seelenbeobachtung« befleißigt. Das Wort unbefangen kommt in jedem fünften Satz vor; es meint auch Unverdorbenheit, wodurch es sowohl Steiner wie seine LeserInnen adelt.

Solche stinkenden Beteuerungen machen Steiners Tatsachen und Beweise aus. Da wundert es einen kaum, wenn die Ausdrücke »gemäß der Naturforschung« und »wissenschaftlich« zu Steiners Lieblingswörtern zählen. Lassen wir ihren namensgebenden Pleonasmus einmal unberücksichtigt, ist an Steiners Anthroposophie (»Menschenweisheit«) gar nichts neu. Siegfried Kracauer weist schon 1921 (in der Frankfurter Zeitung) auf die »Synkretismen« dieser Lehre hin – es handle sich um ein Gemenge aus allen möglichen Religionen und Mysterien, Aberglauben und Weisheiten. Eine Bekannte von mir, die in ihrer Kommune mit einer Waldorflehrerin zusammen leben muß, sprach einmal von einem verworrenen Schwarzalbenreich, das sie an Richard Wagners pompösen Ring erinnere. Möglicherweise sei Steiner der einzige Mensch, der in den unzugänglichen dunklen Gefilden, die er vor uns ausbreitet, einigermaßen durchblickte. Nun ja, das könnte immerhin erklären, warum er sich die ungeheure Mühe ihres Erschaffens machte – um selber als Lichtgestalt dazustehen.

Die Bücher von Colin Wilson (1985) und Christoph Lindenberg (1992) sind nicht dazu angetan, diesen Verdacht zu entkräften. Für ein sorgfältiges Urteil liefern sie allerdings entschieden zu wenig Material. Beide Autoren sympathisieren mit der Lichtgestalt. So unternehmen sie auch beide keinen ernsthaften Versuch, die Lehre Steiners mit dem Menschen Steiner zu konfrontieren. Insbesondere von Steiners Kindheit erfährt man so gut wie nichts – jedenfalls nichts Triftiges. Wenn Lindenberg Steiners Mutter »schweigsam« nennt, ist es schon viel. Beziehung zum Vater? Der Bahnbeamte spornt Rudi zum Lernen an. Dies bei Wien in ländlicher Idylle. Wer jemals als Dorfpimpf leidenschaftlich gern gehänselt worden ist, kann hier eigentlich nur Unheil wittern. Wilson rückt immerhin – über seine Darstellung verstreut – mit einigen Charakterzügen Rudolf Steiners heraus. Steiner könne seine Gefühle nicht zeigen. Sinnenfeindlich. Man habe den Eindruck, er könne nicht aufhören zu denken; er denkt pausenlos. Ein Umstand übrigens, der dem erwähnten Ludwig Klages quälende Schlaflosigkeit bescherte. Mit der Realität habe Steiner enorme Schwierigkeiten. Er spaltet sie ab; Weltflucht. Als er zum Führer der Bewegung wird, errichtet er »eine Mauer der Distanz« um sich. Seine erste Frau ist erheblich älter als er; Mutter. Seine zweite Frau – Marie von Sivers – erklärt es zu Steiners Aufgabe, »geistiger Führer der Menschheit« zu sein. Wie wir wissen, stellte sich Steiner dieser Aufgabe. Denn zwar war er klein, schmächtig und schüchtern, aber sehr ehrgeizig, wie Wilson immerhin ebenfalls erwähnt.

Bleibt noch das berüchtigte »Charisma«, das Steiner wiederholt bescheinigt worden ist. Auch von Stefan Zweig zum Beispiel, der ihm um 1900 in Berlin begegnete, wie er in seinem Lebensrückblick Die Welt von gestern mitteilt. Seine Schilderung findet sich auch im Anhang von Lindenbergs Buch; allerdings geht Lindenberg lieber nicht so weit, Stefan Zweigs Resümee gleichfalls zu zitieren. Es lautet: »Ich maße mir kein Urteil über die Anthroposophie an, denn mir ist bis heute nicht deutlich klar, was sie will und bedeutet; ich glaube sogar, daß im Wesentlichen ihre verführende Wirkung nicht an eine Idee, sondern an Rudolf Steiners faszinierende Person gebunden war.« Leider sind Unterwerfungs- und Verehrungssucht in sämtlichen ideologischen Lagern verbreitet. So etwas wie Charisma hatten oder hätten schließlich auch Leute wie Ludwig Klages, Hitler und Stalin, John F. Kennedy, Joschka Fischer oder die sozialistische Prinzessin Sahra Wagenknecht zu bieten. Sie sind Überredungskünstler-Innen. Bedürftig, wie sie offenbar sind, beschwören sie uns, ihnen Glauben zu schenken – ihnen zumindest einen kleinen Vertrauensvorschuß zu gewähren. Auch nach längerem Nachdenken fällt mir nicht ein Führer ein, der kein Scharlatan und kein Neurotiker gewesen wäre. Selbst unter den Philosophen lassen sich selten gefestigte, nämlich weder nach innen noch nach außen betrügerische Exemplare finden.

Fromm weist in seiner erwähnten Untersuchung darauf hin, für eine trotzige, lebensfeindliche Grundhaltung sei in nicht wenigen Fällen verdrängte Feindseligkeit gegen den eigenen Vater verantwortlich. Im Falle des galligen Arthur Schopenhauers mit seiner schwärzlichen Lehre mag es eher die eigensüchtige Mutter gewesen sein. Sigmund Freud hatte kurzerhand von einer starken Anziehungskraft zwischen persönlichen Ängsten und einer »pessimi-stischen Auffassung der Dinge« gesprochen. Mir macht nämlich niemand weis, die Anthroposophie oder irgendwelche anderen Heilslehren, esoterischen Schulen, »spirituellen« Strömungen faßten die Dinge positiv auf; dann bedürfte es ja ihrer verdächtig undurchsichtigen Jenseitigkeit nicht.

Reiten linke KritikerInnen gern auf einigen rassistischen oder gar faschistischen Äußerungen Steiners herum, halte ich es für überflüssig. Die irrationale, autoritätsgläubige und gleichmacherische Wirkung seiner Lehre genügt für die Empfehlung, um jede Waldorfschule einen möglichst großen Bogen zu machen. Ehemalige SchülerInnen und andere Autoren haben diese Wirkung ausführlich beschrieben; ich nenne nur Elisabeth Voß (im Kommune-buch, Göttingen 1998), Guido und Michael Grandt (1999), Sybille-Christin Jacob / Detlef Drewes 2001. Danach werden in diesen so praktisch, so handwerklich ausgerichteten Schulen gehorsame Gliederpuppen geschnitzt. Wen wundert es, wenn die Waldorfschulen staatlich subventioniert und von mindestens jedem zweiten Bundespräsidenten gelobt werden? Gauck wird es natürlich auch wieder tun. Marionetten zu Marionetten.



Tamm, Andreas (1767–95). Als der berühmte, wie Mehrfruchteis schillernde Fürst von Pückler-Muskau erst fünf gewesen war, Anfang 1790, hatte ihn seine Mutter dem neu eingestellten Hofmeister Tamm anvertraut. Ihr Vertrauen schwand jedoch rasch. Schon im Oktober mußte der junge Jurist aus Leipzig und Zeitz, Sohn eines Merseburger Pastors, seinen Dreispitz nehmen. Die gnädige Frau schob ihn auf den Stuhl des »Rektors« der Muskauer Stadtschule ab, der ihn und seine Familie (Heirat 1792) allerdings kaum ernähren konnte. Das kursächsische Städtchen Muskau hatte damals lediglich um 700 EinwohnerInnen. In der Schule waren weit über 100 Kinder aller Altersstufen in derselben Stube zusammengepfercht. Der einzige Lehrer war der »Rektor«. Damit kam Tamms Posten einer schäbig bezahlten Sisyphosarbeit auf Kosten seiner Würde und seiner Gesundheit gleich. Dennoch verfaßte er in dieser Zeit einige wichtige sozialkritische Arbeiten. 1794 warf Tamm das Handtuch und kehrte in seinen ursprünglichen Beruf zurück, Jurist. Er ließ sich in Görlitz, rund 50 Kilometer weiter südlich gelegen, am Untermarkt als Advokat nieder. Aber es war zu spät. Bereits im nächsten Jahr, mit 28, zogen ihn Krankheit und Entkräftung ins Grab.

Was sollte nun aus seiner Frau und den inzwischen drei Kindern werden? Nichts Erfreuliches, wie sich einer lehrreichen Pionierarbeit* über Tamm von Bernd-Ingo Friedrich aus Weißwasser entnehmen läßt. Bar aller Unterstützung, flüchtet sich Charlotte Tamm geb. Strenge in ihr Heimatstädtchen Muskau zurück. Sie war eine Tochter des dortigen Stadtrichters, bei dem sie vermutlich nun Unterschlupf fand. Dort erlitt sie 1797, erst 23, einen haarsträubenden häuslichen Unfall. Als sie mit einem »Licht« in die Küche ging und es auf dem Herd absetzte, um einen Topf mit heißem Wasser aus dem Ofen zu nehmen, fing ihr Halstuch an der Kerze Feuer. In ihrem Schreck lief sie aus der Küche um Hilfe. Durch den Luftzug wurde sie freilich sofort in eine lodernde Fackel verwandelt und zog sich schwerste Verbrennungen zu, bis man ihr die Kleider vom Leib gerissen hatte. Nach qualvollen drei Wochen war sie tot. Die Kinder kamen in die Obhut der Großeltern.

Friedrich zeigt Tamm als einen für seine Zeit und seine Provinz ungewöhnlich kritischen und freisinnigen Geist, ein echter Aufklärer. Mit dieser Haltung hatte er sich sicherlich auch bei der Gräfin auf dem Muskauer Schloß unbeliebt gemacht – von all den anderen Grundherren ringsum nicht zu schweigen. Noch Etwas über Leibeigenschaft, Erbuntertänigkeit und Laßgüter in der Lausitz heißt eine wichtige Arbeit Tamms, die er 1792 in der Lausitzischen Monatsschrift veröffentlichen konnte. Die ihm berufsfremde Pädagogik übte er, im Geiste Rousseaus, trotz vieler Widrigkeiten mit Begabung und Geschick aus. Pückler versicherte seinem Vater später (1803) in einem Brief, »hätte ich den braven Tamm behalten können, vieles wäre jetzt anders; der gute Mann hatte aber den Fehler, zu sagen was er dachte; Damen wollen lieber geschmeichelt sein, meine Mutter konnte sich nicht mit ihm vertragen, und er – ging.«

Einen kleinen Sprung nach Dresden werden Sie vielleicht noch verkraften. Überall steht, die sächsische Schwimmerin Helga Voigt, geboren 1940, sei bereits in sehr jungen Jahren eine erfolgreiche Leistungssportlerin gewesen. In der DDR! Ihre Eltern waren Wirtsleute. Sie betrieben die spätere Dresdener HO-Gaststätte Luisenhof, wo sie auch wohnten. Dadurch entgingen dem dunkelschopfigen, hübschen Mädel die vielen olympischen Medaillen, die es noch errungen hätte – wie überall versichert wird. Denn in der Nacht des 27./28. September 1956 bricht in dem beliebten, weiläufigen Ausfluglokal am Hang ein Feuer aus, das sich rasch ausbreitet. Wahrscheinlich hatte in einem hölzernen Abfallkasten des Geschirrspülraums ein Zigarettenstummel geglimmt. Der Restaurantchef und der Pförtner entdecken den Brand und klingeln bei der Familie Voigt im Obergeschoß Sturm. Während die Löschzüge anrücken, können sich die Voigts und andere Angestellte ins Freie retten – nur Helga nicht. Sie kämpft vergeblich mit dem Rauch, der zumindest teilweise durch den Schacht des Speiseaufzugs nach oben stieg.** Ein Feuerwehrmann findet die wohl schon bewußtlose knapp 16jährige, aber im Krankenhaus ist sie nicht mehr zu retten. Ihre Schwester Eva überlebt.

* Bernd-Ingo Friedrich: Johann Andreas Tamm, Cottbus 2007
** Lars Kühl, »Tödliches Feuer im Luisenhof«, Sächsische Zeitung, 23. September 2016: https://www.saechsische.de/plus/toedliches-feuer-im-luisenhof-3501072.html




Terenz († um 160 v.Chr.), berühmter römischer Drama-tiker, Schreck vieler nachgeborenen, Latein paukenden Zöglinge in aller Welt. Seine Sprache sei nämlich vorbildlich rein, sein Witz, als Komödiendichter, nicht zu derb gewesen, ist überall zu lesen. Allerdings sollen nur sechs seiner Werke erhalten sein. Über sein Ende gibt es anscheinend kaum mehr als Gerüchte. Zu Studienzwecken in Griechenland, soll er ebendort, eher jedoch auf der Heimreise, durch Krankheit oder Schiffbruch umgekommen sein. Jedenfalls liefert sein »Untertauchen« mit ungefähr 33 – ob freiwillig oder nicht, aber sicherlich mit Gepäck – eine einleuchtende Erklärung für die Schmalheit seines Oeuvres. Von ihm selber, seinem persönlichen Lebenswandel, weiß man so gut wie nichts. Dafür kennt jeder mindestens drei aus dem Oeuvre gezogene Sprüche von ihm.

Um Doppelmoral anzuprangern, wird beispielsweise gern auf seine spöttische Feststellung zurückgegriffen, wenn zwei das gleiche täten, sei es nicht das gleiche. Vielleicht sollte man bei jedem Rückgriff vorsichtshalber hinzufügen, dieser Hieb könne keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Zahlen Krösus und ich für ein mit sechs Euro ausgezeichnetes Reclam-Heftchen die gleiche Mehrwertsteuer, ist es in der Tat nicht das gleiche, denn mich trifft die Steuer ungleich mehr. Mahnt Terenz mit seinem satirischen Satz strenge Gleichbehandlung an, klammert er jegliche Relativität aus. Die Ermahnung ist auch als Richtschnur für eine libertäre Rechtsprechung ungeeignet, die jeden Fall als Sonderfall zu betrachten hat. Den Mord sollte man sich abschminken. Es gibt den Totschlag zwischen streitenden Brüdern, und es gibt die vielen tausend Toten, die unsere Impfpäpste anstiften.

Hier sind vielleicht noch ein paar Bemerkungen zu einem Phänomen angebracht, das man Mogellogik nennen könnte. Zu den beliebtesten Gummihämmern, die in der Politik unablässig geschwungen werden, zählt die Feststellung, wer A sage müsse auch B sagen. Den Hammer fallen zu lassen, ist unstatthaft. Bin ich schon einmal aufs Klo gegangen, muß ich die Schüssel auch füllen – wieder rauskommen ohne meinen Darm entleert zu haben ist verboten. Auf dem Klo nur ein paar erholsame Comics lesen zu wollen, kommt schon Hochverrat gleich.

Darauf zu pochen, vermeintliche Logik sei oft gar keine Logik, ist aber zu wenig. Wie F. G. Jünger betont hat, folgt die Sprache überhaupt keiner Logik – sie umfaßt alle denkbare Logik. Sie vermeidet auch keine Widersprüche; sie deckt sie auf. Wenn es klappt! E. G. Seeliger meint (in seinem Handbuch des Schwindels) zur Gewalt: Nur auf dieselbe Weise, wie sie in die Welt gekommen sei, könne sie auch wieder daraus verschwinden, »nämlich auf dem Wege des Denkens«. Das mag unmittelbar einleuchten; mit Alain halte ich es sogar für richtig. Nur zwingend ist Seeligers Schluß nicht die Bohne. Ich frage Sie analog: Wie ist denn Seeliger auf die Welt gekommen? Aha. Und wird er die Welt auf diesem Wege auch wieder verlassen? Die arme Mutter.

Dazu paßt Robert Hofstetters Bemerkung zum landläufigen Aberglauben, da nach unserer Erfahrung jedes Ereignis eine Ursache habe, müsse auch die Menge aller Ereignisse, oft »Universum« genannt, eine Ursache haben. Dieser Schluß sei so unsinnig wie beispielsweise die Behauptung, jeder Club müsse eine Mutter haben, da ja auch alle seine Mitglieder eine hätten.

In Remarques Obelisk verkündet ein Priester bei Sauerbraten und ausgesuchtem Weißwein, Speise und Trank seien Gaben Gottes, die wir zu genießen und zu verstehen hätten. Grabsteinhändler Bodmer erwidert, dann sei sicher auch der Tod eine Gabe Gottes – ob sie entsprechend zu behandeln sei?

Vor Jahren zeigte ich mich einmal über das Selbstlob eines mit mir befreundeten Malers erstaunt. Darauf versicherte mir der gute Mann, er würde seine Bilder genauso beeindruckend finden, wenn sie von einem anderen Maler stammten. Ich stutzte – und schmunzelte. »Diese Behauptung besitzt ohne Zweifel den Vorteil, daß kein vernünftiger Mensch von dir verlangen kann, sie zu beweisen.«

Um noch einmal aufs Universum zurück zu kommen: Unter Philosophen ist der Gummihammer des »Gesetzes« beliebt, nur Gleiches oder Ähnliches könne einander erkennen und verändern. Reiben sich Autorad und Straße aneinander ab, sind sie also beide rund? Mit gleicher »Evidenz« könnte ich umgekehrt behaupten: Nur weil ich keine Tomate bin, kann ich eine Tomate schmatzend verformen und in Menschenkot verwandeln. Doch wie auch immer, geben dergleichen »Gesetze« nicht ein Gramm an Erklärung her. Es sei denn, wir setzen diskret wie Kosmologe Jochen Kirchhoff einen aller Gravitation zugrunde liegenden Weltwillen voraus. Dann läßt sich nämlich hübsch behaupten, dieser wirke ja offensichtlich wirklich, insofern müsse auch das, worauf er wirkt, von seiner Art sein.



Toschke, André Michael (1972–2011), deutscher Mediziner, zuletzt Professor in München. Der Nachruf* der International Biometric Society (IBS) nennt ihn schlicht Arzt und Epidemiologe. Im April 2010 sei der offene Mann, der bei seinen Studenten oft Begeisterung für die Epidemiologie erweckt habe, »plötzlich und schwer erkrankt«. Woran, verrät das Fachblatt nicht. Der Nachruf im ganzen läßt freilich Schlimmes ahnen – wenn nicht für Toschke selber, dann für künftige Generationen. Forscher Toschke hatte sich »drängenden Gesundheitsfragen« gewidmet. Das Methodische seiner Aufmerksamkeit übergehe ich, weil es, im Nachruf, von einschüchterndem Fachchinesisch wimmelt. Thematisch hätten seine Arbeiten um Kindliche Adipositas (krankhaftes Übergewicht) und Schlaganfall gekreist. »Er initiierte mit klinischen Partnern große Projekte zur Kinder- und Jugendgesundheit, die durch die Deutsche Krebshilfe … gefördert wurden …«

Also, woran ist der 38jährige denn nun gestorben? Nach seinem Kollegen Reuther sind die inzwischen häufigsten Todesarten Arterienverschlüsse und Krebs. Diese Erkrankungen würden »auch durch Medikamente« verursacht, behauptet Reuther. Zu Krebserkrankungen stellt er außerdem unumwunden fest, ihre deutliche Zunahme seit Beginn der Industrialisierung gehe »maßgeblich« aufs Konto von Umweltgiften, also beispielsweise Giften in Düngemitteln oder Baustoffen.** Oder sollte es in Toschkes Fall ein Schlaganfall gewesen sein, dem er noch nicht ausreichend zuvorgekommen war? An einer anderen Stelle widmet sich Reuther dem allerjüngsten Geschäftsmodell des Medizinisch-Industriellen Komplexes, das mal »Früherkennung«, mal »Vorsorge«, mal »Prävention« heißt. Die Verhütung von Krankheiten, die man gar nicht bekommen hätte, stelle einen Mißbrauch riesigen Ausmaßes dar. Durch Fahndungen, Medikamente, Impfungen, sogar Operationen gebe man vor, beispielsweise, neben Krebs, auch Herzinfarkte und Schlaganfälle zu verhindern. Wenn sich die Unwirksamkeit oder Schädlichkeit der Maßnahme herausstelle, habe sich ihr Profiteur »längst aus dem Staub gemacht«.

Nun will ich nicht ausschließen, der fahnenflüchtige Forscher Toschke habe auch durch harmlose Programme versucht, sich einen Namen zu machen. Zum Beispiel war er 2009 Mitautor des Pedriatics-Artikels »Promotion and Provision of Drinking Water in Schools for Overweight Prevention«, April 2009. Ob er eher das Wasser aus der Quelle X oder das aus der Quelle Y empfahl, kann ich nicht sagen. Möglicherweise kommt es nur darauf an, sie sprudelt.

Im Grunde ist Toschkes frühes Ableben (mit knapp 39) natürlich ein Jammer, weil er dadurch die Ausrufung der Bill-Gates-Angela-Merkel-Pandemie nicht mehr erleben und mitgestalten durfte. In meiner Stammbuchhandlung geht seit geraumer Zeit ein, sagen wir, vollbärtiger Mann einer Halbtagsbeschäftigung nach, der wie ich zu den Pionieren der hiesigen, mehr oder weniger anarchistisch orientierten Puppenfabrikkommune zählt. In dieser wohnt er nach wie vor. Als ich den Buchladen im vergangenen Sommer (2020) einmal ohne Maske betrat, weil ich ihn ja gar nicht auszurauben gedachte, verbarg er seine Befremdung mit dem Scherz, an »Maskenmuffel« dürfe er eigentlich nichts verkaufen. Also kramte ich meine Maske aus der Arschkippe und setzte sie folgsam auf. Die Krönung erlebte ich aber erst dieser Tage, als ich »schon wieder« ein pandemiekritisches Werk abholen wollte, das mir seine Kollegin bestellt hatte. Ich bezahlte und wandte mich zur Tür. Plötzlich meinte mein Ex-Genosse mit teils gequälter, teils strafender Miene: »Eine solche Lektüre kann ich natürlich nicht gutheißen, mein lieber Henner …« Dazu nickte ich nur.

Just in meiner Puppenfabrikzeit, um 2005, war ich öfter mit Texten in dem Monatsblatt für Selbstorganisation Contraste vertreten. Ich war für dieses Forum dankbar, zumal es keineswegs stümperhaft gemacht war. Aber nach 2010 ging mir zunehmend die Einreihung des Blattes in die ausgesprochen breite Querfront der KämpferInnen fürs Klima gegen den Strich. Das Faß lief im Juni 2020 über, als ich eine durchaus geschickt geschriebene Kolumne des Stammautors U. F. las. Unter dem Titel in Gänsefüßchen »Das blöde Robert-Koch-Institut« bekennt er da »viel Verständnis für die [Corona-]Maßnahmen des Staates«, pocht auf die »hohe Zustimmung« für diesselben, wie es AnbeterInnen der Mehrheit=Stärke immer tun [siehe A-36], und schlägt den Lesern des alternativen Blattes vor, »einfach nur mitzumachen, wenn der Staat versucht, ein mehr oder weniger gelungenes Krisenmanagement zu fahren«. Nach dieser peinlichen volksgemeinschaftlichen Wegweisung hatte mich das Blatt auch als Leser verloren.

Gewiß war ich, als ziemlich konsequenter Antiautoritärer oder Anarchist, schon immer Außenseiter. Aber dann kam noch der Wahn mit dem »Klimawandel« hinzu – und neuerdings setzt der Impfwahn allem die Krone auf. Ich wüßte keine fünf Leute in meinem Bekanntenkreis, die nicht davon angesteckt wären. Man ist nahezu absolut isoliert. Die Volksgemeinschaft setzt jetzt nicht mehr die von Symptomen befallenen kranken Mitbürger in Quarantäne; sie macht es mit den kerngesunden Außenseitern. Ob ich inzwischen noch, per Eisenbahn, zu einer Gothaer oder Eisenacher Buchhandlung ausweichen könnte, wage ich zu bezweifeln: Reisekontrollen. Und die Tage, wo ich noch Brot und Käse einkaufen darf – handy- und impfpaßlos, wie ich bin, dafür ein Bargeldtrottel – sind auch schon gezählt.

* Rundschreiben der deutschen IBS-Sektion, Heft 1, Juni 2011, S. 28/29: https://www.biometrische-gesellschaft.de/fileadmin/AG_Daten/Publikationen/PDFs/RS2011-1.pdf
** Heilung Nebensache S. 323 + 335 + 303/4




Tost, Gita (1965–2000), bayerische lesbische Autorin und Künstlerin, Streiterin für Gleichstellung alternativer Beziehungsformen, Selbstmörderin. Neben seiner Angst vor dem Tod – die ist natürlich die höchste – hat der verantwortungsbewußte Selbstmörder mindestens drei Hürden zu nehmen. Sie betreffen den Zeitpunkt, den Tatort und das Mittel. Zum ersten kann er sich seinen Selbstmord abschminken, wenn er damit wartet, bis er das große Zittern hat, blind ist oder vom Kopf her nichts mehr auf die Reihe bringt. Zumindest sollte er beizeiten seine Vorbereitungen treffen. Zweitens hat er einen Tatort auszuwählen, der seinen Freunden und seinen Mitbürgern möglichst wenig Ungelegenheiten bereitet. Sich um Mittag vom Kirchturm auf den Marktplatz zu stürzen, scheidet also genauso aus wie der bereits wiederholt gegeißelte grobe Unfug, sich vor ein Auto oder eine Lokomotive zu werfen. Nummer Drei betrifft das Mittel, das der Selbstmörder wählt. Es sollte auch ohne Bemühung moderner Verkehrsmittel möglichst verläßlich greifen. Von den Hinrichtungen mit der Giftspritze ist zum Beispiel bekannt, daß es dabei auch deshalb immer wieder zu ausgefallenen Grausamkeiten kommt, weil die Betäubung vor oder bei der Hinrichtung versagt. Das liegt mal an schlampiger Verabreichung, häufiger aber daran, daß die für den subjektiven Fall angemessene Auswahl und Dosierung der Betäubungsmittel sehr schwierig, im Grunde sogar unwägbar ist. Aber den Deliquenten kurzerhand zu erschießen, und zwar noch im Gerichtssaal unmittelbar nach Verlesung des Todesurteils, kommt zumindest in den Staaten nicht in die Tüte. Es würde den US-Präsidenten und seine WählerInnen zu sehr an die täglichen außenpolitischen Aktivitäten der Yankees erinnern.

Aus diesen Ausführungen folgt: ein schlecht erwogener und ausgeführter Selbstmord kann leidvoller sein als das Übel, das ihn veranlaßt hat. Das schließt natürlich auch das drohende Scheitern des Versuchs ein sich umzubringen. Neben den ungefähr 800.000 Suiziden jährlich weltweit kommt es nach verschiedenen Schätzungen auch Jahr für Jahr zu mehreren oder gar vielen Millionen Selbstmordversuchen, also zu Fehlschlägen. Und nicht selten haben diese für den Gescheiterten äußerst unangenehme gesundheitliche und soziale Folgen, von Gewissensqualen einmal abgesehen. Konnte er beispielsweise vorher noch durchs Zimmer schlurfen, hockt er nun im Rollstuhl. Und so weiter. Kann er aber doch noch laufen, wird der Gescheiterte, soweit ich weiß, zumindest in Deutschland wegen »erheblicher Selbstgefährdung« sofort in die Psychatrie gesteckt. Aufgrund seines Suizidversuches wird ihm nämlich eine psychische Erkrankung unterstellt, die zu diagnostizieren, zu bekämpfen und möglicherweise zu heilen ist – wahrscheinlich mit Medikamenten und Methoden, von denen der Gescheiterte bei seinem Suizidversuch nur träumen konnte.

Warum sich Gita Tost in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 2000, wahrscheinlich in oder bei Regensburg, eine Mahlzeit aus Knollenblätterpilzen kochte, bleibt in den vorhandenen Quellen verschwommen wie ein Wald im Nebel. Den Wald scheint sie dann nach der Mahlzeit auch aufgesucht zu haben. Dort habe sie die giftigen Pilze »eigenhändig« gesammelt, schreibt Gitta Schürck.* Tost war wohl auch sonst von der »Magie des Waldes« umsponnen. Für Schürck war sie »eine krätzgurkige, herzensgute Seele«. Sie muß eine harte, leidvolle Kindheit und Jugend gehabt haben, teils in einer »miefigen« niederbayerischen Kleinstadt, stets mit viel ihr angetaner Gewalttätigkeit. Schließlich floh sie aus einer Ehe und versuchte es mit der kämpferischen Kunst.

Als sie, vermutlich nicht mehr bei Sinnen, im Wald lag, kam ein fremder Mann und brachte sie ins Krankenhaus. Eine Woche lang wurde um das Leben der 34jährigen »gerungen«, wie es ja immer heißt. Dann war sie tot. Sie selber hatte womöglich mit einigen Qualen zu büßen; der Steuerzahler dagegen mit vielen Euros für den Medizinisch-Industriellen Komplex.

* »Eine Welt ohne Gita Tost …«, GWR April 2000: https://www.graswurzel.net/gwr/2000/04/eine-welt-ohne-gita-tost-in-eine-anderswelt-mit-gita/



Tuchscheerer, Walter (1929–67), DDR-Ökonom. Der Sohn eines KPD-Funktionärs in Oelsnitz, Sachsen, studiert zum Teil in Moskau, wird anschließend in einem Ostberliner Institut angestellt und leistet angeblich pionierhafte und wichtige Forschung zur Frühgeschichte der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie. Leider kann er sein Hauptwerk nicht vollenden, weil er bereits mit 38 stirbt, und zwar »nach kurzer Krankheit«, wie es bestenfalls hier und dort heißt. Das Werk wird aber, als Fragment, ein Jahr darauf, 1968, von seiner Ehefrau Gerda veröffentlicht, damit auch wirklich nichts umkommt.

Vielleicht erinnern Sie sich noch an den professionellen Go-Spieler Hon'inbō →Shūsaku. Dort drückte ich bereits mein Erstaunen über die Tatsache aus, daß es auf diesem Planeten offenbar nichts gibt, das nicht in Berufung und Einkommen verwandelt werden könnte, sofern sich der Betreffende nur schlau genug anstellt. Jetzt sehe ich diese unzähligen WissenschaftlerInnenrücken, die sich über Tonnen an Büchern, Schnipsel und Notizen bücken, um die Welt mit Belanglosigkeiten oder jedenfalls ihrer persönlichen Variante der Variante der Variante zu beglücken. Biochemiker Erwin Chargaff verhöhnte bereits vor Jahrzehnten das unaufhaltsame Streben der Naturwissenschaften zur Spezialisierung, etwa um noch die Gliedmaßen eines Tausendfüßlers zu spalten und dadurch wieder 2.000 neue Arbeitsplätze und Doktoranden zu schaffen. Ähnlich grotesk geht es bekanntlich im Sport zu, wo kein Monat vergeht, in dem nicht eine neue »Disziplin« erfunden wird, die nur um Haaresbreite von der Mutterdisziplin abweicht. Aber was sage ich, es geht überall so zu, Sie können nehmen, was sie wollen. Das Stichwort »neu« verweist nebenbei auf die kapitalistische Warenproduktion, in die der Zwang zur »Innovation« geradeso eingebaut ist wie der Motor ins Auto und die Inflation ins Kreditwesen. Allerdings verweist es auch auf den gleichsam natürlichen Zug der Neugier, der wahrscheinlich schon in Neandertalhöhlen keimte. Mit den ersten Zeitungen wurde der Neuigkeitswahn daraus.

Vielleicht kommt uns die Gier nicht zufällig unter. Das Wesen des Menschen läßt sich ohne Zweifel unter etliche verschiedene Hüte packen – und einer davon heißt Vergeudungssucht. Der Mensch will nicht genügsam sein; er will nicht maßhalten – er will verschwenden. Da ist etwas Überquellendes in ihm, das sich an keinem Tier beobachten läßt. Er muß in einem fort opfern. Er opfert Zeit, seine Kinder, seine Gesundheit, sein Leben, um nur nicht auf der Stelle treten zu müssen. Niemals würde es einem Fuchs einfallen, einen Artikel über die Hutmode oder die Münchener Räterepublik zu verfassen, wo es doch schon viele tausend Artikel über die Hutmode und die Münchener Räterepublik gibt. Viele davon sind gut geschrieben, nur von einer geringfügig anderen Warte aus. Neu ist an ihnen nichts. Der Redakteur könnte einfach den Mutter-Artikel von 1922 ins Blatt rücken und das Honorar für den jüngsten Wichtigtuer einsparen. Aber dann bräche das Zeitungswesen oder das ganze Internet zusammen. Das will natürlich keiner.

Warum ist der Mensch so ungenügsam und rastlos? Warum opfert er so viel? Manche Autoren vermuten eine Quelle im Schuldbewußtsein des Menschen. Schließlich habe er sich durch irgendetwas die Vertreibung aus dem Paradies zugezogen, das bedrückt ihn, zumal er nicht weiß, durch was. Da ist sicherlich einiges daran. Es wäre mir freilich zu wenig, lediglich einen Gesichtspunkt anzubieten … Alain betont (in seinem Buch Die Götter) den Stolz des Menschen. Weit entfernt von Beschaulichkeit, handle es sich beim Stolz um einen gereizten, unbändigen Drang, der durch Maßlosigkeit zu herrschen suche. Wahrscheinlich wird er von dem Übermaß angegriffen, das die Natur uns zeigt – und als Zorn ist er die Antwort darauf. Denken Sie nur an tosende Stürme und Flüsse, endlose Sandwüsten, Gebirgsmassive, Urwälder und das Gewimmel im Tierreich. Diese Üppigkeit demütigt uns und stachelt uns auf. »Sie entzündet in uns den Wunsch nach noch steileren Gipfeln, noch höheren Wogen, noch drückenderer Einsamkeit. Versuch es, All, ob du mich zwingst! Wir stürzen uns ins Wagnis der Besteigung, des Fluges, des Krieges, der gefahrvollen Forschung.« Das im Ansatz rein geistige Phänomen des Stolzes – dessen Gegenspieler für Alain das Mitleid darstellt, also eine Sache des Herzens – erkläre auch ein wenig »die Hölle des alten Mexiko, wo man das Hinschlachten von Tausenden von Gefangenen zum Fest erhob. Man gefiel sich wohl in Verschwendung, die den Menschen der Sonne oder dem Vulkan gleichstellen sollte, also eine Rache aus Schwäche, aber auch aus Stärke gegenüber der Natur, und ganz etwas anderes, als wenn das Tier tötet um zu fressen und sich dann einfach aus dem Staub macht.«

Vielleicht gibt es für unsere Neigung zur Verschwendung sogar eine Quelle, die vor aller Nahrungszufuhr liegt. In seinem wahrlich fetten Hauptwerk Masse und Macht – von dem Sie 4/5 getrost vergessen können – kreist Elias Canetti um den Willen zum Überleben. Einmal streut er den verblüffenden Hinweis ein, die Erbitterung, mit dem ein jeder diesen Kampf zu führen pflege, gehe bereits aus dem Umstand unserer Zeugung hervor. Während bei diesem Vorgang bekanntlich lediglich eine Samenzelle bis in die Eizelle dringt, bleiben ungefähr 200 Millionen andere Samenzellen auf der Strecke. Jedes neue Ich verdankt sich einem wahren Massaker. Vielleicht haben wir darin sogar die Quelle des allgemeinen Selbstbehaup-tungsdrangs. Das hieße, selbst im geringfügigsten Streit darum, wer in der politökonomischen Frage X recht habe, drücke sich der Wunsch aus, von den 199,99 Millionen anderen nicht untergebuttert zu werden. Genauso könnte man hier »natürlich« auch die Quelle der Kriege vermuten, die die Menschheit nie für auch nur eine Woche zu führen unterläßt; das jeweilige »Vaterland« ist die eine Zelle, die den Sieg davontragen muß.

Wenn wir schon dabei sind, dem »Selbst« oder »Ich« nachzuspüren, können wir möglicherweise auch noch begreifen, warum uns das eigene Hemd immer näher ist als das Hemd unseres Nachbarn. Die Antwort liegt auf der Hand – beziehungsweise der Haut. Der Nachbar steckt nicht in meiner Haut. Sticht die Mücke mich, hat der Nachbar die Sorge mit der Schwellung und der Malariainfektion nicht. Im Gegensatz zum Fuchs und zum Schmetterling ist der Mensch ungewöhnlich schmerz- und krankheitsanfällig. Er ist ungleich wehleidiger und schutzbedürftiger als jedes Tier. Und das Tier kennt »natürlich« auch den Tod nicht. Der Tod ist der Hauptstachel in unserem Fleisch.



Ulbricht (DDR-Familie). Obwohl sie nur 1,45 Meter maß, wird Lotte Ulbricht, ursprünglich: Kühn, überall als »resolut« beschrieben. Nur ihrem zweiten Ehemann gegenüber, dem sie ihren berühmten Namen verdankt, spielte sie ihre Durchsetzungskraft, wie es aussieht, nie ernsthaft aus. 1921 war das gelernte Büromädchen aus unterstem proletarischem Hause (in Berlin) der KPD beigetreten. Lottes erster Ehemann Erich Wendt, auch schon hoher Parteikader, fiel im Moskauer Exil vorübergehend in Ungnade. Ebendort lebte sie seit 1938 mit Walter Ulbricht zusammen (Heirat erst 1953). Sie arbeitete in Moskau vorwiegend für die Komintern, wohl als Sekretärin und Setzerin. Mit der berüchtigten Gruppe Ulbricht 1945 nach Berlin zurückgekehrt, war sie zunächst ZK-Sekretärin der KPD, bald darauf die »rechte Hand« ihres Gatten, der übrigens auch nur auf 1,66 kam. 1946 adoptierten die Ulbrichts mit »Beate« (ursprünglich: Maria Pestunowa) das zweijährige Töchterchen einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, die bei einem Luftangriff auf Leipzig ums Leben gekommen war. Lotte konnte aufgrund verschiedener Krankheiten keine Kinder bekommen.

Möglicherweise wäre die Bombe, von der seine Mutter in Sachsen getötet worden war, für das braunäugige, dunkelblonde Baby kein größeres Unglück als diese Adoption gewesen. Beim Berliner Ehepaar Ulbricht soll Beate das Musterkind in einer sozialistischen Musterfamilie abgeben – und gerät, mit tatkräftiger Hilfe der prominenten Eltern, zum genauen Gegenteil. Ihre zaghaften Versuche, dem Korsett dieser Rolle zu entkommen, und sei es durch Nylonstrümpfe, werden von den Ulbrichts streng geahndet. Zwei Liebschaften, die jeweils zu Ehe und einem Kind führen, hat sie der elterlichen Mißbilligung abzuringen. Im Testament ihres Adoptivvaters wird Beate nicht erwähnt. Nach dessen Beerdigung (1973) wird die hübsche knapp 30jährige, die keinen Studienabschluß vorzuweisen hat, offenbar auch von Lotte Ulbricht endgültig geächtet, wobei sich die Großmutter später immerhin um die beiden Kinder Beates kümmert. Wahrscheinlich kamen die Kleinen vom Regen in die Traufe. Ines Geipel zufolge* war Beate Ulbricht beim Tod ihres Adoptivvaters bereits dem Alkohol verfallen. Sie läßt sich scheiden, verliert verschiedene Arbeitsstellen und um 1980 auch das mütterliche Sorgerecht. Sie verwahrlost zunehmend und droht in der Psychatrie zu landen. Im Herbst 1991, also im Zuge der »Wende«, gibt sie dem Boulevardblatt Super ein langes Interview, weil sie dafür viel Geld bekommt. Wenig später, am 6. Dezember, wird die inzwischen 47jährige erschlagen in ihrer Wohnung in Berlin-Lichtenberg aufgefunden. Der Fall ist bis heute unaufgeklärt. Offenbar hatte es einen Streit in der Wohnung gegeben. Möglicherweise ging es, zumindest oberflächlich, um jenes Geld. Sicher ist: Lotte Ulbricht blieb der Beerdigung ihrer Adoptivtochter fern.

Somit stand das Leben des geretteten ukrainisch-sächsischen Babys wahrlich unter keinem guten roten Stern, wie man sagen könnte. Das soll sich bei ihrer Adoptivmutter anders verhalten haben. Almut Nitzsche behauptet in FemBio, Lotte Ulbricht sei ordnungsliebend (wie ihr Gatte) und unbestechlich und bis zum Tode überzeugte Kommunistin und auch »Verweigerin« der sensationshungrigen oder rachsüchtigen Presse gegenüber gewesen. Zwar soll sie die »Entmachtung« ihres Gatten durch Erich Honecker (1971) bitter getroffen haben, gleichwohl wurde sie steinalt. Sie starb 2002 in Berlin-Pankow mit 98 Jahren. Vielleicht wurde sie gerade von ihrer Bewunderung für ihren Walter aufrecht erhalten. Diese Bewunderung ist allerdings für Außenstehende nicht so leicht nachzuvollziehen.

Der 40jährige Reichstagsabgeordnete Walter Ulbricht floh 1933 nach Frankreich und gehörte der Pariser und später Prager Emigrationsführung der KPD an, bevor ihn die Komintern in den spanischen Bürgerkrieg warf, wo er, laut Brockhaus, als Politischer Kommissar unter den republikanischen Truppen tätig war, was ja durchaus seinem Naturell entsprochen hätte. Wolfgang Leonhard behauptet (1955), in dieser Rolle habe auch Ulbricht – siehe etwa den berüchtigten Kommissar André Marty! – an der »Liquidierung revolutionärer antistalinistischer Kämpfer« mitgewirkt. Einen Beleg für diese Behauptung gibt der abtrünnige Kommunist nicht. Vielleicht hatte er, statt mit Koestler, Gorkin oder gleich einem unmittelbaren Mitarbeiter der CIA zu telefonieren, im Januar 1953 die Titelgeschichte des Spiegel Nr. 4 gelesen. Sie verzichtete zwar auf von »Spanienkämpfer« Ulbricht hinterlassene Leichen, trug aber ansonsten durchaus dick auf. Danach richtete Ulbricht 1936 in Albacete (wo auch Marty wirkte) »nach dem Muster der GPU Vernehmungskeller« ein, »in denen er die als 'Trotzkisten' entlarvten Genossen mißhandeln ließ. Er ließ sie tagelang ohne Nahrung in fensterlose Zellen sperren, nächtelang verhören, viele Stunden in schrankartigen Zellen aufrecht stehen und mit Peitschen schlagen. Selbst Frauen wurden nicht geschont.« Allerdings haut sogar der linke Berliner Historiker und Journalist Manfred Behrend, gestorben 2007, mit einer Bemerkung in seinem 1997 veröffentlichten empfehlenswerten Aufsatz über den Spanienkrieg in dieselbe Kerbe, wobei er auf ein Buch von Patrick von zur Mühlen von 1985 verweist. Ulbricht habe sich um die Jahreswende 1936/37 »insgeheim« in Spanien aufgehalten – »offenbar, um die Verfolgung von 'Trotzkisten' und anderen 'unzuverlässigen Elementen' deutscher Zunge bei den Interbrigaden vorzubereiten.«

Bemerkenswerterweise wird dieser Vorwurf nicht von Gustav Regler geteilt, falls ich es nicht übersehen habe. Immerhin war Regler in Spanien selber kommunistischer Politkommissar gewesen und läßt ansonsten (in seinen Erinnerungen Das Ohr des Malchus) kein gutes Haar an seinem ehemaligen Genossen Ulbricht. Dafür versichert er, vor dem Spanienausflug habe Ulbricht »Abweichler« oder auch nur »unsichere Kandidaten« gern durch die Methode des an die Frontschickens (oder der Drohung damit) »bekämpft«; schließlich zur illegalen Arbeit nach Deutschland eingeschleust, seien diese Leute, früher oder später, von linientreuen Genossen entweder eigenhändig oder durch einen Wink an die Kollegen von der Gestapo »beseitigt« worden. Der Exil-Chef sei mit einem phänomenalen Gedächtnis gesegnet gewesen, zumal was Personennamen anging. »Ulbricht führte die Liste seiner Opfer im Kopf wie alle GPU-Beamten.« 1938 wurde er denn auch nach Moskau berufen. Er starb 1973 mit 80. Schriftsteller Regler schildert Ulbricht schon von der Erscheinung her fragwürdig abschreckend – fragwürdig für Schriftsteller wie mich. Gegen Reglers Ulbricht war der Glöckner von Notre Dame ein Rudolf Scharping. Kein Wunder, wenn so einer – jetzt meine ich wieder Ulbricht – auch im Charakter nur ein rachsüchtiger, skrupelloser Fallensteller und »pedantischer Staatsanwalt« sein kann. Während Lenin noch gekämpft habe, habe Ulbricht ausschließlich spioniert. Er habe in jedem Menschen einen potentiellen Verräter gewittert – das lernte dann auch Merkels Kabinett von ihm. Trefflicher noch die folgende Bezeichnung, die Regler findet: »Ein Professor Unrat der Revolution, der Geschichte spielte und seine (übrigens präzise funktionierenden) Beamtenintrigen für machiavellistische Staatskunst hielt.« (Köln 1958, bes. S. 229–32)

Ulbrichts Ex-Mitstreiter Leonhard äußert sich in seinem schon angeführten bekannten Buch Die Revolution entläßt ihre Kinder kaum anders. »Unbelastet von theoretischen Überlegungen und persönlichen Gefühlen – ich habe ihn selten lachen hören und erinnere mich nicht, jemals bei ihm eine persönliche Gefühlsregung bemerkt zu haben – gelang es ihm meines Wissens immer, die ihm von sowjetischer Seite übermittelten Direktiven mit List und Rücksichtslosigkeit durchzusetzen.« Jede außerparteiliche antifaschistische Initiative in der SBZ lasse Ulbricht im Keim ersticken. Und als besonderen Leckerbissen für das spätabendliche Bettgespräch Walters mit Lotte: Auch den Wunsch von Angehörigen der Gruppe Ulbricht nach Diskussion der Übergriffe sowjetischer Soldaten auf Frauen würgt der Boß gnadenlos ab. Dabei ging es also um Belästigungen und Vergewaltigungen, damit auch die Abtreibungsfrage. 2005 hob Leonhard in der FAZ, wie schon Regler in seinen Erinnerungen, Ulbrichts Organisationstalent, seinen Fleiß und sein überragendes Gedächtnis hervor. Für alle anderen außer organisato-rischen und taktischen Fragen habe der Staatschef kein Interesse besessen. »Kein Interesse für Bücher, für Literatur, für Gemälde, für Musik, nichts. Ich denke um Gottes willen nicht, daß jeder für alles Interesse haben sollte, aber vielleicht doch ein Schnippelchen von irgend etwas.« Lotte scheint es nicht gestört zu haben.

Entsprechen nur 10 Prozent von allem, was die sogenannte Öffentlichkeit dem »Diktator« Walter Ulbricht unterstellt, der Wahrheit, verkörpert er noch immer exakt jenen Typus PolitikerIn, den selbst viele Deutsche inzwischen zu hassen scheinen. PolitikerInnen sind immer schlecht, sie mögen in kapitalistischen oder kommunistischen Fähnchen, oder wie Fritz Erler in sozialistischen stecken. Wenn ich freilich eben befand, Lotte sei »überzeugte Kommunistin« gewesen – was heißt das denn, in Wahrheit? Es heißt, sie war eine autoritätshörige Kleinbürgerin, vermutlich verkrampft bis ins Mark, wie ihr großer Gatte auch. Von einem halbwegs befreiten, beschwingenden Menschen keine Spur. Damit empfehlen sich noch einige Bemer-kungen zu der heiklen Frage, was man eigentlich von Kom-munisten – und von Antikommunisten zu halten habe.

Die zumindest scheinbare antikommunistische Einheitsfront von Adolf Hitler über Konrad Adenauer, Kurt Schumacher (SPD), Wolfgang Leonhard bis zu Jutta Ditfurth und der Handvoll Anarchisten, die wir noch haben, ist eine große Bürde. Denn jenen »halbwegs befreiten, beschwingenden Menschen« wünschen alle außer der ehemaligen Grünen-Politikerin und den paar Anarchisten jede Wette nicht. Schumacher zum Beispiel wollte eine ärgerliche Konkurrenz um ArbeiterInnen-Stimmen vom Halse haben, die ihn vor dem Zweiten Weltkrieg sogar als »Sozialfaschisten« beschimpft hatte. Adenauer wollte keinen angesehenen Staatsmann Ulbricht neben – und schon gar nicht über sich. Alle wollten den freien Markt (statt des freien Menschen) – keinen »Ostblock«, der sich gegen das ungehemmte Geldverdienen stemmte. Also hieß es »die Roten« in den schwärzesten Farben zu malen – dabei waren sie gar keine Roten. Das ist das Schlimmste an diesem Phänomen. Indem sich die großen und kleinen Ulbrichts als überzeugte Sozialisten oder Kommunisten ausgaben, brachten sie die zwei oder drei guten Züge in Verruf, die sie ihrem System zumindest auf dem Papier angedichtet hatten: Gemeineigentum, Gleichheit vor dem Gesetz, internationale Solidarität der armen und entrechteten Schlucker dieser Welt. Nichts davon lösten sie in der Praxis ein, jedenfalls nicht ohne Pferdefüße, wie ich andernorts zeige. Stattdessen gelang es ihnen, auch die bekannten Ideale der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, endgültig in Verruf zu bringen. Begonnen hatte das in der Französischen Revolution.

* Black Box DDR. Unerzählte Leben unterm SED-Regime, Wiesbaden 2009



Veteranyi, Aglaja (1962–2002). Die vielseitige rumänisch-schweizer Künstlerin stammte aus einer Zirkusartistenfamilie, Mutter Akrobatin, Vater Clown. 1967 aus dem »kommunistischen« Rumänien geflohen, lebte Veteranyi seit 1977 mit ihrer Mutter in der Schweiz. Hier gelang es der faktischen Analphabetin, sich Deutsch beizubringen und eine Züricher Schauspielschule zu besuchen. Ab 1982 war sie sowohl als Schauspielerin wie als Schriftstellerin tätig. Sie unterrichtete auch Schauspiel. Doch als ihre wesentliche Überlebens-Waffe erwies sich das Schreiben. Zumal ihre autobiografisch geprägten Texte, in denen ihre schwere Kindheit und ihre Sprachheimatlosigkeit zum Ausdruck kamen, wurden gelobt und mit einigen Auszeichnungen bedacht. 1999 erregte sie bei einem Wettbewerb Aufsehen mit Auszügen aus ihrem »Roman« Warum das Kind in der Polenta kocht, der noch im selben Jahr bei einem Stuttgarter Verlag herauskam. 2001 geriet sie in eine »psychische Krise«, vielleicht auch »Psychose«, der sie offensichtlich nicht gewachsen war.

Während einige Quellen in unverschämter Allgemeinheit davon sprechen, Veteranyi habe »ihre Ängste« nicht mehr ausgehalten (hinter welchem Selbstmord stünden keine Ängste?), wird lediglich WDR-Redakteur Ludwig Metzger in einem Filmporträt von 2003 konkreter. Danach* erlebt das kleine Mädchen die Bukarester Zirkuswelt (»Staatszirkus«!) keineswegs als romantisch, vielmehr rauh und hartherzig. Vom Betriebsklima einmal abgesehen, ist der Vater »ein finsterer Clown«, und die Mutter wird an ihren Haaren in die Zirkuskuppel gezogen, wo sie dann, aufgehängt, im Scheinwerferkegel kreist und dabei auch noch jongliert und so weiter. Das ist alles für viel Angst gut. Nach der Flucht und der Scheidung der Eltern wird es nicht unbedingt besser. Veteranyi bleibt bei der Mutter. In Spanien muß die Halbwüchsige als langhaarige, mehr oder weniger entblößte Varieté-Tänzerin auftreten. Ihr letzter Lebensgefährte N., der zunächst, in Zürich, nur ihr Schüler war, spricht im Hinblick auf die ganze Kindheit und Jugend seiner Geliebten nicht unzutreffend von »Mißbrauch«. Aber ihr Schicksal beeindrucke auch durch einen »exotischen« Zug, räumt er ein. Endlich in der Schweiz an die Schauspiel-schule gelangt, kommen Veteranyis verdammten Haare endlich ab. Seitdem ist die junge, gut gebaute Künstlerin im schelmischen (dunklen) Bubilook zu sehen. Einmal hat sie, nach 20 Jahren, auch ein Wiedersehen mit ihrem Vater, der beim Münchener Zirkus Roncalli auftritt. Sie sprechen sich aus und versöhnen sich nahezu. Bald darauf stirbt der finstere Clown. Zu spät.

Veteranyis »Psychose« setzt 2001 nach einer Sommerreise ins heimatliche Rumänien ein. Ohnehin heißer Boden, recherchiert sie dort auch noch über Friedhöfe, Totenkult und Klageweiber. N. meint, eine gewisse »Todessehn-sucht« seiner Gefährtin sei wohl unverkennbar gewesen. Jetzt »zerfällt ihr Gesicht«, statt des Herzens sitzt ihr »ein Loch« in der Brust, sie hat Angst zu ersticken, ihre Augen werden »trocken«. Wegen ihren Panikanfällen und sonstigen Qualen sucht sie zahlreiche Ärzte auf, von der Schulmedizin bis zum Wunderheiler. Mehrere sagen, ihre Beschwerden seien »psychosomatischer« Natur, sie liege mit sich selber in Unfrieden. Derweil scheint der Wahn zuzuschlagen. So hat sie unter anderem befürchtet blind zu werden, nimmt Salbe – und zuletzt läßt ihr Augenlicht in der Tat nach. KünstlerInnen verfügen meist über eine gute Einbildungskraft. Bei alledem schwindet auch Veteranyis Hoffnung; sie unternimmt erste Selbstmordversuche. Eine in Metzgers Dokumentation abgespielte Tonbandkasette, auf der sie von ihren Nöten spricht, ist erschütternd. In einer Februarnacht des folgenden Jahres stiehlt sich die 39jährige von der Seite ihres schlafenden Gefährten, klemmt einen Besen in die geöffnete Haustür und geht an einen nahen Steg am Zürichsee, auf dem die beiden schon oft saßen. Dort wird sie vormittags entdeckt, ertrunken im seichten Wasser liegend.

Da die Tänzerin durchaus schwimmen konnte, ist anzunehmen, sie trug Sorge dafür, rasch unterzugehen. So liest man beispielsweise von Entschlossenen, sich einen mit Steinen gefüllten Rucksack überzuziehen. Ob Drogen helfen, weiß ich nicht. In Veteranyis Fall hat vielleicht auch die Wassertemperatur »geholfen«. Sie beträgt im Zürichsee im Schnitt für den Monat Februar fünf Grad. Nun stelle man sich einmal die finstere Kälte vor, der sich diese verzweifelte Frau in jener Winternacht »anzuvertrauen« hatte!

Am Film wirkt auch Veteranyis Schwester mit, eine Zirkusartistin, die vermutlich denselben Vater hatte, eben jenen, für Veteranyi »finsteren Clown«. Die Schwester brachte sich nicht um. Ich nehme an, der Vater spielte die verhängnisvollste Rolle auf Veteranyis Weg in die »Psychose«. Von ihrem späteren, schweizer Werdegang her hatte sie eigentlich keinen »klassischen« Anlaß, sich zu ängstigen, mit ihrem Schicksal zu hadern, vor dem Leben zu flüchten. Es war ihr ja gewogen. Sie kam als Künstlerin gut an, hatte einen verständnisvollen Partner und Liebhaber, offenbar auch keine Geldsorgen. Zweifelte sie dennoch »an der Realität«, wie schon als Zirkuskind, dann eben wegen ihrer biografischen und genetischen Wurzeln – die sie offensichtlich anders als ihre Schwester erfährt und mitsichführt.

Durch eine merkwürdige Besessenheit des »finsteren Clowns«, auf seinen Urlaubsreisen mit Kind und Kegel kilometerweise (teure) »Super-8«-Schmalfilme zu drehen, wird er nicht gerade lichter. Er dreht überwiegend Horrorfilme, wo er zischende Schlangen zertreten und seine Töchter aus den Klauen dunkelhäutiger, sie entfüh-renden »Buschmänner« retten muß. Möglicherweise hatte Veteranyi auch jene »Todessehnsucht«, von der N. spricht, von ihrem Erzeuger – aus Angst vor ihm. Aber wer weiß das schon. Theoretisch käme ja auch N. selber als »Unhold« in Frage, obwohl er im Film sowohl tapfer wie souverän auftritt. KritikerInnen könnten Metzgers Film vorwerfen, zu einseitig vorzugehen, weil er keine (vergleichweise) unbefangenen Zeugen zu Wort kommen läßt und damit zum Beispiel auch nicht beleuchtet, wie glücklich oder unglücklich Veteranyi in ihrer letzten großen Liebschaft war.

Sollte N. kein Unhold gewesen sein, hatte er vermutlich viel auszuhalten, und das wahrscheinlich schon vor jenem Besuch rumänischer Friedhöfe. Ich habe den Verdacht, mit Veteranyi hätten wir im Grunde »nur« den klassischen unbefriedeten, jederzeit von Zerfall bedrohten Künstlertypus vor uns, der alle Mühe hat, sich für ein paar Jahre oder Jahrzehnte zusammenzuhalten. Das schlösse dann viel Widersprüchlichkeit und viel Schwanken ein. Es deutet sich auch auf der erwähnten Tonbandkasette an. Bleibt solch ein Mensch ungeliebt (erfolglos), leidet er; wird er aber geliebt und gefeiert, leidet er ebenfalls: an seinen Schuldgefühlen seiner Bevorzugung wegen. Prompt grämt er sich auch dann, wenn einer seine Bedrängnis zu teilen und zu lindern versucht: weil er diesem zur Last fällt. Und es stimmt ja leider auch. Die Anstrengung, die man mit solchen Menschen hat, ist so wenig eingebildet, wie es die »Schmerzen« sind, von denen Veteranyi auf dem Tonband spricht. Furchtbar. Aber vielleicht hat sie ja Frieden gefunden.

* Hier Himmel – Aglaja Veteranyi, rund 70 Minuten, erstmals im Oktober 2003 auf 3sat zu sehen



Voelkner, Benno (1900–74), DDR-Schriftsteller. Das schlechte Los deutscher LandarbeiterInnen zu Kaisers und Krupps Zeiten wird bis heute viel zu stiefmütterlich behandelt. Gegen dieses Versäumnis schrieb der ostdeutsche gelernte Klempner Benno Voelkner 1955/60 mit seinem umfangreichen Roman Die Leute von Karvenbruch an. Wahrscheinlich spielt das Werk auf einem mecklenburgischen Gutshof. Voelkner kannte sich aus. Dem Faschismus entronnen, verfocht er nach dem Zweiten Weltkrieg die Bodenreform im Städtchen Krakow am See, wo er Bürgermeister war. Zuletzt stieg er in die Schweriner SED-Bezirksleitung auf. Er starb 1974 mit 73.

Erfreulicherweise mutet uns sein Roman kaum Holprigkeiten oder Längen und nur wenige gleißende Spruchbänder zu. Er bleibt fast immer spannend. Zuletzt marschiert die Rote Armee auf dem Herrensitz ein. Als Schlußbild müssen die abgerissenen Gestalten der überlebenden niederen Gutsleute allerdings im Morgenrot stehen. Ansonsten malt Voelkner seine Gestalten für meinen Geschmack leider durchweg zu blaß, sodaß sie oft schlecht zu unterscheiden sind. Diesen Mangel teilt er freilich mit zahlreichen westlichen Erzählern, die zurecht nicht Tschechow heißen. Überdies hätte ich dem elternlosen Knaben Jan, mit dem Voelkner sein Werk eröffnet, mehr Aufmerksamkeit gewünscht. Einst von Schreckbild Ulmke stumm und bucklig geschlagen, außerdem bestohlen, darf Jan, inzwischen Pferdeknecht, erst am Ende des Romans seine Stimme wiederfinden. Voelkners Hauptaugenmerk gilt dem Landarbeiter und Kutscher Ulrich Hölding, der einiges an Folter und Gefangenschaft durchzustehen hat. Er gibt ihn aber keineswegs als kämpferisches KPD-Plakat. Hölding hat immer mal wieder über seine Neigung zu Wankel- und Schwermut zu stolpern. Man wundert sich fast, daß dieser Buchheld bei Alfred Kurella (in Leipzig und Ostberlin) durchging.

Ähnlich uneindeutig gibt Voelkner Landarbeitertochter Vroni, die sich der Gunst des Gutsherrn erfreut und bald ins Schloß umzieht, nie jedoch zum charakterlichen Wrack à la Ulmke herabsinkt. Die Frauen kommen bei Voelkner nicht zu kurz. Eine üble Falle stellen Ulmke und SS-Scherge Blugge der Witwe Lisel Hulk. Sie hatte einen jungen todkranken russischen Gefangenen in ihrer Hütte verbotenerweise wiederholt beköstigt. Nun führen Ulmke und Blugge die blutige, wahrheitswidrige Posse auf, Lisel mit Pawel im Bett erwischt zu haben. Pawel wird gleich aufgeknüpft; Lisel wandert ins KZ.

Die Mißhandlungen und Qualen ziehen sich so unerbittlich durch diese um 1900 einsetzende Geschichte wie das haarsträubende Unrecht. Ich gebe zu, im Laufe der knapp 600 Seiten wurde es mir fast zuviel. Dazu gehört, daß der eine Gutsknecht immer mal wieder dem anderen Gutsknecht vorwirft, sich nicht genug zur Wehr zu setzen. Nimmt dieser jedoch den Vorwurf an, wird er früher oder später doppelt und dreifach zusammengeschlagen und gedemütigt. Vermutlich führt Voelkner diese Härten auch deshalb vor, um seine LeserInnen gleichfalls zum Widerstand aufzustacheln. Aber allmählich kommt mir der unnachsichtige Ruf zum Widerstand wie ein erpresse-rischer Zug vor, der sich höchst unangenehm durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung und insbesondere des Kommunismus zieht. Dabei wurden nachweislich viele KämpferInnen schlicht verheizt. Einige Funktionäre gaben gewiß ein Beispiel, weshalb sie als Märtyrer in die Parteigeschichte eingingen. Andere wußten sich immer so geschickt aus der Affäre und der Front zu ziehen wie etwa Ulmke – ich sagte nicht: Ulbricht.

Am vergleichsweise knappen Vorwort meiner Ausgabe (Ostberlin 1960, Aufbau-Verlag) hatten Kurella und Ulbricht sicherlich ihre Freude. Nach der »Bodenreform« (zunächst Enteignung der Junker und Verteilung ihres Landes) winkt der Verfasser G. Sch. mit den riesigen Vorteilen der »sozialistischen Großflächenproduktion«, also der Mammutisierung, von meiner Warte aus. Schon die Zwangskollektivierungen in der Sowjetunion der Vorkriegszeit waren ja eine Dampfwalze gewesen, die ungeheuerliche Opfer an Menschen, Gesundheit, Entfaltungsmöglichkeiten und Nahrung forderte. Dazu empfehle ich die Erinnerungen von Victor Serge. Heute schweben die bestens gefederten, haushohen Fendt-Schlepper über die endlosen ostdeutschen ehemaligen LPG-Äcker und fühlen sich sauwohl, weil alles schon so gut angerichtet war.



Wagener, Sascha (1977–2011), linker Politiker, zuletzt Gleiswechsler. Das Spruchband mit der anarchistischen Forderung, sein Handeln gefälligst mit seinem Denken in Übereinstimmung zu halten, läßt sich immer leicht abschmettern, beispielsweise indem man Brecht/Weills Dreigroschenoper-Liedchen von der »Unzulänglichkeit allen menschlichen Strebens« pfeift oder an zwei Händen sämtliche »Sachzwänge« aufzählt, die das Bemühen um jene Übereinstimmung gerade durchkreuzten. Deshalb werden wir vielleicht über den US-Demokraten Wickliffe, der seinen Angelweg 1912 unter Mißachtung eines Warnschildes über Bahngeleise abkürzte, nur lächeln. Sascha Wagener war sogar noch mehr Demokrat, nämlich Mitglied des Vorstandes der Partei der Anmaßung Die Linke und Leiter von deren Freiburger Regionalbüro im Breisgau, als er sich am 13. März 2011 im Bahnhof Lahr (am Schwarzwald) anschickte, die Bahnsteige nicht durch die Unterführung, vielmehr über die Gleise zu wechseln. Wagener kam an diesem frühen Sonntagmorgen aus einer Discothek.* Auf den Gleisen brauste ein Güterzug heran und tötete den 33jährigen zufällig rothaarigen Sozialisten. Die offiziellen Parteiverlautbarungen vermieden es allerdings, das Publikum oder die WählerInnen mit den Einzelheiten des wieder einmal »tragischen« Unfalls zu belästigen. Sie stellten lieber Wageners vorbildliche Seiten heraus.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich predige keine blinde Gesetzestreue. Obwohl ich ungleich mehr Zeit habe als unsere BerufspolitikerInnen, pflege ich zum Beispiel nie an roten Fußgängerampeln zu warten, sofern kein Auto in Sicht ist. Das deckt sich mit meinem Denken, wonach es sich bei der Straßenverkehrsordnung um einen Bestandteil eines von Beschleunigungswütigen und Profitgierigen errichteten Terrorregimes handelt. Die kleinen Kinder sind kein Gegenargument. Man sollte sie nie an Terrorregime gewöhnen. Ja, besser noch, man sollte sie, heutzutage, gar nicht erst in die Welt setzen, denn der Auftrag, sie erzieherisch auf dieselbe vorzubereiten, kommt bereits, für alle Beteiligten, einer Folter oder der Quadratur des Kreises gleich. Eben unterrichtet mich Ralf Wurzbacher** über die »Visionen« des mindestens zwanzigfachen Milliardärs Elon Musk, die dieser für unseren schönen, einst blauen Planeten und den Weltraum hat. Na Gute Nacht! kann man dazu schlecht sagen, weil Musk das All ja gerade, mit Hilfe unzähliger Satelliten, erhellen will.

Ich komme auf Musks Landsmann Robert C. Wickliffe (1874–1912) zurück. Auch dessen politische Laufbahn endete nicht ganz so vorbildlich, wie sie begonnen hatte. 1898 hatte der junge Rechtsanwalt als Soldat einer Infanterieeinheit aus Louisiana am »Spanisch-Amerikanischen Krieg« teilgenommen, der den USA unter anderem Kuba einbrachte. Er überlebte ihn sogar, obwohl er sicherlich auch dann als Vorbild gepriesen worden wäre, wenn er ihn nicht überlebt hätte. Später Bezirksstaatsan-walt in Louisiana sowie Mitglied des US-Repräsentanten-hauses in Washington D.C., ging er im Sommer 1912 ebendort angeln. Nach verschiedenen Quellen betrat er bei diesem Jagdvergnügen, Warnschildern zum Trotze, unweit des Potomac Parks eine Gleisanlage, genauer Eisenbahnbrücke.*** Vermutlich wollte er dort nicht angeln, vielmehr einen Weg abkürzen, etwa zum Fluß Potomac. Prompt wurde der 38jährige Politiker der »Demokraten« von einem Zug erfaßt, der ihn wohl auf der Stelle tötete. Seine Frau sei, als man ihr im Capitol die Nachricht vom Auffinden der Leiche beibrachte, in Ohnmacht gefallen.

Bräche ich diesen Eintrag an dieser Stelle ab, hätte ich, nach drei Absätzen, schon die vierte Abkürzung beige-bracht. Vielleicht ist nicht jedem klar, wie sehr wir im Zuge der Zivilisation zu ganz eingefleischten AbkürzerInnen geworden sind. Wir lassen bei Frost eine Haustür aufstehen, um sie eine Minute später, wenn wir aus dem Brennholz-Schuppen zurückkehren, nicht schon wieder öffnen zu müssen – womit wir drei Sekunden Zeit und drei Gramm Muskelaufwand gespart hätten, freilich nicht unbedingt Brennholz. In Grünanlagen legen wir übereck Trampelpfade von 1,70 Meter Länge an, ich habe sie gemessen. Mancher führt drei Prozesse, um seine Post nicht vom Gartentor abholen zu müssen. Unangenehme Dinge preßt er kurzerhand in Schablonen, beispielsweise Herzversagen, Hexe, Ausländer, Schadensbegrenzung, VerschwörungstheoretikerIn. So mancher lehnt es sogar entrüstet ab, sich zum Urinieren auf der Kloschüssel nieder zu lassen, falls er ein Mann ist. Wie er denn dazu käme, poltert er, sich eines natürlichen Standortvorteils zu begeben!

* »Linke-Politiker aus Freiburg stirbt nach Discobesuch in Lahr«, Badische Zeitung, 14. März 2011: https://www.badische-zeitung.de/lahr/linke-politiker-aus-freiburg-stirbt-nach-discobesuch-in-lahr--42648527.html
** »Mission Apokalypse: Elon Musk schießt 42.000 Satelliten ins All und die Welt lässt ihn machen«, NachDenkSeiten, 2. Juli 2021: https://www.nachdenkseiten.de/?p=73903
*** https://bioguide.congress.gov/search/bio/W000443

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