Mittwoch, 14. Dezember 2022
Nasen Scholo—Sind

Scholochow, Michail. Der sowjetische Schriftsteller, offenbar in Ehren ergraut und 1984 erst mit 78 Jahren gestorben, gilt zumeist als regimetreu. Gleichwohl stellt sein Hauptwerk Der stille Don, eine umfangreiche Erzählung aus den »revolutionären« Jahren um 1917, Gott sei Dank, oder wem auch immer, alles andere als ein Brevier des Bolschewismus dar. Ich beziehe mich auf die Ostberliner Ausgabe von 1964 (hier 14. Aufl. 1987), die rund 2.000 Seiten und ein damals frisch verzapftes Nachwort von Alfred Kurella hat. Daß dieses so wenig »sowjetfreundliche« Werk in der SU und damit auch in der DDR erscheinen durfte, finde ich schon erstaunlich. Ich wüßte einstweilen keine Erklärung dafür, müßte nachforschen. Mit dem Donkosaken Grigori Melechow wird den Lesern ein unentschiedener, wankelmütiger, wenig gebildeter, dafür letztlich jedoch schollenbewußter »negativer« Hauptheld zugemutet, mit dem sie auch noch »sympathisieren« müssen, so wie ihn Scholochow gibt. Grigori kämpft nur kurzzeitig auf roter, sonst auf weißer, also »konterrevolutionärer« Seite. Dabei wird er unaufhaltsam kriegs- und politikmüder. Die roten und die weißen Machthaber nähmen sich nichts, darf er feststellen, ohne daß ihn der Autor auf der Stelle mit Hammer & Sichel niedermacht. Zwar schließt er sich gegen Ende, in seiner Heimatlosigkeit und seiner Angst, von den neuen Sowjet-Kommissaren eingekerkert oder gar hingerichtet zu werden, einer »Armee« aus plündernden Banditen an, doch sie widern ihn an und er beschließt, mit seiner frühen Geliebten Aksinja den Versuch einer Auswanderung und eines Neuanfangs zu wagen. Dabei wird Aksinja von einer roten Streife vom Pferd geschossen. Grigori muß ihr im Verborgenen mit seinem Säbel ein Grab ausheben. Allein, niedergeschmettert, ohne auch nur einen Funken Lebenslust kehrt er dann in sein Heimatdorf zurück, um wenigstens seine Kinder noch einmal zu sehen. Damit endet das Buch.

Für jeden freiheitsliebenden Leser ist es durchaus gut vorstellbar, daß jener Neuanfang gelungen wäre. Aber es durfte nicht sein. Mit einem derartigen positiven Ausgang versehen, hätte dieses Buch zu stalinistischen Zeiten schon gar nicht erscheinen können. Nachwortautor Kurella, ranghoher treuer »Kulturarbeiter« in Diensten der SED, unterstreicht das noch, indem er Melechow mit der Brechstange, gegen Scholochows behutsamen, oft sogar ausweichenden Text, als bedauerlichen Gescheiterten und eins der vielen Opfer hinstellt, die bei jeder Erkämpfung einer großen und edlen Sache unvermeidlich anfielen. »In diesem Rahmen ist Grigoris Untergang wie ein blutrotes Siegel an der Urkunde, die den Sieg auch der Donkosaken über die alte Welt verkündet, über die Welt des Eigentums und Eigennutzes, der alten patriarchalischen Knechtschaft und der kapitalistischen Ausbeutung, in der fortschritt-liche, glück- und wahrheitsuchende Menschen zu verkommenen Subjekten, zu Banditen, ja zu Bestien werden konnten.«

Wie sich versteht, trat dieses Gesindel nicht mehr in den Kreisen um Lenin, Trotzki, Stalin und Ulbricht auf. Für Kurella beschränkte sich die realsozialistische Funktionärs- und Staatsgewalt von Zigtausenden und deren Befehlsstrukturen auf den sogenannten »Personen-kult um Stalin«. Massenmorde an »eingliederungsunwil-ligen« Kosaken und zahlreichen anderen Völkern oder Volksschichten erwähnt er schon gar nicht. Scholochow dagegen bringt wiederholt ungeschminkte Beispiele von Willkür und Brutalität auch auf Seiten der Roten – Kurella reduziert sie auf Melechows Schwager Michail Koschewoi, den neuen »revolutionären« Machthaber ihres Heimatdorfes, den er als fehlgeleiteten Emporkömmling hinstellt, der Abtrünnigen oder Zögerlichen wie Melechow einfach zu wenig Kredit gebe. Sonst hätte auch aus diesem ein glückliches Mitglied der inzwischen fortschrittlichen Gesellschaft werden können. Aber für mich ist Melechow, so wie ihn Scholochow gibt, keineswegs am gesellschaft-lichen Umbruch, vielmehr an den Brüchen gescheitert, die offenbar jeder Mensch, gleich unter welchen politischen Bedingungen, mit sich herumzuschleppen hat. Hier paaren und reiben sich Mut mit Falschheit, Hilfsbereitschaft mit Heuchelei, Zärtlichkeit mit Zerstörungswut, unerklärliche Laune mit Vierjahresplan und so weiter und so fort. Scholochow malt dies alles breit, jedoch unaufdringlich aus. Er predigt oder schulmeistert nie. Manchmal vermisse ich sogar eine gewisse Nachdenklichkeit, etwas mehr philosophische Strenge, wie ich einmal sagen möchte. Was am Ende zurückbleibt, ist nicht Kurellas gescheiterter, dem Untergang geweihter Anti-Held des Buches, vielmehr der hilflose Autor des Buches. Das wildwuchernde, schaurig-schöne Leben hat sich als seinen Verstandeskräften überlegen erwiesen.

Gleichwohl zollt auch der skeptische Scholochow dem programmatischen »revolutionären« Rahmen Tribut, in den er eingespannt war. Er wahrt den Anschein; er stellt das offizielle Programm nie unverhohlen in Frage. In Wahrheit, das geht mir jetzt auf, müßte man den Weltverbesserungsdrang, den sogar etliche »Anarchisten« bekunden, nicht nur Kommunisten, Liberale und Philanthropen, als das Hauptübel aller PolitikerInnen brandmarken. Überall maßen sie sich an, dem Bruder, Kollegen, Mitbürger, Nachbarn, ja selbst den entlegensten Landstrichen das Heil zu bringen. Was haben Moskauer Bolschewisten am südlichen Don oder gar am Baikalsee zu suchen? Faktisch unterjochen sie dann die jeweiligen Kosaken oder Kalmücken, die sie gerade »befreit« haben. Das Hauptübel ist die Mißachtung des Selbstbestim-mungsrechtes. Entweder helfen sich die Leute da, wo sie gerade miteinander leben, selber – oder ihnen ist eben nicht zu helfen, so muß man das sehen. Sollen sie doch in ihren Sittenkorsetten verrecken, wenn sie es wünschen. Die von den »Roten« erzwungenen Kollektive sind mindestens genauso schlimm.

Daneben muß ich Scholochow auch einen gewissen Hang zur Volkstümelei ankreiden. Er bringt viel Verständnis für das befremdliche Naturell der Kosaken auf, zu denen er selbst gehörte. Sie können grausam, räuberisch, abergläubisch, säuferisch, frauen- , juden- und fremdenfeindlich sein bis zum Erschrecken, Scholochow dämpft es mit Samthandschuhen und Augenzwinkern ab und läßt dafür auch die eindrucksvollen Hochzeitsbräuche, die Blumenliebe und die Rührseligkeit der Kosaken nicht fehlen. Ihre Roheit zeigt sich übrigens schon daran, wie sie ihr Hausvieh behandeln. Liebevolle oder brüderliche Gesten ihrem treuen, feurigen Gaul gegenüber, der sie schon so oft aus dem Schußfeld ihrer Feinde trug, sind selten. Die junge Dunjaschka hat eine eilige Nachricht zu überbringen, muß aber trotzdem erst ihr Kopftuch suchen, da es sich für ein unverheiratetes Kosakenmädchen nicht schickt, mit losem, fliegendem Haar durchs Dorf zu rennen. Die Männer dürfen mehr. Dunjaschkas Bruder Grigori ist eigentlich mit Natalja verheiratet, die auch seine beiden Kinder zur Welt bringt. Doch er kommt immer wieder auf die schon erwähnte Nachbarin Aksinja zurück. Als er einmal länger im Frontdienst steht, läßt sich diese mit einem Gutsherrnsohn ein. Für dessen furchtbare Züchtigung durch den zurückgekehrten Grigori versteht dann Autor Scholochow Verständnis zu erwecken, obwohl Grigori selber die liebe Aksinja ihrem Gatten Stepan ausgespannt hat. Woanders – als am Don – nennt man so etwas Doppelmoral, um nicht schon wieder von Falschheit zu sprechen.

Es böte sich an, den Stillen Don mit Boris Pasternaks Shiwago zu vergleichen, aber das überfordert mich vielleicht. Im ausweichenden Zug nehmen sie sich nicht viel: beide Autoren vermeiden deutliche politische oder philosophische Stellungnahme. Pasternak kommt mir in sprachlicher Hinsicht vermögender und betörender vor. Im Vergleich mit ihm erzählt Scholochow gradlinig, chronologisch, ausgiebig – und etwas langweilig. Während Pasternak eher ein Skatblatt gibt (10 Karten), blättert Scholochow das ganze Spiel auf den Tisch. Er neigt zur Langatmigkeit. Insbesondere die vielen Schlachtenberichte stellen meines Erachtens fruchtlose Wiederholungen dar. Das gilt selbst für seine im einzelnen schönen Landschafts- und Milieuschilderungen – es ist immer wieder dasselbe. Das Werk im ganzen ist sowieso viel zu dick.

Ich will mich ersatzweise noch ein wenig mit Nachwort-autor Alfred Kurella befassen. 1895 als Sohn eines nieder-schlesischen Arztes und Psychiaters zur Welt gekommen, tritt Kurella nach einer schwärmerischen Wandervogelzeit schon 1918, in ihrem Gründungsjahr, als Aktivist der KPD auf. In Gustav Reglers Erinnerungen von 1958* kommt er nicht viel besser weg als Walter Ulbricht. Der ehrgeizige und »immer doppeldeutige« Münchener Studentenführer, Schriftsteller, Moskauer Komintern-Funktionär, Sekretär solcher berühmten Männer wie Barbusse und Dimitroff sei stets in erster Linie Agent und Polizist gewesen, was ihm, Regler, 1934 in Moskau auch Kurellas Bruder Heinrich bestätigt habe, der dann 1937 mit 32 Jahren als soge-nannter »Versöhnler« und angeblicher »Konterrevolutio-när« wahrscheinlich mit Billigung Alfreds erschossen wurde. 1956 war die SED schamlos genug, Heinrich Kurella, wie so manche andere Leichen, zu »rehabili-tieren«, ohne es den DDR-Bürgern auf die Nase zu binden. SED-Mitglied Alfred Kurella war zu dieser Zeit Literaturinstitutsleiter in Leipzig. Martin Schaad zufolge** hatte Kurella 1947 mit dem Propagandabuch Ich lebe in Moskau einen »traurigen Tiefpunkt« in seinem literarischen Schaffen erreicht; darin habe er die Terrorerfahrung im Exil schönzufärben und »sogar die Hinrichtung seines eigenen Bruders« zu rechtfertigen versucht (Schaad auf Seite 160). Später brachte es Kurella noch bis zum Sekretär der Kulturkomission beim Politbüro des ZKs in Ostberlin und damit zum obersten Kultur-funktionär der DDR. Er zählte bis zuletzt (gestorben 1975) zu den Einpeitschern des sogenannten Sozialistischen Realismus, obwohl er, laut Regler, zeitlebens an einem »Zungenfehler«, einer Sprechbehinderung also litt. Er geriet leicht ins Stottern. Regler erlebte das bereits 1918 in München mit, als er einmal gemeinsam mit Kurella durch die brodelnde, umkämpfte Stadt lief. Auf dem Stachus eine Volksmenge laut dazu auffordernd, Räte zu bilden und dabei hilflos die R's und die B's stammelnd, sei Kurella, zu Reglers Betretenheit, ausgelacht worden. 45 Jahre später ließ Kurella jenes Nachwort zu Scholochows Roman mit dem Titel »Von Schönheit und Härte, Grausamkeit und Größe der Revolution« versehen.

Zwar erwähnt auch Martin Schaad Kurellas Stottern, doch geht er darauf so wenig wie auf andere möglicherweise wunde Punkte des schlanken und eigentlich anziehend wirkenden Bürgersohnes ein, etwa Kurellas schmale, fast nach innen gestülpten Lippen, die ihm einen Strichmund bescherten, seine frühe Lungenkrankheit (Tuberkulose?), eine bei Schaad namenlose »uneheliche Tochter« (S. 160) und seine »dritte Ehefrau« Elfriede Cohn-Vossen (S. 119), die sich wohl 1938 mit Kurella verheiratet hatte. Deren Vorgängerinnen, darunter vielleicht Geliebte oder Angebetete, die sich nicht mit Kurella verheirateten, streift Schaad mit keinem Wort. Den Potsdamer Historiker scheint das gesamte Liebes-, ja Gemütsleben seines Untersuchungsgegenstandes kaum zu interessieren. Selbst Kurellas öfter erwähnten Wandervogel-Jahre sucht Schaad nie unter diesem Gesichtspunkt zu rupfen. Er beläßt es bei Kurellas naturmystischem, nach Erlösung dürstendem Begehren, in einem (Volks- oder wenigstens Partei-)Ganzen aufzugehen, das Kurella freilich mit zehntausenden anderen jungen Leuten teilte, die noch nicht einmal Kinder von Psychotherapeuten gewesen sein müssen. Im übrigen hat sich Schaad dem (angeblichen) Nachweis gewidmet, Kurellas um 1936 entstandener Roman Die Gronauer Akten (erschienen erst 1954) sei in erster Linie ein ausgefuchstes Unternehmen gewesen, sich bei den Moskauer Parteioberen, nach verschiedenen Vorwürfen und Bedrohungen gegen Kurella und dessen Amtsenthebung als Komintern-Mitarbeiter, wieder einzuschmeicheln und dadurch zu rehabilitieren. Das ist streckenweise spitzfindig, mal vergnüglich, mal langweilig – und vielleicht sogar richtig. Nur trägt es wenig zu der Frage bei, warum nun ausgerechnet auch dieser etwas schüchtern und doch geheimnisvoll wirkende blonde, blasse Wandervogel Kurella mit seinen scharfen Gesichtszügen keine andere Lebensmöglichkeit sah, als sich einer »großen Sache« zu verschreiben und dabei alle Kehrtwenden der Parteilinie getreulich mitzuvollziehen.

Laut Evelyn Lacina*** war Alfred Kurella immerhin viermal verheiratet, und zwar mit der Gymnasiallehrerin Margret Hahlo (Heirat 1920), der Pelzhändlertochter Walentina Nikolajewna Sorokoumowskaja (1930), der erwähnten Ärztin Elfriede Cohn-Vossen, die 1957 starb, und dann mit Sonja Matthäus (Sonja Kurella-Schwarz, 1958, geb. 1924, in der DDR zunächst Lehrerin, dann gleichfalls Kulturfunktionärin). Er habe fünf Kinder und drei Stiefkinder gehabt. Im Ersten Weltkrieg war der junge Kurella zunächst Freiwilliger – er wurde zweimal verschüttet und Pazifist. Von Lacina ist zu erfahren, 1916 habe der »seit seiner Kindheit« stotternde Soldat seine Sprechstörung dazu genutzt, sich als »Behinderter« »kriegsuntauglich« schreiben zu lassen. Klug genug, aus der Not eine Tugend zu machen, war er also schon immer gewesen. Kurellas zeitweiligem Sekretär Erhard Scherner zufolge**** (geb. 1929) verunglückte Cohn-Vossen bei einem Urlaub im Kaukasus. Die nächste und letzte Gattin Sonja (knapp 30 Jahre jünger als er) habe Kurella noch einmal »Vaterfreuden« beschert. In diesen DDR-Funktionärs-Zeiten sei Kurella stets von »Personen-schutz«, zwei Leibwächtern nämlich, begleitet worden. Selbst Scherner erwähnt Kurellas »gelegentliche Sprachstörungen«, die dieser demnach auch im Alter noch nicht losgeworden war.

1972, schon seit knapp 10 Jahren (von Ulbricht) kaltgestellt, erlitt Kurella einen Herzinfarkt – »die Kraft für einen umfassenden Lebensbericht war aufgezehrt«, schreibt Scherner. Schaad dagegen führt den Umstand, daß Kurella nie eine Autobiografie zustandebrachte, auf die unzähligen selbstbiografischen Versionen zurück, die Kurella im Laufe der Jahrzehnte bereits vorgelegt hatte, etwa für die Kaderabteilungen: sie alle widersprächen sich, er hätte sie niemals unter einen Hut bekommen.

Ich will noch einen Blick auf die erwähnte Pfarrerstochter und Ärztin Elfriede Cohn-Vossen (1909–57) werfen. Aufgewachsen in Thüringen und Sachsen, hatte sie den Kommunisten Kurella um 1938 kennengelernt und geheiratet. Mit diesem hatte sie zwei Kinder, Stefan und Brigitte. Vorher war sie mit dem Mathematiker Stefan Cohn-Vossen verheiratet gewesen, dessen Name sie beibehielt. Zuletzt Professor in Moskau, war der jüdische Wissenschaftler 1936 ebendort, wie es heißt, einer Lungenentzündung erlegen. Mit Kurella teilte die neue Gattin vielleicht die Vorliebe für den Kommunismus der sowjetischen Art, gewiß jedoch für das Wandern, und zwar insbesondere im Kaukasus. Das sollte ihr Verhängnis werden.

Nach Auskunft***** des gemeinsamen Sohnes Stefan Kurella, geboren 1939, hatte das Ehepaar bereits nach dem Krieg für einige Jahre im Kaukasus gelebt, wobei Cohn-Vossen in Ps'chu, Abchasien, ein Dorfkrankenhaus leitete. Später war die Familie, von Leipzig oder Ostberlin aus, regelmäßig in diesem wilden Riesengebirge Zelten und Wandern. Am fraglichen Julitag 1957 war man in der heutigen georgischen Region Chewsuretien unterwegs. »Von Djuta aus begleitete uns mit seinen Pferden Gigla Arabuli nach Archoti, wo wir vom Lyriker Guram Rtscheulischwili erwartet wurden, um gemeinsam im Dorf Achieli das bei den Chewsuren bedeutende Fest Athangena bzw. Athangenoba zu begehen. Knapp zwei Kilometer vor dem Dorf verunglückte Elfriede. Was geschah? Wir hatten den 3.286 Meter hohen Archotistavi-Pass hinter uns und stiegen in das Tal der Assa hinab. Meine Mutter ritt, ich folgte ihr zu Fuß. Der Pfad war tief in den steilen Hang geschnitten. Das Pferd hatte den Pfad verlassen, meine Mutter wollte absteigen. Genau in diesem Moment brach das Pferd mit den Hinterbeinen den Grassoden ab, auf dem es stand, bekam einen Schreck und rannte den Hang hinunter. Meine Mutter wurde Opfer zweier Fehler: ihr Bergschuh blieb im Steigbügel stecken und sie hatte die Zügel fallen gelassen (anstatt sie fest zu halten). So konnte das Pferd sie zu Tode schleifen.«

Die 48jährige wurde noch am selben Tag in der Unglücksgegend begraben. So hatten es seine Eltern auf Gegenseitigkeit für Unglücksfälle vereinbart, sagt Kurella. Der erwähnte Lyriker Guram Rtscheulischwili habe einen Bericht über den Vorfall verfaßt, der wiederholt auch im georgischen Rundfunk zu hören gewesen sei. Eine amtliche Untersuchung gab es sehr wahrscheinlich nicht. Schwester Brigitte weilte in jenem Sommer in einem Pionierlager auf der Krim, fällt also als Augenzeugin aus. Streng genommen, müssen freilich auch alle anderen Zeugen als mehr oder weniger befangen gelten, sodaß es nicht Wunder nimmt, wenn später unterschiedliche Versionen des Vorfalls und auch Gerüchte über Faulspiel umliefen. Ich persönlich halte Stefan Kurellas Darstellung für glaubwürdig, weil er seinem Vater, nach meinem Eindruck, eher kritisch gegenübersteht.

Guram Rtscheulischwili, geboren 1934, soll übrigens auch nicht mehr lange gelebt haben. Dabei war er noch keine 30, als er, wahrscheinlich 1960, bei einer berauschenden Party am Schwarzen Meer (angeblich) versuchte, einen trunkenen Freund vorm Absaufen zu retten. Dabei soll der Schriftsteller selber ertrunken sein. Belege für diese Geschichte nehme ich dankbar entgegen.

* Das Ohr des Malchus, bes. S. 98, 290, 510
** Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella, Hamburg 2014
*** Artikel in der Neuen Deutschen Biographie, Band 13 von 1982
**** »Junger Etrusker erteilt Unterricht. Eine Erinnerung an Alfred Kurella«, in Utopie Kreativ Nr. 201-202, Juli/August 2007
***** Brieflich im Februar 2016. Der Ethnologe Kurella aus Oranienburg macht sich seit Jahren für die ärmliche Kaukasus-Region Swanetien stark.




Sebastian, Mihail (1907–45), rumänischer jüdischer Schriftsteller, Autounfall? Meine Erwartung, mit seinem unlängst veröffentlichten Tagebuch aus der Zeit des Faschismus eine erheblich genießbarere Lektüre als die entsprechenden Aufzeichnungen von Victor Klemperer aufgestöbert zu haben, wurde enttäuscht. Beide Werke ähneln sich in vielen, ärgerlichen Zügen, voran die Langatmigkeit und die Flüchtigkeit. Daran konnte auch der Generationsunterschied nicht rütteln. Sebastian war rund 25 Jahre jünger als der Dresdener Romanistik-Professor, sodaß er das Wüten der einheimischen und deutschen Faschisten (Besatzung) in seinen Jahren um 30 erlebte. Im Brotberuf ursprünglich Rechtsanwalt, verlor er 1940 seine Anwaltslizenz und zudem einen Posten als Redakteur bei der Königlichen Stiftung, weil er außer Rumäne auch Jude war – »Saujude«, wie es damals gerne hieß. Sebastian wurde zu mehreren Wehrübungen und Arbeitsdiensten eingezogen, entging jedoch der Verschleppung. Zuletzt überstand er die wiederholte Bombardierung Bukarests durch die Alliierten im Frühjahr 1944. Ein Jahr darauf, kaum der Angst und dem Elend entronnen, kam er in der Hauptstadt, mit 37 Jahren, bei einem angeblichen Verkehrsunfall ums Leben.

In der Unschlüssigkeit und Wehleidigkeit nehmen sich beide Autoren vielleicht nicht viel, doch der stets unverblümt vorgebrachten Kritik Klemperers sowohl am Faschismus wie am Zionismus kann Sebastian selten das Wasser reichen. Im Grunde interessieren ihn die gesell-schaftlichen Verhältnisse gar nicht. Er ist Schlafwandler und Einzelgänger. Mit seiner Nachgiebigkeit, die er sich ein ums andere Mal selber vorwirft, erweist sich der aus bürgerlich-liberalem Hause stammende Rumäne ironischerweise als waschechter Jude. Ihr Seitenstück ist Sebastians Angewohnheit, sich mit Alkohol, Kino, Frauen, Musik »zu betäuben« und sich »aus all diesem Ekel und Widerwillen in kindische, ausführliche Tagträume« zu flüchten, wie er am 27. September 1941 notiert. Er hält sich für einen »Versager«; er sei nicht fürs Leben gemacht. So beklagt er in jedem dritten Eintrag, wie so vieles andere, auch seine Neigung zur Niedergeschlagenheit – bei der es Jahr um Jahr bleibt.

Dummerweise war er auch nicht so richtig für die Literatur gemacht. Gewiß kann Sebastian ein paar Romane veröffentlichen oder hin und wieder ein Stück im Theater unterbringen, doch der rauschende Beifall stellt sich bestenfalls vorübergehend ein. Er ist beileibe nicht so erfolgreich wie beispielsweise seine fragwürdigen Freunde Nae Ionescu, Mircea Eliade, Camil Petrescu. Immerhin wird er nicht wie sie. Trotz jener Duldsamkeit hat Sebastian nämlich nicht das Zeug zum Opportunisten, was ja das Karrieremachen sehr erleichtert hätte. Er bleibt seinen liberalen Überzeugungen und seiner Randposition treu. Allerdings bleibt er auch den genannten Personen und anderen »alten Freunden« treu, die sich nach Sebastians ungeschminkter, wenn auch zumeist kommentarlosen Darstellung im Tagebuch nur als sowohl eitle wie gemeingefährliche Strohköpfe bezeichnen lassen. Zu sehen, daß sich Sebastian nie dazu aufraffen kann, mit einem dieser Tintenfaßträger des Faschismus und des militanten Antisemitismus wirklich zu brechen, kommt für einen Leser wie mich schon beinahe Folter gleich. Petrescu, in jedem Lexikon als bedeutender Neuerer der rumänischen Literatur ausgegeben, biedert sich später auch erfolgreich den Kommunisten an. Ein widerlicher Kerl. Warum kam er nicht unter das Auto? Er starb 1957 mit 63.

Wie es aussieht, wird Sebastian ein glückliches Verhältnis zur Literatur vor allem durch seine ihm vom eigenen Naturell bereiteten Arbeitsschwierigkeiten erschwert. Er berichtet unablässig davon. Er findet keinen Anfang, bekommt Skrupel, schreibt zu langsam, stolpert vom Überschwang zum Selbstzweifel und wieder zurück. Möglichkeiten sich abzulenken, etwa durch »Ausgehen«, nimmt er so sicher wahr wie sie ihm kurz darauf Katzenjammer bereiten. Oft kann er nur schreiben, wenn er Bukarest verläßt, um sich als Feriengast am Schwarzen Meer oder in den Karpaten zu verschanzen. Sowohl die Ablenkungen wie die Reisen kosten natürlich Geld und sind ungeeignet, den schmal entlohnten Redakteur oder Hilfslehrer (an einer jüdischen Schule) aus seiner ständigen Geldnot zu führen. Dies alles wiederholt sich durch die Jahre gnadenlos, es ändert sich um keinen Deut, aber Sebastian schreibt es, im Tagebuch, trotzdem auf. Auch seine Erschöpfung und Schlaflosigkeit beklagt er immer wieder, ohne je zu bedenken, er könne auf diese Weise vielleicht dereinst die LeserInnen seines Tagebuchs ermüden. Ähnlich häufig erwähnt er Kopfschmerzen, Sehschwäche und andere gesundheitliche Beeinträchti-gungen, die ihm zusetzen. Man könnte vermuten, irgendwo nage ein Wurm in ihm, aber dazu sagt er nichts. Er bemüht sich auch nicht um eine ärztliche Diagnose.

Überhaupt kommt Sebastian ähnlich selten zu nennenswerten Erkenntnissen wie ich es, andernorts, schon Klemperer bescheinigt habe. Sie sind Tretmühlen-Protokollanten. Auch in stilistischer Hinsicht hat der Romancier und Dramatiker dem Wissenschaftler aus Dresden nichts voraus. Dabei hätte Sebastian, im Vergleich zu Klemperer, sicherlich die Muße gehabt, seinen Einträgen aus dem Abstand heraus durch Feilen etwas mehr Glanz und Tiefe zu verleihen. Er beläßt es dabei, sich auch die Flüchtigkeit seiner Tagebuch-Prosa immer mal wieder selber vorzuwerfen. Sebastians vergleichsweise große Geschütztheit geht übrigens auch aus dem Umstand hervor, daß er es – auf den 800 Seiten der deutschen Ausgabe von 2005 – nicht einmal für erforderlich hält, die Frage zu erörtern, ob er sich selbst und vor allem andere Personen durch dieses Tagebuchführen nicht fahrlässig gefährde. Selbst von einem Versteck für das Manuskript in seiner jeweiligen Wohnung ist nie die Rede. Im Gegensatz zum Fall Klemperer ist es mir ohnehin nicht immer ganz leicht gefallen, den angeblichen Ernst der Lage Sebastians nachzuvollziehen. Vielleicht liegt das nur an Sebastians unverschuldetem Pech, eine geballte Mischung aus zeitgenössischem Faschismus und allgemeinem jugendlichem Lebensüberdruß aushalten zu müssen. Er liebäugelt sogar mehrmals mit Selbstmord. Sein Eintrag vom 6. Dezember 1942 beginnt mit einer Klage über seine Lethargie und die Fadheit allen Geschehens. Es fehle ihm sogar »die Kraft zum Selbstmord, doch wenn ich eine geladene Pistole in der Hand hielte, würde ich vielleicht den Abzug drücken.« Ja, vielleicht … Sobald die Pistole vom Himmel fällt und ein Engel die Entschlußkraft zum Abdrücken mitliefert. Merkt der Mann nicht, wie lachhaft er sich aufführt und ausdrückt? Und wie vergeßlich er ist? Hat er doch erst im Februar desselben Jahres seinen Kollegen Stefan Zweig angepinkelt, weil sich dieser (in Brasilien) soeben umgebracht hat. »Er hatte kein Recht dazu, durfte es nicht tun.« Widersprüchlichkeit lasse ich mir ja gerne gefallen, aber naseweise Oberflächlichkeit nicht.

Ein erfrischender Widerspruch ergibt sich aus dem Vorwort des Herausgebers und Mitübersetzers der deutschen Ausgabe Edward Kanterian. Sebastians »sicheres Urteil« als jugendlicher Literaturkritiker für diverse einheimische Blätter leitet Kanterian aus der Tatsache ab, »so gut wie alle Autoren, die er besprach«, hätten »Eingang in den Kanon rumänischer Literatur gefunden«. Eben diesen, noch um berühmte Ausländer erweiterten Kanon wagt Sebastian später, im Tagebuch, wiederholt anzugreifen, weil die gleichsam amtliche Beweihräucherung seinem eigenen Urteil als Leser der betreffenden Autoren widerspricht. Selbst seine Bewunderung für Shakespeare ist nicht ungeteilt. »Was für ein kindisches, stellenweise sogar idiotisches Zeug!« entfährt es ihm am 13. Oktober 1941. Gemeint ist ein Stück, das im Titel das oberste Geschäftsprinzip der Kanterians bezeichnet: Viel Lärm um nichts.

Ob sich Sebastian bis zu seinem frühen Tod, der ihn auf dem Weg zu seiner Antrittsvorlesung als frischgebackener Literaturprofessor ereilte, trotz mancher Bedenken mit Plänen trug, sein Tagebuch früher oder später – in der einen oder anderen Form – zu veröffentlichen, geht weder aus diesem selber noch aus dem Vorwort des Philosophieprofessors aus Kent, GB, hervor. Wenn ja, hätte es Sebastian möglicherweise noch einmal gründlich im Geiste Jules Renards bearbeitet, den er sehr schätzte. Aber das ist Spekulation. Tatsache dagegen ist, seine wohl in Paris lebenden (und darbenden) Erben entschlossen sich zu einer Veröffentlichung des Tagebuchs in der vorliegenden Form. Man sollte sie einmal fragen, ob sie sich vielleicht noch an Sebastians Eintrag vom 25. September 1941 erinnern könnten: Dieses Tagebuch ist ziemlich nutzlos. Ich lese es manchmal durch, und das Fehlen einer jeglichen Tiefe ernüchtert mich. Ereignisse ganz ohne Gefühl, ohne Glanz und Ausdruck aufgezeichnet. Nirgends sieht man, dass all dies ein Mensch schreibt, der tagtäglich, stündlich den Tod neben sich, in sich spürt. Ich fürchte mich vor mir selbst, fliehe vor mir selbst, gehe mir aus dem Weg. Ich drehe lieber den Kopf in die andere Richtung, wechsle das Thema. Nie fühlte ich mich älter, glanzloser, lustloser, ganz ohne Jugendlichkeit. Zerrissene Saiten, zwecklose Gesten, nichtssagende Phrasen.

Angeblich war Sebastian »von einem Lastwagen erfaßt« worden. Zu erforschen, warum und wie, fehlt den Damen und Herren Literaturwissenschaftlern offenbar die Zeit. Oder das Geld. Oder die Lust.



Seidel, Alfred (1895–1924). Der Heidelberger »Philosoph«, wohl eine Art mehr links kauender Vorkoster von Ludwig Klages' bekanntem Schinken Der Geist als Widersacher der Seele (1929–32), ist heute fast vergessen. Kaum hatte er sich sein sendungsbewußtes, wenn auch allem Anschein nach wenig originelles Werk Bewußtsein als Verhängnis abgerungen und dessen Veröffentlichung sichergestellt, verständigte er, knapp 30 Jahre alt, den mit ihm befreundeten Psychiater Hans Prinzhorn: »Wenn Sie diesen Brief erhalten, lebe ich nicht mehr …« Das soll im Oktober 1924 gewesen sein. Leider sind zumindest im Internet weder genaue Lebensdaten noch Einzelheiten des Ablebens zu haben. Hans-Dieter Schütt* weiß aber immerhin, der vermutlich unablässig grübelnde »Wandervogel« Seidel habe Ernst Bloch verehrt und sich mit »Depressionen« abgeqält.

Was hätte noch aus ihm werden können! Vielleicht ein Systematiker. Das ist das häufigste Schicksal unter Philosophen, wenn ich mich nicht täusche. VertreterInnen der Minderheit dagegen, etwa Alain, Adorno, Friedrich Georg Jünger, sind wiederholt für ihr unsystematisches Denken gerügt worden. Man hätte ihre Sicht auf die Welt lieber wie einen Stammbaum a lá Darwin oder eine Apothekenschrankwand mit lauter Schubladen vor sich gehabt. Der vom erwähnten Holzhammerphilosophen Ludwig Klages nicht unbeeinflußte Sachse Hermann Schmitz, geboren 1928, ist diesem Vorwurf tatsächlich noch zuvorgekommen, indem er zwischen 1964 und 1980 sein 10bändiges System der Philosophie vorlegte. Es umfaßt rund 5.000 Seiten. Es soll sogar schon schulbildend sein. Schmitz kreist nicht um Krieg oder Lüge, sondern um einen menschlichen Leib, der weit genug aufgefaßt ist, um darin den epochenumfassenden Dualismus Leib/Seele zu schlichten und auch noch alles andere unterzubringen, das ein hellwacher Kopf zu berücksichtigen hat, Göttliches eingeschlossen.

Trotzdem fanden die Alains, Adornos, F. G. Jüngers, Systeme seien zu eng. Sie verleiten zu einem bestimmten Blickwinkel, der zuviel Dunkel unbeleuchtet läßt. Sie unterbinden Überraschungen, weil man nur nach dem sucht, was man finden möchte, beispielsweise den Ruhm. Man möchte vor allem recht behalten. Philosphische Systeme sind immer nur Rechtfertigungen ihrer Anlässe und Strukturen, also dessen, was in ihnen angelegt ist. Was nicht hineinpaßt, wird unweigerlich zurechtgebogen. Was zu sperrig, zu widersetzlich ist, fällt unter den Tisch. Andererseits erzwingen sie trotz ihrer Enge Wucherungen, die völlig unfruchtbar, aber zur Stützung des Systems unabdingbar sind. Ein jüngeres Beispiel dafür stellt Canettis Werk Masse und Macht von 1960 dar.

Allerdings kann der Verzicht auf Systematik auch eine billige Ausrede darstellen, wie ich einräumen will. Der Literaturbetrieb wimmelt von Faulpelzen, Strohköpfen und Scharlatanen, die sich begierig Ilse Aichingers Bemerkung aus Schlechte Wörter an den Bildschirmrand ihres Computers geklebt haben, niemand könne von ihr verlangen, Zusammenhänge herzustellen, solange sie vermeidbar seien. Einen Zustand im Chaos zu belassen ist sicherlich oft bequemer als der Versuch, ihn zu ordnen. Bei Hochwasser, das einem schon den Kragen näßt, wird es freilich unbequem. Man wird sich zumindest nach einem Elfenbeinturm umsehen. Ruft die Regierung gar eine »Pandemie« aus, die jenen Themen Krieg und Lüge verpflichtet ist, wird man vielleicht doch die Ärmel aufkrempeln, um sich durch die Müllhalde sogenannter Öffentlicher Meinung zur Wahrheit vorzuarbeiten.

* »Denken ohne Geländer«, Neues Deutschland, 30. Juli 2015: https://www.nd-aktuell.de/artikel/979481.denken-ohne-gelaender.html



Seiwert, Franz Wilhelm (1894–1933), linker Bildender Künstler. Sein Tod mit 39 Jahren geht auf ein frühes Unglück zurück, das den Sohn eines Kölner Postbeamten ebendort mit sieben Jahren traf. Damals wurde er Opfer einer unsachgemäßen, wenn nicht sogar grob fahrlässigen Röntgenbestrahlung, die ihm schwere Verbrennungen am Kopf eintrug. Auch eine hartnäckig eiternde Wunde blieb an seinem Kopf zurück. Im Sommer 1933 erlag er den Folgen. Immerhin blieb ihm dadurch die Verfolgung als »entarteter« und linksradikaler Künstler erspart, hatte er sich doch im Laufe des Ersten Weltkrieges, zu dem er aufgrund jener Schädelwunde nicht eingezogen worden war, dem »Expressionismus«, um 1920 dann dem »Konstruktivismus« und zugleich dem Kommunismus oder Anarchismus verschrieben. Er war, bevor dieser untertauchte, mit Ret Marut befreundet, der im allgemeinen hinter dem bekannten (amerikanischen) Schriftsteller-Pseudonym B. Traven vermutet wird. Seiwert lieferte unter anderem sowohl Grafiken wie Texte für die Berliner Zeitschrift Aktion. Ende der 20er Jahre wurde er durch einige Ausstellungen und Ankäufe durch Museen sogar im Ausland bekannt. Seine »gebauten« Gemälde erinnern an zumeist bunte Glasfenster oder Holzschnitte. Und obwohl die dargestellten klobigen Arbeiter, Bürger, Polizisten als einfache, auch flache Automaten erscheinen, wirken diese Gemälde keineswegs Grusel erregend, eher belustigend oder jedenfalls gefällig. Dieser Kontrast zur eigenen Leidensgeschichte ist schon seltsam. Seiwert starb (1933) nach neuerlichen, vergeblichen Heilversuchen im Kölner Israelitischen Krankenhaus.* Ein postmodernes Auktionshaus wäre ihm vermutlich lieber gewesen. Lempertz in Köln hat unlängst einige noch verfügbare Seiwert-Gemälde für Preise zwischen rund 30.000 und 330.000 Euro losgeschlagen, pro Stück.

* Seiwerts Fall illustriert erschreckende Befunde, die Reuther auf S. 245 streift. Vor 1935 seien »Tausende von Ärzten, Forschern und Patienten« Todesopfer des kritiklosen Umgangs mit den 1895 entdeckten Röntgenstrahlen geworden, von Verbrennungen, Haarausfall und Augenproblemen zu schweigen.



Serge, Victor (1890–1947). Im Zusammenhang mit Straßennamen erwähnte ich kürzlich andernorts seine Ansicht, die Bedeutung von Personen in der geschicht-lichen Entwicklung – und entsprechend in Romanen – werde meist überbewertet. Ihn habe die individuelle Existenz immer »nur als Funktion des großen kollektiven Daseins« interessiert, »dessen mehr oder weniger mit Bewußtsein begabten Teilchen wir sind«, heißt es dazu auf Seite 294 seiner Memoiren. In der Tat, Geschichte wird nicht vorwiegend von Personen, vielmehr von Bewegungen und Strukturen gemacht. Freilich dürfte der russisch-französische Schriftsteller keineswegs den wichtigen Anteil abgestritten haben, den jede Persönlichkeit an der Art hat, wie der betreffende Mensch in die Welt blickt oder sie gar zu verändern sucht. Im Gegenteil mischen sich etwa persönliche Vorlieben, Abneigungen, Vorurteile und jede Menge Irrationalitäten ein, die einem selber oft gar nicht bewußt sind, sofern man sie nicht wohlweislich ausklammert.

Bei Serge zum Beispiel wird mir durch seine unbedingt empfehlenswerten, um 1943 im mexikanischen Exil verfaßten Erinnerungen eines Revolutionärs nicht klar, ob sein Vater eher liebevoll und liebenswert oder aber eher ein Arschloch war. Auch der Vater war schon Revolutionär gewesen. Zur Flucht aus dem zaristischen Rußland gezwungen, hatte er fortan, trotz vielseitiger Begabungen und Interessen, seine Familie in Belgien als »armer Universitätslehrer« über Wasser zu halten. Seine zweite Gattin soll zu Hysterie geneigt haben. Victor, 1890 in Brüssel geboren, eiferte dem Vater jedenfalls im Aufbegehren nach. Er verschmähte ein Studium, für das sowieso kein Geld da war, ernährte sich als Gelegenheitsarbeiter und schloß sich verschiedenen anarchistisch gestimmten Banden an. »Ich will kämpfen, wie du dein ganzes Leben lang gekämpft hast«, habe er sich damals gesagt (S. 15). »Du bist geschlagen, das sehe ich wohl. Ich will versuchen, mehr Kraft oder mehr Glück zu haben.« Aber von dieser Jugendzeit hat er mehrere Jahre in Kerkern zu schmachten. Sein erstes Buch erscheint unter dem Titel Menschen im Gefängnis. Später, in seiner SU-Zeit, werden die Manuskripte seiner stets anstößigen Aufsätze und Bücher nach Westeuropa geschmuggelt und ausschließlich dort veröffentlicht.

Als er 1947 in Mexiko City einem Herzanfall erlag, wie es meist heißt, war er keine 57 Jahre alt. Vermutlich starb er eher an seinem ganzen entbehrungsreichen und aufreibenden Leben. Der bolschewistische Umsturz in Rußland von 1917 übte trotz mancher Bedenken einen starken Sog auf ihn aus; er siedelte um. Streckenweise war er, meist in Petrograd tätig, enger Mitarbeiter von Sinowjew und Trotzki. Die Ernüchterungen ließen nicht lange auf sich warten. Schon die Niederschlagung des anarchistisch geprägten Kronstädter Aufstands (März 1921) hatte er nur mühsam geschluckt. Jetzt wird er zunehmend »von oben« geschnitten. Trotzdem hält er »der Revolution« mit erstaunlicher, vielleicht sogar idiotischer Hartnäckigkeit die Stange. Als Mitstreiter der schmalen linken Opposition versucht er das Schlimmste zu verhüten. Bevorzugungen lehnt er ab; er neigt ohnehin zur Askese. 1933 wird es den Partei- und Geheimdienstbossen zu viel: Sie lassen Serge festnehmen und verbannen ihn nach Orenburg im Ural. Nach drei Jahren darf er, dank etlicher westeuropäischer, zum Teil prominenter FürsprecherInnen, seine Staatsbürgerschaft an den Nagel hängen und wieder nach Brüssel und Paris gehen. Er wird von seiner Frau Liuba und zwei Kindern begleitet.

In einem 2007 veröffentlichten Artikel* beklagt Birgit Schmidt zurecht, Serge berichte so gut wie nie von Liuba, ja von Privatem überhaupt. Diese Aussparung liegt allerdings auf der eingangs erwähnten Leitlinie, die dadurch womöglich in etwas fragwürdiges Licht getaucht wird. Immerhin erwähnt Serge, während der Verbannungszeit habe ihn Liuba damit erschreckt, in einem Medizinischen Lexikon den Artikel Wahnsinn auf ihre Symptome hin zu studieren. In der Tat kam sie nun öfter in psychiatrische Behandlung. Bald nach der Übersiedlung wurde sie offenbar für dauernd in einer Anstalt für Geisteskranke untergebracht. Die gemeinsame Tochter Jeannine, wohl 1935 geboren, wurde in dieser Zeit, laut englischer Wikipedia, von einem Ehepaar auf dem Lande betreut. Sohn Wladimir dagegen (1920–2005) blieb bei dem Vater. Er brachte es in Mexiko zum anerkannten Kunstmaler. Während Liuba bis zu ihrem Tod im Jahr 1985 in Frankreich verblieb, wurde Jeannine 1942 von Serges neuer Gefährtin (wohl ab Paris 1937) Laurette Séjourné nach Mexiko gebracht, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2011 gelebt haben soll. Dem englischen Lexikonartikel zufolge war Laurette Séjourné (1911–2003) Archälogin und geschieden. Nachgereist, verheiratete sie sich mit Serge, der schon 1941 ins mexikanische Exil gegangen war. Sie mauserte sich zur anerkannten Altamerikanistin. Nach Serges Tod soll sie der mexikanischen KP beigetreten sein. Auch Schmidt erwähnt die Zureise mit Tochter Jeannine. Nur ist von der Tochter rein gar nichts zu erfahren.

Fotos zeigen Serge als mittelgroßen, bartlosen Mann mit beinahe klobigem, wenn auch schmallippigem Schädel. Ausgeprägte Wangenknochen verraten seine slawische Herkunft. Trotz seiner randlosen Brille glaubt man gern, daß er während der verheerenden sowjetischen Hungersnöte kurzzeitig als Landkommunarde nördlich von Petrograd die Mistgabel schwang. Die Kommune wurde oft bestohlen. Später, von Paris aus, machte sich Serge vor allem für die spanische Revolution stark – die nicht unbeträchtlich von der herrschenden SU-Clique verkauft und verraten wurde. Um 1938 sei er womöglich »der meistbeschimpfte Mann der Welt« gewesen, bemerkt Serge auf Seite 369. Wie sich versteht, feuerten auch Moskaus westeuropäische Vasallen aus allen Rohren. Während des Spanienkrieges hält Serge zur POUM, die als »trotzkistisch« verschrien war. In deren Truppen kämpfte auch George Orwell mit. Doch mit Rechthaber Trotzki überwirft sich Serge bald nach Francos Sieg von 1939. Jedenfalls angeblich (S. 392).

Das Verhältnis zwischen Serge und Trotzki ist fast ein tragikomisches Kapitel für sich. »Der Alte« scheint eine Art Übervater Serges gewesen zu sein. Während Serge nach meinem Eindruck gleichsam immer nur unfreiwillig, von seiner dogmatischen oder jedenfalls antiquierten Revolutionsauffassung erzwungen auf Seiten der »Sowjetmacht« stand, dürfte Leo Trotzki (1879–1940) die Nähe zur Gewalt geradezu geliebt haben. Als Chef der Roten Armee gewann er Kriege, verdiente sich durch die Niederschlagung jenes bereits erwähnten berühmten antibolschewistischen Aufstandes Emma Goldmans** Titel »Schlächter von Kronstadt« und duldete das Wüten der Geheimpolizei Tscheka/GPU, dem er dann selber zum Opfer fiel, nachdem er sich mit Stalin überworfen hatte. Laut französischer Wikipedia beschimpfte Trotzki 1939 in einem Aufsatz Serges »Moralismus« als Brücke, die »von der Revolution zur Reaktion« führe. Trotzki war eisenhart, während Serge die Freiheit und die Würde des einzelnen Menschen, ob Funktionär oder Bettlerin, doch immer über alles ging – selbst die Partei- und Staatsräson. Trotzki liebte, neben der Gewalt, den Ruhm, wobei er auch dabei schlau genug für Tarnung war. Serge erwähnt, um 1920 sei Trotzki gern »in einer Art weißer Uniform ohne Abzeichen« aufgetreten. Freilich ist Serge im Hinblick auf sein in die Macht verliebtes Vorbild gespalten. Einerseits räumt er ein, gegen den »eher autoritären« Trotzki sei Lenin geradezu »zutraulich« gewesen. Viele kritische Geister hätten Trotzki »bewundert, ohne ihn zu lieben«. Aber er preist auch Trotzkis politischen Spürsinn, also sein Kalkül, reiht ihn unter die »Generation der Riesen« ein und bescheinigt ihm, er verstehe »ein großes Schicksal« meisterlich zu tragen. Da kann man schon befürchten, der Trieb des Menschen, »Größe« zu verehren, also Überlegenheit, Kraft, Macht, sei wahrscheinlich unausrottbar. Jedenfalls kommt mir Serges angeblicher »Bruch« mit seinem Lehrmeister und Ziehvater Trotzki reichlich spät und nicht wirklich radikal vor.***

In seinen letzten Jahren verfaßte Serge sogar noch ein Buch über Trotzki, wohl erst 1951 veröffentlicht, das ich allerdings nicht kenne. Vermutlich blieb er darin sowohl seiner Verehrung wie seiner Abkehr von den jugendlichen anarchistischen Wurzeln treu. Das »Ich« sei ihm zuwider, lese ich auf Seite 56 seiner Memoiren, »als eine leere Selbstbehauptung, in der ein großer Teil Illusion und ein ebenso großer Teil Eitelkeit oder ungerechter Hochmut« stecke. Er ziehe es vor, vom »Wir« zu sprechen, das sei allgemeiner und wahrer. »Man lebt niemals nur aus sich selbst, für sich selbst. Man darf es auch nicht versuchen.« Selbst unser intimstes Denken sei tausendfach an das Denken der Menschen geknüpft. »Und wer spricht, wer schreibt, ist vor allem einer, der für all die anderen spricht, die keine Stimme haben. Nur muß jeder von uns sein eigenes Problem selbst lösen.«

Nach Christoph Jünke (2014) erlitt Serge den erwähnten unerwarteten Herzschlag in Mexiko City beim Einsteigen in ein Taxi. Er sei tot zusammen gesackt, ehe er sein Fahrtziel nennen konnte. Diesen Taxi-Tod soll bereits POUM-Chef Julián Gorkin (1957) bestätigt haben, der mit Serge befreundet war. Demnach lag kein Anschlag vor. Serge, ohnehin stark leidgeprüft, habe anscheinend auch das Hochlandklima nicht vertragen. Gleichwohl spricht die französische Wikipedia von »verdächtigen Umständen«, ohne dafür, zum Beleg, mehr als genau die gleiche Behauptung aus einem US-Blatt von 2001 anzuführen. Die Arbeiten über Serge, die das Internet-Lexikon ganz unten angibt, führen womöglich weiter.

* https://www.jungle.world/artikel/2007/46/wenn-stalin-sich-entschlossen-hat
** Living My Life, New York 1931, deutsche Ausgabe Hamburg 2010, S. 811. Die russischstämmige Anarchistin aus den USA hatte sich zur Aufstandszeit, 1921, in Sankt Petersburg aufgehalten.
*** Zu Trotzki siehe in Serges Erinnerungen eines Revolutionärs, Hamburger Ausgabe von 1991, besonders die Seiten 119, 161, 236, 392, jeweils ff




Shrimad Rajchandra (1867–1901), indischer Guru aus dem späteren Bundesstaat Gujarat, wohl dem Hinduismus nahestehend. Erstaunlicherweise soll er bereits mit 10 öffentliche Vorträge gehalten, mit 20 geheiratet (vier Kinder) und zeitweise mit Edelsteinen gehandelt haben. Eigentlich vertrat er, wenn ich richtig sehe, mehr den Weg der Entsagung. Sein Hauptwerk Atma Siddhi verfaßte er mit 28. Darin dürfte auch der junge Mahatma Gandhi viel Erleuchtung gefunden haben, der überall als wichtiger Schüler Rajchandras erwähnt wird. Spätestens um 30 soll sich Rajchandra vom Familien- und Handelsleben abgewandt haben. Ein verbreitetes Foto zeigt ihn vermutlich aus dieser Spätzeit – ein Skelett im Schneidersitz. Nach verschiedenen Quellen litt er an verschiedenen Krankheiten, die sich allerdings durchweg nach Auszehrung anhören. Am 9. April 1901 soll »er«, der 33jährige, »seinen sterblichen Körper verlassen« haben, wie offensichtliche VerehrerInnen in der bekanntlich stets unparteilichen englischen Wikipedia schreiben.

Wenn die Menschen aller Kasten und Klassen durch eins verbunden werden, dann ist es ihr nachsichtiger Umgang mit allem, was sich religiös oder spirituell gebärdet. Ob Faschist, Bundestagsabgeordneter, anarchistischer Kommunarde oder Rubikon-Redakteur – vor dem religiös oder spirituell Gefärbtem verneigt er sich. Mit so Gestimmten darf man es sich nicht verderben, sonst würde man möglicherweise die eigene Wiedergeburt gefährden. Diese schleimige Nachsicht hat vermutlich bereits angefangen, als die ersten Fische daran schritten, zwar nicht ihren Körper, aber doch schon das Wasser zu verlassen.

Hier kann sich Brockhaus (Band 8 von 1989) nicht ausnehmen. Damit komme ich auf Rajchandras Schüler Gandhi zurück. Neben der asketischen Lebensweise sei Gandhi »seit seiner Kindheit von hoher Religiosität« bestimmt gewesen. Hut ab also: der Mann war hoch religiös! Aber er war bekanntlich auch Politiker. Im Zweiten Weltkrieg habe Gandhi die sofortige Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit gefordert und »die auf Verzögerung angelegten Pläne der britischen Regierung zum Scheitern« gebracht. Merkwürdigerweise liest sich das in Arthur Koestlers ausführlichem Gandhi-Porträt von 1969* genau umgekehrt. John Grigg und andere hätten bewiesen, ohne Gandhi wäre die Unabhängigkeit Indiens sogar noch sehr viel früher gekommen (S. 168). Das erinnert an Henry Kissinger, von dem man uns etwas später vorgaukeln würde, er habe geholfen, den Vietnamkrieg abzukürzen. Das Gegenteil war der Fall. Aber es erinnert auch an Hunderte von anderen Dunkelmännern der Epoche, die als Lichtgestalten gemalt werden, ich sage nur John F. Kennedy, Willy Brandt, Joschka Fischer. Die interessierten LegendenbildnerInnen dieses Planten haben die wirksameren Waffen; dagegen hilft keine »Gewaltlosigkeit«, um erneut auf Gandhi zurück zu kommen. Selbstverständlich findet sich Koestlers kritischer Aufsatz nicht in der Literaturliste, die Brockhaus gibt. Nach Koestler war Ghandi, gestorben 1948 (kurz nach der Unabhängigkeit), sicherlich überwiegend von lauteren Absichten geleitet, dennoch der typische vernagelte, fanatische Patriot und Rechthaber, der in ungefähr 90 Prozent der männlichen Zweibeiner unseres Planeten wohnt. Seit Fischer kommen vermehrt Frauen hinzu.

Ich sage nur nebenbei, daß mir einige Abneigungen von Gandhi durchaus zusagen, etwa gegen den westlichen Schul- und Bildungsbetrieb. Koestler rügt diese Abneigung natürlich. Der britische Freund von Orwell besaß eine gleichsam religiöse Ehrfurcht vor dem Wissenschafts-betrieb und allen Akademikern, die ihn nie so richtig als Gleichrangigen erachten konnten, obwohl er doch ein weltberühmter Schriftsteller war. Im Grunde war er noch der christlich-kommunistischen Fortschritts-Ideologie verfallen – ähnlich wie Orwell, und möglicherweise sogar mehr als Gandhi. Das soll nicht an Koestlers Begabung rütteln, Widersprüche und Selbsttäuschungen aufzudecken – bei anderen …

* »Mahatma Gandhi – der Yogi und der Kommissar«, in: Die Armut der Psychologie, deutsche Ausgabe Bern 1980, S. 141–79



Shub, Luca († 2001), das vierte, jüngste und letzte Kind des bekannten Pantomime-Clowns Peter Shub. Der Vierjährige hatte im Sommer 2001 im Innenhof-Restaurant des Alten Rathauses Hannover mit Familie Shub gespeist. Als er seine Pizza verdrückt hatte, stand er auf und ging zu einer offenbar recht großen und schweren Skulptur, die in der Nähe stand. Als er sie angefaßt habe, so der Vater später, sei sie umgekippt und habe den Jungen erschlagen. Die Skulptur sei nicht gesichert gewesen – was der aus den USA stammende Clown »für Deutschland erstaunlich« fand.*

Es ist genauso schwer, einen solchen krassen Vorfall nicht zu kommentieren wie ihn zu kommentieren. Aber vielleicht ist es auch überflüssig, ihn zu kommentieren. Shub, geboren 1957 in Pennsylvania, führe uns »mit winzigsten Details« vor, »wie Freude, Missgunst oder falsche Fährten entstehen«, lese ich bei Stuttgart Live in der Ankündigung eines erst im kommenden März (2022) stattfindenden Auftrittes. Ich fürchte fast, die riesige falsche Fährte, die mit Masken, Impfpässen und den entsprechenden Einlaßkontrollposten gepflastert ist, wird von Shub lieber ausgespart. Immerhin liegt ein gewisser Trost darin, daß heutzutage überhaupt noch Komiker-Innen auftreten dürfen. Zwar hatte eine jüngere Phase der Postmoderne um 1990 als »Spaßgesellschaft« von sich Reden gemacht, aber das ist 30 Jahre her. Es ist vorbei. Heute wird im Gegenteil alles unternommen, um den zweibeinigen Bewohnern dieses Planeten das Kichern, Lachen und Tanzen auszutreiben. Man möchte nur noch vor Angst schlotternde, mißgünstige, bösartige Schafs-köpfe. Allerdings lassen sich das noch nicht alle gefallen, wie etwa Danser Encore zeigt, ein mitteleuropäisches Flashmobstück von 2020/21.**

Mich hat leider noch niemals einer als Komiker gelobt oder auch nur bezeichnet. Vielleicht steht dem meine Vorliebe für die Humor-Unterabteilung »Sarkasmus« entgegen. Von dieser Vorliebe wußten Sie gar nichts? Na, dann erlaube ich mir einmal ein Beispiel aus meinen Miniaturen Vor der Natur anzuführen, das einmal Maximilian Zander hervorstrich. »Vorausgesetzt, in jedem Gewitter offenbare sich Gottes Allmacht«, heißt es im Stück Lichtenberg, »wären die Blitzableiter, die wir auf unseren Kirchen anbringen, ein Ausdruck göttlicher Selbstironie.« Dieser Gedankenblitz dünkte Zander »noch tiefer und sarkastischer als Lichtenbergs Funke«, auf den mein Miniaturtitel anspielt. Spricht Brockhaus bei Sarkasmus von bitterem Hohn und beißendem (verletzendem) Spott, verschweigt er wohlweislich, daß der von mir vertretene Sarkasmus zwar öfter Gott oder den Papst, nie dagegen Genossen trifft. Er setzt nie ein armes Schwein herab, sitzt es doch sowieso schon in der Scheiße. So etwas lieben nur die ZynikerInnen in »rotgrünen« Parteivorständen oder bei Bild, Spiegel, taz. Der Sarkasmus greift immer (selbsternannte) Götter an.

Gewiß können sich solche auch hinter Genossenlarven verstecken. Um Mitternacht bekommt Victor Serge Besuch von der GPU – Hausdurchsuchung. Bei seinen Leninübersetzungen stutzen die Leute. »Beschlagnahmen Sie die auch?« fragte ich ironisch. »Machen Sie keine Witze«, erwiderte der eine, »auch wir sind Leninisten.« Vortrefflich; wir Leninisten waren unter uns.

Ich vermute weiter, beim Sarkasmus müsse stets der Tod als der schrecklichste Gott im Spiel sein. Daher die Nähe zum Galgenhumor. 1984 verübte die IRA einen Bombenanschlag auf das Parteitagshotel der britischen Konservativen in Brighton. Industrieminister Norman Tebbit kam schwerverletzt ins Krankenhaus. Vor der Narkose nach Allergien befragt, erwiderte Tebitt: »Bomben.«

* »Scheitern ist verpönt«, Hinz & Kunzt (Hamburg), 21. Februar 2016: https://www.hinzundkunzt.de/scheitern-ist-verpoent/
** Hier in Berlin: https://www.youtube.com/watch?v=v8ZA9DUMvXI




Shūsaku, Hon'inbō (1829–62), japanischer Berufs-Go-Spieler, Opfer einer Cholera-Epidemie mit 33. Der Kaufmannssohn galt früh als Wunderkind in diesem Brettspiel für zwei Personen, das zwar ähnlich wie Schach weiße und schwarze Steine hat, aber ungleich komplexer sein soll.* Später zählte Shūsaku zu den zeitgenössischen Spitzenspielern und stand einer Go-Schule vor. Ohne die Epidemie wäre er sicherlich steinreich geworden. Gegenwärtig leistet sich Japan rund 500 Profis, die von Preisgeldern, Unterrichtshonoraren und vermutlich, wie überall, Werbeeinnahmen leben.

Denkt man einmal unhonoriert darüber nach, hat dieser Planet einen Zweibeiner hervorgebracht, der seit der Einläutung von Zivilisation und Geldwirtschaft unter 1.000 möglichen Betätigungen garantiert 990 findet, in denen er es zu ungeahnter Vervollkommnung und Vermarktung bringen kann. Die Betätigung mag aberwitzig sein wie sie will, Hauptsache optimierungsfähig und einträglich. Ob Geigenbogen, Marderhaarpinsel oder Billardstöcke im Spiel sind oder einer lediglich in 30 Sekunden des Kopfrechnens sämtliche ungeraden Hausnummern des Erfurter Juri-Gagarin-Rings zusammenzählt – der Rubel rollt. So wird Unterhaltungs-wert zum Unterhalt, artistisches Vermögen zu statistischem Vermögen. Man wende nicht ein, auf meiner Schweinsblaseninsel, die keine Warenproduktion kennt, freue man sich doch auch, wenn eine aufgrund ihrer Geschicklichkeit bei einem Jagdausflug mit Pfeil und Bogen statt zwei drei Hasen erlege oder wenn die Kartoffeln im Acker einmal besonders dick geraten seien. Die Steigerung führt dort nicht zu mehr Verdienst. Wachsen die Kartoffeln nur mäßig, ist die Insel groß genug, um einen zweiten Acker anzulegen. Gewiß dauert dann die Ernte länger – aber eins hat man dort im Übermaß: Zeit. Allerdings pflegt man diese kaum für ausgesprochen fruchtlose Vervollkommnungen zu verplempern. Man ist sich dort darüber im Klaren: weder Gosteine noch Billardstöcke lassen sich notfalls essen.

1988 gewann der gebürtige Bremer Hans Pietsch (1968–2003) die deutschen Go-Meisterschaften. Zwei Jahre darauf brach er sein Sinologiestudium ab und ging nach Japan, um sich unter Shūsakus NachfolgerInnen einzureihen. Er brachte es zum einzigen deutschen Mitglied des japanischen Go-Berufsverbandes, wurde freilich nur ein Jahr älter als der Altmeister. Anfang 2003 auf »Promotion«-Tour in Mittelamerika unterwegs, tauchten auf einem Parkplatz am Amatitlán-See bei Guatemala-City zwei bewaffnete Räuber auf. Offenbar erschossen sie den 34jährigen, obwohl er keinen Widerstand geleistet hatte, wie zwei Kameraden berichteten, die bei dem Raubüberfall nur ihr Geld und andere Wertsachen verloren.**

Nach Krautscheid ist Go kein Kriegsspiel. Man trachte nach einem (siegreichen) Übergewicht, ohne dabei den Gegner zu vernichten und das grundsätzliche Gleichge-wicht der Kräfte zu zerstören. Go trainiere Tugenden wie Geduld, Fairneß, Vorstellungsvermögen und Scharfsinn. Für die Räuber kam wahrscheinlich nur das letzte in Betracht. Ob sie gefaßt wurden, kann ich nicht feststellen.

* Christiane Krautscheid, »Go ist nicht einfach ein Spiel ...«, Berliner Zeitung, 1. April 2000: https://www.berliner-zeitung.de/go-ist-nicht-einfach-ein-spiel-es-ist-eine-uralte-asiatische-kulturtechnik-doch-es-droht-eine-beschaeftigung-der-alten-maenner-zu-werden-das-gleichgewicht-der-kraefte-li.22911
** »Hans Pietsch«, Sensei's Library, Stand Februar 2021: https://senseis.xmp.net/?HansPietsch




Sienkiewicz, Henryk (1846 –1916). Als 30jähriger trat der bald darauf berühmte polnische Schriftsteller eine ausgedehnte Reise durch Nordamerika an. Das war 1976. Bei einer Jagdexpedition, die sich am North Platte River, Wyoming, orientierte, kam er sogar den Black Hills, die ich von →Welskopf-Henrich her schon fast wie meine Westentasche kenne, immerhin bis auf Sichtweite nahe. Als Jahreszeit nennt er in seinem nie langweiligen Buch Briefe aus Amerika den Frühherbst oder »Indian Summer« (Altweibersommer), wahrscheinlich des Jahres 1876, vielleicht auch 77. Es war genau die Zeit, in der jenes eindrucksvolle Bergmassiv, das den Prärieindianern als heilig galt, hoffnungslos von Goldschürfern überlaufen wurde, deshalb berichtet der Pole davon. Ihm zufolge waren die Black Hills den Sioux erst 1874 von der US-Regierung feierlich als Heimstatt zugesprochen worden, doch der Goldrausch fegte auch diesen Vertrag alsbald in alle Winde. Zunächst kamen, im Herbst 1874, rund 30 gut bewaffnete Abenteurer, die sich durchs »feindliche« Indianerland schlugen; im Mai 1875 hätten im Kies des French Creeks bereits 5.000 nach Gold geschürft. Während es die Regierung gegenüber den Eindringlingen im wesentlichen bei Ermahnungen beließ, ging sie gegen die sich wehrenden Sioux bekanntlich mit Pulver und Blei vor. Sienkiewicz sympathisiert natürlich mit den India-nern, wenn er auch wiederholt ihren »impertinenten« Körpergeruch beklagt. Er führt sogar die bald darauf legendäre, für die Sioux ausnahmsweise siegreiche »offene Feldschlacht« am Little Bighorn vom Juni 1876 und die beiden Häuptlinge Crazy Horse und Sitting Bull an.

Beim selben Planwagen-Treck durch die Prärie, der hauptsächlich auf Antilopen und Büffel geht, treffen die Jäger auch eine Bärin mit zwei Jungen, woraus sich eine fast zirkusreife Nummer ergibt. Die angeschossene Bärenmutter verfolgt Expeditionsleiter Woothrup, der sich zu einem Baum flüchtet, diesen in seiner Panik jedoch lediglich mit Armen und Beinen umklammert, statt ihn zu erklettern. Die wutschnaubende Bärin hätte ihn sicherlich zerfleischt, wenn ihr nicht eins ihrer Jungen zwischen die Hinterbeine geraten wäre, als sie sich bereits in Woothrups Rücken furchterregend aufrichtete. Das Kind brachte sie zu Fall. Das steigerte den Zorn der Bärin gewaltig, lenkte ihn freilich auf das ungeschickte Bärenjunge, das sie unter Gebrüll sogleich mit schweren Prankenhieben bearbeitete, wodurch es umkam. Doch inzwischen waren andere Jäger zur Stelle und erschossen die Rasende mit ihren Henrystutzen. Das zweite Bärenjunge wurde eingefangen und – an eine Kette gelegt – dem Treck eingegliedert. Woothrup kam mit dem Schrecken und der Zerknirschung davon. Nicht schlecht war der Scherz, den sich der alte Trapper Left Hand abends am Lagerfeuer erlaubte. Es sei sicherlich sehr umsichtig, sich vor einem angreifenden Bären auf einen Baum zu flüchten, nur dürfe man dabei nicht »das falsche Ende« des Stammes erwischen.

Wie vom Nachwortautor meiner Ostberliner Ausgabe der Briefe aus Amerika zu erfahren ist (Heinz Olschowsky, 1969), schwebte Sienkiewicz und einigen anderen Emigranten zunächst vor, in Kalifornien Land zu kaufen und eine Art Kommune oder Künstlerkolonie zu gründen, wobei sie sich angeblich am Modell der bekannten, gleichfalls schon gescheiterten Bostoner Brook Farm orientierten. Dieses Vorhaben zerschlug sich, obwohl es in Anaheim zu einem Landkauf gekommen sein soll. Zu den Betreibern und Geldgebern des Projekts hatte auch die polnische Schauspielerin Helena Modrzejewska gehört, die mit einem Gutsbesitzer verheiratet war. Sie wurde dann in den Staaten ebenfalls wieder als Bühnenfee gefeiert. Ich wäre nicht erstaunt, wenn alle Beteiligten an jenem Vorhaben in sie verliebt gewesen wären und damit guten Zunder an das Unternehmen gelegt hätten. Sienkiewicz selber war, nach der Reise, im ganzen dreimal verheiratet. Er starb 1916 mit 70 (und Nobelpreis) in der Schweiz.

Zumindest als junger Mann zählte Sienkiewicz unübersehbar zu den Anbetern der mächtigsten Ideologie der Weltgeschichte, des sogenannten Fortschritts. Zwar gibt er zu, bislang hätten die weißen Sendboten des Fortschritts den Indianern vor allem Branntwein, Pocken, Syphilis und andere unbekannte Verelendungsmittel gebracht, doch wenn man den Rothäuten nur etwas mehr von der Zeit ließe, die wir in Europa für die Entfaltung der Zivilisation genossen hätten, und sie geduldig in Demokratie statt im Schußwaffengebrauch unterweise, könnten sicherlich auch sie auf dem Wege westlicher Weißheit fortschreiten. Hier erscheinen Fortschritt und Zivilisation ganz zeittypisch als unbezweifelbare Grund-werte, als Ding oder Sinn an sich des Menschenge-schlechts. Immerhin räumt Sienkiewicz einmal ein, wenn eine hohe Zivilisation »nicht auch Glück« gewährleiste, möge man sie lieber über Bord werfen und wieder auf allen Vieren kriechen, aber was sie denn um Gottes willen sonst noch zu gewährleisten habe, außer Glück, bleibt so andächtig stimmend und verschwommen wie der Frühnebel des Indian Summers, der auf der Prärie liegt. Hat sie höhere Aufträge zu erfüllen, und bitte, welche denn? Ist sie aus ökologischen Gründen unabdingbar? Soll sie die Reise zu Planeten vorbereiten, auf denen uns paradiesische Zustände erwarten? Im übrigen läßt sich ja auch gar nicht leugnen, daß die Yankee-Zivilisation durchaus einigen Menschen Glück beschert hat. Ich denke beispielsweise an den steinreichen Filmzaren Adolph Zukor, der sogar steinalt wurde, 103. Ihm soll die Welt wichtige Streifen wie Ein Bandit von Ehre (Jesse James, 1927) und Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1931) verdanken.



Siller, Franz (1893–1924), als gelernter Gärtner und städtischer Beamter in Wien der Pionier der dortigen Kleingartenbewegung. Jetzt wurde jedes brach liegende Fleckchen zwischen den Miets- und anderen Kasernen von einbeinigen, hungernden Kriegsversehrten mit Rosenkohl bepflanzt oder mit Kaninchen bevölkert. Leider soll Aktivist Siller selber herzkrank gewesen sein. Wahrschein-lich starb er, bereits mit 30, in einem Wiener Kranken-haus. Man hat ihn mit etlichen Denkmälern geehrt, dafür jedoch mit Einzelheiten seines Lebenswandels ausge-sprochen gegeizt. Über meinen ungefähr gleichaltrigen Großvater Heinrich weiß ich zum Beispiel beträchtlich mehr. Auch er, im Brotberuf Naturkunde- und Werklehrer an der Bettenhäuser Volksschule (in Kassel-Ost), war leidenschaftlicher Schrebergärtner, allerdings weder Karnickelmäster noch Imker. Ich aß sein Gemüse durchaus gern. Ich schmökerte auch gern im Grase liegend unter seinem Pflaumenbaum, falls er mich nicht zum Unkrautjäten abkommandierte. Auf dem Balkan um 1943 hatte er, als Hauptmann, eine Kolonne der »Brückenbau-pioniere« unter sich. Ja, ich glaube, so hieß die Schar, die ihm treu ergeben war. In der Kirchen-, Kapital-, Staats- und Reformfrömmigkeit bin ich ihm aber nie gefolgt. Das sollte ich vielleicht kurz erläutern.

Was soll das, eine riesige unwirtliche Stadt auch noch mit Kleingärten zu pflastern, damit man es nur umso länger in ihr aushält? So ein aufgeblähter Unfug gehört sofort aufgelöst: unübersichtlich, ungesund, unwirtschaftlich, unmenschlich, wie er doch zweifellos ist. Man merkt es schon, hier scheint die uralte Streitfrage Reform oder Revolution? auf. Radikale wie ich verdammen »Sozial-klempnerei«, weil diese die Errichtung freiheitlicher, gerechter und friedlicher gesellschaftlicher Verhältnisse garantiert verhindert. Das haben uns zahlreiche USPDs jeglicher Sorte oder Farbe seit Sillers Geburtszeit tausende von Malen bewiesen. Stets versichern sie, eine ganze Stadt aufzulösen oder das Geld oder den Krieg abzuschaffen, lasse sich leider nicht über nacht bewerkstelligen. Fangen wir also klein an, mein Freund – irgendwann schlägt die Quantität in Qualität um, das haben schon Marx und Engels gewußt. Einige Dutzend Kleingärten nebeneinander drängen mit Macht zum Paradies. Bis dahin reibt sich das Kabinett von Kapitals Gnaden bei jeder Eröffnung einer neuen Kleingartenkolonie, Suppenküche oder »Tafel«, an der unsere Hartz-IV-EmpfängerInnen abgespeist werden, die Hände, weil es auf diese Weise Millionen »sparen« kann, die es umgehend europäischen oder nordamerika-nischen Agrarkonzernen in den Rachen schmeißt, als »Subventionen«, wegen der Bedürftigkeit dieser Unternehmen. Und siehe da, der Kleine Mann dankt es dem Kabinett auch noch, preist die Wohlfahrt im Lande und spart für das nächstschnellere Auto.

Das Gegenteil der absolut raren Radikalen sind also die Reformisten. Aber auch von denen gibt es zwei Sorten. Die Profis unter ihnen, Leute wie Joschka Fischer, Bodo Ramelow, Sahra Wagenknecht, sind viel zu gebildet und scharfsinnig, um nicht zu wissen, wie sehr ihr Reformwerk am gegebenen Herrschaftssystem der Sanierung des gegebenen Herrschaftssystems gleichkommt. Das finden sie freilich gerade gut so. Nur wir finden es nicht so gut, und deshalb bequasseln oder betrügen sie uns nach Strich und Faden. Dagegen meinen es die Amateure unter den Reformisten wirklich ehrlich. Sie habe ich in vielen Familien und leider auch in etlichen anarchistischen Kommunen angetroffen. Bei ihnen handelt es sich um herzenswarme Menschen, die sich meiner Argumentation verschließen müssen. Sie erreicht sie nicht. Diese MitbürgerInnen können nicht anders, als zu lieben, zu helfen, Not zu lindern, sobald sie sich blicken läßt. Für sie ist nicht das herrschende System zynisch, vielmehr meine Argumentation.



Simmel, Georg (1858–1918). Ein dickes Buch mit dem Titel Philosophie des Geldes, erstmals veröffentlicht 1900, trug dem Berliner Soziologen ungleich mehr Ruhm als Geld ein. Davon hatte er sowieso genug: Vater Ewald war Gründer und Mitinhaber der Schokoladenfabrik Felix & Sarotti. Aber gerade diesen Umstand – beim Forschen, Lehren und Schreiben nicht auf Honorar angewiesen zu sein – beklagt der betuchte Sprößling, bleibe ihm dadurch doch ein wichtiger Gradmesser für seine schöpferische Leistung vorenthalten. Ihm fehle, heißt es auf Seite 332 des Wälzers, »jene wohltätige Ableitung und Tröstung durch den Gedanken, wenigstens im wirtschaftlichen Sinne das Seinige getan und die Anerkennung dafür empfangen zu haben; er sieht sich vor ein: Alles oder Nichts – gestellt und muß über sich selbst nach einem Gesetzbuch richten, das keine mildernden Umstände kennt.«

Schweigen wir von Schund, der Anerkennung in fünf- oder siebenstelliger Höhe bringt, weil der Bedarf für ihn da ist. Auch dann sind Milde und Strenge noch immer ähnlich relativ wie das Geld. Zwar sehen wir uns alle demselben Mehrwertsteuersatz unterworfen, aber wir sind nicht alle Milliardäre. Im Oktober 2009 sind es (offiziell) nur 99 von uns Deutschen. In der »Volksrepublik« China dagegen schon 130, wobei die Dunkelziffer recht hoch sein soll. Mit anderen Worten: wie die Mehrwertsteuer, trifft mich auch Simmels furchtbare Prosa empfindlicher als sie den üblichen Doktoranden treffen dürfte. Da hat Simmel beim Richten seiner selbst viel Nachsicht geübt. Ausgefuchste LeserInnen werden sich allerdings den Löwenanteil seiner hölzernen und zudem langatmigen Untersuchung ersparen, weil einem der Wurm, der in ihr sitzt, schon auf den ersten Seiten begegnet, wenn mich nicht alles täuscht. »Wert« sei so wenig erklärbar wie »Sein«, verkündet Simmel da. Er stellt sie als gleichrangige, unhinterfragbare Grundtatsachen des Lebens hin.

In Wahrheit ist die Bewertung der Versuch der Orientierung im Sein. Die Bewertung soll uns dazu dienen, das Sein zu ermöglichen oder zu verbessern. Ich möchte herausfinden und entscheiden, was mir zu-, was mir abträglich ist. Somit hat Bewertung von vornherein subjektiven Charakter. Simmel dagegen erhebt »den Wert« zur natürlichen oder gottgewollten Grundkategorie. Nur auf dieser Basis läßt er subjektive Unterschiede in der Wertung gelten. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn er von Anbeginn unbeirrt auf den Tausch zusteuert; er setzt ihn immer schon voraus. Als »die Wirtschaft« setzt er übrigens auch den Kapitalismus schon immer voraus. Das ganze quantitative Denken der Moderne wird von ihm um keinen Deut in Frage gestellt.

Selbstverständlich kann »Wert« nur durch Vergleich ermittelt werden. Es sind aber nicht nur (subjektiv) unterschiedliche, sondern auch andere Orientierungs-versuche im Sein denkbar, als mit Hilfe von Vergleich und Tausch. So kann ich mich beispielsweise in einer Horde von Neandertalern oder in einer postmodernen anarchistischen Kommune anerkannt und wohl genug fühlen, um dieser Krücken, die sich früher oder später unweigerlich gegen den anderen erheben, nicht zu bedürfen. Die Krücken pochen auf die Ermittlung, wer oder was mehr Wert habe; sie heißen Aufrechnung, Wettbewerb, Krieg. In friedlichen Gemeinschaften haben die Dinge und Personen aus sich selber heraus Wert. Entsprechend werden sie geachtet.

Ansonsten reitet Simmel 600 Seiten lang auf seiner Grundformel von der Absolutheit der Relativität auf Erden herum, wie man abkürzend spötteln könnte. Das Geld steht an der Spitze. Als »reine Form der Tauschbarkeit« ist es absolutes Mittel und absoluter Zweck zugleich.* Diese Sonne steht natürlich auch über der Eigentums-, Klassen-, Machtfrage, die deshalb unter den Tisch fallen kann. Simmel mag seinem Zentralgestirn ein paar soziologische und psychologische Beobachtungen abgewinnen, die inzwischen zum Gemeingut geworden sind, etwa hinsichtlich der entwertenden, zynischen Auswirkung der Geldwirtschaft auf den menschlichen Verkehr im allgemeinen. Doch ein guter Schriftsteller hätte diese Beobachtungen in einem Bruchteil des Wälzers gegeben. Um ein Korn von seiner Krawatte aufzupicken, holt Simmel bis an die stuckverzierte Zimmerdecke seiner großzügigen Wohnung im Berliner Westend aus. Prompt wird dann das Korn von der wuchernden Darlegung erstickt.

Wenn Adorno in seiner Minima Moralia (1951) befindet, Simmels Schriften krankten allesamt »an der Unverein-barkeit ihrer aparten Gegenstände mit der peinlich luziden Behandlung«, kann ich ihm nur bedingt zustimmen. Simmels »Durchsichtigkeit« hat mit Klarheit nichts zu tun. Unanschaulichkeit, wo man bei ihm hinguckt. Die Begriffe so abstrakt wie möglich. Aber um Gottes willen keine Korinthe übersehen, die auf den Parkettfußboden gefallen ist! Was er betreibt, ist nervtötende Pfennigfuchserei, nicht Philosophie. Und wer hätte es gedacht: sein Schmäher Adorno ist ihm erstaunlich verwandt. Auch Adorno drückt sich so abstrakt wie möglich aus, erschlägt uns mit Begriffen und Fremdworten, befleißigt der gestelzten Wendungen sich und dreht die Dinge oder Beziehungen um und um, bis er uns eine »Entdeckung« präsentieren kann – die natürlich umwerfend sein soll …

Wie sich versteht, hätte ich den Verdacht, in der Minima Moralia betreibe einer in hochgestochenster Weise Haarspalterei oder Spiegelfechterei, vor 20 Jahren kaum auszusprechen gewagt. Gewiß bin ich in nahezu sämtlichen moralischen/sozialpolitischen Fragen Adornos Meinung – aber wie viel einfacher und umstandsloser ließe sich die sagen! Im Vergleich zu seinem Aufbauschen ist Adornos Ertrag dürftig. Warum macht der elitäre Geißler aller Herrschaft das? Wen will er mit seiner Prosa einschüchtern? Alle SchülerInnen, die ihm dereinst den Thron des tiefsten und damit größten kritischen Denkers streitig machen könnten? Eine Herkulesarbeit! Stößt er doch in seiner Minima Moralia schon zum Auftakt** ins gleiche Klagehorn wie der gescholtene Simmel: die sozial privilegierten Groß- oder Tiefdenker hätten es besonders schwer. Sie müssen einen Sturm um ihre Einsichten entfesseln, wo erdverbundenen schlichten Menschen ein kräftiges Pusten reicht.

* bes. S. 100, 241, 242, Ausgabe (unveränderter Nachdruck der 6. Auflage von 1958) Berlin 1977
** Im Stück »Für Marcel Proust«, in der Suhrkamp-Ausgabe von 1983 auf Seite 15
→ Zu Geld und Tausch siehe auch A-32 + 33




Sindermann, Peter (1939–71), sportlicher DDR-Schauspieler, Sohn eines hohen SED-Funktionärs. Sein Tod ist jetzt 50 Jahre alt, und wie es aussieht, wird er ein Rätsel bleiben. Sindermann war bis zuletzt am Landestheater in Halle engagiert, wo er auch wohnte. Der dunkelhaarige Florettfechter, Reiter und Flieger könnte manchen Westdeutschen, von Porträtfotos her, an den dortigen Berufskollegen Horst Buchholz erinnern. In der Tat wird Sindermann oft als »Frauenschwarm« bezeichnet. Er trat auch in zahlreichen Filmen auf, angefangen 1959 mit Bevor der Blitz einschlägt. Im übrigen war er von Jugend an Aktivist der Gesellschaft für Sport und Technik (GST), in Nachschlagewerken meist als »paramilitärische Massenorganisation« ausgegeben. Die Nachrufe rühmen ihn als heiter und lebensbejahend, charmant und akrobatisch, witzig und hilfsbereit – und dies alles in einer schlanken Person.

Bei Sindermann selber kam die Stunde der Wahrheit am 17. Oktober 1971, als er in Halle-Oppin in Begleitung seines erst 18jährigen GST-Genossen Günter Heley ein Kleinflugzeug des Typs Zlin (aus der Tschechoslowakei) bestieg. Wahrscheinlich war Heley sein Flugschüler, denn dafür besaß Sindermann, inzwischen 32, neuerdings die erforderliche Lizenz. Die Traueranzeige der GST für die beiden »pflichtbewußten Genossen« wird wenig später etwas vieldeutiger versichern, sie seien »bei der Erfüllung eines Flugauftrages« umgekommen. Sie hätten sich immer mutig und leidenschaftlich für den Schutz ihrer sozialistischen Heimat eingesetzt.

Man hat es vielleicht schon geahnt: Kurz nach dem Start, noch an der Stadtgrenze der Großstadt Halle, wird der Unterricht durchkreuzt. AnglerInnen – die es womöglich genauso hätte treffen können wie etwa die BenutzerInnen der nahen Autobahn – sehen das von Sindermann gesteuerte* GST-Sportflugzeug ins Taumeln kommen. Gleich darauf vernehmen sie einen dumpfen Schlag. Sie vergessen ihre Beute und rennen hin. Die Maschine ist aus rund 300 Meter Höhe auf eine Wiese gestürzt. Flugzeug zerschellt; Insassen spätestens auf dem Weg ins Krankenhaus tot.

Natürlich spricht sich die »unglaubliche Nachricht« – so der Nachruf in der Liberal-Demokratischen Zeitung vom 21. Oktober – in Windeseile herum, zumal der Pilot ein Sohn des langjährigen allgewaltigen SED-Chefs des Bezirks Halle Horst Sindermann war. Dieser Mann war gerade erst noch höher aufgestiegen, nämlich nach Ostberlin, in den Vorstand des DDR-Ministerrates. Rudel von ErmittlerInnen der Polizei und der Stasi rücken auf der Unfallwiese an. Aber sie sind ratlos oder geben sich jedenfalls so. Sie finden nicht einen Anhaltspunkt für Feindeinwirkung, etwa Sabotage oder Spionage. Selbst die bekannten schnöderen Unfallursachen schließen sie Stück für Stück aus. Sindermann galt als erfahrener Flieger. Das Wetter war gut. Beide Piloten standen nicht unter dem Einfluß von Drogen, Krankheiten, Lebensmüdigkeit. Das Flugzeug selber wies ebenfalls keine technischen Mängel auf, wird jedenfalls behauptet. So werden die Ermittlungen nach zwei Monaten eingestellt. Der Abschlußbericht* spricht verwaschen davon, die Maschine sei über dem Kanalgebiet »in eine unklare Fluglage geraten«. Beim Kurvenflug mit verringerter Geschwindigkeit hätten die Piloten jähes Trudeln nicht mehr verhindern können. Das sind Berichte, gut für zahlreiche Gerüchte.

Seltsamerweise, wie ich finde, übergehen fast alle mir zugänglichen Quellen Sindermanns persönliche Verhältnisse. Nur Wikipedia erwähnt eine Ehefrau und einen Sohn des sportlichen Schauspielers, Micaëla und Andreas. Der Eintrag erweckt den Eindruck, diese Ehe habe beim Unfall nach wie vor bestanden. Das ist allerdings nicht der Fall, wie mir freundlicherweise ein Verwandter des Fliegers mitteilt. Danach war Sindermann in zweiter Ehe mit der Berufskollegin Jutta Peters verheiratet. In der familiären Traueranzeige wird sie als Jutta Sindermann-Peters angeführt. Mein Gewährsmann versichert auch, die Ehe sei glücklich gewesen – somit jedenfalls kein Selbstmordgrund. Eine solche Annahme wäre natürlich schon wegen des Mitsterbers reichlich waghalsig. Im übrigen erweist sich der Gewährsmann als loyal, wenn er dem Abschlußbericht sein volles Vertrauen schenkt und außerdem entschieden verneint, Funktionärssohn Peter Sindermann sei in seiner ganzen Laufbahn jemals unlauter begünstigt worden. Sicherlich hatte jeder VEB-Kantinenkoch zu Hause (oder bei der GST) sein Pferd und sein Sportflugzeug im Stall, gerade so wie in Willy Brandts Westdeutschland.

In dieser Hinsicht wäre es unter Umständen aufschluß-reich, die Verhältnisse des Mitsterbers zu beleuchten. Aber für die Such-Roboter dieses Planeten ist ein »Günter Heley« noch weitaus unberühmter als ein Tabwa-Häuptling aus Sambia. Auch der Gewährsmann versichert, die Familie Sindermann hätte den jungen Mann nicht gekannt. Ob sie diesem Mangel vielleicht im Nachhinein abzuhelfen versuchte, habe ich lieber nicht gefragt. In der zeitgenössischen Presse taucht Heleys Name zwar durchaus auf, selbst im Neuen Deutschland – doch das war es denn auch. Man erfährt noch nicht einmal, was Könau Jahrzehnte später* ausgräbt: der 18jährige sei Elektrolehrling gewesen und habe den verhängnisvollen Unterricht genommen, weil er Flugingenieur werden wollte. Das scheint alles zu sein. Damit bleibt Heley beinahe so ein Rätsel wie das Unglück überhaupt. Damals, so steht zu befürchten, dürfte er einfach zu unwichtig für kostbaren Zeitungsspaltenplatz gewesen sein.

* Steffen Könau, »Sturzflug in den Tod«, Mitteldeutsche Zeitung,
14. Oktober 2006, S. 27

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