Mittwoch, 14. Dezember 2022
Nasen Prok—Scheel

Proksch, Udo (1934–2001). Nie gehört? Was soll man da erst zu den sechs Unfallopfern sagen, die er auf dem Gewissen hat. Sofern sie überhaupt berücksichtigt werden, beläuft sich ihre Erwähnung zumeist auf die Formel »Dabei kamen auch sechs Seeleute um«. Wikipedia führt bemerkenswerterweise immerhin ihre Namen an.* Danach handelte es sich um den Ersten Ingenieur Caspar Borbely, dessen Verlobte Beatrix van der Hoeven und die Matrosen Carlos Medina, Vito Marcos Fortes, Andrew Davis und Silvester Roberts. Da sich nähere Angaben nicht finden, ist es vielleicht gestattet, wenn ich mich notgedrungen an den Täter halte. Er hatte noch einen Spießgesellen, Hans Peter Daimler, den ich hier vernachlässigen möchte.

Die genannten sechs Seeleute waren 1977 im Indischen Ozean die Opfer einer Explosion ihres Frachters Lucona geworden. Das Schiff ging unter. Angeblich versank dabei auch eine komplette Wasch- und Aufbereitungsanlage für Uranerz in den Fluten. Der Wiener Schlawiner Udo Proksch hatte dieses Phantom für sehr geeignet gehalten, knapp 30 Millionen DM Versicherungsgelder auszu-spucken. Deshalb hatte er eine Attrappe verladen lassen und für die Explosion gesorgt. Dabei hatte er die Möglich-keit von doppelt sovielen Toten in Kauf genommen, bestand die Schiffsbesatzung doch im ganzen aus 12 Personen. Im Zuge argwöhnischer Enthüllungen, die geradezu das Ausmaß einer österreichischen Staatsaffäre annahmen und zu mehreren Rücktritten hoher Politiker und einem toten Verteidigungsminister führten, sah sich der kleinwüchsige Tausendsassa allerdings selber gezwungen unterzutauchen. Er floh durch die halbe Welt. Schließlich wurde Proksch trotz einer Gesichtsoperation, die in Manila vorgenommen worden war, Ende 1989 aufgespürt und 1991 vom Wiener Landgericht zu 20 Jahren Haft verurteilt. Damit war er endlich berühmt. Der Fall brachte bereits mehrere Bücher hervor.

Mit Prokschs »Stehsärgen« hatte es nicht so recht geklappt, obwohl sie eigentlich einen bemerkenswerten Beitrag zum »Emporismus« darstellten, wie ich den Größen- und Fortschrittskult zuweilen nenne. Gewiß hatten wir schon immer Denkmale, die die Vertikale betonen. Man denke nur an die Pyramiden und die gallischen Hinkelsteine, all die Tempelsäulen, Kirchtürme und Wolkenkratzer, Michelangelos David, Constantin Brancusis Endlose Säule und die in die Länge gezerrten, gleichsam ins Verschwinden gedehnten Menschenbild-nisse Alberto Giacomettis. Doch unsere Leichname selber waren bestenfalls aufgebahrt; sonst hockten, saßen oder lagen sie. Der 1934 geborene Proksch, ursprünglich Designer, später Chef der Wiener Hofzuckerbäckerei Demel und mit aller Wiener Prominenz per Du, löste das Problem nachhaltiger Standhaftigkeit um 1975 durch Plastikröhren, die er im Rahmen seines Vereins zur Förderung der Senkrechtbestattung als »Stehsärge« ausgab. Allerdings scheint der Absatz nicht floriert zu haben. Der Nebeneffekt der »Stehsärge«, analog New Yorker Wolkenkratzer auf dem Friedhof Grundstückspreis zu sparen, wurde nicht honoriert. Dem Wiener Journa-listen Michael Frank zufolge, damals Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, diente das »schmähführende merkwürdige Konstrukt«, das sich nirgends näher beschrieben geschweige denn vorgestellt finde, vordringlich dazu, Proksch mit dem österreichischen Bundesheer in Verbindung zu bringen. Der Zuckerbäcker liebäugelte nämlich mit 100 Kilogramm Sprengstoff, die er auch bekam. Angeblich verpulverte er sie restlos auf einem tiroler Truppenübungsplatz um Werbefilme herzustellen, mit denen er seine »Stehsarg«-Plastikröhren als Feldunterstände für Soldaten zu verkaufen gedachte – ohne Zweifel eine köstliche Umwidmung. In Wirklichkeit war aber nur ein Bruchteil des Sprengstoffs gezündet worden, wie später die Sichtung des Filmmaterials ergab. Mit dem Rest beförderte Proksch die Lucona in die Luft.

1996 besuchte ihn Zeit-Autor Helmut Schödel im Grazer Gefängnis Karlau.** Nach dem Zustand seines Gewissens befragte Schödel den Häftling offenbar nicht. Dafür gab Proksch, der in jungen Jahren mit der Burgschauspielerin Erika Pluhar verheiratet war, Erstaunliches zum Krieg zu Protokoll. Er entspringe den Männern, weil sich diese nicht ins Blut schauen könnten. »Die Frau sieht das jeden Monat; wir Männer müssen uns erst den Bauch aufreißen.« Proksch starb im Juni 2001.

Man könnte sich bei dieser Gelegenheit fragen, warum eigentlich Armand Hammer nie im Knast saß? Der stein- und einflußreiche US-Industrielle war bis zu seinem Tod (1990) seit Jahrzehnten Eigentümer und oberster Chef der Occidental Petroleum, die u.a. in der Nordsee die mit rund 225 Männern besetzte Öl- und Gas-Bohrinsel Piper Alpha betrieb. Am 6. Juli 1988 flog sie in die Luft beziehungsweise rann sie, zerschmolzen, ins Meer. Ein Feuer war ausgebrochen. Das schwere Unglück, für das bis heute niemand strafrechtlich belangt worden ist, forderte 167 Todesopfer, von den Verletzten und den gewaltigen ökologischen Schäden einmal abgesehen. Die meisten Quellen betonen die groben Fahrlässigkeiten, die sich verschiedene Verantwortliche geleistet hatten. Winfried Dolderer zitiert*** sogar den Boß selber, Hammer, der den leitenden Angestellten bei einem vorausgehenden Besuch auf der Plattform eingeschärft haben soll: »Das ganze Geld, das zur Küste gepumpt wird, geht verloren, wenn ihr diese Plattform abschaltet. Das lassen wir nicht geschehen.« Dagegen zeigt sich kaum einer vom Grundsätzlichen erschrocken, nämlich dem Erfinden, Bauen und Betreiben von Öl- und Gas-Bohrinseln, Flugzeugträgern, Kernkraftwerken und dergleichen mehr. Dieses wird nicht als fahrlässig und kriminell erachtet, vielmehr als fortschrittlich.

1995 wurde die bislang größte Bohrinsel der Welt in Betrieb genommen – ebenfalls in der Nordsee. Nachdem sie vor Ort geschleppt und dann, vier Betonbeine voran, auf den Grund (Meerestiefe 300 Meter) abgesenkt worden war, sackte sie erst einmal neun Meter ein. Sie wiegt, ohne Ballast und je nach Quelle, um 670.000 Tonnen. Das entspricht ungefähr dem Gewicht von 10.000 Dieselloko-motiven. Man taufte die künstliche Insel auf einen ähnlich lustigen Namen wie schon Hammer ihn trug: Sea Troll.

* https://de.wikipedia.org/wiki/Lucona
** »Ein Besuch bei Udo Proksch, Österreichs prominentestem Häftling«, 26. April 1996
*** https://www.deutschlandfunk.de/das-bisher-schwerste-unglueck-auf-einer-oelplattform.871.de.html?dram:article_id=250961, 6. Juli 2013




Pütz, Nelly (1939–59), Kindergärtnerin, Retterin. Wie mir kürzlich bei Formatierungsarbeiten für meinen Blog aufging, verdankt sich die thüringische Zwergrepublik Konräteslust in beträchtlichem Maße einer geistesgegen-wärtigen, freilich auch nicht ganz ungefährlichen Lebensrettung. Judith Lämmerhirt hechtet sich (im März 1991) vom Brückengeländer in die Hochwasser führende Nesse, weil das kaum des Laufens mächtige Söhnchen des Landrats Wenkenmöller in den Fluß gefallen ist. Ohne das Hochwasser hätte sich die junge Frau wahrscheinlich schon durch den Hechtsprung den Schädel an einem Stein im Flußbett eingestoßen, gleicht doch die Nesse in Konradslust eher einem Bach als einem Fluß. So aber fischt sie das Unfallopfer heraus, kommt mit einer Erkältung davon und geht nebenbei als Heldin in die Republikgeschichte ein.

Ich nehme diese Entdeckung zum Anlaß, ein paar weitere RetterInnen vorzustellen. Sie finden sich überwiegend in meinem aufgelösten Lexikon der Frühverstorbenen. Der in Fürstenfeldbruck stationierte US-Bürger Richard W. Higgins (1922–57) war Jäger-Pilot und dreifacher Familienvater. Am Vormittag des 5. Aprils 1957 hatte er über der bayerischen Stadt einen Triebwerkschaden an seinem Jagdflugzeug. EinwohnerInnen sahen die Maschine mit Rauchfahne im Schlepp in anfänglich nur 300 Meter Höhe über die Dächer preschen, während sie weiter an Höhe verlor.* Statt gemäß der Anweisungen vom Kontrollturm des nahen Luftwaffenstützpunktes sofort »auszusteigen« (Schleudersitz), bugsierte der 34jährige aber seine Maschine noch über freies Feld, um ein Inferno in der Stadt zu vermeiden. Dort zerschellte er mit ihr. Seine offensichtliche, mit eigenem Kopf oder Herzen gefällte befehlswidrige und uneigennützige Entscheidung hatte er ohne Zweifel in Sekundenschnelle treffen müssen. 10 Tage später beschloß der Stadtrat, Higgins durch Benennung einer Straße zu ehren. Zum Beschluß, den Fliegerhorst zu schließen, wo die Freunde aus den USA unter anderem westdeutsche Kampfpiloten zur Abwehr der bolschewistischen Gefahr ausbildeten, konnte man sich leider nicht durchringen. Bleibt noch zu hoffen, die Achse München–Bonn–Washington hat uns mit ihrer Version des Absturzgeschehens nicht einmal mehr an der Nase herumgeführt.

Der Nachname dieses aus Massachusetts stammenden »Helden von Fürstenfeldbruck« weckt meine Erinnerung an einen fesselnden, erstmals 1975 erschienenen und alsbald verfilmten Roman des Briten Jack Higgins: Der Adler ist gelandet. Dieser »Bestseller« dreht sich um den tollkühnen Versuch einer deutschen Fallschirmjäger-gruppe, Winston Churchill (1943) bei einem Truppenbesuch aus der Höhle des englischen Löwen zu entführen. Der Coup unter Oberstleutnant Kurt Steiner mißlingt wahrscheinlich nur, weil die gleichfalls erfolgreich eingedrungenen Soldaten Sturm und Brandt bei einer dem Dorf vorgespielten Übung der Royal Army zwei vom morschen Steg gefallene Kinder aus dem reißenden Mühlbach retten, indem sie sie ans Ufer werfen. Sturm wird dabei im Mühlrad zermalmt. Brandt kann seine Leiche bergen, macht aber den Fehler, bei ihrer Untersuchung einen Teil von Sturms Zweit-Uniform zu enthüllen – es ist die von der deutschen Wehrmacht. Das bekommen die dankbaren Dörfler entsetzt mit. Gleichwohl ist Steiner später auch noch so großherzig, sie alle, die Geiseln waren oder sein könnten, aus der Dorfkirche abziehen zu lassen, wo sich das aufgeflogene Kommando verschanzt hat. Er und seine Leute seien nicht die Hunnen, als die man die Deutschen beschimpfe.

Das ist genau Higgins' Programm. Er nimmt die übliche Verherrlichung von Gewalt, Krieg und Heldentum unter dem Deckmantel des fairen oder ehrenvollen Kampfes, der unbedingten Kameradschaft und eines stillen oder schnoddrigen »Antifaschismus« vor, der die »Männer« selbstverständlich nicht daran hindern kann, ihre gottverdammte Pflicht zu tun, also sich fleißig und durchaus brutal fürs sogenannte Vaterland zu schlagen. Für dieses Programm setzt Higgins leider seine große dramaturgische und stilistische Begabung ein. Da er natürlich auch gebildet ist, garniert er es mit skeptischen Äußerungen seiner Helden – nicht etwa über den politökonomischen oder sozialpsychologischen Sinn des Blutbades, sondern über den Sinn des Daseins schlechthin. Eine billige Melancholie: sie kostet nichts, man muß sein Leben nicht ändern.

Man halte sich einmal vor Augen, wie jung die Kinder-gärtnerin Nelly Pütz (1939–59) selber noch war. Wieviele Lebens- und Heiratspläne, wieviele Blütenträume vom persönlichen Glück muß sie gehegt haben! Sekunden der »spontanen« Entscheidung, und dies alles ging gleichsam den Bach hinunter. Die knapp 20jährige aus Düren war an einer Sommerfreizeit der Kindergruppe der Aachener Arbeiterwohlfahrt im belgischen Nordseebad Middelkerke als Betreuerin beteiligt, wofür sie sogar eigens Schwimmen gelernt hatte.** Am 22. Juli 1959 erspähte sie an einer fürs Baden gesperrten Stelle belgische Kinder, die in der Brandung offensichtlich um ihr Leben kämpften. Zwei von ihnen konnte sie an den Strand bringen, bevor sie, beim dritten Versuch, selber von der tückischen Strömung erfaßt wurde und ertrank. Nach Pütz sind mehrere pädagogische Einrichtungen benannt. Der belgische König ehrte sie. Drei Kinder kamen mit ihr ums Leben.

Der schwäbische Fußballer Otto Schmid (1922–63) war »schon« 41, als er seine Tierliebe mit dem Leben büßte. Eher klein, aber sprungkräftig, hatte er langjährig das Tor des VfB Stuttgart gehütet. Zeitweise war er außerdem Spielführer des Clubs, mit dem er 1950 immerhin den Titel des »Deutschen Meisters« errungen hatte. Zwei Jahre darauf hängte Schmid seine Torwarthandschuhe an den Nagel und übernahm das Amt des Jugendtrainers. Sohn Peter erwähnt***, damals habe es als Meisterschafts-prämie pro Kopf 500 DM plus Sachgeschenke gegeben, während es 1992 schon 50.000 DM gewesen seien. Schmids Mannschaftskamerad Erich Retter, ein Verteidiger, berichtigt allerdings, es seien 1950 letztlich 2.000 DM gewesen, die just unter Schmids Anführung bei der Clubleitung herausgeschunden wurden.**** Jedenfalls dürften die damaligen Ballkünstler noch keine »Vollprofis« und Millionäre gewesen sein. Schmid etwa war hauptberuflich als Bauingenieur im städtischen Hochbauamt angestellt. Zum Zeitpunkt seines Todes (am 16. März 1963) war er laut Nachruf in den VfB-Vereinsnachrichten (Nr. 68, März–Mai 1963) schon seit längerem als Bauleiter im Stuttgarter Vieh- und Schlachthof stationiert. Einzelheiten deutet Sohn Peter auf der erwähnten Webseite an: »Eine Halle brannte, er ließ die Tiere heraus und bekam nicht mehr genügend Luft, ein Hirnschlag beendete sein kurzes Leben.« In die lokale Poesie war der 41jährige zweifache Vater bis dahin längst als »Der Gummi-Schmid, der Gummi-Schmid / hält besser noch als Glaserkitt« eingegangen … Schmid galt allgemein als heiter und hilfsbereit. Sohn Peter schildert ihn als streng, aber gerecht. Ob das herausgelassene, eigentlich zum Abmurksen bestimmte Vieh in die Wälder entkam, ist nirgends zu erfahren.

Am 5. Oktober 1982 wurde die Überwachungskamera in der Sparkasse am Koblenzer Schenkendorfplatz durch zwei furchterregende Räuber aus ihrer Langweile gerissen. Der eine von ihnen soll in jüngeren Jahren auch noch »Superbulle« in der polizeilichen Elitetruppe SEK in Köln, also eigentlich auf der falschen Seite gewesen sein. Nun nahm das Ganoven-Gespann für fast 15 Stunden neun Geiseln und erpreßte dadurch eine Beute von 1,2 Millionen DM. Um auch noch ein flottes Fluchtfahrzeug gestellt zu bekommen und die Zusicherung auf »freies Geleit« zu erlangen, schoß einer der Räuber dem 19jährigen Detlef Becker (1963–82), Bankkaufmann im heimgesuchten Geldinstitut, aus 10 Zentimeter Entfernung in die Kniekehle. Laut Spiegel***** hatte sich der blutjunge Mann »freiwillig« als Objekt der brutalen Einschüchterung angeboten, laut deutscher Wikipedia anstelle einer ursprünglich dafür vorgesehenen weiblichen Geisel. Ich nehme an, in der Mitmach-Enzyklopädie war wieder einmal ein kurzentschlossener Dichter am Werk, der die Geschichte etwas farbenfroher und herzergreifender machen wollte. Im Spiegel heißt es lediglich, die Gangster hätten »mehrfach« gedroht, »jemanden ins Knie zu schießen«. Gemeint war wohl »wiederholt« oder »mehrmals« gedroht, aber wir wollen nicht päpstlicher sein als Karl Kraus. Das falsche Mehrfachen ist sehr beliebt.

Nun war der junge Bankkaufmann, den vermutlich niemand zu seiner Berufswahl gezwungen hatte, jedenfalls angeschossen. Während ihn ein Vermittler (Pfarrer) nach draußen zum Krankenwagen schleppte, durften die Räuber aufgrund dieses Warnschusses in Begleitung von zwei Geiseln den bereitgestellten BMW besteigen. Immerhin überstanden diese Geiseln, zu denen sich unterwegs anscheinend noch ein Postbeamter zu gesellen hatte, die Flucht unbeschadet. Becker dagegen, der sich womöglich in der Tat aus freien Stücken zum Krüppel hatte schießen lassen, erntete für seine Selbstlosigkeit sogar den Tod: nach knapp zwei Wochen erlag er im Krankenhaus einer Thrombose und einer Lungenembolie. Während die Räuber bald nach dem Überfall gefaßt und später zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, kam Beckers Verwandtschaft, soweit ich sehe, mit einer Klage wegen eines ärztlichen »Kunstfehlers« nicht zum Zug. Becker war das einzige Kind seiner Eltern gewesen. Man verlieh ihm posthum das Bundesverdienstkreuz.

Der schweizer Skispringer Markus Gähler (1966–97) starb als Feuerwehrmann. Möglicherweise hatte er allerlei wahnsinnigen Fliegern zumindest im uniformierten Nebenberuf einen sinnvollen Mut voraus. Im Mai 1997, rund fünf Jahre nach seinem Rücktritt als aktiver Halsbrecher-Sportler und inzwischen 31, wurde Gähler bei einem Wohnhausbrand in Walzenhausen (AR) als eingesetzter Feuerwehrmann von einer einstürzenden Zimmerdecke begraben. Laut Rolf Niederer, Lutzen-berg******, hatte der gelernte Schreiner Gähler »bereits als Kindergärtler einen in den Feuerweiher im Weiler Haufen gefallenen Kameraden vor dem Ertrinken« gerettet.

* Michael Volpert, »Vor 50 Jahren starb Richard Higgins bei einem Flugzeugabsturz«, Webseite Fürstenfeldbruck, April 2007: https://archive.is/20120801063239/https://www.fuerstenfeldbruck.de/ffb/web.nsf/id/li_blat7stc67.html
** Nelly-Pütz-Berufskolleg des Kreises Düren: https://www.nelly-puetz-bk.de/wir-%C3%BCber-uns/
*** https://web.archive.org/web/20070927095014/https://www.hefleswetzkick.de/VFB/VFB_Inside/Die_Personen/grosse_Maenner_des_vfb/Alle_Spieler/S/Schmid_Otto.htm, Juni 1992
**** https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.legende-des-vfb-stuttgart-im-interview-trainer-wurzer-war-besser-als-jeder-arzt.8f8e50b1-0dc0-4c6e-be6c-8b74b31c1716.html, 22. September 2013
***** »Zack, rein und weg«, Nr. 18/1983, online 1. Mai 1983: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14022625.html
****** »Markus Gähler, Lutzenberg 1966–1997«, Appenzellische Jahrbücher, Band 125 (1997): https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=ajb-




Quakenbrücker Segelflugschülerin († 2012). Für den Autoführerschein war diese vermutlich deutsche junge Frau noch zu jung. Als sie am 4. August 2012 im nieder-sächsischen Quakenbrück mit ihrem unmotorisierten Flugzeug gegen eine Zeile von Reihenwohnhäusern krachte, war sie 17 und tot. Man könnte das mit dem Hinweis übergehen, kein Fortschritt sei ohne Lehrgeld zu haben. Knapp zwei Jahre darauf legte freilich eine schon 56jährige Segelflugschülerin aus dem nordhessischen Baunatal auf dem nahen Dörnberg einen zu steilen und damit letztlich »harten« Landeanflug hin, weshalb sie, wegen Verdachts auf schwere Rückenverletzungen, gleich weiter ins Kasseler Rote-Kreuz-Krankenhaus – geflogen wurde.* Eine Alternative wäre der auch nicht ganz ungefährliche Weg über die Autobahn Dortmund–Kassel gewesen. Jetzt fährt die gute Frau vielleicht Rollstuhl. Der Dörnberg bietet schon seit 1924 einen Segelflugplatz. Seit 2015 beherbergt er außerdem, im ehemaligen Landes-jugendhof, eine Kommune: befremdlicherweise, wie ich finde.

Jene 17jährige starb noch am Unfallort. Was die beteiligten BodenbewohnerInnen angeht, kamen sie anscheinend mit dem Schrecken davon. Das Mädchen war auf dem Quakenbrücker Flugplatz per Seilwinde gestartet. Zuletzt war es, nach Augenzeugenberichten, sehr tief geflogen. Laut Untersuchungsbericht der BFU lagen bei der jungen Pilotin weder Anfälle noch Drogenkonsum vor; vielmehr: Überforderung beim ersten Alleinflug. 2009, am 5. Juli, hatte es ein 19jähriger Sportkamerad besser getroffen. Er rettete sich durch Fallschirmabsprung, ehe sein Segelflugzeug bei Quakenbrück in einem Getreidefeld zerschellte.** Auch die brütenden Wachteln waren rechtzeitig davongestoben. Wie ich im Internet lese, lieben es die SegelfliegerInnen, ihren »Sport« als Poesie oder Mentaltraining, somit als gesundheitsdienlich, anonsten harmlos auszugeben. Ertüchtigung und Beherrschung des Luftraums sind nicht im Spiel.

Soweit ich weiß, waren in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst alle nichtstaatlichen Flugaktivitäten verboten. Der Segelflug wurde 1951 wieder erlaubt. Der deutsche Faschismus hatte dem Segelflug großes (vormilitärisches und ideologisches) Gewicht beigemessen; schon in der HJ gab es recht begehrte »Luftsportscharen«, die vor allem Gleit- und Segelflug pflogen. Heutzutage haben wir im schönen Deutschland ungefähr 50 Segelflugunfälle jährlich. 2009 sollen diese sogar den Löwenanteil aller Flugunfälle gestellt haben. 2010 teilt ein FAZ-Sportredakteur*** beiläufig mit, der gesamte europäische Segelflug fordere jährlich zwischen 16 und 20 Todesopfer. Alle anderen Schäden, die »mentalen« eingeschlossen, wollen wir wieder mit Schweigen bedecken.

* »Segelflugschülerin bei harter Landung schwer verletzt«, 112-magazin.de (Korbach), 17. April 2014: https://112-magazin.de/aus-der-region/item/11716-segelflugsch%C3%BClerin-bei-harter-landungschwer-verletzt
** »Segelflugzeug stürzt in Quakenbrück in Wohnhaus: 17-jährige Pilotin tot«, Bersenbrücker Kreisblatt, 4./6. August 2012 (am Artikelende): https://www.noz.de/artikel/243148/segelflugzeug-sturzt-in-quakenbruck-in-wohnhaus-17-jahrige-pilotin-tot#gallery&0&0&243148
*** Leonhard Kazda, »Weltmeister der Lüfte ...«, FAZ, 18. Juli 2010: https://www.faz.net/aktuell/sport/randsportarten/segelfliegen-weltmeister-der-luefte-mit-der-nummer-007-11012274.html




Randles, Paul (1965–2003), US-Spieleentwickler aus dem Staat Washington, wo er, mit 37, auch starb: Krebs. Soweit ich sehe, hat er hauptsächlich Brett- und Karten-spiele entwickelt und, zuletzt, auf eigene Rechnung ver-kauft. Einige Spiele aus seinem Stall, etwa Piratenbucht, sollen Renner sein. Wahrscheinlich verdiente er einen Haufen Geld. Den steckte er dann, vielleicht, in »Chemotherapien«, die ihn noch kränker machten. Laut einer Gedenk-Webseite* hatte er eine Gattin, zwei Katzen und eine ungewöhnliche Gabe zum Geben. Somit zehrte er vor allem davon, seine Freunde, ja die ganze Welt beschenken zu dürfen. Nebenbei war er Golfspieler, was übrigens auch eine Stange Geld kostet. Ein Brustbild zeigt ihn mit Golfkappe – und lachend.

Denkt man, mangels biografischen Stoffs, über das Wesen des Spiels nach, stößt man zunächst auf die landläufige Auffassung, es stehe dem »Ernst des Lebens« gegenüber. Wahrscheinlich ist sie falsch. Zwar weist F. G. Jünger in seiner betörend geschriebenen Untersuchung Die Spiele von 1953 darauf hin, der Nichtspielende sei nicht unbedingt immer ernst, während dem Spiel ein ihm eigener Ernst innewohnen könne, doch den wesentlichen Unterschied zwischen Spiel und Leben macht er meines Erachtens nicht deutlich genug: Kennzeichen des Spiels sei seine Selbstgenügsamkeit; es könne nicht an Zwecke gebunden werden, die über seine Grenzen und Regeln hinausreichen.

Danach handelt es sich um einen ganz bestimmten Ernst, der dem Spiel – in seinen gehüteten Formen – völlig fremd ist. Er liegt im Unwiderruflichen und Verketteten unseres Lebens. Im Leben vermehrt jeder Augenblick eine Last, die auf uns ruht. Wäre sie ein Tornister, könnten wir sie kurzerhand abwerfen, doch sie ist mit uns verwachsen – gleichsam unser ständig anschwellender Buckel. Hätte dieser zumindest einen Deckel, könnten wir vielleicht den einen oder anderen Augenblick wieder herausfischen, um ihn zu vernichten. Wer wüßte nicht ein Lied davon zu singen, sich jäh unter einer Beschämung zu ducken, die uns vor vielen Jahren traf, oder sich unter Reue zu winden, sobald wir an eine nicht ergriffene Chance erinnert werden, durch die wir vielleicht das Ruder unseres Lebens herumgeworfen hätten? Wer wüßte nicht, daß der Spielraum, in dem wir uns noch verändern können, mit jedem Tag enger wird? Daß niemand sich selber entkommt?

Nur das Spiel gewährt uns diese Chance. Hier werden die Karten neu gemischt, die Steine vom Tisch gewischt, alles neu macht der Mai. Mit jeder neuen Partie steigt man wie Phönix aus der Asche. Im Gegensatz zum Leben ist das Spiel wiederholbar. Und da es bestimmten und es beschränkenden Regeln folgt, ist es auch ungleich überschaubarer als jeder kleinste Abschnitt unsres Lebens. Zumal am Kartenspieltisch hält sich das Unwägbare und Unvorhergesehene – es mag schrecklich oder entzückend sein – in wunderbar engen Grenzen. Da wird nach Regeln gekämpft, die sich jeder Trottel einprägen kann. Da gilt es lediglich, Tröten ins Feld zu werfen, die seit den Pharaonen und Mona Lisen keine Miene verziehen. Und so überall. Ob du mit deinen Freunden Schach, Snooker oder Fußball spielst, du betätigst dich nicht auf einem weiten Feld, das deine treuherzigen oder ausgefuchsten Erwägungen zu »Pappelblättern« herabstuft, die »jedem Anhauch der Welt« preisgegeben sind. Das gilt erst im Profisport, der von soundsovielen finsteren Mächten gesteuert wird.

Die »Pappelblätter« stammen vom französischen Denker Alain. In seinem Buch Lebensalter und Anschauung von 1927, Kapitel »Die Spiele«, hat er sich ausführlich im obigen Sinne geäußert. Er unterstreicht darin den folgenden Aspekt. »Spiel kennt kein Erinnern und kein Denkmal: das unterscheidet es von der Kunst. Spiel will durchaus nichts wissen von erreichter Stellung, von Zeugnissen, von Vorrechten, die vergangene Dienste ins Gedächtnis rufen: das unterscheidet es von der Arbeit.« Bringt Randles also nicht mit Waschmitteln oder Drohnensteuerungen, sondern eben mit Spielgeräten Geld ins Haus, hat es nichts zu bedeuten: Er verfolgt seine berufliche Laufbahn.

Bekanntlich kürzt die Arbeit gern ab – versuchen Sie das einmal in einem Snookersalon! Sobald sie die 15 Roten mit einem Rutsch ihres Armes kurzerhand in die Ecktaschen schieben, wird ein gestrenger Mensch mit weißen Hand-schuhen aus dem Schatten treten und Sie am Schlawitt-chen packen, um Sie an den nächsten Garderobenhaken zu hängen. Im Spiel werden Fouls geahndet; im Leben belohnt.

* https://www.celestis.com/participants-testimonials/paul-j-randles/



Remler, Emily (1957–90), weiße US-Jazzgitarristin von der Ostküste. Rund ein Dutzend Platten, auch mit eigenen Kompositionen, darunter 1985 Catwalk.* Sechs Jahre später, erst 32, erlag sie bei einem Gastspiel in Australien offiziell einem »Herzversagen«, nach vielen Vermutungen von ihrem bekannten gepfefferten Drogenkonsum angestoßen, voran Heroin und Dilaudid.**

Gewiß gibt es wahre Massen von U-Musikern, die ihre Bewußstseins- oder Fingererweiterung mit Hilfe von Drogen mit einem frühen Tod bezahlten, aber sicherlich nur wenige oder gar keine Frauen, die Remler als Gitarristin das Wasser reichen könnten. Mit 18 Jahren hatte das dunkelhaarige und günstigerweise langfingrige Girl vom Lande (Englewood Cliffs, New Jersey) bereits das Berklee College of Music in Boston, Massachusetts, abgeschlossen. Nach vorübergehendem Aufenthalt in New Orleans, wo sich Altmeister Herb Ellis von ihr beeindruckt zeigte, kämpfte sie sich durch die (oft frauenfeindliche) riesige Konkurrenz in New York City. Sie spielte mit etlichen namhaften Musikern und bekam Lehraufträge. Als sie starb (oder sich umgebracht hatte), war sie bereits auf dem Weg zum Weltruhm. Ich kenne einige beeindruckende Videos mit ihr, wo sie unter anderem mit ihrem schlichten, unverkrampften Auftreten für sich einnimmt. Allerdings wäre ich nicht verblüfft, wenn ihr auch dazu die richtig dosierten Drogen mitverholfen hätten. Neben dem üblichen Branchenstreß setzten ihr sicherlich auch verschiedene Liebschaften/Zerwürfnisse mit Männern zu. 1982 hatte sie in einem Interview mit dem Magazin People gesagt: »I may look like a nice Jewish girl from New Jersey, but inside I'm a 50-year-old, heavy-set black man with a big thumb, like Wes Montgomery.«

Eine selten gewürdigte Wiederholung liegt natürlich bereits darin, daß sich nun schon seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten Legionen von begabten jungen Leuten getrieben sehen, die Gitarre oder die Geige auch so gut zu spielen wie X. oder Y., vielleicht sogar besser. Sie verrenken sich ihre Finger und ihre Seelen; sie schuften wie Sklaven in Tretmühlen; sie können die Wahngebilde an ihren Zimmerwänden schon nicht mehr zählen – aber sie schaffen es. Jedenfalls ein paar von ihnen. Sie schaffen es, im Grunde nicht anders dazustehen wie X. oder Y., und sei es liegend, im Sarg. Wäre es nicht viel einfacher und gesünder, auf ein paar Notenbücher oder einen Stapel mit CDs von besonders begabten Vorgängern zu verweisen und zu sagen: »Prima – das reicht!« Und so mit allem.

Gottseidank trat Remler, soweit ich weiß, nie mit Liedern, also Texten auf. Das hätte gegen meine Betrachtung »Im Gefühlsraum« verstoßen, mit der ich 1998 nur um ein Haar meinen zweiten Auftritt in der Wochenend-Rubrik Moderne Zeiten der Frankfurter Rundschau verpaßte. Redakteurin Jutta Stössinger (gestorben 2017 mit 73) fand sie interessant, aber dann kamen ihr anscheinend noch Bedenken, an die ich mich nicht mehr erinnern kann – vermutlich, weil sie sie mir gar nicht mitteilte. Den ersten Auftritt hatte ich im Mai 1998 mit einem längeren Text übers Wandern, der immerhin 1/3 Zeitungsseite einnahm. Ich glaube, von dem vergleichsweise fürstlichen Honorar, wohl 600 DM, zehre ich heute noch.

Jene Betrachtung geht dem Wesen und der Bestimmung der Musik nach – die durch Vertextung der Noten nur verfehlt und verdorben werden könnten. So mein zwingendes Resümee. Allerdings war es mir damals nicht gelungen, bis zum Ursprung der Musik vorzudringen. Das hätte meiner Bestimmung vielleicht noch Gewicht verliehen. Aber das wird auch anderen nie gelingen. Nur möchten Sie jetzt vielleicht ersatzweise von mir wissen, ob wir wenigstens die Quellgeschichte der Sprachentstehung kennen? Das tun wir natürlich gleichfalls nicht. Schließlich liegt die Sache mindestens 40.000 Jahre zurück, wie mein Brockhaus meint. Deshalb konnte ich dazu auch in A-30 (»Juckreiz im Mandelkern«) nichts Genaues vorbringen. Das Wie liegt also völlig im Dunkeln. Immerhin führt das Nachschlagewerk wesentliche Erklärungen des Warums an. 1. Man wollte nicht hinter den Tieren zurückstehen, die ja doch recht vielfältig brüllten, grunzten oder zwitscherten. 2. Man wollte seinen Gefühlen Ausdruck verleihen. 3. Man wollte das Handeln koordinieren, etwa beim Sammeln oder Jagen.

Als Knabe stellte ich mir die Sache einmal folgendermaßen vor. Da trotteten ein paar AltsteinzeitlerInnen durch die Steppe. Einer von ihnen erblickte einen Baum mit bestimmten fetten, eher seltenen Früchten, blieb stehen, deutete auf den Baum, leckte sich die Lippen und platzte heraus: »Umpf-Umpf!« Die anderen folgten seinem Blick, nickten ebenfalls freudestrahlend und riefen nun vereint »Umpf-Umpf!«. Damit war der erste Name auf Erden verliehen, eben für die fetten Früchte. Ob sie auch gleich geerntet werden konnten, steht auf einem anderen Blatt. Möglicherweise mußte man erst die Leiter erfinden.

Grund 2 leuchtet wenig ein. Hier liegt der Einsatz von Körpersprache viel näher. Die beiden anderen Gründe sollte man vielleicht zusammenführen, wobei Alain – der Erfinder jenes »Gefühlsraums« – erneut behilflich sein kann. Den Ausgangspunkt liefert jedoch der britisch-argentinische Schriftsteller und Naturforscher William Henry Hudson (1841–1922). Während sein Roman Das Vogelmädchen ein langatmiges Rührstück ist, das sich locker als Nackenrolle auf der Couch im zuständigen Lektorat bei Klettcotta eignen würde, ist er in der Manesse-Anthologie Vögel in der Weltliteratur mit zwei glänzend geschriebenen Essays vertreten. Hudson findet es merkwürdig, daß der Mensch keinen eigenen Ruf entwickelte, obwohl er doch so lange in der Wildnis zu bestehen hatte. Das ist in der Tat merkwürdig. Mit Alains Lebensalter und Anschauung (1927) läßt sich aber eine Erklärung dafür finden, wenn auch kein Trost. Der Mensch sah sich genötigt, die Nacht zu bezwingen. Im Neandertal war es vor allem finster. Katzen, Kobolde, oft furchterregend brüllende Schatten schlichen im fahlen Mondlicht umher, von den flatternden Fledermäusen oder Eulen ganz zu schweigen. Um sich ihrer zu erwehren, mußte man sich verständigen. Wider das Dunkel helfen weder Abzeichen (Rotkehlchen) noch Auf-ihn-mit-Gebrüll! Man mußte vielmehr tuscheln, flüstern, sich besprechen. So enthielt sich der Mensch des Rufens, glaube ich, und entwickelte stattdessen die Sprache. Hat sie uns letztlich mehr heillose Verwirrung als hilfreiche Aufklärung eingebracht – wer konnte das damals ahnen? Nachher habe man immer recht, spottete Günter Eich in seinen Maulwürfen. »Man sollte gleich nachher leben.«

* mit Eddie Gomez (Baß), Bob Moses (Drums) und John D'Earth (Trompete)
** Michael J. West, »The Rise and Decline of Guitarist Emily Remler«, JazzTimes (USA), 8. Dezember 2020: https://jazztimes.com/features/emily-remler-rise-decline/




Renard, Jules (1864–1910). Ein ungebildeter Schrift-steller ist ärgerlich und, vor allem für ihn selber, oft peinlich. Aber wie kommt man zu Bildung? Durch ein Studium der Germanistik oder Philosophie oder Geschichte oder gleich alles zusammen? Nie und nimmer. Das bewirkt eher das Gegenteil. Man stopft sich den sogenannten Kanon oder den Sermon des bereits aus Funk & Fernsehen bekannten Professors in die Birne und wundert sich vielleicht später, als RuheständlerIn zurückblickend, über die matschige Beschaffenheit der angeblichen eigenen Laufbahn.

Jedenfalls kommt man bestimmt nicht über nacht zur Bildung. Als mich Gudrun vor Jahrzehnten mit den Unfrisierten Gedanken des Polen S. J. Lec (1909–66) bekannt machte, war ich von solchen knappen Aphorismen verblüfft und begeistert. »Einsamkeit, wie bist du übervölkert!« So etwas kannte ich noch nicht. Wieder einige Jahre später fand ich genau dieselbe verblüffende Kürze in einem Buch von Jule Renard wieder – nur lag der Franzose schon seit 1910 in der Kiste. »Das Beben des Wassers unter dem Eis«, las ich da gleich auf den ersten Seiten (15).* Schließlich noch Lichtenberg. Als ich neulich wieder einmal zu seinen Aphorismen griff**, mußte ich ihn zähneknirschend als Vorläufer oder Vater von Lec und Renard beziehungsweise die beiden als Papageien anerkennen. »Theorie der Falten in einem Kopfkissen.« Auf solche knappen Sätze (S. 447) belaufen sich etliche Einträge Lichtenbergs. Der Physiker und Verfasser sogenannter »Sudelbücher« starb an seinem Lehrort Göttingen 1799.

Was Rychner in Auswahl von Lichtenbergs Gesudele präsentiert, kommt mir allerdings heute merklich schwächer als vor rund 25 Jahren vor, dabei oft zu flüchtig, unsauber und entsprechend oberflächlich. Das deutet bereits auf das Problem der Zeit, nämlich des Lebensalters eines bestimmten Lesers hin. Meine Verehrung für Renard bekam sogar schon um 2005 Kratzer, wie ich aus meinen Unterlagen ersehe. Notiert er beispielsweise »Der Tod ist der Normalzustand. Wir bauen zu sehr auf das Leben« (301), ist das ohne Zweifel ein starker Gedanke – nur die Formulierung kam mir nun doch zu schwach vor. Ich schlug vor: Wenn man bedenkt, wie lange einer tot ist, wird man das Leben nicht mehr überschätzen. Renards bekanntestes und angeblich auch bestes Buch Rotfuchs (Übersetzung Walter Widmer, Zürich 1946) las ich um 2010. Es verärgerte mich geradezu, weil weder die Charaktere noch die Komposition des episodenhaft erzählten »Romanes« schlüssig sind. Die komposito-rischen Mängel scheint sogar Renard selber noch während der Schlußredaktion (Herbst 1894) in seinem Tagebuch eingeräumt zu haben, wie ich Hanns Grössels Nachwort zu den Ideen entnehme (350). »… ein schlechtes Buch, unvollständig, schlecht gebaut, weil es mir nur schubweise gekommen ist ..(..).. man könnte es beliebig kürzen oder verlängern …« Und so etwas wurde nun schon zu Renards Lebzeiten in »unzähligen Auflagen«, wie Widmer im Vorwort versichert, in die Buchläden gepumpt. Die Pumpstationen dürften bekannt sein. Einige Kurzprosa-stücke, mit denen Renard in der Manesse-Anthologie Vögel in der Weltliteratur (1986) vertreten ist, kommen mir inzwischen ebenfalls reichlich blaß vor. Offenbar war der Mann nicht so gut, wie ich einst dachte. Aber »Weltliteratur«, das war und ist er gleichwohl. Einmal dazu erklärt, gibt es kein Zurück mehr.

Obwohl unser Leben gewöhnlich vorwärts verläuft, bringen Renard/Ronte einen Satz, der die Teleologie zu durchkreuzen scheint. »Jeden Tag bin ich Kind, Mann und Greis«, lautet ein Eintrag auf S. 307. Das Gefühl, das hinter diesem Gedanken steckt, ist mir keineswegs fremd. Aber ich weiß auch, daß Rom nicht an einem Tag erbaut worden ist. Wahrscheinlich verdankt sich »Reifung«, wie man den Prozeß ja auch nennen könnte, mindestens zwei Bedingungen, die nicht immer Hand in Hand gehen müssen: der Zeit und der Tiefe. Manche begabten Leute erbohren sich in wenigen Wochen soviel Einsicht, wie sie Oskar Maria Graf selbst durch Wiedergeburt nicht erlangt hätte. In der Regel genügen wenige Wochen allerdings nicht. Lesen, lesen, lesen, das ist für gute Schriftsteller schon die halbe Miete. Was dafür entfällt, hat freilich auch seinen Preis: Verzicht, Verzicht, Verzicht. Vor allem auf sogenannte Geselligkeit = Öde und Geschwätz …

Hinter jener »Reifung« verbirgt sich nebenbei ein Riesenhindernis im allgemeinen Befreiungskampf, das oft unterschätzt wird. Es ist die gleichsam natürliche Spaltung der Gesellschaft in Lebensalter und Grade der Bildung oder Einsichtsfähigkeit. Die darin liegenden Unterschiede und Widersprüche werden sich wahrscheinlich immer ins Gehege kommen, auch in meinen schönen Zwergrepu-bliken. Lasse ich die vorwitzigen und unreifen Vorschläge in meiner Erinnerung aufscheinen, die ich mir als 20- oder 30jähriger leistete, geht die Schamröte in meinem Antlitz auf. Gottseidank haben das die Schlapphüte damals noch nicht gescannt und gespeichert. Zu allem Unglück war die Angelegenheit in meinem persönlichen Fall auch noch mit ungewöhnlicher Begriffsstutzigkeit gepaart, von Mitschülern oder Kampfgenossen gern »lange Leitung« genannt. Um dieses mutmaßliche Naturell zu erkennen, meine Langsamkeit also, benötigte ich allerdings, ab 30, noch einmal zwei bis drei Jahrzehnte. Das war der letzte Beweis.

Renards Rotfuchs war ein Knabe. Ein Fuchs jedoch, wie er hin und wieder um die hiesigen Hühnergehege schnürt, ist etwas ganz anderes. Seine Welpen hängen ihm vielleicht für ein paar Monate am Hinterbein, und dann wissen sie, wozu Hühner gut sind. Mehr brauchen sie auch nicht zu wissen. Sie sind nach wenigen Monaten fertige Füchse. Jetzt halten Sie die langwierige und oft vertrackte Kindheit der Sorte »Mensch« dagegen! Ein Wahnsinn. Und dann noch für Jahrzehnte von einer Falle in die andere tappen, bis man begriffen hat, das so mancher Kanon Kanonen entspringt.

* Ideen, in Tinte getaucht, München 1986, Auswahl und Übersetzung (aus Renards umfangreichem Tagebuch) Liselotte Ronte. Das Wählerische hat Ronte übrigens nicht daran gehindert, Renard oder sich selber dutzende von Wiederholungen durchgehen zu lassen.
** Hrsg. Max Rychner, Manesse-Verlag 1958




Renner, Narziß (c.1502–36), Augsburger Buchmaler. Zuletzt könnte er als »kleiner Schulmeister« erwerbstätig gewesen sein. Es war die Zeit, wo die Malerei von Hand für ungedruckte Schriften in Bedrängnis kam, weil der neuartige Buchdruck florierte. Immerhin half dem Künstler eine Zeitlang der Augsburger Fugger-Angestellte Matthäus Schwarz aus der Patsche, der sowohl auf kostbar ausgestattete, einmalige Handschriften wie auf modische Bekleidung Wert legte. Für Schwarz schuf Renner unter anderem eine Kostümbiografie und den sogenannten Geschlechtertanz. Zu allem Unglück hatte der »Illuminist« auch noch eine Gattin, Magdalena, und vermutlich Kinder, die ja auch alle satt werden wollten. Er selber hungerte aber nicht allzu lange, weil er, laut Ulrich Merkl (NDB 21–2003), mit ungefähr 34 »während einer Pestepidemie« unter die Erde kam.

Möglicherweise wäre Renner noch früher vom Schlag getroffen worden, wenn ihm ein Hellseher den Siegeszug der Fotografie angekündigt hätte. Ich habe das verhängnisvolle und überwiegend ekelerregende Phänomen der Verbilderung der Welt um 2000 in meinem Essay »Klappe zu, Affe tot« behandelt. Zu einer Veröffentlichung im Kursbuch, wo ich gerade einen Fuß drin hatte, kam es jedoch nicht, weil mir Redakteurin Ingrid Karsunke vorwarf, mit dieser Arbeit hätte ich die Grenzen der Kritik überschritten und sei »ins Feld des Fundamentalismus« geraten. Somit, sagte ich mir später, soll man lieber im Wasser stehen bleiben und wie ein Schilfrohr schwanken. Wer das Fernsehen »in Bausch und Bogen« verdammt, könnte auch Verdummung, Ausbeutung, Vergewaltigungen »generell« verteufeln. Es gibt aber gute und schlechte Vergewaltigungen, gute und schlechte Fernsehsender, gute und schlechte Autobahnen und gute und schlechte Gewehre. Daher ist Toleranz statt Konsequenz geboten. Der Wurm sitzt nie in der Sache, Einrichtung, Gewohnheit selbst.

Das betrifft auch den Menschen, weshalb es gute und schlechte Menschen gibt. Trachten die schlechten, die Grenze zum Mißbrauch zu überschreiten, halten die guten Menschen sie am Rockzipfel fest – statt »mit der Fundi-Keule zuzuschlagen«, wie es Karsunke an mir beobachtet hat. Mit dieser sanften Rockzipfel-Methode haben die guten Menschen schließlich schon die Kreuzzüge, den Kapitalismus und den ersten Atombombenabwurf zu verhindern gewußt.



Richter, Max Emanuel (18o3–21), Sohn des Schriftstellers Jean Paul, »mißraten«, zerrüttet. Der trinkfreudige Vater lebt mit seiner Gattin Karoline seit 1804 in Bayreuth, drei Kinder. Hier wird er zusehends kränker.* Er läßt seine Getränke untersuchen, bemüht eine Hellseherin, wankt von einem Aderlaß zum nächsten, was ihn freilich nur noch kränker machen kann.** Zu allem Unglück liegt ihm auch noch der einzige Sohn auf der Leber, der ebenfalls schon wackelt. Dr. Philipp Hausser behauptet: weil er »vorgeschädigt« sei, durch eine »schizoide Veranlagung« nämlich. Und nun sei er auch noch »durch unüberlegtes Verleihen seiner an sich ausreichenden väterlichen Mittel und durch seinen Umgang mit einer Gruppe junger Mystiker körperlich geschwächt und seelisch verelendet« … Der 17jährige hatte zuletzt in Heidelberg studiert. Er steht unter dem sattsam bekannten Druck, seinem schon fast berühmten Vater keine Schande zu machen, etwas zu werden, fragt sich nur, was ..? Max begeistert sich für den hingerichteten Studenten Sand, den Mörder des Mannheimer Gelehrten August von Kotzebue. Sand stammt auch noch aus Wunsiedel, gleich bei Bayreuth! Einerseits sammelt Max Reliquien vom Attentat, andererseits wird er immer schwermütiger. Der Vater ringt in vielen Briefen um ihn. Endlich, Mitte September 1821, trifft Max per Kutsche völlig abgebrannt und fiebernd in Bayreuth ein. Nach wenigen Tagen haucht er sein knapp 18jähriges Leben aus. Alle Kuren schlugen nicht an. Typhus soll auch im Spiel gewesen sein. Dr. Hausser spricht von einem »gnädigen« Ende. Jedenfalls hatte sich dadurch die Frage der Berufswahl beziehungsweise der ruhmreichen Laufbahn erübrigt.

* Hilde und Peter Zielinski, »Leben und Sterben in Bayreuth«, Webseite Jean-Paul-Weg, 18. August 2017: https://www.jeanpaulweg.com/2017/08/18/29-leben-und-sterben-in-bayreuth-teil-5-tod/
** Der »therapeutische Unfug« des Aderlasses (Gerd Reuther, Heilung Nebensache, 2021, S. 140) sorgte über Jahrhunderte hinweg für enorme Schäden, erwies sich freilich als sehr gesundheitsfördernd für die Ärzte.




Ritter, Christiane (1897–2000), Eismeerfreundin. Weiter oben erwähnte ich den betagten Polarjäger Hilmar →Nöis aus Spitzbergen, bei dem der Schriftsteller Alfred Andersch um 1965 eine Stippvisite machte. Die im Nordatlantik gelegene Inselgruppe ist bald so groß wie Irland, besteht aber nahezu ausschließlich aus Fels, Eis und Schnee. Die Temperaturen bewegen sich die meiste Zeit des Jahres zwischen minus 10 und minus 40 Grad. Viele Uneingeweihte fragen sich noch heute, womit Nöis und seine wenigen, über das Ödland verstreuten Kollegen eigentlich heizten. Die Eingeweihten konnten es bereits 1938 aus Christiane Ritters Buch Eine Frau erlebt die Polarnacht erfahren. Sie nehmen vor allem Treibholz, daneben Kohle. Diese wird oder wurde sogar, bei Longyearbyen, auf der Hauptinsel selbst gefördert. Das Treibholz besteht nicht selten aus ganzen Baumstämmen. Über beträchtliche Strecken angeschwemmt, beispiels-weise aus Sibirien, ist es fast immer bleich wie ein Gerippe.

Ritter, bei ihrem Jahresaufenthalt 1934/35 Ende 30, vertreibt durch ausgiebiges Brennholzsägen so manches Gespenst, während sie über Tage oder gar Wochen bei klirrender Kälte und heulendem Schneesturm auf die Rückkehr ihrer beiden (männlichen) Mitbewohner wartet, die gerade Polarfuchsfallen abgehen oder der Fährte eines Eisbären folgen. Die enge Hütte mit Flachdach ist nicht mehr als ein Holzkasten, von dem nur schwer geglaubt werden kann, die Stürme hätten ihn nicht längst nach Grönland geblasen, weil man dort ebenfalls Treibholz schätzt. Einmal kommen die Männer, der Österreicher Hermann Ritter und der Norweger Karl Nicolaisen, mit Hundegespann und einem hünenhaften Kollegen mit »hellen Augen, hellen Wimpern und buschigen Brauen« zurück, dem das Gespann gehört. Er sei jedoch »tadellos rasiert« gewesen, fügt die Autorin hinzu. Das war Nöis, damals vermutlich noch keine 50 Jahre alt. Er hat sogar Post dabei. Um sie zuzustellen, nahm er in der zerklüfteten Eiswüste einen Umweg von 280 Kilometern in Kauf.

Wie sich versteht, sägte Ritter von Hand. Ohne dabei die Härte eines solchen Daseins zu beschönigen, stellt ihr erstaunlich gut geschriebener Bericht in der Tat vor allem ein Lobgesang auf jenes Einfache Leben (Wiechert) dar, auf das ich bereits in dem Text über Nöis anspielte. Einmal vertreiben sich die drei HüttenbewohnerInnen den Abend, indem sie die Zeitungsinserate studieren, die sich auf dem Papier finden, in das ein aus Tromsø, Norwegen, stammender neuer Glaszylinder für die Petroleumlampe eingewickelt war. Da preisen die Kaufleute ihre Vanille-stangen, Dauerwellen, Leichenkisten nebst einem bequem per Telefon zu alarmierendem Elektro-Reparaturdienst bei Ausfällen der Bürobeleuchtung oder der Kühltruhe. »Eigentlich rührend, finden wir, wie sich da unten in der Menschenwelt einer dem anderen unentbehrlich zu machen weiß. Wie einer vom anderen abhängt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nein, wir dürfen nicht herabschauen auf die Zivilisation, [..] dürfen sie nicht als emporgeschraubtes Pflanzstadium verurteilen, wie wir das in unserer spartanisch genügsamen Weltabgesondertheit gern tun möchten. Nein, schon aus Nächstenliebe müssen wir uns verzierte Särge, ondulierte Köpfe, Waschtische mit fließendem Wasser und Rohrbrüche gefallen lassen.«

Verblüffenderweise versichert Ritter sogar, selbst »der Hunger nach Musik« fehle auf Spitzbergen völlig. Immer-hin stammt die junge Frau aus zugleich wohlhabendem und musischem böhmischem Hause. Man bedenke auch die vielen, mal vom Wetter, mal von der Abwesenheit der Jäger erzwungenen Mußestunden in der verrußten Hütte. Ritter malt und zeichnet öfter, denn das ist von Hause aus, noch vor der Musik, ihre Hauptleidenschaft. Dem Buch sind auch einige Bilder und Skizzen beigegeben. Ritters Lob der Schlichtheit hindert sie allerdings nicht daran, keinen Furz darüber fallen zu lassen, wie es zwei Männer und eine Frau bei dieser einzimmrigen Enge und diesen Schneeverwehungen rings um die Hütte mit der Verrich-tung ihrer Notdurft halten. Seehund schießt und ißt sie; für das Weitere war sie vielleicht doch zu prüde erzogen.

Den Kapitän und Jäger Hermann Ritter, der in den folgenden Jahren mehr unterwegs als in ihren Armen weilte, hatte sie mit 20 geheiratet. Und damit kommt die nächste Merkwürdigkeit. Sie läßt sich schließlich brieflich zu einer Überwinterung auf Spitzbergen verlocken – als sie jedoch in der Kingsbai an Land geht und von ihrem Gatten begrüßt wird, sind weder Wiedersehensfreude noch gar Zärtlichkeiten im Spiel, wie man aus ihrem Bericht schließen muß. Und so bleibt es die ganze Zeit, ein Jahr lang. Zu allem Überfluß hat ihr der Gatte auch noch eröffnet, er habe sich einen Gehilfen genommen; somit hat sie, jedenfalls überwiegend, mit zwei Männern in jenem Holzkasten zu hausen. Was hätten Romanciers daraus gesponnen! Sie aber, Christiane Ritter, bringt es fertig, diesen Zündstoff von der ersten Seite bis zum letzten Satz des Nachwortes kurzerhand auszusparen. Einmal erwähnt sie einen, möglicherweise nur aus der nervtötenden Enge im Hüttenhaushalt entstehenden Streit mit ihrem Mann, das ist schon viel. Gelegentlich wird das Ehepaar sogar von dem 27jährigen Karl für Tage oder Wochen allein gelassen – nicht ein Hauch von Andeutung, daß und vor allem wie es die Liebenden für prickelnde oder auch katastrophale Zweisamkeit ausnutzen. Der Hüttenherd schadhaft, das Bettzeug klamm, die Wände zumeist vereist – nicht unbedingt festliche Bedingungen für ein Liebespaar.

Gewiß ist es ebenso denkbar, die beiden hatten sich schon gehörig voneinander entfremdet, wobei es vielleicht auch blieb. Aus Ritters Nachwort, 1990 in hohem Alter geschrieben, geht darüber nichts hervor. Auf der Webseite cms.huskyfotos.de heißt es, die Familie Ritter – Töchter-chen Karin war bei der Oma geblieben – habe sich bald nach der Rückkehr in Leoben, Steiermark, niedergelassen. Ebendort sei Hermann Ritter 1968 mit 76 Jahren gestorben. Die betagte Witwe siedelte später nach Wien über, wo sie erst 2000 starb – mit 103 Jahren. Über berufliche Tätigkeit und finanzielle Verhältnisse ist von Ritter, wie schon in ihrem Bericht, so gut wie nichts zu erfahren. Vermutlich wirkte sie vornehmlich als Hausfrau und Buchillustratorin. Nötig hatte sie Erwerbstätigkeit wahrscheinlich kaum, denn ihr in etliche Sprachen übersetztes Buch erschien und erscheint in zahlreichen Auflagen bis heute. Das erwähnte Nachwort ist beispielsweise in der mir vorliegenden 21. Ausgabe von 2007 abgedruckt. Einschlägige Trekking-Webseiten geben Ritters Buch durchgehend als das bekannte Muß aus. Ritters Gatte Hermann, offenbar sowohl erfahrener Jäger wie patentierter Schiffsoffizier, soll sich bei Kriegsbeginn widerstrebend dem NS-Regime als Wetterbeobachter in Grönland zur Verfügung gestellt haben. Nach Entdeckung durch eine für die USA tätige Schlittenpatrouille und Loyalitätskonflikten (Jägerkameradschaft!) habe er sich jedoch zu den Amis abgesetzt. Mehr erfährt man über ihn nicht.

In diesem Zusammenhang muß Ritters Buch ein weiteres schmerzliches Desiderat angekreidet werden. Die Strukturen des Erwerbslebens eines Polarjägers erhellt sie so wenig wie das zeitgeschichtliche/politische Umfeld, in dem sich die drei, wie randständig auch immer, doch ohne Zweifel zu orientieren haben. Brummt Nöis bei seinem Besuch, nein, Krieg sei noch nicht, soweit er gehört habe, ist es schon wieder viel. Immerhin verliert die Autorin einmal einige Sätze über die Beweggründe eines Jägers, seinem Gewerbe ausgerechnet in menschenleerer Eiswüste nachzugehen – aber für mein Empfinden stellen sie keine wirkliche Erklärung dar. Ritter versichert, die Polarjäger seien bei ihrem »fast unmenschlich« anstrengenden Gewerbe nicht auf Ruhm aus. »Sie leben weitab vom Getriebe der Welt. Sie leben fast alle ohne Heim und Familie. Eine unbändige Liebe fesselt sie an das Land. Sie leben berauscht von dem Lebensatem dieser wilden Natur, aus der zu ihnen die Gottheit spricht.« Ja, mein Gott – und warum, bitteschön? Warum lieben sie ausgerechnet diese unbarmherzige Öde, deren Farb- und Formspiel Ritter allerdings beeindruckend zu beschreiben versteht? Warum suchen sie nicht die Nähe, vielmehr die Ferne ihrer Mitmenschen? Warum hat dann Hermann Ritter überhaupt geheiratet? Und warum ließ sich Christiane Ritter ausgerechnet von ihm heiraten? Warum wird es ihr im Zuge ihres Jahresaufenthaltes immer wichtiger, sich »der gigantischen Unfruchtbarkeit« Spitzbergens, ja mehr noch, sich »dem Grauen vor dem Nichts« zu stellen – aus freien Stücken sogar, da sie ja von niemandem zu diesem »verrückten« Wagnis gezwungen worden war?

Ich vergaß zu erwähnen, daß sich Spitzbergen durch krasse Lichtverhältnisse auszeichnet, Stichwort »Polarnacht«. Dort wird es einen Gutteil des Jahres nie dunkel und einen anderen Gutteil des Jahres nie hell. Solche Krassheit verstärkt das Grauen in der Einsamkeit sozusagen naturgemäß ungemein. Ritter beschreibt diese physikalischen Phänomene gewiß ausgezeichnet – aber einen psychologischen (und damit auch biografischen) Zug billigt sie ihnen nicht wirklich zu. Sie zieht sich auf esoterische Formeln wie »das Eigentliche«, »die Gottheit«, »heilige Stille« zurück. In einer Phrase, mit der ich schließen will, verknüpft sie ihre unpersönliche Betrachtungsweise auch noch erschreckend einfältig mit der schon gerügten unpolitischen Sicht: »Vielleicht werden Menschen späterer Jahrhunderte in die Arktis gehen, so wie Menschen in biblischen Zeiten in die Wüste zogen, um zur Wahrheit zurückzufinden.«



Rogers, Stan (1949–83), kanadischer Folk-Music-Sänger. Am 2. Juni 1983 brach in einer Douglas-Linienmaschine von Dallas, Texas, nach Montreal, Québec, ein Brand aus, der sie zur Notlandung auf dem Flughafen Cincinnati im nördlichen Kentucky zwang. Am Boden brannte sie weiter. Todesopfer und Überlebende hielten sich genau die Waage, je 23. Rogers zählte zu den Toten. Das kurbelte immerhin seine (posthume) Platten-Produktion an, denn der 33jährige Gitarrist und Liedermacher mit der gleißenden Stirnglatze war kein Star gewesen. Aber verheiratet: die Witwe und Nachlaßver-walterin heißt Ariel. Seit 1997 gibt es in Canso, Nova Scotia, sogar ein jährliches Stan Rogers Folk Festival. 2014 wurde es allerdings wegen einer Hurrikan-Warnung abgesagt. 2020 kam ein noch verheerenderes Ereignis dazwischen, Sie wissen schon. Mal sehen, wie es weitergeht.

Die Burg-Waldeck-Festivals im Hunsrück, veranstaltet 1964–69, waren angeblich die ersten Freiluftkonzerte in Deutschland. In Fachkreisen gelten sie jedenfalls als Meilenstein des deutschsprachigen Liedermachertums. Dort weiß auch jeder, daß der antiautoritär gestimmte schwäbische Liederausgräber und -macher Peter Rohland(1933–66), kräftig in Gestalt und Bariton, zu ihren Mitgründern gehörte. In Westberlin hatte er sogar zeitweise Musik studiert. Eigentlich wollte sich der breitmundige Barde ohne Bart fest in Süddeutschland niederlassen, aber das ging dann leider nur im Sarg. Warum? Das dürfen Sie die Webseite der Peter Rohland Stiftung nicht fragen. Sie erklärt uns mit einem Aufsatz Helmut Königs von 1999: Im Januar 1966 erkrankte Rohland plötzlich, im April war er tot … In anderen Quellen herrscht die Formel vor, der 33jährige sei in der Freiburger Universitätsklinik »den Folgen einer akuten Gehirnblutung« erlegen. Aber wie kommt man zu so einer Gehirnblutung, bitteschön? Oder zu jener verschwom-menen »Erkrankung«? Eckard Holler meint 2007 in seiner Waldecker Rede zur Stiftungsgründung*, bei Rohland sei die Gehirnblutung »vermutlich durch Überarbeitung ausgelöst« worden. Jetzt wissen wir es ganz genau.

Wäre es möglicherweise denkbar, auch die Angst hätte eine Rolle gespielt? 1976 startete ich meine eigene Laufbahn als Liedermacher in einer Kreuzberger Pizzeria. Wie ich dieses »Debüt« überleben konnte, ist mir noch heute ein Rätsel. Meine Finger zitterten wie Espenlaub; mein schlackernder Gitarrenhals verpaßte den am Podest Stehenden beinahe Ohrfeigen; in meinen Roots-Gesundheitsschuhen standen Lachen der Schweißperlen, die mir am Körper hinabrollten; mein Atem flog erheblich schneller, als ich die Worte meiner selbstgefertigten Texte stammeln konnte – und so weiter. SchauspielerInnen oder Prüflinge kennen auch weiche Knie und Herzklopfen. Doch wer all diesen Aufgeregten »Angst« bescheinigen würde, zöge sich ihr empörtes Fauchen zu. Es ist höchstens Lampenfieber.

Auch die »Nervosität« und der wahrlich inflationär gehandelte »Streß« verharmlosen die Angst, wie ich glaube. Einen Menschen, der sich bewähren soll, plagt zumindest die Angst vorm Versagen. Da auch Nieren oder das Herz versagen können, liegt die Vermutung nahe, Kern jeder Angst sei Todesangst. Seelenärzte wie Freud und sein abtrünniger Zögling Jung, wie Wolfgang Schmidbauer oder H. E. Richter stimmen darin tatsächlich überein. Angst bewirkt das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden, und an deren Ende winkt das Nichts.

Sollte sich Rohland tatsächlich »überarbeitet« haben, wäre zumindest die Frage berechtigt: warum tat er dies? – »Aus Geldnot«, ist die bequemste Lösung. Eher saß ihm doch irgendetwas im Nacken, das ihm Unruhe, Schuldgefühl, Getriebensein, bohrenden Ehrgeiz bescherte. Niemand wird Liedermacher oder sonst ein Künstler wie ein Freund der Bäume und Hölzer Schreiner wird. Alle KünstlerInnen sind eigentlich schon vom ersten frühen Probestück an Kandidaten für jenes Lexikon der Frühverstorbenen**, das mir einmal vorschwebte. Ausnahmen bestätigen die Regel, wie immer.

* https://archiv.folker.de/200704/11rohland.htm
** Nur Leichen unter 40




Rott, Hans (1858–84), österreichischer Komponist. Er zählte zu den Lieblingsschülern Anton Bruckners. Dagegen hieß sein August Ahlqvist – falls Sie sich noch an den Verreißer des Schriftstellers →Kivi erinnern – Johannes Brahms. Hugo Wolf soll Brahms, der 1880 Rotts Sinfonie in E-Dur kritisiert hatte, sogar »den Mörder Rotts« genannt haben. Dummerweise war die Kritik des Bruckner-Antipoden und Kuratoriumsmitgliedes Brahms mit der Nichtvergabe eines Staatsstipendiums verbunden. Die Sinfonie – später von Rotts Mitschüler Gustav Mahler als bahnbrechend gerühmt und heute, laut Uwe Harten (2005), oft gespielt – kam noch nicht einmal zur Aufführung. Daraufhin verließ der 22jährige Geschmähte Wien, um eine Stelle als Musikdirektor und Chorleiter in Mülhausen, Elsaß, anzutreten, aber auch daraus wurde nichts. Im Zug bedrohte Rott, dem sicherlich auch noch andere Enttäuschungen zusetzten, einen Mitreisenden, der sich eine Zigarre anzünden wollte, mit dem Revolver. Denn Brahms, so Rott zur Erklärung, habe den Zug mit Dynamit füllen lassen. Man beförderte Rott nach Wien zurück und steckte ihn, nach einem Klinikaufenthalt, in die Landesirrenanstalt. Das war dann die damals übliche Fahrkarte zum Friedhof.* Rott starb in seiner Klapsmühle, nach mehreren Selbstmordversuchen, im Sommer 1884 mit 25 – angeblich an Tuberkulose. Das war wenigstens eine »Todesursache«, die nicht aus dem Rahmen fiel.

* Eckhardt van den Hoogen 2002/2018 auf https://www.hans-rott.de/vdhd.htm



Rühmann, Heinz (1902–94). Sicherlich kennt man ihn ähnlich prompt wie Napoleon, Stalin oder dessen Kumpel und Nachfolger Chruschtschow. Und was verbindet diese Herrschaften? Sie alle maßen keine 1,70 – für Herrscher ziemlich peinlich. Chruschtschow war immerhin listig. Er ließ sich vom italienischen Modeschöpfer Angelo Litrico Schuhe machen, die durch ihr ausgeklügeltes Innenfutter eine unauffällige Vergrößerung ihres Trägers bewirkten. Heinz Rühmann, der für kleine Helden am Theater keine Chancen sah, hatte sich am Beginn seiner Laufbahn noch mit Einlagen zu behelfen. Sie alle wären glatt aus ihrem Grab gefahren, hätten sie um 2000 die damalige Heutige Jugend rotzfrech wie auf Dampfbügeleisen durch die Straßen staken gesehen.

Zwar konnte der begabte Schauspieler und Kokettierer mit den Einlagen seine 1,65 und seine Gagen anheben, doch im Charakter wuchs er weniger stark. Darauf deutet bereits der Umstand, daß er in drei verschiedenen deutschen Regimen gleichsam Mustergatte und Großverdiener blieb. Mit der Titelrolle im Lustspiel Der Mustergatte nach Avery Hopwood hatte er 1922 seinen Durchbruch erzielt. Wolfgang Liebeneiners Kinofassung von 1937 wurde ein Kassenschlager. Rühmanns erste Nachkriegsrolle auf der Bühne war ebenfalls Der Mustergatte. Die Gagen für seine Filmrollen wurden fetter als Ludwig Erhard. Immerhin mußte Rühmann davon das Honorar für den bekannten Maskenbildner Josef Coesfeld abzwacken, den der eitle Star auch privat beschäftigte. Das beste Schnäppchen machte er, als er schon mit einem Bein in der Kiste stand, wie von Fred Sellin (2001) zu erfahren ist. Für seinen letzten Fernsehauftritt in Linz 1994 handelt der schmächtige, gebrechliche 92jährige eine Gage von knapp 40.000 Mark aus. Per riesigem Mercedes in seinem Hotel abgeholt, hat er sich dann in einer beliebten Show mit Thomas Gottschalk für vier oder fünf Minuten zu zeigen. Wie sich versteht, wird der kleine Greis mit dem bübischen Lächeln fanatisch beklatscht.

Rühmanns Güte war nur das halbe Gesicht. Sellin zufolge konnten den Golf spielenden Auto-, Motorboot- und Flugzeugnarr schon geringste Vefehlungen in der Etikette beleidigen. Er ist unnahbar, wirkt oft überheblich, schulmeistert gern. Aufs Vertuschen versteht er sich auch ohne Mitwirkung seines Maskenbildners. 1954 leistet er sich nach einem Autounfall – er war in München gegen einen Laternenmast gefahren, wahrscheinlich betrunken – Fahrerflucht, obwohl seine junge Begleiterin Margarethe Hirmer gegen die Windschutzscheibe des gemieteten Borgwards 1800 prallt und nach dem Aussteigen bewußtlos zusammenbricht. Da alle Freunde, Beamte, Journalisten, mit denen er es in der Folge zu tun hat, beim Vertuschen mitmachen, kommt der beliebte Schauspieler mit 600 Mark Buße wegen Fahrlässiger Körperverletzung und mit gesundem Ruf davon.

Weil das Wort Klassenjustiz gar zu antiquiert klingt, spricht man heutzutage in solchen Fällen vom Wirken des Prominentenbonus. Sellin fügt seiner interessanten Erzäh-lung noch hinzu: »Zur gleichen Zeit wird vom gleichen Gericht ein Beleuchter des Residenztheaters wegen Diebstahls zu fünf Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Der junge Mann hatte vier Glühbirnen, einen wasserdichten Lichtschalter, zwei Wandleuchter und Werkzeug mitgehen lassen.«

Eigentum verpflichtet – die Klassenjustiz.



Scheele, Meta (1904–42), Schriftstellerin. Obwohl dem Faschismus nahestehend, fiel sie unter das Programm Euthanasie. Die Tochter eines norddeutschen Schulrats und Heimatforschers hatte unter anderem Geschichte studiert und 1928, mit nur 23 Jahren, in Göttingen ihren Dr. phil. gemacht. Zwei Jahre darauf heiratet sie ihren Göttinger Kollegen Werner Pleister, der sie in ein »nationalkonservatives« Umfeld zieht. Sie geht mit ihm nach Berlin, wo er, als eingeschriebenes Mitglied der NSDAP, von 1932 bis 1937 die Literarische Abteilung des Deutschlandfunks leitet. Er macht weiter Karriere; 1952 ist er der erste Fernsehintendant der BRD. Aber von Meta Scheele hat er sich schon 1937 getrennt – falls die Scheidung von ihm aus ging. Nun kehrt die verstörte, wenn nicht gar zerrüttete Frau in ihre Heimat zurück, nach Ratzeburg und Lübeck, und wie es aussieht, blüht sie dort keineswegs auf. Wahrscheinlich gelingen ihr nun auch keine literarischen Arbeiten mehr. Scheele hatte um 1930 begonnen, Rezensionen und Feuilletons für die Presse und auch eigene erzählende Werke zu verfassen, in denen sie Geschichtsschreibung mit Fabulieren vermischt. Sie konnte, nach ihrer Dissertation und einem Band mit Gedichten, mindestens vier solcher Bücher veröffentlichen, darunter Die Sendung des Rembrandt Harmenszoon van Rijn, die später auch als »Wehrmachtsausgabe« erschien.

Im November 1938 fand sich Scheele in der Lübecker Nervenheilanstalt Strecknitz wieder – auf wessen Betreiben, geht leider auch aus Gisela Schlüters Porträt »Die wahre Geschichte der Meta Scheele« von 2007 nicht hervor. Aber es kam noch viel dicker. Im September 1941 wurde Scheele, mit anderen »Geisteskranken«, in die sogenannte Eichberg-Klinik bei Erbach/Eltville im Rheingau geschafft – in Wahrheit eine von den Ärzten Friedrich Mennecke und Walter Schmidt geleitete Tötungsanstalt im Rahmen jenes faschistischen »Euthanasie«-Programms. Hier wird die 37jährige Ex-Schriftstellerin am 1. Juni 1942 umgebracht.

Wahrscheinlich deutet sich Scheeles bis zur Verwirrung führende Unentschiedenheit bereits in ihrem ersten Roman Frauen im Krieg an, der 1930 in Gotha erschien. Schon dem Titel mangelt es an Genauigkeit. Es geht der Autorin nämlich gerade um das Problem, daß die Frauen nicht im Krieg stehen, aber als Mütter, Gattinnen, Bräute, die zu Hause bleiben müssen, gern gewichtige Beiträge zur Verteidigung des Vaterlandes, Schmiedung der Volksgemeinschaft – kurz, zum sozialen Ganzen leisten würden. Die junge Bürgerstochter Johanna kommt sich jedenfalls reichlich überflüssig oder unausgefüllt vor, während ihre Mutter sie ans Haus fesselt und ermahnt, auf ihren sicherlich schon in Kürze siegreich aus Frankreich heimkehrenden Verlobten Klaus zu warten. Aber der Erste Weltkrieg zieht sich hin. Die Ärmlichkeit greift um sich, Mißgunst und Gehässigkeit nehmen zu, selbst die »Argumente« für den Krieg drohen schäbig oder fadenscheinig zu werden. Johanna probt den Aufstand durch Mitarbeit in einem Lazarett. Später arbeitet sie sogar in einem Kinderheim, gibt ihrem in den Revolutionswirren heimkehrenden Bräutigam den Laufpaß und reist in die Hauptstadt, um in der Zentrale eines Frauenverbandes zu arbeiten und nebenher Medizin zu studieren.

Leider bleibt Scheeles Kritik an der Männerrolle ähnlich schwach beziehungsweise verwaschen wie die am Krieg. Diese wird einmal von einer Munitionsfabrikarbeiterin namens Bohr und später von Müttern der Heimkinder vorgebracht. Warum die von Frauen in die Welt gesetzten Kinder eines Tages als Kanonenfutter zu dienen haben, wird allerdings nie erörtert oder auch nur angedeutet. Ökonomische und politische Interessen kommen nicht vor. Entsprechend bleibt das, was Scheele als »Aufbruch der Frau« hinstellt, völlig im Nebel. Aufbruch, Frauenwahl-recht, Freiheit – wohin und wozu? Nur, um es den Männern gleich tun zu können? Diesem nebelhaften Schritt in die Freiheit wiederum entspricht der beschwörende bis pathetische Zug der betreffenden Romanpassagen. Ansonsten ist der Roman erfreulich schlicht und anschaulich geschrieben und mutet uns nur wenige Holprigkeiten zu. Er hat etwas Bescheidenes und Tapferes. Jedenfalls geht ihm jedes Gramm Zynismus ab, ganz im Gegensatz zu den Erzählungen von, sagen wir, Katherine Mansfield, die zwar die glanzvollere Stilistin, im Grunde aber noch unpolitischer als Scheele ist.
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