Dienstag, 13. Dezember 2022
Nasen O'Cas—Praz

O'Casey, Sean (1880–1964). Vorausgesetzt, einer hat zunehmend Schwierigkeiten gutes Lesefutter aufzutreiben. Nun stößt er in seinem Brockhaus (Band 16 von 1991) auf den Eintrag zum irisch-englischen, zumindest zeitweise vielgespielten Dramatiker Sean O'Casey. Zwar macht sich der Lesehungrige gar nicht so viel aus Dramen, aber als geborener Einfaltspinsel klammert er sich an die abschlie-ßende Bemerkung: »Seine sechsbändige Autobiographie (1939–56) schildert eindrucksvoll seinen Werdegang und gilt als Meisterwerk der Gattung.«

Also besorgt er sich das Meisterwerk. Er ergattert sogar ein kaum gelesenes antiquarisches Exemplar der deutsch-sprachigen Diogenes-Ausgabe*, die in typografischer Hinsicht nichts zu wünschen übrig läßt, von der Fadenheftung bis zum grünen Leinenumschlag, und alles für schlappe 18 Euro. Da verschmerzt man den Schutzumschlag leicht, zumal O'Casey im Innneren mit einer farbenprächtigen Bilderflut aufwartet. Jeden empfindlichen Einfaltspinsel muß sie an die Wand drücken. O'Casey, der Inselbewohner, liebt überhaupt das Ausufernde ungemein. Er schwafelt und verurteilt und wiederholt sich wie ein roter Priester (der er ja wohl auch war). Striche man allein seine ewig gleichen Ausfälle gegen Kirche und Klerus, hätte man von den sechs Bänden des Werkes schon drei eingespart. Er wirft bedenkenlos mit Blumigkeit und nichtssagenden Phrasen um sich, bis man kaum noch ein Körnchen jener »Wahrheit« sieht, die er so gern beschwört. Sein Humor beläuft sich überwiegend auf Ironie; seine selbstkritischen Bemerkungen sind eher dünn gesät. Ich will nicht gerade behaupten, er sei so ein selbstgerechter und engstirniger Kotzbrocken wie der (von Minetti gespielte) Zirkusdirektor aus Thomas Bernhards Stück Die Macht der Gewohnheit (1974) gewesen, aber viel dürfte da nicht fehlen. Immerhin bricht er eine Lanze für die durchweg versklavten Kinder und Frauen Europas, wenn er sich auch stets eine Hausgehilfin oder ein Kindermädchen hält, vielleicht auch beides. Seine Gattin Eileen war Schauspielerin. Natürlich hält er auch den Fortschritt hoch, voran die Elektrizität, das Wunderland USA – und das gelobte Land SU.

Für was der Dramatiker, der sich endlos über den fehlgeschlagenen oder halbherzigen Befreiungskampf der Iren ausläßt, bei seiner Nordamerikareise bestenfalls ein Hühnerauge hat, das ist die IndianerInnenfrage. Als gälischer Patriot scheint er sie gar nicht zu kennen. Vielleicht glaubte er, die beeindruckenden Wolkenkratzer seien lediglich mit Hilfe einiger Gastarbeiter hochgezogen worden, die dann wieder nach Hawaii oder Feuerland heimkehrten, etwa Sitting Bull, von dem man zuweilen liest. Im letzten Band seines Meisterwerkes – Eileen liegt gerade schwanger in einer schäbigen Londoner Privatklinik – kommt er doch noch auf die IndianerInnen zurück. Er stellt fest: »Die fürsorglichen Überlegungen, die man der geistigen und körperlichen Entwicklung des englischen Kindes widmet, sind nicht die eines zivilisierten Volkes, sondern stehen auf der Stufe eines primitiven Palavers, das in einer Wigwamberatung unter einem Dach aus Kuhhäuten abgehalten wird.« (S. 27)

Wenn diese Prosaarbeit des Dramatikers als Meisterwerk gelten sollte, würde man doch gern wissen, wer es warum dazu erklärt hat. Vielleicht Arthur Miller, der sie in seinen Erinnerungen »wunderbar« und O'Casey ein »Genie« nennt?** Brockhaus verrät es nicht. Das Urteil wird so anonym abgegeben, wie es im sogenannten Kanon dann auch bleibt. Der Kanon ist allmächtig, unwiderruflich, unsichtbar und unbelangbar – gerade so wie Gott.

Ich möchte O'Casey nicht verlassen, ohne auch noch George Orwell eins überzuziehen. Ich kann dabei an einer kleinen Schlammschlacht anknüpfen, die die Kollegen gegeneinander schlugen. Beide Schriftsteller lebten damals in England, doch der erste war bekanntlich Ire. Merkwürdigerweise wird dieser Streitfall in Michael Sheldens umfangreicher Orwell-Biografie von 1991 ausgespart***, jedenfalls soweit ich mich erinnere, und auch nach Ausweis des Registers. Laut Register wird der Ire nur einmal erwähnt (auf S. 585), nämlich als Bestandteil einer privaten Liste Orwells, die über 100 Sympathisanten, wenn nicht gar Agenten des Sowjetkommunismus enthielt. Neben O'Caseys Name stehe der Zusatz: »Strohdumm«. Diese Einstufung würde sich natürlich gut mit O'Caseys Geschichte von Orwells frühem Roman Eine Pfarrerstochter (1935) decken, falls sie stimmt. Das darf man wohl annehmen. Wäre sie erfunden oder verfälscht, hätte Sonia Brownell, Orwells Erbin, sicherlich eine Verleumdungsklage angestrengt; die Frau hatte Haare auf den Zähnen. Nach O'Caseys Darstellung im sechsten und letzten Band seiner Autobiografie (S. 134/35) hatte ihm damals Verleger Gollancz die Druckbogen der Pfarrerstochter mit der Bitte geschickt, dieses Werk, das streckenweise dem Besten von Joyce gleichkäme, zu lesen und möglicherweise eine in der Werbung zitierfähige, also griffige, günstige Zeile darüber zu erübrigen. Dieses Anliegen schmetterte O'Casey ab, weil er das Werk für mangelhaft hielt. Es könne noch nicht einmal als gelungene Joyce-Nachahmung angesehen werden, teilte er Gollancz mit. Orwell habe genausoviel Aussicht, die Größe von Joyce zu erreichen, wie eine Meise Aussicht habe, sich in einen Adler auszuwachsen.

Übrigens war Orwell selber nicht gerade von seiner Pfarrerstochter erbaut. Shelden zufolge (S. 288/89) hatte er »eine ausgesprochen schlechte Meinung« von dem Buch und bezeichnete es in einem Brief sogar kurz und bündig als »Mist«. Doch in diesem Fall stellte er wohl seinen Rachedurst über seine Selbsterkenntnis, sonst hätte er 10 Jahre später kaum so kräftig gegen O'Casey vom Leder gezogen – zumal er soeben (1945!) im Begriff stand, sich in einer kleinen Betrachtung mit dem Titel »Rache ist sauer« gegen das verbreitete Bedürfnis sich zu rächen auszusprechen.

Laut übereinstimmender Angabe von US-Historiker Arthur Mitchell (1998)**** und dem Belfaster Blogger Brian John Spencer (2016)***** brachte der Observer im Oktober 1945 einen Verriß des dritten Bandes der O'Casey-Autobiografie aus Orwells Feder. Für den irischen Dramatiker war das ein »Martergeschrei«, wie im sechsten Band (S. 127–37) zu lesen ist – weit entfernt von der »Redlichkeit«, die Orwell bekanntlich ringsum bescheinigt werde. Verfährt aber O'Casey untadeliger? Bevor er überhaupt zur Sache kommt, nämlich zu Orwells Kritik an Band 3, hält er sich zweieinhalb Seiten damit auf, ein allgemeines Schauerbild von Orwells in Tuberkulose, Pessimismus und Proletariatsferne verwurzeltem »krankhaftem Geist« und der entsprechenden »Wehleidigkeit« zu malen. So eingestimmt, können unbedarfte LeserInnen nur befürchten, von solch einem Invaliden sei keine aufbauende Kritik zu erwarten. »Kampfgeist«, so O'Casey weiter, habe Orwell nie besessen. Dessen Gastspiel als republikanischer Partisan im Spanienkrieg klammert O'Casey großzügig aus. Orwells jüngste Bücher Farm der Tiere und 1984 macht der Ire natürlich schlecht. Aber was hat dies alles mit Sean O'Caseys Autobiografie zu tun? Nun, die angeführten Werke wurden ja leider viel gelesen, wie O'Casey selber einräumt, und hier dürfte der neidvolle Hase im Pfeffer liegen. Orwell war sehr erfolgreich – O'Casey nicht.

In der Sache selber hat O'Casey wenig Entkräftung zu bieten. Weist er Orwells Vorwurf zurück, er schmähe in einem fort England, hat er sicherlich recht; es bleibt jedoch oberflächlich. Vom starken romantischen, durch Heimatgefühl beflügelten Zug seines gälischen Nationalismus spricht O'Casey lieber nicht – falls er ihn sich überhaupt eingestehen könnte. Ferner geht er auf Orwells Kritik am nebelhaften und narzistischen Stil des dritten Bandes nicht wirklich ein – er ironisiert sie nur, wie er leider vieles lediglich ironisiert. Dann läßt er das Ganze in einem für ihn typischen erfundenen und wieder schön ausufernden Kneipendialog enden, in dem er noch einmal Gelegenheit hat, seinen Widersacher Orwell als »aufgeblasenen Dummkopf« zu bezeichnen. Im folgenden teile ich Auszüge aus Spencers, allem Anschein nach korrekter Wiedergabe der im Observer erschienenen Rezension mit.

But the cloudy manner in which the book is written makes it difficult to pin down facts or chronology. It is all in the third person (»Sean did this« and »Sean did that«), which gives an unbearable effect of narcissism, and large portions of it are written in a simplified imitation of the style of Finnegans Wake, a sort of Basic Joyce, which is sometimes effective in a humorous aside, but is hopeless for narrative purposes.

However, Mr O'Casey's outstanding characteristic is the romantic nationalism which he manages to combine with Communism. This book contains literally no reference to England which is not hostile or contemptuous.

So far as Ireland goes, the basic reason is probably England's bad conscience. It is difficult to object to Irish nationalism without seeming to condone centuries of English tyranny and exploitation. In particular, the incident with which Mr O'Casey's book ends, the summary execution of some twenty or thirty rebels who ought to have been treated as prisoners of war, was a crime and a mistake.

Als ich diese Anwürfe las, meinte ich mich allerdings zu erinnern, Orwells eigene, nur diesmal britisch gefärbte patriotische Ader sei ebenfalls recht geschwollen gewesen. Shelden stellt sie etwa auf den Seiten 437–39 heraus. Konsequenten Anarchisten könnte sie glatt den Kragen platzen lassen. Gewiß sei Großbritannien ein kapitalistisch-imperialistisches Land, räumte Orwell ein, und wenn es hart auf hart komme, werde sich auch Chamberlains »Demokratie« in ein faschistisches Regime verwandeln. Aber! Aber jetzt, unter Hitlers Ansturm, stellte sich auch Orwell, der Ex-Spanienkämpfer und eingefleischte Rebell, den Kriegsanstrengungen der Nation zur Verfügung. Er verrate seine linken Überzeugungen nicht, wenn ihm bloß die Verteidigung seiner Heimat am Herzen liege. Er orakelt vom »inneren Bedürfnis nach Patriotismus und militärischen Tugenden, für die, so wenig sie den weichlichen Angsthasen der Linken auch gefallen mögen, noch kein Ersatz gefunden worden ist.« Das ist gefährliches Gewäsch, weiter von kritischer Analyse entfernt wie ein Zwergtaucher von einem Pelikan.

Nach Mitchell hatte sich Orwell für Irland, das er auch nie betreten habe, lange Zeit nicht sonderlich interessiert. Dann habe ihn jedoch die Neutralität im Weltkriegsge-schehen aufgeregt, die das »scheinunabhängige Irland« erklärte; sie schloß auch Verweigerung aliierter Luftwaffen-Stützpunkte ein. Allerdings führt Mitchell auch die Versicherung eines engen Orwell-Freundes an, Christopher Hollis, von allen Gefühlen Orwells sei die Vaterlandsliebe das tiefste Gefühl gewesen, eben die Liebe zu England, nur habe er nie akzeptieren geschweige denn nachvollziehen können, daß andere aus anderen Vaterländern stammen und dieselben nicht minder stark lieben und verteidigen könnten.

Freilich war auch der kritische Blick seines Widersachers O'Casey nur dann scharf, wenn er nicht O'Caseys gut gehegte »inneren Bedürfnisse« zu beschneiden drohte. Auf Seite 151 seines sechsten Bandes erwähnt der Ire Hitlers Überfall auf Polen. Aber weder hier noch sonstwo hält er es für sinnvoll, den kurz zuvor abgeschlossenen »Hitler-Stalin-Pakt« vom August 1939 zu streifen, der Hitler jenen Überfall erst ermöglicht hatte [A-25]. Wo liegt hier die Unredlichkeit? Seine »Behandlung« des Zweiten Welt-krieges an dieser Buchstelle ist überhaupt kennzeichnend für O'Caseys blumig-nebelhafte Darstellungsart, die sich mit Daten, Quellenhinweisen bei Zitaten und zwingender Argumentation nicht aufzuhalten braucht, jedoch den Eindruck von Satire erweckt und den Mangel dadurch entschuldigt. Es ist eine leichtfertige bis unverantwortliche Darstellungsart, und das nicht nur im Fall eines autobiografischen Werkes. Wenn sie einer »strohdumm« nennt, wie oben erwähnt, kann ich es ihm eigentlich nicht verdenken. Wobei die Spitze des Strohhalms in O'Caseys Fall der unausrottbare Wunsch sein dürfte, sich mit aller Gewalt als »Dichter« zu präsentieren, als begnadeter Maler am Himmel der Poesie.

Allerdings könnte man einige Ausfälle Orwells ebenfalls leichtfertig oder unverantwortlich, vielleicht sogar faschistisch nennen. Laut Spencers Wiedergabe leitet der Engländer seine Besprechung des dritten Bandes der Autobiografie O'Caseys mit dem Satz ein: »W.B. Yeats said once that a dog does not praise its fleas, but this is somewhat contradicted by the special status enjoyed in this country by Irish nationalist writers.« Bekanntlich pflegt man Flöhe mit einem Daumendruck auszulöschen, falls man ihrer habhaft wird. Was die meisten Kunst-schaffenden dieses Planeten vordringlich zu verbinden scheint, ist der Haß – aufeinander.

* o.J., Lizenzausgabe nach: Paul List Verlag, Leipzig, 1957–63
** Zeitkurven, Fischer-TB-Ausgabe 1989, S. 424
*** deutsch bei Diogenes 1993, hier als Taschenbuch, Zürich 2000
**** Artikel »George Orwell & Sean O'Casey«, 1998, hier auf https://www.historyireland.com/20th-century-contemporary-history/george-orwell-sean-ocasey/ / Kurzvita Mitchells hier: https://www.sc.edu/about/system_and_campuses/salkehatchie/faculty-staff/mitchell_arthur.php
***** https://brianjohnspencer.blogspot.com/2016/07/george-orwell-on-ireland-ctd.html, 1. Juli 2016




Oestreich, Michael (1802–38), ostwestfälischer Orgelbauer. Die dürren Angaben lassen dennoch die Vermutung aufkeimen, sein Lebensweg sei nicht ganz so glatt und gradlinig wie eine Orgelpfeife verlaufen. Er stammte aus einer im Raum Fulda ansässigen Orgelbauer-Sippe, wandte sich aber, mit Ende 20, um 1830 nach Dringenberg (zwischen Paderborn und Höxter), um dem Meister Arnold Isfording als Geselle zur Hand zu gehen. Vielleicht hatte er gewittert, daß der Meister schon 1831 das Zeitliche segnen würde. Oestreich übernahm den Laden des 67jährigen und gleich auch Isfordings Witwe Anna Maria oder Anna Catharina, je nach Urkunde, geb. Waldhoff. Der 31jährige hatte inzwischen die amtliche Befugnis erwirkt, im (preußischen) Regierungsbezirk Minden Orgeln zu bauen, zu reparieren und zu stimmen. Laut freundlicher Auskunft des Dringenberger Heimatvereins war Anna, Tochter eines »Ackersmannes« aus Istrup, günstigerweise erst 29. Vermutlich brachte sie, neben der Werkstatt, auch ihre zwei Kinder mit in die neue Ehe ein. Drei kamen dann noch hinzu. Dafür verlor ihr Mann eine ganze Orgel, wenn man der deutschen Wikipedia trauen darf. Es handelte sich um eine von Oestreich gebaute kleine transportable Orgel, die er einem Bösingfelder Gastwirt (bei Hameln) als Pfand wegen Zechschulden habe überlassen müssen. Sie wurde nach Oestrichs Ableben umständlich freigekauft und schließlich in der Kirche von Bad Lippspringe (bei Paderborn) untergebracht.

Die Gründe für Oestreichs Ableben (wahrscheinlich mit 35) schränkt das Dringenberger Kirchenbuch auf »Zehrfieber« ein. So nannte man damals die Tuberkulose. Vielleicht war das Zehrfieber aber vom Höllenfeuer seines Temperamentes und seiner Ehe geschürt worden. Jedenfalls darf man häufige Löschversuche in Kneipen vermuten. Ein Detail macht mich allerdings stutzig: Die Strecke Dringenberg–Bösingfeld. Sie bemißt sich bereits in der Luftlinie (nach Norden) auf 45 Kilometer. Die damaligen Transportverhältnisse berücksichtigt, ist wohl kaum anzunehmen, Oestreichs Stammkneipe sei ausgerechnet von dem erwähnten Pfandnehmer in Bösingfeld betrieben worden. Hatte er am Ende eine Geliebte dort? Und dann mußte er auch noch seine Kleinorgel dahin schaffen, falls er sie nicht sowieso gerade auf dem Pferdefuhrwerk hatte, weil er unterwegs gern musizierte.

Denkt man genauer darüber nach, sind mit Orgeln noch andere gewaltige Probleme verbunden – Stichwort Lärm. In der hiesigen Puppenfabrikkomunne, in der ich früher wohnte, wurden zuweilen »Workshops« für Schulkinder jeglichen Alters veranstaltet – ein Wunder, daß die bröckligen Ziergiebel über den Treppenhäusern sogar heute noch stehen. Allein 30 Kinder, die in einem geräumigen Innenhof nichts anderes tun, als an, unter oder auf langen Klapptischen ihr Frühstück einzunehmen, haben die Sprengkraft dreier Horst-Lange-Hummeln. Lange verglich 1937 in Schwarze Weide eine schnöde Dorfkirchenorgel mit einer offenbar extrem angeschwol-lenen Hummel, die ringsum gegen die mit Blei eingefaßten Kirchenfensterscheiben dränge. Kirchenglocken sind dann wahrscheinlich die Hodensäcke Gottes und Satans, während sie miteinander ringen.

Von daher bin ich unsicher, ob ich den Stadtpfarrer Ulrich Boom aus Miltenberg am Main bewundern soll. Er wurde Ende 2006 für 20 Minuten Glockenläuten mit dem Aschaffenburger Mutig-Preis geehrt. Im Juli jenes Jahres hatten nämlich Neonazis versucht, auf dem Miltenberger Marktplatz eine Kundgebung abzuhalten. Dies vereitelte Boom von der Jakobuskirche aus – über knapp 800 Meter! Ja, das können die Christen eben: Gewalt mit Gewalt beantworten. Wenn sie in einigen größeren deutschen Städten Sturm gegen Moscheen laufen, sollten sich die Minarettsänger vielleicht Musikkapellen mit Verstärker-türmen mieten. Ich kenne deren Wirkung, da ich eine Zeitlang das Vergnügen besaß, schräg gegenüber von einer sogenannten linken Kneipe zu wohnen, die jeden Samstag um 21 Uhr ein sogenanntes Konzert gab. Sobald meine Scheiben klirrten, sah ich zur Uhr um festzustellen, ob die Genossen RockmusikerInnen wieder ihren Verspätungs-rekord gebrochen hatten, auf daß sich meine Samstagsnacht noch kürzer gestalte.

Wie sich versteht, wies das revolutionäre Kneipenkollektiv es entrüstet zurück, seine Konzerte in die Nähe von CIA-Kursen für Lärmterror und akustische Folter zu rücken. In den Händen der Guten werden aus Granaten Schokoladen-eier und aus Rammbässen Engelszungen. Im übrigen beobachten wir in der Frage des Lärmes eine Ignoranz, die dem dummdreisten Übergehen aller mörderischen Zivilisationserscheinungen, die nicht dem Corona-Virus gleichen, doch sehr ähnlich ist. Dabei dürften allein die Opfer des Verkehrs, des Chemiekeuleneinsatzes, der Krankenhausinfektion, der Justiz- und Bürokratenwillkür und der imperialistischen Kriege oder »Sanktionen« Tag für Tag, weltweit, in die Hunderttausenden gehen – Tag für Tag. Aber ich will nicht ablenken. Zur Stunde scheint sich der unprogrammgemäß kalte April zu einer Wende in den Sommer zu entschließen. Da müssen wir sofort unsere Waffen schmieren. Die wirkungsvollsten Nachbarterrori-sierungsgeräte außerhalb regulärer Schlachtfelder stellen wahrscheinlich Motorsensen dar. Ihr jaulendes Mähge-räusch hält stets gute Höhe und ist wahrlich schneidend. Sie übertrifft Kettensägen und sogar Zwergtraktoren, die von den Leibesumfängen ihrer LenkerInnen gesprengt werden, während sie auf 12 Quadratmeter Rasen hin- und herfahren. Eine herkömmliche Sense könnte zwar verschlankend wirken – auf die Profitspanne gewisser Industrien jedoch auch.

Autoren wie Tschechow, Theodor Lessing, F. G. Jünger wiesen bereits vor Jahrzehnten auf den aggressiven Charakter maschineller Geräusche hin. In den völlig berechtigten Lobliedern auf das Handwerkzeug fehlt dieser Hinweis meistens. Das Fauchen einer herkömmlichen Sense ist nahezu einschmeichelnd. Über die schlichte Bügelsäge, mit der ich mein Brennholz zerkleinere, hat sich noch nie ein Schmetterling oder – im Winter – ein Buntspecht bei mir beschwert. Im Bohren und Schrauben bin ich erfreut zur Handarbeit zurückgekehrt. Selbst die Spitzhacke, mit der ich Platz für ein Betonfundament schaffe, geht im Vergleich als Musikinstrument durch.*

Der Kapitalismus haßt das Musische so gut wie die Muße. Daher seine Vorliebe für das schon früher behandelte Explosive. Alfred Nobel, der Panama-Pionier, wußte es: der kürzeste Weg zum Erfolg ist die Sprengung. Leider enttäuscht in dieser Frage E. G. Seeliger. Während sich bei ihm Musik auf Mozart beläuft, kennt er Lärm überhaupt nicht. Auch Stichworte wie Alarm, Glocke, Hundegebell, Krach, Orgel, Sirene wird man in seinem Handbuch des Schwindels (von 1922) vergeblich suchen. Dabei war er jahrelang Lehrer gewesen! Vielleicht litt der Geißler unzähliger Sperren an einer Ohrensperre.

* Zum Thema Handwerk A-26–28



Oppolzer, Egon von (1869–1907), österreichischer Astronom. Offenbar starb er nicht im Dienst. Ein zeitge-nössischer Nachruf* spricht von einer »Blutvergiftung, die er sich bei Arbeiten im Garten« zugezogen habe. Er war 37. Aus einer Gelehrtenfamilie stammend, hatte es Oppolzer (1906) zum Professor in Innsbruck und Gründer und Chef der dortigen Sternwarte gebracht. Er soll ein »feinfüh-lender, schöngeistiger« Mensch gewesen sein, der neben der Malerei die Musik liebte, auch Umgang mit den Familien Wagner und Bruckner pflog. Wie sich versteht, rechnet man ihm einige Entdeckungen an, etwa der kurzperiodischen Veränderlichkeit des Asteroiden (433) Eros; dessen Lichtkurve lasse auf seine unregelmäßige Form schließen. Möglicherweise hat das den Professor der nicht-künstlerischen Sinnlichkeit nähergebracht, aber wohl kaum dem Rätsel des Universums.

Ich greife kurzentschlossen Bedenken gegenüber der herrschenden Astronomie und Kosmologie auf, die ich bereits bei Krieger angedeutet habe. Vor gut 10 Jahren (am 21. Oktober 2010) war im angeblich kritischen Online-Blatt Telepolis ein Artikel über jüngste Entdeckungen des Weltraumteleskops Hubble zu lesen. Autorin Andrea Naica-Loebell leitete ihn mit der dummdreisten Feststellung ein: »Im Anfang war das Nichts. Alles begann vor ungefähr 13,7 Milliarden Jahren mit dem BigBang, dem mächtigen Urknall, aus dem heraus sich das Univer-sum selbst entfaltete und ausdehnte.« Das überbietet die Autorin gleich noch durch den eingeklammerten Hinweis auf einen früheren Artikel mit der Überschrift »Das Universum braucht keinen Gott«. Sie kennt die Bedürfnisse des Universums besser als ihre eigenen. Das Universum begnügt sich mit dem Zwerg BigBang, der sich dann »selbst entfaltet«. Woanders, wohl an Brockhaus angelehnt, heißt der Zwerg »ursprüngliche« oder »kosmologische Singularität«. Dieses gesichts- und bartlose Urstück pickte sich einen explosionsfähigen Tropfen Ursuppe aus einer geknetschten rostigen Coladose, die zufällig in seiner Reichweite lag, und damit ging alles los.

Sie können hinblicken, wohin Sie wollen: die berühmte Theorie vom Urknall ist binnen weniger Jahrzehnte so gut wie zur Tatsache geronnen. Die Theorie geht auf Georges Lemaitre zurück. Der Belgier hatte den »heißen Anfangszustand des Universums« 1931 »primordiales Atom« oder »Uratom« genannt, war er doch Theologe und Physiker zugleich. Man könnte diesen Anfangszustand genauso gut Naica-Loebell nennen. Mit welchem Grund? Die Gute setzt etwas voraus, das sich jeglicher Überprüfbarkeit entzieht, damit also unangreifbar wie Gott ist. Schon die Lässigkeit, mit der sie über 13,7 Milliarden Jahre verfügt, ist atemberaubend. Jochen Kirchhoff hat wiederholt den leichtfertigen Umgang der etablierten AstrophysikerInnen mit »monströsen Zeiträumen« angeprangert. Wenn etwa Einstein behaupte, die Merkur-bahn vollziehe in drei Millionen Jahren eine vollständige Drehung**, halte er es offenbar für legitim, »den winzigen Beobachtungszeitraum, der uns zur Verfügung steht, ins Unabsehbare auszuweiten und den Jetzt-Zustand einfach in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein zu extrapolieren.« Selbstverständlich habe das nichts mit Empirie zu tun; es sei pure Setzung.

Der Physiker und Autor Peter Ripota weist auf haar-sträubende innere Widersprüche der Urknall-Theorie hin. Wenn aus dem Nichts in einem Augenblick etwas so Gewaltiges wie das gesamte Universum entstehen könne, widerspreche es allen Prinzipien und Gesetzen der Physik, ganz besonders dem Energieerhaltungssatz. Die Theorie der »kosmischen Inflation« – derzufolge das Weltall nach dem Urknall mit zunehmender Geschwindigkeit expandierte – entbehre nach den Formeln der Physik jeder Grundlage. »Keine Masse kann auch nur annähernd Lichtgeschwindigkeit erreichen, geschweige diese milliardenfach überschreiten.« Eine zunehmende Explosionsgeschwindigkeit mit wachsender Entfernung sei ohnehin absurd: woher nähmen die beteiligten Objekte die dazu erforderliche Energie? Bekanntlich verhalte es sich bei allen beobachtbaren Explosionen genau umgekehrt: die weggeschleuderten Teilchen werden langsamer.

Schließlich behauptet Ripota, in den Kugelsternhaufen um die Galaxien hätten sich inzwischen Sterne gefunden, die älter als unser angebliches Universum seien, nämlich zum Teil über 15 Milliarden Jahre alt. Aber hier beißt sich die »immanente« Kritik in den Schwanz. Jochen Kirchhoff hat überhaupt die Fahrlässigkeit beklagt, mit unseren Milchstraßenmaßstäben (von Zeit, Raum, Masse, Energie dergleichen) universell zu hantieren. In diesem Licht sollte man auch der beliebten Angabe mißtrauen, unser Sonnen-system – und wir mit ihm – bewege sich auf seiner 220 Millionen Jahre langen Umkreisung des Milchstraßen-zentrums mit einer Geschwindigkeit von 240 Sekundenkilometern fort. Woran will man so etwas denn messen? Also gut, wir rasen in einer Sekunde von Berlin nach Hannover, während wir Käsebrot kauen oder über den Käse von anderen lästern. Doch wir merken nichts davon. Irgendetwas scheint die Welt zusammen zu halten, ohne uns mit dieser Anstrengung zu belästigen. Wir können sogar schlafen. Der Gegensatz zwischen Ruhe (Festigkeit) und Bewegung gehört zu den seltsamen, ja beunruhigenden Grundzügen unserer Existenz.

Setzte ich vor ungefähr 55 Jahren meinen Physiklehrer mit der Frage in Verlegenheit, was eigentlich vor dem Ur gewesen sei, griff ich natürlich zu kurz. Denn das ganze Koordinatensystem unsrer Weltauffassungsgabe hängt in der Luft – was zahlreiche hochstudierte Köpfe mal unverschämterweise, mal elegant zu übersehen pflegen. Vorher und nachher sind so willkürliche Kategorien wie unten und oben. Sein oder Nichtsein stellt lediglich für ein Staubkorn namens Hamlet die große Alternative dar. Es sind ja völlig andere »Existenzformen« denkbar, die sich unserem auf Raumzeitlichkeit und Kausalität*** geeichtem Vorstellungsvermögen leider entziehen. Unser Problem ist unsere beschränkte Warte. Seit Gott abgewirtschaftet hat, steht uns kein verläßlicher Bezugspunkt außerhalb unsrer selbst zur Verfügung. Das könnte man im Zeichen des erwähnten Astroiden auch Selbstbefriedigung nennen, im Fachjargon Onanie.

Ähnlich halbherzig wie Ripota verfährt der Astrophysiker Hans-Jörg Fahr in seinem Buch Universum ohne Urknall, Heidelberg 1995. Er führt zahlreiche stichhaltige Einwände gegen die herrschende Urknall-, Rotverschiebungs- und Hintergrundstrahlungs-Kosmologie beziehungsweise -Theologie an und stellt sogar deren Universal-Meßlatten wie etwa »die Zeit« in Frage, doch er scheut einen konsequenten Abschied. Nähme er seine Kritik ernst, müßte er ja beispielsweise vorschlagen, mindestens neun Zehntel der gängigen abenteuerlichen »Forschung« auf kosmologischem Gebiet sofort einzustellen. Schließlich werden hier für buchstäblich nichts seit Jahrzehnten Gehälter und Geräte im Werte von sicherlich etlichen Milliarden Dollar verpulvert, mit denen man locker Afrika, Lateinamerika, Mexiko und die USA zusammengenommen vom Elend befreien könnte. Fahr findet jedoch, es müßten weiterhin Universen »konzipiert« werden, und seien es alternative, beispielsweise anfangslose, dynamisch-vitalistische. »Die Schöpfung muß unerschöpflich bleiben«, betet der Bonner Professor (auf S. 149), ganz wie der Topf mit dem Forschungsgeld. Nebenbei hat es für die Entlohnung eines Lektors seines Werkes nicht mehr gereicht. Es wimmelt von Druckfehlern, Füll- und Fremdworten und der Konjunktion daß wie ein bereits stark expandiertes Weltall, hat aber nur 150 Seiten.

* in der Prager »Naturwissenschaftlichen Zeitschrift« Lotos 11–1907: https://www.zobodat.at/pdf/Lotos_55_0177-0179.pdf
** Gemeint ist die Drehung der ganzen Bahn in ihrer Ebene (Perihel-Abweichung). Jochen Kirchhoff, Räume, Dimensionen, Weltmodelle, München 1999, S. 217/18
*** Kein Geschehen ohne Ursache; gleiche Ursachen gleiche Wirkungen
→ A-29 Dopamine und A-30 Mandelkern




O'Shaughnessy, Eileen (1905–45), Britin im Schatten. Als die Tochter eines hohen Zollbeamten 1935 in London einen Schriftsteller trifft, der sich nach einem englischen Fluß Orwell nennt, hat sie bereits mehrere Berufe hinter sich. Fotos zeigen eine schlanke, dunkelhaarige Frau mit hübschem, etwas breitem Gesicht. Eileen wird als gebildet, witzig, hilfsbereit, nicht schüchtern, aber unaufdringlich und auch ihrerseits wenig zugänglich geschildert. Zuletzt betrieb sie ein Schreibbüro, bevor sie ein Psychologie-Studium aufnahm, beides in London. Ihr großer Bruder Laurence ist Mediziner und bereits eine Kapazität auf dem Gebiet der Herz- und Lungenkrankheiten. Eileen hatte ihm zeitweise als Sekretärin gedient. Wie Orwells Biograf Michael Shelden (1991) versichert, standen die Geschwister einander sehr nahe. Eileen habe Laurence »unendlich bewundert« – warum, schreibt Shelden nicht. Ein Grund war wohl die »brillante« Karriere des Bruders. Vielleicht waren auch inzestiöse Neigungen im Spiel? In einem der erhaltenen Briefe Eileens stößt man auf die reichlich unvermittelte Kennzeichnung, ihr ehrgeiziger Bruder sei »von Natur aus Faschist« (one of nature's Fascists). Das mußte sich freilich, falls es zutrifft, arg mit Orwells sozialistischen oder gar anarchistischen Positionen beißen. Doch die Blutsbande waren stark. Wenn sie ihren Bruder Laurence vom entgegengesetzten Ende der Welt bäte, sofort zu ihr zu kommen, täte er es – Orwell dagegen nicht. Orwell stelle sein Schaffen über alles.

Wie sich versteht, traf sie diese Feststellung noch nicht im Überschwang ihrer anfänglichen Verliebtheit. Damals arbeitet George Orwell halbtags in einem Buchladen und hat Anfangserfolge als Schriftsteller. Schon im Sommer 1936 mietet das Paar ein primitives Häuschen (mit Außenklo) in Wallington, 60 km nördlich von London, wo sich der lang aufgeschossene, hagere Orwell nun als Dorfkrämer versucht; daneben schreibt er an The Road to Wigan Pier. Wegen der Entfernung brach Eileen ihr Studium kurz vorm Examen ab, zumal ihr Orwell inzwischen einen Heiratsantrag gemacht hatte. Sie folgt hier ihrer romantischen Neigung. Sie betreut den Laden mit, hilft im Garten, kümmert sich um Dorfkinder. Doch es muß alles andere als eine Idylle gewesen sein, wie Briefen Eileens an eine Freundin zu entnehmen ist, die erst 2005 gefunden und von DJ Taylor im Guardian vorgestellt worden sind.* Die beiden stritten sich unablässig, »Mord oder Trennung« lagen in der Luft. Auch Eileens Botschaften aus Spanien verraten ihren häufigen Ärger über Orwell und ihre Angst um seine Gesundheit. Frisch verheiratet, hatte Orwell bereits Ende 1936 dem Mahnruf des republikanischen Spaniens gehorcht. Eileen folgt ihm im Frühjahr, nachdem sie als POUM-Sekretärin für Barcelona engagiert worden ist. Sie besucht ihn an der Front. Im Sommer kommt umgekehrt Orwell nach Barcelona und nimmt an den berüchtigten dortigen »Bruderkämpfen« zwischen Kommunisten und Anarchisten teil. Kaum an die Front zurückgekehrt, inzwischen als Leutnant, wird Orwell verwundet (Halsdurchschuß). Wegen der Verfolgungen, denen die angeblich »trotzkistische« POUM ausgesetzt ist, entschließen sich die beiden zum Rückzug aus Spanien.

Während Orwell die Festigung seiner Abscheu vor einem autoritären Sozialismus und eine endgültig zerrüttete Gesundheit mitnimmt, zehrt Eileen von der rätselhaften Beziehung zu Orwells ehemaligem Kommandeur Georges Kopp, inzwischen Häftling der (kommunistisch beherrschten) Republik. Er hatte ihr heftig den Hof gemacht. Vielleicht bot ihr Kopp Verehrung und Zärtlichkeit, die sie bei dem ihr angetrauten Schriftsteller, der vorzeiten, im kolonialen Burma, eine Art Bezirkssheriff gewesen war, vermissen mußte. Zwar erklärt sie der Freundin, nicht in Kopp verliebt zu sein, gesteht dies aber nicht diesem selber, weil sie sein Gefängnislos nicht noch verschlimmern will. Angesichts der engen Freundschaft der »Rivalen« hat sie starke Schuldgefühle.

Noch im selbem Sommer 1937 treffen die Orwells wieder in ihrem Häuschen ein. Sie lassen den Laden geschlossen, schaffen dafür Tiere an: Hund, Hühner, Enten, Ziegen. Im Folgejahr hat Orwell, der schon früher eine Lungenentzündung durchzumachen hatte, seinen ersten Sanatoriumsaufenthalt, wobei ihn Eileens Bruder Lau-rence betreut. Dieser kann keine Tuberkulose feststellen – sagt er jedenfalls seinem Patienten. Inzwischen ist Orwells Spanienbuch Homage to Catalonia erschienen. Im Winter 1938/39, einer ärztlichen Empfehlung folgend, halten sich die Orwells in Marrakesch, Marokko, auf. Doch neben Orwells Gesundheitszustand scheint sich auch die Beziehung zu Eileen nicht zu bessern. Orwells Hauptaugenmerk gilt nun dem Romanmanuskript Coming Up for Air. Eileen bewirbt sich bei Kriegsausbruch mit Erfolg bei der Zensurbehörde in London. Orwell hält zunächst an seinem Landleben fest. Eileen wohnt im Hause ihres Bruders und besucht Orwell hin und wieder. Erst im Sommer 1940 nehmen sie sich in London eine gemeinsame Wohnung. Orwell schreibt jetzt vor allem Essays und Kritiken für Zeitschriften, erfüllt patriotische Propaganda-Pflichten beim Rundfunk (der BBC) und tritt außerdem der Heimwehr bei. Die deutschen Luftangriffe beginnen. Eileens Bruder Laurence, inzwischen Sanitäts-major und knapp 40 Jahre alt, fällt bei Dünkirchen, was sie bis an den Rand eines Nervenzusammenbruchs und in tiefe Depressionen führt, die mindestens anderthalb Jahre anhalten. 1941 stirbt zudem ihre Mutter. Freunde haben den Eindruck, Eileen wirke nicht nur müde, erschöpft, grau, vernachlässigt, sondern habe sich offenbar völlig in sich verkrochen. Ihrem Mann fehlte der rechte Zugang zu diesem Leid; die Auseinandersetzung mit Gefühls-zuständen lag Orwell ohnehin nicht.

Shelden schreibt, nach dem Tod ihres Bruders sei Eileen »nie wieder dieselbe« gewesen, aber allmählich kehrten doch ihre Lebensgeister zurück. Um 1942 betreute sie im Rundfunk eine Sendung über (Kriegs-)Ernährung – sie stand jetzt an der Kitchen Front, so der Obertitel dieser Reihe. Das befriedigte sie. Weniger begeistert war sie allerdings davon, auch noch den eigenen Haushalt verrichten zu müssen. Zudem ließ sie sich von Orwell überreden, ein Kind zu adoptieren. Ihr Gatte war nämlich steril oder glaubte es zumindest. An ihr habe es jedenfalls nicht gelegen, versicherte sie Freunden laut Shelden, wenn es nie zu einer Schwangerschaft gekommen sei. Orwell wollte einen Jungen. Eileen gewann den nun adoptierten Richard tatsächlich lieb, und auch die Ehe erhielt Auftrieb. Daneben nahm sie starken Anteil an Orwells neuer Prosaarbeit Animal Farm, die ihn zum »Bestsellerautor« machen würde. Er hatte das Manuskript im Juni 1944 nach einem Luftangriff aus den Trümmern ihrer Wohnung gerettet – sie zogen um. Leider, so später auch Orwell, erlebte Eileen diesen Erfolg nicht mehr mit.

Anfang 1945 ging Orwell trotz schwacher Gesundheit für den Observer und die Manchester Evening News als Kriegsberichterstatter nach Frankreich. Er wollte die letzten Tage des Hitler-Regimes miterleben. Eileen zog mit dem kleinen Richard ins Haus ihrer Schwägerin Gwen. Mit Orwell wechselte sie Briefe. Auch mit Kopp, der inzwischen auf dem Festland als Agent abenteuerte, stand sie noch in Verbindung. Er heiratete Gwens Schwester Doreen, was Eileen vermutlich nicht ohne jede Eifersucht zur Kenntnis nahm. Doch in diesem Frühjahr wurde unvermutet Eileens eigene Gesundheit bedroht: man stellte Uterus-Geschwüre fest. Orwell kabelte seine Zustimmung zur Operation. Eileen schrieb ihm noch wenige Minuten vor der Operation mit Humor. Doch dann erlitt die 39jährige unter der Narkose einen Herzanfall und starb.

Orwell war entsetzt und flog sofort nach London, wo er freilich nur noch die Beerdigung besorgen konnte. Söhnchen Richard brachte er einstweilen bei Doreen unter. Wie es aussieht, blieben den Ärzten Vorwürfe erspart. Der Totenschein habe »klar und eindeutig« von »Herzversagen während korrekt verabreichter Narkose« gesprochen, teilt Shelden erstaunlich gutgläubig mit.** Bald darauf gestand Orwell einer neuen Bekannten, seine Ehe sei sicherlich oft schwierig gewesen, beide hätten einander unrecht getan, er sei Eileen auch »manchmal untreu« gewesen, aber sie hätten doch immer zueinander gehalten. Das dürfte zutreffen, zumal Orwell allgemein als verläßlich geschildert wird. Allerdings legen die Quellen den Eindruck nahe, Eileen habe »Seitensprünge« des Partners als ungleich bedrohlicher empfunden als umgekehrt ihr Ehemann. Und die Beziehung zu ihrem Bruder Laurence, die doch eine erhebliche Rolle gespielt zu haben scheint, liegt nach wie vor im Dunkeln.

Eines ist völlig klar. Als fragwürdiges Entgelt für die Mühen und Entbehrungen, die Eileen O'Shaughnessy mit dem werdenden Schriftsteller Orwell hatte, konnte sie noch nicht einmal das Lob miteinstreichen, das erst nach dem Erscheinen von Animal Farm und 1984 auf ihn gehäuft wurde. Das blieb Orwells zweiter Ehefrau Sonia Brownell vorbehalten. Ein geringer Trost: Auch George Orwell wurde nicht eben alt. Er starb 1950 mit 46.

* »Another piece of the puzzle«, 10. Dezember 2005: https://www.theguardian.com/books/2005/dec/10/georgeorwell.classics
** George Orwell. Eine Biographie, hier deutsche Ausgabe Zürich 2000, S. 522




Ottmann, Dana († 2021), frühes Corona-Impfopfer. Die 32jährige Psychologin war in einer Rehaklinik in Löhne (bei Herford) angestellt. Sie ließ sich gegen Corona impfen. Anschließend wurde sie wieder von starken Kopfschmer-zen heimgesucht, die sie aber ihrer Neigung zu Migräne anlastete. Wenige Tage später, am 9. März 2021, fand ihre Mutter Petra sie tot im Badezimmer. Am Monatsende ging Petra Ottmann an die Öffentlichkeit. Ihr zufolge hatte die Klinik »einen gewissen Druck« auf das Personal ausgeübt. Dabei hätten doch »kaum Erfahrungen« mit dem Impfstoff vorgelegen. Die Tochter hatte ihre Neigung zu Migräne durchaus angegeben, doch diese ist nach einem Befund der Universität Greifswald nicht für ihren jähen Tod verantwortlich. Vielmehr habe eine »Immunreaktion« auf den Impfstoff stattgefunden, die zu einer Gerinnungs-störung mit Einblutung ins Gehirn geführt habe.*

Ich wiederhole: die Frau war 32 Jahre jung. Mal sehen, wann der erste Leichengeruch von 12jährigen an die Öffentlichkeit dringt. Nebenbei bemerkt, haben wir an den Schulen noch keine Impfpflicht – aber eine Schulpflicht. Und da Ungeimpfte eine furchtbare Gefahr für die MitschülerInnen darstellen würden – ja, was folgt wohl demnächst daraus ..? Eltern, zieht euch warm an, der Mai ist sowieso viel zu kalt. Jedenfalls dürften wir uns mit dem von oben geschürten Impfwahn mitten in einem selten heftigen Schwerverbrechen befinden. Susan Bonath weist im Zusammenhang mit dem Fall Ottmann gerade darauf hin, nach gut versteckten Angaben der Pharmamafia könnten von einer Million Menschen, die jeweils mit zwei Dosen geimpft worden sind, allein »20.000 bis 200.000 Menschen eine schwere Autoimmunerkrankung davontragen«. Ob und wie sich diese Erkrankungen verschlimmern und unter Umständen »noch nach Jahren« im Tod gipfeln, sei gar nicht abzusehen. Der ausführliche Artikel** ist erschreckend. »Gesichtslähmungen« sind noch das Harmloseste, das Ihnen droht. Die unglaublichen Profitraten der Pharmariesen sind da wahrscheinlich kein Trost für Sie. Schlagen Sie den Artikel lieber nicht nach.

Laut Gerd Reuther brach dem deutschen, nun von Merkels Mannen gedopten Impfwahn schon das Reichsimpfgesetz von 1874 Bahn. Sogenannte »Impfschäden« wurden in der Folge eisern in Abrede gestellt – »obwohl 1924 der Zusammenhang einer Hirnschädigung mit einer Pockenimpfung belegt« worden sei.*** Reuther führt die wichtigsten Irrtümer des militärischen Kampfes gegen Krankheit an. Peinliche Begleiterscheinungen zählen dazu. Man nennt sie allerdings schon seit Jahrzehnten verharmlosend Nebenwirkungen. Leider werden sie im Lauf der Jahrhunderte zur Hauptsache. Nach Reuther ist die Rate der behandlungsbedingten Krankheits- und Todesursachen riesig. Wer je ein »Klinikmonster« (S. 146) zu Urlaubszwecken aufsuchen mußte, glaubt es sofort. Schon der bloße Anblick der Monsterklinik schüchtert das uns nützliche Mikrobiom (Bakterien und Pilze) in unseren Gedärmen bis zur Kampfunfähigkeit ein. Für alle Strategien, die maßgeblich auf Selbstheilung setzen, sind die Monster also ungünstig. Aber für die Zentralisierung und das Geschäft diverser Architekten, Betonhersteller und Arzneizulieferer sind sie prima. Nicht zuletzt schaffen sie auch eine Menge Arbeitsplätze für Psychologen.

* »32-Jährige nach Astrazeneca-Impfung gestorben«, Focus, 11. Mai 2021: https://www.focus.de/gesundheit/coronavirus/mutter-klagt-an-32-jaehrige-nach-astrazeneca-impfung-gestorben-viele-wollten-davon-nichts-wissen_id_13243167.html
** »Repressionen, Propaganda, Profite«, Rubikon, 14. Mai 2021: https://www.rubikon.news/artikel/repressionen-propaganda-profite
*** Heilung Nebensache, München 2021, S. 103




Otto, Hans (1900–33). Der frühere Mitschüler Erich Kästners, in Dresden, wurde Theaterschauspieler und 1924 außerdem Mitglied der KPD. Er gefiel besonders in Rollen jugendlicher Helden und Liebhaber. Ende Januar 1933 stand er am Berliner Staatstheater bei der Premiere von Faust II noch an der Seite von Gustaf Gründgens und Werner Kauß. Im Februar 1933 hatte der »künstlerisch überragende Schauspieler« (Ulrich Liebe, NDB 19–1999) die Kündigung im Briefkasten. Statt nach Wien zu gehen, wie von Max Reinhardt empfohlen, tauchte er bald darauf zwecks Widerstandsarbeit unter, doch schon im November des Jahres ging er der Berliner SA in die Fänge. Wahrscheinlich stieß man den 33jährigen, nach einigen Folterungen, im 3. Stock der SA-Kaserne in der Voßstraße aus dem Fenster. Er starb erst im Krankenhaus, was vermutlich den Recherchen seines Mithäftlings Werner Hinze zugute kam, der nach dem Krieg von Ottos Ende berichtet haben soll. Die Behörden hatten den Vorfall selbstverständlich als Selbstmord vermeldet. Das 1952 in Potsdam eröffnete Hans Otto Theater überdauerte die »Wende«; 2006 bekam es sogar einen Neubau am Tiefen See.

Mit der Frage, ob eine salonfähige Schauspielkunst zur Steigerung menschlicher Glückseligkeit unerläßlich sei, wird man sich ja hoffentlich nicht Ottos Zorn zuziehen. Aber den meiner süddeutschen Freundin L. Sie rennt mindestens zweimal wöchentlich ins Theater. Hat sie im Sommer öfter schlechte Laune, sind die Theaterferien schuld. Ihre Schaulust mag verständlich sein, denn in ihrer Wohnung hat sie den Wolkenkratzer einer Bank vor der Nase, während sie sich das Fernsehen als Reminiszenz an Adorno-Vorlesungen nicht gestatten kann. Ohnehin eigne Bühnen eine ganz andere Präsenz, behauptet sie. Wenn sie dürfte, würde sie ihre Wohnung sofort mit einem Zelt im Orchestergraben vertauschen. In ihrer Besessenheit ähnelt sie dem jungen Carl Zuckmayer im Schützengraben des Ersten Weltkrieges. Jede feuerfreie Minute nutzt er zum Verschlingen von Romanen der Weltliteratur – später bekennt er jedoch, am liebsten hätte er sie alle gleich dramatisiert.

Merkwürdigerweise ergeht es mir genau umgekehrt. Habe ich mich gelegentlich durch Dramen zu quälen, drängt es mich jedesmal zu deren Episierung. In Konkurrenz zum Gendarm Adam wirbt der vom Volk verehrte gute Räuber Schinderhannes (1927) um die Bänkelsängerin Julchen Blasius. Er gewinnt sie. Leider rückt ihm zunehmend auch das Militär auf die Pelle. Jetzt hat er die Nase voll und gedenkt im Hunsrück groß und gewaltsam aufzuräumen, doch Julchen ist dagegen und verläßt ihn. Die Bande des Schinderhannes wird geschlagen. Auf der Flucht kommt es zwar zur Wiedervereinigung mit der Bänkelsängerin, die inzwischen ein Kind gebar, doch auch zum Verrat. Dem gestellten und zum Tode verurteilten Volkshelden wird im Mainzer Gefangenenturm eine letzte Liebesnacht mit Julchen gewährt. Im Vertrauen, der Sprößling wird's schon richten, klettert er erhobenen Hauptes zum Scharfrichter aufs Podium. Die Hinrichtung ist das übliche Spectaculum. In dieser Hinsicht erlaube ich mir ein Detail, das meine Episierung ungebührlich verlängern wird. Während die Massen zum Podium strömen, gibt es Streit in einer schaulustigen Kleinbürgerfamilie. Mann und Frau werfen sich gegenseitig vor, sie hätten »die Butterbröter« zu Hause vergessen. Der Mann ist wütend, weil er der Hinrichtung nun ohne Butterbrotverzehr beiwohnen muß. Ähnliche Dramen dürften sich abspielen, wenn bei den Fernsehberichten von den Kriegsschauplätzen Bier und Pizza fehlen.

Man stelle sich vor: um uns die eben von mir gegebene 15-Zeilen-Geschichte mitzuteilen, mußte Zuckmayer einen ganzen Theaterabend verpulvern! Die Leute durch Handlungsarmut darben lassen und auch noch totreden – wahrlich ein starkes Stück. Sind uns beim Lesen jener 15 Zeilen alle in der Realität unvermeidlichen Anbahnungen nicht sowieso sonnenklar? Eben, weil wir sie als Muster, nicht als aufgewirbelten Staub, längst in uns tragen? Und weil uns an Nüssen der Kern ungleich mehr interessiert als die beträchtlich größere Oberfläche der Schale? Noch kürzer auf den Punkt gebracht: Theater ist 1. Umstands-krämerei, 2. Flüchtigkeit, 3. Anbiederung, nämlich an das Reale oder Leibhaftige.

Literatur ist etwas anderes. Sie hat geschriebener dichter Text zu sein und gefälligst auch zu bleiben. Durch Dramatisierung, Verfilmung, Vertonung kann sie nur eingeengt, ja geschändet werden. Warum einen Bühnenplunder servieren, der uns ohnehin Tag und Nacht in Schlafzimmern, Straßenbahnen, Büros, Parlamenten oder anarchistischen Kommunen zugemutet wird?

Literatur ist Ernst Kreuders Schwebender Weg. Sie ist jenes Theater, mit dem Richard Wagner selbstverständlich nur kokettierte, als er seufzte, nach dem unsichtbaren Orchester (verborgen im »Orchestergraben«) gedenke er nun das unsichtbare Theater zu erfinden.



Panorios, Konstantinos (1857–92), griechischer Maler, wuchs wahrscheinlich auf der Ägais-Insel Sifnos auf, studierte in Athen und München. Laut griechischer Wikipedia hatte er ein Stipendium des Geschäftsmannes A. Papudov erhalten. Er blieb über 10 Jahre in Deutsch-land. Als er um 1890 in sein Heimatland zurückkehrte, soll er bereits verstört gewesen sein. Warum, dürfen Sie mich nicht fragen. Zuletzt soll er, »geisteskrank«, in der hauptstädtischen »Klinik« Dromokaiteio gesessen haben, wo er eines Tages (1892) tot aufgefunden worden sei. Mehr teilen die griechischen Lexikografen nicht mit. Allerdings verweist der Artikel auf ein von Nikos Zias 2005 veröffentlichtes, 12 Seiten langes Porträt, in dem unter Umständen Genaueres steht.

Immerhin wird Panorios in meinem Buchmanuskript Zeit der Luchse von 2019, Handlungszeit 1904, erwähnt. Redakteur Charly führt die beiden neuangekommenen Journalisten aus der Schweiz durch das Rathaus von Kusmu, dem Hauptstädtchen der Freien Balkan-Republik Mollowina. Ich zitiere:

Der dicke Redakteur deutete auf ein hochformatiges Ölgemälde, das dem Schreibtisch der Rätin genau gegenüber hing.

»Das wollte ich Ihnen auf keinen Fall vorenthalten. Ist es nicht entzückend ..?«

In milden Tönen gehalten, überwiegend Braun, zeigte das Werk ein betörendes, möglicherweise schmollendes oder verlegenes kleines Mädchen, wohl in ländlicher, arbeitsbereiter Tracht. Es blickte zur Seite. Diese ungeahnte Aufmerksamkeit für Cosette, wie es laut Charly hieß, war zuviel für das kleine Mädchen.

»Das Gemälde wurde uns neulich von einem Athener Kunstprofessor verehrt, der die Republik schon zum zweiten Male besuchte. Der Mann war mit Konstantinos Panorios, dem 1892 frühverstorbenen Schöpfer des Werkes, befreundet gewesen. Panorios hatte übrigens zeitweise in München studiert. Ein Jammer, daß er bereits als Mittdreißiger starb. Er war in Ihrem Alter, meine Herren …« […]

Da es in der Bücherei genau drei Sessel gab, die recht bequem wirkten, ruhten sie sich in ihnen ein wenig aus. Durch ein geöffnetes Fenster konnte man den Marktbrunnen plätschern hören. Auch ein Säugling plärrte. Sean ging ohnehin noch das eindrucksvolle Gemälde mit dem kleinen Mädchen durch den Kopf. Vermutlich repräsentiere es einen hübschen Batzen Geld? Dazu konnte Charly nichts sagen; er zuckte nur mit den Achseln. Aber nach einer Weile schimpfte er:

»In der sogenannten Zivilisation wird die Kunst grotesk überschätzt. Überall, seit vielen Jahrhunderten, aber im Kapitalismus besonders. Die verhängnisvolle Paarung zwischen Kunst und Kommerz ist schlicht ekelhaft. Oder finden Sie nicht?«

Sean stimmte ihm zu und erwähnte William Butler Yeats' hohe Meinung von der Volkskunst. Der »Dichter« und Dubliner Theatermann sei leider nur etwas ruhmsüchtig und nebelwerferisch veranlagt, aber da sei er ja nicht der einzige.

»Mit der Volkskunst hat Ihr Landsmann unbedingt recht!« befand Charlie. »In der Mollowina werden Sie nicht einen Berufskünstler finden, ob Mann oder Frau. Der künstlerische Ausdruck muß Hand in Hand mit den übrigen, gewöhnlichen Lebensäußerungen gehen, sonst kommen nur Krämpfe und Hochmut dabei heraus.«

Vielleicht zum Glück seiner Gäste schlug in diesem Augenblick die Glocke der Kathedrale an. Danach war es inzwischen 16 Uhr. Charly schien regelrecht zu erschrecken.

»Himmel!« rief er und hievte sich aus dem Sessel. »Um meines Seelenheiles willen sollte ich vielleicht doch noch ein bißchen Unkrautjäten gehen … Was sind Ihre Pläne für die nächste Zeit?«

Soweit der Auszug. Stellt man sich jenes Kind Cosette mit Corona-Gesichtsmaske vor, könnte man rasend und zum Mörder werden. Aber nicht zum Mörder des Kindes.

Cosette im Internet: https://de.wikipedia.org/wiki/Konstantinos_Panorios#/media/Datei:Cossette_by_Konstantinos_Panorios.jpg



Pergaud, Louis (1882–1915), französischer Lehrer und Schriftsteller, vor allem berühmt aufgrund seines angeblich großen Wurfes La Guerre des boutons (Der Krieg der Knöpfe), Paris 1912. Die deutschsprachige Ausgabe erschien bei Rowohlt ab 1964, darunter in der Reihe rororo rotfuchs, genauer 63.–70. Tausend April 1987. Befremdlicherweise sind sowohl die beiden Herausgeberinnen dieser Reihe als auch die Knöpfe-Übersetzerin (Gerda v. Uslar) Frauen. In Pergauds vielaufgelegtem und wiederholt verfilmtem Knüller, der die Feldzüge einer dörflichen Knabenschar ausbreitet, kommen Frauen nämlich bestenfalls am Rande vor. Die Mütter zetern; eine kleine Schwester darf gelegentlich Knöpfe oder Schnallen annähen, falls es dem Feind einmal gelang, die Kleider der Knaben (aus Longeverne) zu plündern. Der Feind wohnt im Nachbardorf Velrans und besteht gleichfalls ausschließlich aus Knaben. Man trifft sich ziemlich regelmäßig zu Schlachten in einem nahen Busch- und Steinbruchgebiet. Nur der Feind ist übrigens hinterhältig, dumm und so weiter. Er war es schon immer, geht der Bandenkrieg doch auf eine uralte Zwietracht zwischen den beiden Dörfern zurück, die selbstver-ständlich gepflegt werden muß.

Die Warte des Feindes, der Velraner also, nimmt Erzähler Pergaud nie ein, aber einen von denen tauft er »Schief-maul«, das sagt ja wohl alles. Gegen Buchende haben die meist siegreichen Longeverner unter einem Verräter zu leiden. Der heißt eigentlich Bacaillé, wird aber plötzlich »der Krummbeinige« genannt. Und selbstverständlich wird er dafür, den Velranern die Hütte und den Schatz der Longeverner ausgeliefert zu haben, tüchtig bestraft. Die 30 oder 40 Krieger der Longeverner dürfen den Gefesselten reihum mit Weidenruten auspeitschen, bis er blutet wie ein Schwein. Vorher hat er seinen Verrat »gestanden«: weil ihm seine Ex-Kameraden übelste Folter androhten. Man glaube nicht, die beiden Kinderbanden würden lediglich Krieg spielen. Die Weidenruten sind so echt wie die Steine, mit denen sie sich bewerfen, und wie die Knüppel, mit denen sie sich auf die Mützen hauen. Daß bei solcher Handgreiflichkeit noch kein Auge ausgeschlagen wurde, darf stark bezweifelt werden. Einem erwachsenen Betrunkenen spielt man den »Streich«, ihn im Dunkeln über dutzendfach im Dorf gespannte Seile stolpern zu lassen – erstaunlicherweise bricht er sich nicht den Hals. Man befleißigt sich also der Brutalität, die einem die Väter, Lehrer, Soldaten vormachen. Dabei geht es weder um Land- noch Geldgewinne, nimmt man die Knöpfe und Schnallen einmal aus. Diese wichtigen, erbittert umkämpften Kurzwaren zeigen übrigens schon schlagend das Nichtspielerische dieses Abenteuerbuches an. In der christlichen Jungschar um 1960 hatten wir Knaben bei den Geländespielen je nach Partei verschieden gefärbte Wollfäden ums Handgelenk gebunden, die »Lebens-fädchen«. Wer sein Lebensfädchen verlor, weil sie ein Gegner abgerissen und eingesackt hatte, war »tot«. Bei Pergaud jedoch müssen es schon echte Knöpfe und Schnallen sein, die wirkliche Lücken reißen, wenn sie dem Feind zur Beute fallen, und die dann zu Hause mitunter für eine zusätzliche, wirkliche Tracht Prügel sorgen.

Vor allem aber rauben sie dem Besiegten, der nun ohne Knöpfe und Schnallen dasteht, beziehungsweise seinem Verein die Ehre. Um sie dreht sich alles, es ist der Lieblingsbegriff des Predigers von Militarismus und Clandenken Louis Pergaud. Der Knöpfe und Schnallen beraubt, hat man eine Niederlage erlitten, und da echte Longeverner keine Anzweiflung ihrer Vormachtstellung dulden können, muß Rache geübt werden, Vergeltung. Trifft die Schmach gar Lebrac, ihren »General«, muß dreimal vergolten werden, da es selbstverständlich innerhalb der Vormacht noch einmal eine Rangordnung gibt. Pergaud macht sich nur selten die Mühe, sein nach all den von ihm aufgebotenen deftigen Schimpfwörtern stinkendes erzieherisches Programm ironisch oder satirisch zu verbrämen. Nebenbei leidet seine Darstellung an Längen und glänzt weder durch Anschaulichkeit noch durch Treffsicherheit im Ausdruck.

Dennoch ist Pergauds Botschaft unmißverständlich – und der riesige Erfolg dieser Erzählung wäre in der Tat eine Schmach, wenn er nicht normal wäre. Entsprechend normal kommt es mir vor, wenn Pergaud mit 32 in den Ersten Weltkrieg zog, binnen kurzer Zeit zum Leutnant aufstieg, aber schon im April 1915 im Rahmen von Gefechten bei Marchéville (Meuse) auf dem »Feld der Ehre fiel« oder verschollen ging.

→ A-31 Ehre



Pesch, Willi (1907–40), Fußballer. In seiner Hochzeit hütete er das Tor von Fortuna Düsseldorf, die in der zeittypischen »Gauliga Niederrhein« und damit in der höchsten Klasse spielte. 1933 wurde Pesch mit seinem Club Deutscher Meister, 1936 Vizemeister. Insofern müßte er also »objektiv« eine Zierde am Hakenkreuz gewesen sein. Das Subjektive, darunter sein Bildungsgang, scheint nirgends bekannt zu sein. Nun gut: er war verheiratet und hatte eine Tochter, wie mir das Düsseldorfer Stadtarchiv verrät. Frontsoldat war er offensichtlich nicht. Eigentlich schon zurückgetreten, sprang Pesch, inzwischen »Sportwart« in seinem Club, in der Saison 1939/40 noch einmal in die Bresche beziehungsweise zwischen die Pfosten, weil sein Nachfolger Willi Abromeit zur Wehrmacht eingezogen worden war. Diese Aushilfe endete jäh am Mittwoch dem 15. Mai 1940 am Düsseldorfer Worringer Platz. Das heißt, damals hieß er vorübergehend Horst-Wessel-Platz.

Am besagten Tag brachte es Pesch, erst 32, aus eher unsportlichen Gründen in die Zeitung.* Danach war kurz nach 15 Uhr ein Straßenbahnzug der Linie 14 die Ackerstraße hinuntergesaust. Da er die Kurve am Horst-Wessel-Platz ungebremst nahm, wurden vier Fahrgäste, die auf der Plattform standen, aufs Plaster geschleudert. Sogar die (senkrechte?) mittlere Haltestange sei weggeflogen. Vermutlich hätten die Bremsen versagt. Unter den Schwerverletzten habe sich auch der bekannte Torwächter der Fortuna befunden: Schädelbruch. Er starb noch am selben Tag im Krankenhaus. Weitere Namen werden nicht genannt.

Was geschah mit Peschs Gattin? Wir wissen es nicht. Maria Helene Pesch geb. Krall war zwar etwas älter als ihr Mann, doch auch sie starb bereits mit 36, nämlich im April 1942, also rund zwei Jahre nach Pesch. Aus Gram? Am Krieg? Von eigener Hand? Wir wissen es nicht. Sollte die Tochter noch leben, geht sie jetzt auf die 90 zu. Name bei mir. Vielleicht dringt ja mein Werk bis nach Düsseldorf vor und eine hellwache, noch nicht der angeblich furchtbaren Sommerhitze oder den genauso schlimmen Affenpocken erlegene Heimatforscherin krempelt die Ärmel auf. Am 28. Juli (2022) wars mir in meinem von Bäumen beschatteten Häuschen zu kühl – ich warf meinen treuen Ofen an. Er nimmt wahlweise Holz, Kohle oder getrockneten Kuhmist. Soll Putin der Schreckliche ruhig den Gashahn zudrehen!

Ich komme noch einmal auf den Düsseldorfer Unfallort zurück. Der junge aufstrebende SA-Sturmführer Horst Wessel (1907–30), aus monarchistisch gestimmtem Pfarrhause stammend, hatte sich mit seinen »braunen Bataillonen« um 1928 in die Straßen etlicher Berliner Arbeiterbezirke vorgewagt, schauten doch schon, »die Fahne hoch, aufs Hakenkreuz voll Hoffnung Millionen.« Leider erlebte er den einzigartigen Siegeszug der von ihm für ein schlichtes SA-Kampflied geschmiedeten Verse nicht mehr, denn sie wurden erst nach seinem »Heldentod« als Horst-Wessel-Lied zur Parteihymne der NSDAP erhoben. Dr. Joseph Goebbels war auf Draht gewesen: »Ein neuer Märtyrer für das Dritte Reich«, hatte er gleich nach Wessels Ableben (Februar 1930, im Krankenhaus) in seinem Tagebuch festgestellt.** So entstanden auch unverzüglich Lieder und andere Kunstwerke über Wessel selbst. Der 22jährige Sturmführer war eines Tages von der Gegenseite, nämlich einigen Leuten des kommunistischen Rotfrontkämpferbundes, in seiner Friedrichshainer Wohnung aufgesucht worden. Wie sie später beteuerten, hätten sie Wessel lediglich vermöbeln wollen, aber dann habe er mit der Hand in seine Tasche gegriffen, worauf »Ali« Höhler, von Hause aus ein »schwerer Junge«, sich gezwungen gesehen habe, auf Wessel zu schießen.

Wie auch immer die Details gelegen haben mögen, der Zwischenfall kostete 1935 dem wohl 30jährigen Frisör und Aushilfskellner Hans Ziegler und dem 28jährigen jüdischen Malergesellen Sally »Max« Epstein den Kopf, beide Kommunisten. Sie kamen nach einem erneuten Prozeß in dieser Sache, bei der sie »Schmiere gestanden« haben sollen, in Berlin-Plötzensee unters nun faschistisch befehligte Fallbeil. Sicherlich hatten die beteiligten Kommunisten Gründe genug für ihren Besuch bei Wessel gewußt, ihren 17jährigen Genossen Camillo Roß eingeschlossen, von dem es heißt, er sei am selben Januartag 1930 von anderen SA-Leuten angeschossen worden. Offiziell wies die KPD jede Verstrickung in den tödlichen Denkzettel-Akt gegen Wessel zurück. Vielmehr soll sie Gerüchte der Art gestreut haben, Wessel sei, wegen Mietsäumigkeit und Ärger mit anderen Hausbewohnern, in den Krieg zwischen zwei Zuhälterbanden geraten. Der damaligen Rolle des deutschen Kapitals und des sowjetischen Zentralkommitees eingedenk, könnte hier einer murmeln: So kann man es ausdrücken.

Doppeltes Pech hatte der erwähnte mutmaßliche Schütze Albrecht Höhler, ein gelernter Tischler. Er war zunächst, wegen Totschlags, »lediglich« für sechs Jahre ins Zuchthaus gewandert. Kaum saßen jene braunen Horden jedoch in den Regierungssesseln, wurde der 35jährige Häftling, im September 1933, nach einem Verhör erledigt. SA-Leute paßten ihn bei seiner Rückführung ins Zuchthaus Wohlau, Schlesien, nach Raubritterart ab und erschossen ihn. Sie sollen auf höhere Anweisung gehandelt haben.** Soweit ich weiß, wurde dieser dreiste Justizmord, wie viele andere, nach 1945 nie untersucht und geahndet.

* »Verkehrsunfall am Horst-Wessel-Platz«, Düsseldorfer Nachrichten, 16. Mai 1940
** Daniel Siemens, »Christussozialist im Straßenkampf«, Spiegel, 9. Oktober 2007: https://www.spiegel.de/geschichte/nazi-ikone-horst-wessel-a-948281.html




Pixii, Hippolyte (1808–35), Instrumentenbauer und Erfinder in Paris, wo er aus überall eisern verschwiegenen Gründen als 26jähriger auch schon seinen Geist aufgegeben haben soll. Ein Bildnis zeigt ihn mit enormem Backenbart als Ausgleich für seine gewaltige Stirnglatze – hier nutzten ihm somit seine Talente nichts. Hippolyte gilt vor allem als Schöpfer des Urtyps brauchbarer elektro-magnetischer Generatoren. Abbildungen seiner ersten Ausführungen dieser Maschine erinnern verdächtig ans Fallbeil: als »Guillotine« bekanntlich die Mordmaschine der kaum verstrichenen Französischen Revolution. Hoffen wir, der Instrumentenbauer erlitt keinen tödlichen Arbeitsunfall – nach dem Muster »Die Revolution frißt ihre Kinder«. Hier deutet sich also der sowohl mörderische wie selbstmörderische Charakter moderner Technik überhaupt an. Da muß man aber sofort eine Beteuerung einflechten – gerade so, wie zahme KritikerInnen der Corona-Notstandsregime stets versichern, sie nähmen das Virus durchaus ernst; die Gefahr sei furchtbar. Unfug ist sie. Die Gefahr sind die verlogenen Notstandsregime. Man hat also gefälligst zu beteuern, man sei nicht grundsätzlich gegen Technik. Sie habe auch ihr Gutes.

Wenn mich das Virus verschont, nehme ich vielleicht noch in diesem Jahrzehnt eine umfangreiche Kulturgeschichte der Behälter in Angriff. Man unterschätzt die Rolle der Behälter oft. Jost Herbig wies zum Beispiel auf den revolutionären Akt des Frühmenschen hin, Tragbeutel zu erfinden. Damit konnten Nahrungsmittel nicht nur bevorratet, sondern auch besser ver- und geteilt werden. Mit dem Anthropologen Owen C. Lovejoy nimmt Herbig sogar an, die Herausbildung des Aufrechten Ganges verdanke sich wesentlich dem Wunsch, die Hände zum Tragen frei zu bekommen.* Man sieht daran, Herbigs Blick war nicht auf das Militärische, sondern auf das Soziale geheftet. Aber die sogenannten WissenschaftlerInnen gruben weiterhin begeistert die Faustkeile und Bronzeäxte aus. Beutel, aus Rinde oder Leder, hätten sie auch schwerlich ausgraben können: die waren längst verrottet.

Lewis Mumford stellte die wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritte heraus, die zwischen 1100 und 1800 allein durch die Herstellung zweckmäßiger Behälter erzielt worden seien. Es handele sich sowohl um Behälter »für den Hausgebrauch, wie Töpfe, Pfannen, Säcke und Tonnen, als auch solche für kollektiven Gebrauch, wie Kanäle und Schiffe. Daß Behälter Kraft übertragen können, wie ein Mühlengraben, oder Kraft nutzbar machen, wie ein Segelschiff«, sei gleichfalls weithin übersehen worden.** Somit erstreckt sich der Bereich der Behälter für Mumford über die in allen mir bekannten Nachschlagewerken anerkannten Kisten und Krüge hinaus. Ich würde in meinem Werk sogar noch weiter gehen. Für mich stellen auch Mietshäuser, Flugzeugträger, ganze Städte, Nationen oder sogenannte Vaterländer, aber auch Begriffe, wissenschaftliche Systeme und Vorurteile Behälter dar. Man könnte dem Menschen geradezu ein zwanghaftes »Behälterdenken« bescheinigen; ohne alles und jedes in seinen vorschriftsmäßigen Behälter zu stecken, finde er sich offenbar nicht in der Welt zurecht. Möglicherweise ein echtes »tragisches« Unterfangen, wenn man die Ambivalenz aller Behälter bedenkt. Sie behüten ihren Inhalt; beengen, fesseln, verbergen ihn aber auch. Im Falle von Atomreaktoren verbergen sie ihn so lange, bis er explodiert. Entsprechend bieten Formen uns Außenstehenden an, sie zu bewahren oder sie zu zerstören. Krieger und Dadaisten haben das schon immer gewußt.

Die gängigen kosmologischen Vorstellungen sperren gleich das gesamte Universum ein – es gibt ja auch dehnbare Behälter, siehe jenen Tragbeutel aus Leder. Andererseits übersteigen unfestgelegte Phänomene wie »Unendlich-keit« oder »Ewigkeit« entschieden unser Fassungsver-mögen. Wir sind das abgrenzende Tier. Wir sind das sich selbst fesselnde Tier.

* Jost Herbig: Im Anfang war das Wort, 1984, Ausgabe München 1986, bes. S. 41 und 52
** Lewis Mumford: Mythos der Maschine (Originalausgabe 1966/1970), 2. deutsche Ausgabe Frankfurt am Main 1977, S. 499/500




Pražák, Josef Prokop (1870–1904), tschechischer Lehrer und Ornithologe. Kann ich die Leute sogar mit der »Inszenierung einer Pandemie« (Gerd Reuther) oder wenigstens mit einer als Impfstoff getarnten Giftkloake verarschen, spricht nichts dagegen, wenn ich auch in der Vogelkunde zu »Mogelpackungen« greife. Pražák, vor allem in Wien und Prag tätig, brüstete sich in fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen mit so mancher »Entdeckung«, etwa »Unterarten« von Hauben- oder Sumpfmeisen, die sich nach und nach als betrügerisch oder jedenfalls fragwürdig herausstellte. Wer es bezweifelt, kann sich per Internet Jiří Mlíkovskýs Aufsatz Faunistic work of an ornithological swindler von 2012 besorgen. Als Pražáks Ruf ruiniert war, verkroch er sich, wohl mitsamt einer Ehefrau, in seinem Heimatstädtchen Hořiněves (bei Hradec Králové, auch: Königgrätz), wo er zunehmend der Verwirrung, dann auch der Tuberkulose anheim gefallen sein soll. Einem Nachruf* des deutschen Pfarrers und Biologen Otto Kleinschmidt zufolge hatte dem 34jährigen die wissenschaftliche Ehre offensichtlich so wenig bedeutet, daß er nie auch nur einen Versuch unternahm, sie zu retten. Er habe auch nicht aus Gewinnsucht hochgestapelt. Vielmehr habe er ja sogar sich selbst getäuscht; das sei einfach »angeboren«, ein Grundzug seines Charakters gewesen. Ich nehme an, hier ist gemeint: sich Blütenträumen hinzugeben.

Um die Pražáksche Prahlerei unverzüglich aufzugreifen: Das von mir mitbewohnte, überwiegend verwilderte Waltershäuser Stadtrandgrundstück ist keineswegs vogelarm. Selbst der Grünspecht zählt hier zu den Stammgästen – und seit einigen Frühjahren beglückt uns sogar der Wendehals mit seinem Brutgesang. Es handelt sich um eine hohe und etwas jämmerlich klingende eintönige Rufreihe, die wie aus dem Ried gepumpt wirkt. Dabei ist der Wendehals ein eher winziger Specht. Der Laie würde ihn vielleicht für eine magere Singdrossel halten. Aber er bekommt ihn sowieso, wie auch ich, nie zu Gesicht, da der Vogel ausgesprochen unauffällig, ja geradezu tarnfarbig gekleidet ist. Wer Vogelkunde mit stumpfem Gehör betreiben wollte, sollte es lieber bleiben lassen. Die Gesänge und Rufe sind das A & O der Angewandten Ornithologie. Selbstverständlich fühlt sich jeder Vogelfreund geehrt und geschmeichelt, wenn sich ein derart seltener und anspruchsvoller Ameisenjäger und Metaphernlieferant (DDR!) wie der Wendehals in seinem Winkel niederläßt. Als hätten sich Arthur Miller, der US-Schriftsteller, und dessen zweite Gattin bei ihm um einen Untermietvertrag beworben. Die Gattin hieß Marilyn Monroe.

Wer lieber Kafka liest, wird noch nicht einmal einem Spatzen begegnen. Das gleiche gilt für Bäume oder Bäche. Kommt mal ein Zirkuspferd vor, ist es schon viel. Den von Steinen ummauerten Menschenzirkus behandelt er – und seine Prosa ist auch so kalt wie Stein. In seinem Roman Das Schloß ist dieser Menschenzirkus derart vollgestopft, daß keiner mehr durchblickt, die LeserInnen einge-schlossen. Bei Kafka gibt es kein Mitleid, weil dies aus der Erde kommt. Ungeerdete Menschen sind unbarmherzige Egoisten. Kafka war einer; man lasse sich von seiner Verzagtheit nicht täuschen.

Bei allen ernst zu nehmenden Schriftstellern ist die Prosa in Natur gebettet. Dabei haben sie oft ihre Vorlieben = Schwächen, durch die sie noch einmal menschlicher werden. Hölderlin ist in Bäume, D. H. Lawrence in Blumen, Orwell in Schmetterlinge, Marlen Haushofer in Haustiere, F. G. Jünger in Gewässer, Welskopf-Henrich in die Prärie, Robert Gernhardt in Vögel vernarrt gewesen. Um 2000 hievte er einmal meine frühe Meditation über das Aktmodell »Die Kunst des Wartens« in den Züricher Raben, und später schickte er mir unaufgefordert eine ausführliche Betrachtung über den Kuckuck. Leider ist dieser bekannte Hochstapler oder Nestbetrüger – der Kuckuck, nicht Gernhardt – in meiner Gegend nur noch spärlich zu hören. Mit dem Kuckucksruf weichen Bezauberung und Ergriffenheit. Vielleicht das übliche Schicksal des Alterns.

Bedenkt man es etwas gründlicher, ist die Naturverbun-denheit so vieler SchriftstellerInnen eher seltsam. Von Hause aus sind sie doch stets auf Ordnung erpicht, während zum Beispiel das Vogelreich einem Tollhaus gleicht. Der kunterbunte Buchfink bringt die immergleiche öde Leier – er wirft sie vom Baum herab und verlangt abschließend selbstgefällig nach einem »Gewürzbier« oder auch »Würzgebier«. Kaum ein Vogel ist so unscheinbar gefärbt wie der winzige Fitis, doch seine abfallende Wehklage zerreißt uns das Herz. Dabei hat sie um ein Haar die Struktur des Buchfinkenschlages. Für alle von blinden Systematikern und tauben Musiklehrern irregeleiteten Laien beläuft sich Vogelgesang auf Amsel, Drossel, Fink und Star. Schon der Star ist freilich eher ein Schwätzer und Knirscher. Würgt sich gar der Hausrotschwanz bei seinem Liedvortrag ein röchelndes Rasseln ab, könnte man in der Tat Lust bekommen, diese Drossel zu erdrosseln. Der Grauspecht zieht eine klangvolle Klage vor, die jeden Finkenschwarm blaß werden läßt. Dafür pflegt der mächtige »Singvogel« Kolkrabe, dem Christen eine Vorliebe für Lammfleisch angedichtet haben, wie eine dänische Dogge zu bellen, während er durch die Senke zu seinem Horst auf den Eichen rudert. Plötzlich entzückt er uns allerdings durch Glockenklang, weil er die Kirche nicht im Dorf gelassen hat. Der als »Schnepfe« verunglimpfte und entsprechend fast ausgerottete Große Brachvogel singt betörend. Sein anschwellender Flötenruf rollt aus den Maulwurfsgängen, kitzelt das hohe Riedgras, verschwebt mit dem Duft des Mädesüß über den Weschnitz-Deichen, wo der dornige Hauhechel die Schafe als die erbärm-lichsten Rufer des Tierreiches piekt. Ob Schwarzspecht, Krickente, Turteltaube, die vielfältige Klangfülle im Vogelreich ist verblüffend. Barbara von Wulffen hält es deshalb in ihrem Buch Von Nachtigallen und Grasmücken (2001) für absurd zu glauben, dieser ganze Aufwand sei nur für die gegenseitige Benachrichtigung und Identifizierung gut. Für sie singen die Vögel in erster Linie, »um Lebensfreude auszudrücken«.

Das glaube, wer gern frömmelt. Nach meinen Beobach-tungen haben Vögel im allgemeinen ein überwiegend gehetztes Dasein zu führen; ganz bestimmt aber alle »Singvögel« erheblich mehr als Geier oder Adler. Wer David Attenboroughs in jeder Hinsicht großartigen Wälzer The Life of Birds (deutsch 1999) studiert, könnte sogar argwöhnen, mit der Natur überhaupt vor einem militärisch-industriellen Komplex des möglichst durchtriebenen gegenseitigen Auffressens zu stehen. Unser Schlag hat ja ebenfalls seine Lieder, Opern, Märsche – eben Schlager. Nur an der Marschordnung fehlt es im Vogelreich. Der farbenfrohe Kleinspecht ist ein Zwerg, von dem der Turmfalke 20 Exemplare auf einmal verspeisen könnte. Doch beider triumphale »Kikiki«-Reihen lassen sich selbst von vielen Ornithologen nur anhand der Lautstärke unterscheiden. Für den Laien singen sie völlig gleich. Schluchzt am hellichten Tage ein Gebüsch, bückt sich der Laie, um vielleicht ein verirrtes Kind aufzulesen. Aber es war die Nachtigall. Dafür schreckt er um Mitternacht auf, weil in Nachbars Schuppen der Hahn kräht.

Kurz und schlecht, von so etwas wie Logik, System, Ordnung ist in der Natur kein Schimmer zu entdecken. Die sogenannte Sumpfschafgarbe blüht edler als eine Margerite; in unseren Wäldern mischen sich die Laub- und Nadelbäume nach Belieben. Die Natur stellt ein Chaos dar. Vielleicht ist sie dem geplagten Schriftsteller deshalb eine willkommene Erholung. In seinen Texten muß immer alles stimmen; in der Natur stimmt nichts. In ihr folgt noch nicht einmal das Fressen und Gefressenwerden harmonischen Regeln. Um 1800 fürchtet Lichtenberg**, die Welt verdanke sich einem Dilettanten. »Warum sollte es nicht Stufen von Geistern bis zu Gott hinauf geben und unsere Welt das Werk von einem sein können, der die Sache noch nicht recht verstand, ein Versuch? Ich meine unser Sonnensystem oder unser ganzer Nebelstern, der mit der Milchstraße aufhört. Vielleicht sind die Nebelsterne, die Herschel gesehen hat, nichts als eingelieferte Probestücke oder solche, an denen noch gearbeitet wird …«

* in der Zeitschrift Falco, Halle a. S., Jahrg. 1905, Heft 1 Oktober 1905
** Georg Chr. Lichtenberg, Aphorismen, Hrsg. Max Rychner, Zürich 1958, S. 484

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