Montag, 12. Dezember 2022
Nasen Meier—Nois

Meier, Silvio (1965–92), Werkzeugmacher, Drucker, Folkmusikfan und Hausbesetzer. Er stammte aus Quedlinburg am Harz, zog später nach Ostberlin. Er lachte gern. Fotos zeigen ihn schmalgesichtig, dafür mit kräftiger Hakennase. Er gehörte zur linken DDR-Subkultur. Schon 1987 hatte er eine harte Begegnung mit »Skinheads«, also faschistisch gestimmten jungen Leuten. Sie mischten in der Zionskirche ein Konzert der einheimischen Rockband Die Firma und der Westberliner Gruppe Element of Crime auf, das Meier mitorganisiert hatte. Zuletzt wohnte er, in Friedrichshain, im zweiten Haus, das nach der »Wende« in Ostberlin besetzt worden war. Dort hatte seine Gefährtin C. gerade ein Söhnchen bekommen. Am 21. November 1992 abends war der 27jährige mit drei Freunden zum Club Eimer in Berlin-Mitte unterwegs. Es kam zum Streit mit fünf Skinheads, die Meier wegen ihrer Aufnäher zur Rede gestellt hatte: denen zufolge waren sie stolz darauf, Deutsche zu sein. Einer von ihnen zog ein Messer und erstach Meier. Zwei Freunde wurden schwer verwundet. Im besetzten Haus herrschte natürlich Entsetzen. Die Täter kamen später mit wenigen Jahren Gefängnis davon. Die Polizei habe alles getan, um den Mord zu entpoliti-sieren, sagte einer der Verletzten in einem Rückblick.* Es gibt bis heute regelmäßige Mahnwachen zum Gedenken an Meier. 2013 wurde eine Friedrichshainer Straße nach ihm benannt.

Zur Todeszeit Meiers hatte sich unsere Westberliner Musikgruppe, Trotz & Träume, längst aufgelöst. Um 1980 hatten wir wiederholt in besetzten Häusern gespielt. Wir selber wohnten aber in einem Kreuzberger Hinterhaus zur Miete. Wir hatten mit der Hauseigentümerin Glück; sie war keine Halsabschneiderin.

In Waltershausen wohne ich am Stadtrand. In der Stadt unterwegs, schaue ich zuweilen an meinem jüngsten baupolitischen Ärgernis vorbei. Unweit unserer winzigen Altstadt liegen zwei Fabrikbrachen, die durch eine schmale, kaum befahrene Einbahnstraße getrennt werden. Auf der Ostseite schickte man sich im Herbst 2019 plötzlich an, ein mittelgroßes Einfamilienhaus zu errichten! Ich dachte, ich sehe nicht recht. Schräg gegenüber, auf der westlichen Fabrikbrache (hinter der die Waltershäuser Feuerwehr liegt) dämmert nämlich seit Jahren ein nur geringfügig kleineres und durchaus gut erhaltenes Einfamilienhaus in den Gestrüppen und Schutthügeln vor sich hin – offensichtlich unbewohnt. Es war beim Abriß einer Puppenfabrik verschont worden. Die Leute, die jetzt den Neubau errichteten, hätten sofort einziehen können. Das hätte ihnen und vor allem der Volkswirtschaft manchen Aufwand erspart. Warum das ältere Haus leersteht, konnte ich nicht herausbekommen. Ich erfuhr lediglich, die beiden Brachen gehörten zwei verschiedenen Eigentümern. In diesem Umstand liegt also vermutlich die unüberwindliche, wenn auch in der Einbahnstraße unsichtbare Hürde. Aber jeder weiß es ja: dieses Goldene Kalb namens Privateigentum zerrt keiner aus der Einbahnstraße. Womit ich keineswegs um eine Wiedererweckung des Staatseigentums gebeten haben möchte.

Millionen Vermögenslose in diesem Lande, darunter auch Bekannte von mir, stöhnen jetzt wieder unter der Knute des Mietsystems. Die VermieterInnen können vermieten, müssen aber nicht. Die Vermögenslosen dagegen müssen wohnen. Und eben Miete zahlen, sei sie vergleichsweise niedrig oder haarsträubend hoch.

Gewiß, wir sind das Mietsystem gewohnt. Man macht sich jedoch zu selten klar, wie jung und wie abartig es ist. Wenige vom Schicksal und vom Staat begünstigte HauseigentümerInnen ziehen ihren Profit aus der Not von Vielen, irgendwo ein Dach über dem Kopf zu finden. Das hat es über Jahrtausende hinweg nie gegeben. Die Jäger und Viehzüchter der Jungsteinzeit hatten ihre Hütten oder Häuser so gut, wie sie manche SüdseeinsulanerInnen sogar noch heute haben. Die PrärieindianerInnen zankten sich vielleicht gelegentlich um die günstigsten Standplätze, aber der Zeltplatz im ganzen gehörte allen. Noch die mittelalterlichen Dörfer und Städte Europas kennen wahrscheinlich so gut wie keine Mietwohnungen. Die Bauernhäuser bargen die Bauersfamilie, die Patrizier-häuser die Patriziersfamilie, vermietet wurde da nichts. Ich nehme an, die Sache wurde erst mit der sogenannten Industrialisierung ernstlich interessant. Bauern, Handwerker, Soldaten wurden herdenweise von ihren Schollen in die Fabriken getrieben und waren nun auf Verschläge angewiesen, in denen sie Nacht für Nacht und sonntags ihre Arbeitskraft wiederherstellen konnten. Die Benutzungsgebühr für die Verschläge konnte man ihnen gleich vom Lohn abziehen. BürgerInnen, die fast so ausgefuchst waren wie die ersten Goldschmiede (die gegen Zinsen Kredite=Papiergeld aufgrund eines nichtvorhan-denen Goldbestandes ausgegeben hatten), erfanden den neuen Beruf »Vermieter«. Da das Erbsystem ohnehin schon bestand, kamen einige BürgerInnen in der Folge gleich als VermieterInnen auf die Welt. Die meisten Leute wurden allerdings Mieter.

Die bekannte, schon oft verspottete Sehnsucht nahezu sämtlicher Kleinen Leute nach dem Eigenheim ist natürlich verständlich. Sie ist so natürlich, wie jedes Kaninchen seinen Bau und jeder Sperling sein Nest hat. Wieviele Personen das Eigenheim fassen soll, ist dabei erst einmal nebensächlich. Im Falle der hiesigen Puppen-fabrikkommune sind es leider nach wie vor lediglich um 20; dafür in der thüringischen Zwergrepublik Konräteslust bereits rund 3.000. Dort verteilen sie sich auf etliche Häuser. Wesentlich ist, daß mich aus meinem Eigenheim niemand heraussetzen kann, es sei denn, mit roher Gewalt. Diese Gefahr bestand auch in der Steinzeit schon. Die sanfte Gewalt ist dagegen ein neuzeitliches Phänomen, eine Errungenschaft des Fortschritts. Man klagt, sanktioniert oder mobbt jetzt die Leute heraus.

* »Solidarität macht Mut«, AIB (Berlin-Kreuzberg) 57, 13. Oktober 2002: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/%C2%BBsolidarit%C3%A4t-macht-mut%C2%AB



Mellmann, Johann W. L. (1764–95), Klassischer Philologe und schnöder Hungerstreikler. Nach einer Kindheit im Klützer Winkel (Mecklenburg), wo sein Vater »Prediger« ist, geht er in Lübeck aufs Gymnasium und studiert anschließend in Kiel und Göttingen. Nekrologist Friedrich von Schlichtegroll* behauptet kühn, neben der frühen Unterrichtung habe Mellmann sicherlich auch seinen »moralischen Charakter« der »vortrefflichen Erziehung« durch seine »ganz exemplarisch lebenden Aeltern« verdankt. Ein Jugendfreund spricht schon ein wenig skeptischer von der »patriarchalischen Welt der Hebräer« und dem »goldenen Zeitalter der Griechen und Römer«, in die man damals, als Gast, in Mellmanns Elternhaus eingetaucht sei.

Bald nach dem Studium erhält Mellmann eine vermutlich ehrenvolle Berufung zum Rektor der griechischen und lateinischen Klassen des Gymnasiums der Universität in Moskau. Das war 1786. Sechs Jahre darauf, 1792, wird er, möglicherweise zusätzlich, Professor an der Universität selber. Von einer Familiengründung Mellmanns ist nichts zu lesen. 1793 muß der junge Professor griechisch/latei-nische Gedichte auf die Vermählung des Großfürsten Alexanders machen. Der zukünftige russische Kaiser ist damals 15. Seine Braut, Louise von Baden, 14. Laut Schlichtegroll hatte Mellmann bereits als Student poetische Versuche unternommen, daneben erkennbar eine Neigung zum Eigenbröteln und »Speculieren« gezeigt. Außerdem dürfte er schüchtern gewesen sein. Er übt sich in Moskau auch im Zeichnen und Malen. Von Geselligkeit hält er sich unter anderem deshalb fern, weil überall dem Spiel gefrönt wird. Mellmann begreift sich jetzt hauptsächlich als Schulmann, nicht Schriftsteller. Nach einem Fieber beklagt er Augenschwäche. In seinem letzten Lebensjahr arbeitet er zielstrebig an einer Griechischen Grammatik. Aber gleichzeitig studiert er Kants Schriften und versucht sich sogar an lateinischen Übersetzungen des kritischen Philosophen. Offenbar ist Mellmann eher Grübler als Gelehrter. Das bescheinigt er sich wohl auch selber in einem Brief an Freunde, wenn er bekennt, ihm klebe »ein hinderlicher Hang zur Speculation« an.

1794/95 gerät er erstaunlicherweise in Konflikt mit Vorgesetzten. Wahrscheinlich kreiden sie ihm vornehmlich an, den liberalen Auffassungen Imanuel Kants anzuhängen. Zuletzt lädt der oberste Moskauer Bischof den Professor zu einem Gespräch – das zu seiner Entlassung und Ausweisung führt. Nach Schlichtegroll berichten seine Moskauer Freunde, Mellmann habe sich beim Prälaten erhitzt, verrannt und ihn gar beleidigt. Nun wird er von Militär zur Grenze mit Ostpreußen begleitet. Das geschah bei grimmiger Kälte und anscheinend überdies auf ruppige Art. Mellmann sei völlig insichgekehrt und melancholisch gewesen. Ein preußischer Leutnant Von Derschau nimmt sich seiner »vortrefflich« an, doch vergebens: Mellmann will nichts essen. Die »Besinnung« sei ihm weggewesen, schreibt Schlichtegroll. Der Leutnant läßt ihn von Soldaten, die er dringend zu schonendster Behandlung ermahnt, per Kutsche nach Königsberg bringen. Aber dort kommt Mellmann nie an. Da er weiter unbeirrt jede Nahrungsaufnahme verweigert, sei der 31jährige am 12. April 1795 in Georgenburg (bei Insterburg) vor Entkräftung gestorben.

Ein enger Freund des Verhungerten spricht Schlichtegroll gegenüber von Überspannung; speculativer, abstrakter Moral; Schwärmerei. Verbünde sich ein solches Naturell mit schwachen, leicht reizbaren Nerven oder Hypochondrie, sei der Betreffende »für das wirkliche Leben« verloren. Zeitgenosse Schlichtegroll selber enthält sich eines Kommentars. Seine Eingangs-Hymne über die »reine, wohlwollende Seele« Mellmann darf man nicht zu ernst nehmen; sie ist Unfug oder Tarnung. Er spricht also weder vom Hungerstreik eines, wahlweise, tief Beschämten oder tief Gekränkten noch gar von den Quellen jenes angeblichen Naturells. Sie dürften ja jede Wette vor allem im Elternhaus zu suchen sein.

* Nekrolog auf das Jahr 1795, Band 2, Verlag Perthes, Gotha 1798, S. 59–110



Mertens, Carl (1902–32), zunächst Hauptmann, dann Publizist. 1924 legte der pazifistisch gesinnte Mathematiker und Statistiker Emil Julius Gumbel sein Buch Vier Jahre politischer Mord vor. Gumbels Befund wurde, laut Wolfram Wette*, noch im selben Jahr von einer Denkschrift aus dem Reichsjustizministerium unter Gustav Radbruch (SPD) bestätigt. Danach waren in Deutschland verübt worden: »354 Morde von rechts; Gesamtsühne 90 Jahre und 2 Monate Einsperrung, 730 Mark Geldstrafe und 1 lebenslängliche Haft.« Dem standen gegenüber: »22 Morde von links; Gesamtsühne: 10 Erschießungen, 248 Jahre und 9 Monate Einsperrung, 3 lebenslängliche Zuchthausstrafen.« Daher die Rede vom Rechtsstaat. Leider hat sich an diesem krassen Mißverhältnis grundsätzlich bis zur Stunde kein Deut geändert. Es merkt nur so gut wie keiner, weil auch die unablässige Verteufelung des »Linksextremismus« blieb – während vom »Verfassungsschutz« gehätschelte Kräfte wie der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) für die erforderlichen Leichen sorgen.

Die meisten politischen Morde jener Zeit gingen auf das Konto verschiedener illegaler, oft Freikorps genannter militärischer Verbände, war die Reichswehr doch »offiziell« durch den Versailler Vertrag stark beschnitten worden. Man spricht allgemein von der Schwarzen Reichswehr und ihren Fememorden. Über diese blutigen Umtriebe und das entsprechende Truppenklima legte der 1902 in Kassel als Sohn eines Polizeikommissars geborene Carl Mertens 1925 in einer Serie der Weltbühne Aufsehen erregende Enthüllungen vor. Er ergänzte sie im Jahr darauf mit einem Buch über die illegale Wiederaufrüstung Deutschlands mit dem Titel Die deutsche Militärpolitik seit 1918. Mertens wußte, wovon er sprach. Trotz einer Buchhändlerlehre war er ins väterliche Fahrwasser geraten, nämlich Polizeischüler und dann Offizier der Schwarzen Reichswehr geworden, zuletzt Hauptmann. Aufgrund moralischer Skrupel »stieg er jedoch aus« und ging zum kritischen Journalismus über. Es hagelte Drohungen seitens der Ex-Kameraden und Anklagen wegen »Landesverrats« seitens des demokratischen Staates. Wette seufzt, weit davon entfernt, die von Mertens namentlich angeführten 40 Fememörder zu verfolgen, deckte die Weimarer Justiz deren Hintermänner und verfolgte nun unerbittlich den Boten, der die schlechte Nachricht überbracht hatte. Auch dieser Mechanismus arbeitet bis heute ungebrochen.

Einem Haftbefehl (der später wieder aufgehoben wurde) wich Bote Mertens Anfang 1927 ins Exil aus. Über Österreich und die Schweiz ging er nach Paris. Im Januar 1928 reiste er aufgrund der Zusage sicheren Geleits als Zeuge nach Leipzig, wo Hitlers Fahrer und Leibwächter Julius Schreck vor Gericht stand, der übrigens aus der berüchtigten »schwarzen« Brigade Ehrhardt hervorgegangen war. Schon am Bahnhof wurde Mertens von »Nationalsozialisten« angegriffen und verprügelt. Die kurze Spur seines restlichen Lebens verliert sich im Dunkel. Die Lexikon-Zeile, im Oktober 1932 sei der 30jährige Antimilitarist Mertens zwischen Fontainebleau und Paris bei einem Autounfall umgekommen, schreibt auch Wette ab** – ohne Verdacht zu schöpfen oder wenigstens den Mangel an näheren Angaben zu beklagen. Solange der Mangel also nicht behoben ist, sollte man in dem »Autounfall« sicherlich eher einen Anschlag vermuten.

Immerhin geben Kramer/Wette nützliche Hinweise zu jener Absurdität »Landesverrat/Vaterland«, die ich bereits wiederholt streifte. Für mich zählt sie zu den vielen »großen Sachen«, wie Koestler sie gern nannte. Sie drücken uns aufs Gehirn und gestatten den jeweils Herrschenden, uns in jede von ihnen erwünschte Richtung zu schicken. Der freiheitsliebende Mensch wird seine »Sachen« eher klein halten. Entsprechend wird er überschaubare Lebens- oder Arbeitsgemeinschaften vorziehen, in denen dann auch Gesetzbücher und 300 Kommentare der Gesetzbücher überflüssig sind. Nationalität oder Rasse der Beteiligten sind dabei völlig unerheblich, sofern sie die Freiheitsliebe teilen und gemeinsame Interessen besitzen. Das ist selbstverständlich nicht der Fall, wenn in der betreffenden Gemeinschaft einige Leute darauf pochen, sich als Kapitalisten, Soldaten, BerufspolitikerInnen – oder eben Patrioten zu betätigen. Sie werden bekämpft, sofern sie nicht freiwillig gehen, um sich woanders eine ihnen angemessenere Gemeinschaft zu suchen. Genau nach diesem Muster hätte man 1989/90 die DDR entvölkern sollen. Jede Wette, die Leute zum Auffüllen der entstandenen Lücken wären binnen weniger Monate mit Handkuß gekommen – und zwar »aus aller Herren Länder«.

* Helmut Kramer / Wolfram Wette (Hrsg): Recht ist, was den Waffen nützt, Berlin 2004, S. 135 & ** S. 139



Michallon, Achille Etna (1796–1822). An dem hohen Lob, das der französche Maler schon früh einheimste, hatte er keine lange Freude. Er war vor allem Land-schafter. Von den unumgänglichen Reisen gen Süden abgesehen (Rom und Sizilien), arbeitete Michallon in Paris. Ein vom wenig älteren Berufskollegen Léon Cogniet geschaffenes Porträt zeigt einen Sinnenfreudigen mit zerzaustem dunklem Schopf – der ebendort, in Paris, mit knapp 26 einer Lungenentzündung zum Opfer fiel. Cogniet dagegen wurde 86.

Ein undatiertes Ölgemälde Michallons, das heute im Louvre hängt, zeigt einen mächtigen knorrigen Laubbaum an einem Seeufer. Beim näheren Hinschauen stellt sich zweierlei heraus: der Baum wurde an einer Stelle zersplittert – und unter dieser Bruchstelle, dicht am Stamm, liegt eine weißgekleidete menschliche Gestalt mit weggestreckten Armen rücklings auf der Erde. Um die Theatralik voll zu machen, stehen auch noch zwei Männer bei ihr, die sich mit verzweifelten Gebärden gegenseitig die Härte dieses Schicksalsschlages bescheinigen. Das Werk wird meist La femme foudroyée genannt, Die vom Blitz getroffene Frau. Wer gern wettet, kann sein vergrabenes Bargeld darauf setzen: das Grüppchen war für Michallon nicht mehr als ein Vorwand, den Baum, das Licht und all das andere zu inszenieren, dem das Menschenlos völlig schnuppe ist.

Mit Bergführer Samuel →Brawand kann ich natürlich nicht mithalten. Ihn traf der Blitz (1902) auf dem Gipfel des Wetterhorns. Ich erinnere mich aber gern an zwei eindrucksvolle Gewitter, die mir in der Literatur begegnet sind. Sie toben unweit einer Mühle in Horst Langes Roman Schwarze Weide, ferner in Tschechows Erzählung Steppe. Beim geringsten Gedanken an das letztgenannte Werk setzt der windige Vorbote des Gewitters die Laufdisteln in Gang. Man kennt sie vielleicht aus Italo-Western.

Mein Korbacher Erlebnis von 2002 ist allerdings auch nicht ohne. Ich saß wie jetzt beschäftigt am Tisch, damals noch per Schreibmaschine. Das Gewitter hatte sich unmittelbar über der Altstadt und damit meiner winzigen Kellerwohnung zusammengebraut. Durch die Finsternis krachten die ersten Donnerschläge. Plötzlich sah ich inmitten des Zimmers einen bläulichen Lichtpunkt vibrieren, wobei ein Knistern wie beim Abbrennen einer Wunderkerze zu hören war, nur erheblich kürzer. Gleich darauf krachte es wieder gewaltig. Doch sowohl meine Tischlampe wie mein Lebenslicht waren nicht erloschen.

Die »Blitzesschnelle« des Vorgangs hatte mir jede Angst erspart. Das wäre ein schöner Tod gewesen. Ich hätte ihn ohne Zweifel dem Dahinsiechen mit einer Lungenent-zündung vorgezogen. Nach Jule Renards Eintrag vom 8. August 1899 wäre ich sogar ehrenvoll auf dem Schlachtfeld gefallen: des Schreibtischs. Meine Vermieterin hätte meine Manuskripte, einige freundliche Musterbriefe von Verlagen und die sogenannte Rentenerwartung, die mir damals noch jährlich von der Bundesversicherungsanstalt unterbreitet wurde, in die Altpapiertonne verfrachtet, damit nichts von mir verloren geht.

Brockhaus zufolge bin ich in Korbach einem Kugelblitz begegnet. Kugelblitze seien schon in etlichen Farben und in Größen zwischen Clementine und Kohlkopf beobachtet worden. Verschwänden sie nicht geräuschlos, könnten sie mit lautem Knall explodieren, ohne jedoch beträchtlichen Schaden anzurichten. Eine unstrittige Erklärung dieses Phänomens stehe noch aus.

Bedenken Sie allerdings, daß der Frühmensch, dem auch Michallon in diversen Ruinen nachspürte, überhaupt keine Erklärung solcher gewaltigen Wettererscheinungen besaß, ob die Blitze nun die Brandenhochburg der Rentenräuber-Innen zu spalten suchten oder wie tobsüchtige Schildkröteneier durchs Neandertal schossen. Es konnte sich nur um ein auf ihn gemünztes Strafgericht handeln. Schlauberger Kain lenkte es später mit Hilfe seiner Bronzeaxt kurzerhand auf Abel ab. Falls er schon eine besaß.



Müller, Philipp (1931–52), antimilitaristischer Demonstrant. Im Jenseits angekommen, durfte er sich rühmen, der erste zu sein. Man wußte natürlich gleich, worauf er anspielte: der erste von verschiedenen »gefallenen« Demonstranten der neuen und zukünftigen BRD. Eine Polizeikugel hatte ihn am 11. Mai 1952 in Essen bei Protesten gegen die westdeutsche Wiederbewaffnung getroffen – tödlich. Da war der aus München angereiste Eisenbahnarbeiter Philipp Müller erst 21 gewesen. Obwohl die Stadt im Verein mit dem Landesinnenministerium die Proteste unter fadenscheinigen Begründungen gleichsam in letzter Minute verboten hatte und dadurch die Anreisewilligen verwirrte und einschüchterte, waren es wahrscheinlich immer noch rund 30.000 Antimilitaristen, die die Kruppstahl-Metropole »unsicher« machten. Diese Zahl nannte sogar der Staatsanwalt.

In Wahrheit ging die »Unsicherheit« jede Wette von den Ordnungskräften aus. Bonn und Düsseldorf wünschten Krawalle, zwecks Verleumdung der antimilitaristischen Bewegung, und boten deshalb Polizei in furchterregenden Mengen, vermutlich auch schon die bis heute beliebten Lockspitzel auf. Nach der gründlichen Darlegung eines linken Journalisten*, der damals vor Ort war, flogen zwar Steine, doch bei sämtlichen 283 festgenommenen Demonstranten wurde nicht eine Pistole gefunden. Vielmehr sei das Feuer nach einem entsprechenden Befehl des Kölner Kommissars Knobloch von der Polizei eröffnet worden. Dabei erwischte es zufällig Müller – ob von vorn oder hinten, ist so umstritten und ungeklärt wie die Frage, ob er bei seinem rohen Abtransport womöglich noch lebte. Drei andere Demonstranten, aus Kassel, Münster und Pinneberg angereist, wurden überdies durch Polizeikugeln verletzt. Nach der amtlichen Version hatten jedoch die Demonstranten zuerst geschossen. Als diese Lüge nicht mehr zu halten war, erläuterte der Düsseldorfer Ministerpräsident und Parteifreund Adenauers Karl Arnold sinngemäß, der Andrang der Menge sei derart gewalttätig gewesen, daß er allein durch Schlagstock-gebrauch nicht hätte gebrochen werden können. Entsprechend billigte das Landgericht Dortmund den Polizisten im Oktober 1952 Notwehr zu. Auch dies wurde von etlichen Augenzeugen widerlegt, die zum Teil ihrerseits von der Polizei verprügelt worden waren, um ihre Aussagefreudigkeit zu dämpfen. Statt also auch nur einen Uniformierten zu belangen, wurden gegen 11 Jugendliche wegen Aufruhrs und Landesfriedensbruch zusammen genommen 76 Monate Knast verhängt.

Wie sich versteht, ereiferten sich die herrschenden Kreise über die Umtriebe einer SED/FDJ-gesteuerten »kleinen radikalen Minderheit«. Die systemfeindlichen Kräfte hätten auch keine Bedenken, Jugendliche »mit Schußwaffen auszurüsten«, wie die vielgelesene Tageszeitung Die Welt, laut Nelhiebel, gleich am 12. Mai gegeifert hatte. In Wahrheit waren Kriegsmüdigkeit und Antimilitarismus damals noch weit verbreitet. Obwohl Bonn im April 1951 das Verbot einer unter Führung von Pastor Martin Niemöller geforderten Volksabstimmung zur Wiederbewaffnung verfügt hatte, sprachen sich bis zum März des Folgejahrs mehr als neun Millionen BRD-Bürger gegen die Remilitarisierung aus.** In dieser Hinsicht waren es schöne Zeiten. Keine 50 Jahre später flogen »rotgrün« lackierte Bomber selbst unter dem Beifall zahlreicher »linker« Prominenz gegen Belgrad.

Nach dem ermordeten Philipp Müller (dessen frischange-traute Frau Ortrud, geborene Voß, nebst einem Säugling in Ostberlin lebte) waren in der DDR zahlreiche Straßen oder Einrichtungen unterschiedlichster Art benannt worden. Auch in Halle gab es eine Philipp-Müller-Straße – allerdings nur bis 2012. Seitdem heißt sie Willy-Brandt-Straße. Der Unterschied zwischen hochherzigem und schäbigem Siegerverhalten war der Stadtratsmehrheit von Halle vielleicht nicht bekannt. Oder wollte man hier eine »klammheimliche« Verbindung nicht nur zu Brandts sogenanntem Radikalenerlaß, sondern auch zum Ende Benno Ohnesorgs herstellen? Damals, 1967, war Brandt in Bonn Außenminister und Vizekanzler gewesen. Sein Radikalenerlaß führte übrigens zu großangelegter Schnüffelei im Öffentlichen Dienst und mindestens 2.000 Berufsverboten – selbstverständlich ganz überwiegend gegen Linke ausgesprochen. Den Vietnamkrieg duldete Brandt. Gleichwohl werden gewisse Internet-Portale nicht müde, Brandts Status als sozialdemokratischer Säulenheiliger besonders mit der Behauptung zu verteidigen, er habe großartige »Entspannungspolitik« betrieben. Die kann dem Weißen Haus kaum verhaßt gewesen sein, heißt es doch in Tim Weiners umfangreicher CIA-Geschichte von 2007***, die Yankees hätten während des ganzen Kalten Krieges »heimlich« [antikommunistisch gestimmte] Politiker in Westeuropa geschmiert – darunter »der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt« …

* Kurt Nelhiebel, »Anatomie eines Lügenkomplotts / Über die Erschießung von Philipp Müller – fünfzehn Jahre vor Benno Ohnesorg«, in: Conrad Taler, Gegen den Wind, Geschichten und Texte zum Zeitgeschehen 1927–2017, Köln 2017: https://web.archive.org/web/20181225125933/https://www.kurt-nelhiebel.de/images/downloads/K_Nelhiebel_Lgenkomplott.pdf
** Hubert Reichel, »Ein Schießbefehl aus Bonn«, Ossietzky 8/2002: https://www.sopos.org/aufsaetze/3cd2de4556292/1.phtml.html
*** Tim Weiner, CIA. Die ganze Geschichte, New York 2007, deutsch Ffm 2008, S. 400




Müller, Wolfgang (1922–60), Schauspieler und Kabarettist aus Wien und Berlin, außerdem ein Scherzvogel, der unbedingt Flugkapitän werden wollte. Müller starb erheblich früher und unauffälliger als sein Partner aus der Jugendzeit Wolfgang Neuss, der noch als »Mann mit der Pauke« Karriere machte, nachdem Müller keineswegs als Bühnenkünstler, vielmehr als Flugschüler abgestürzt war. Die beiden hatten sich 1949 gefunden. In der Folge schossen sie unter der Firma »Die zwei Wolfgangs« als Adenauer-feindliches Komiker-Duo aus der »Frontstadt« Westberlin aus allen blitzenden Rohren. Daneben waren sich beide Wolfgangs nicht zu schade, ob solo oder gemeinsam, in etlichen zeitgenössischen Filmklamotten mitzuwirken, darunter Das Wirtshaus im Spessart von 1958. Als 1960 in der Schweiz Dreharbeiten zum Spukschloß im Spessart folgten, nutzte der 37jährige Müller die Gelegenheit zu einem Besuch beim Piloten und Fluglehrer Max Manger aus Basel, der inzwischen in Minusio lebte, einem Nachbarort von Locarno am Lago Maggiore, also im schönen Tessin. Dieser Entschluß kam Mangers Todesurteil gleich.

Wie schon angedeutet, hatte sich Müller die Pilotenlizenz in den Kopf gesetzt, und Manger, geboren 1916, galt als erfahrener und geschickter Flieger. Aber lediglich bis zum 26. April. Dies alles weiß ich übrigens nur, weil mir eine freundliche Frau aus der Gemeindeverwaltung von Lostallo mit einem leider auf italienisch verfaßten Zeitungsartikel* vom 27. April unter die Arme griff. Danach waren die beiden Männer in einer Piper um Mittag in Lugano-Agno gestartet. Man führte mehrere »Außen-landungen« durch, darunter im berühmten Städtchen Ascona. Der Versuch, am frühen Nachmittag auf dem Flugfeld von Lostallo, Graubünden, zu landen, ging jedoch schief. Aus meiner Quelle geht beim besten Willen nicht hervor, wer da gerade am Steuer des Sportflugzeuges saß. Ich vermute, es war Flugschüler Müller, weil ja Manger wohl keine »Außenlandungen« mehr nötig hatte. Doch wenn in einem motorisierten Sportgerät zwei Hohlköpfe sitzen, dürfte es Jacke wie Hose sein. Auf dem genannten Flugfeld verfing sich die Piper bei ihrem Landeanflug in rund 30 Meter Höhe an einem »überhängenden Draht«, stürzte ab und ging, ausgerechnet neben einem Bach, in Flammen auf.

Leider nützte der Bach weder dem 37jährigen Komiker Müller noch Max Manger, der wohl 42 war. Beide verbrannten. Manger soll Sprößling einer seinerzeit recht bekannten Baseler Konzertpianistin gewesen sein. Was den verhängnisvollen »Draht« angeht, war es wohl keine Stromleitung, aber doch ein Hindernis, das schon früher bei Piloten Mißfallen erregt hatte. Vielleicht wurde es entfernt. Über die Ermittlungen der Behörden ist im Internet nichts zu lesen.

* »Un attore ed un ardito pilota periti in un aereo decollato da Agno«, Giornale del Popolo (Lugano), 27. April 1960, S. 2



Münzenberg, Willi (1889–1940). Im Frühjahr 2010 rang ich mich schweren Herzens dazu durch, per Internet eine Petition an den Vorsteher der größten kriminellen Vereinigung dieses Planeten zu unterzeichnen: Obama. Er möge sich für die Abschaffung der Todesstrafe und insbesondere dafür einsetzen, daß Mumia Abu-Jamal, der seit 28 Jahren im Todestrakt schmort, einen neuen und dieses Mal fairen Prozeß bekommt.

Meine Bedenken galten nicht nur Obama und dem taktischen Mittel »Petition«, sondern auch dem für Mumias Befreiung arbeitenden Komitee, das mir stark kommunistisch geprägt vorkam. Der dunkelhäutige Journalist Mumia, einst bei den Black Panthers aktiv, ist ja selber Kommunist. Er schreibt auch regelmäßig in der deutschen Jungen Welt. Wahrscheinlich weiß ich schon zu viel über die Machenschaften kommunistischer Bündnispolitik aus dem vergangenen Jahrhundert, um hier einfältig daran zu glauben, schließlich wollten wir alle dasselbe, nämlich Mumias Leben retten. Kommunisten sind kalt bis ins Blut. Ihrem Mittel-zum-Zweck-Denken opfern sie notfalls das eigene Töchterchen – und der Notfall ist für Kommunisten stets gegeben, weil ja der Kommunismus selber immer nur vom fernen Horizonte her winkt. Erst dort, im Paradies, möchten sie sich die Warmherzigkeit gestatten, die sie dann wahrscheinlich aus den Folgen des angeblichen »Klimawandels« beziehen. Vor diesem zittert die Junge Welt inbrünstig wie die halbe Welt.

Ich glaube auch nicht daran, daß die Junge-Welt-Leute besser als ihre DDR-Ziehväter sind. Selbstverständlich geben sie sich aufgeschlossen und sogar zu manchen Scherzen bereit, doch immer, wenn's ernst wird, sind sie mit ihrem dogmatischen Partei- und Proletarierplunder, ihrem Wahn vom Fortschritt und einem passenden Lenin-Zitat zur Hand. Um 2003 verübelte mir das sogenannte Feuilleton der Jungen Welt einen Text, in dem ich mich unterstanden hatte, beiläufig Nikita Chruschtschow anzupinkeln, der wegen seiner Kleinwüchsigkeit nur Schuhe mit erhöhtem Innenfutter trug. Wie ich mich unterstehen könne, verdiente Kommunisten schlecht zu machen! Ja, seine Verdienste bei den blutigen Parteisäuberungen, die ihn stets unverbrüchlich fest an der Seite des großen Steuermanns fanden, kann man beispielsweise in Simon Sebag Montefiores belegreicher Stalin-Biografie von 2003 nachlesen. Damals stützte ich mich allerdings nur auf Eindrücke von Chruschtschows Gästin Simone de Beauvoir. Sie und Sartre zählten in den 50er und 60er Jahren zu den unzähligen Prominenten, die sich bereit- oder widerwillig vor den Karren der UdSSR spannen ließen. Koestler und Sperber legten sich dafür bei den Amis ins Zeug. Ein bedeutender Zutreiber zum sowjetischen Karren war übrigens der Schriftsteller Ilja Ehrenburg – und zwar gerade wegen seines Aufmuckens gegen manche stalinistische Vernageltheit. Auf diese Weise zog er sogar André Gide an. Als dieser wieder absprang (1937), warf ihm Ehrenburg unflätige Schimpfworte nach, die Julián Gorkin in seinem Buch Stalins langer Arm dokumentiert.

Wie berechnend die Kommunisten zwischen den Weltkriegen harmlos oder rechtschaffen wirkende Personen und Organisationen für ihre machtlüsternen und staatsverliebten Zwecke einspannten, geht zum Beispiel sehr gut aus Babette Gross' Münzenberg-Biografie von 1967 hervor. Gross war die Gefährtin des begnadeten Organisators, Überredungskünstlers und angeblichen roten Millionärs gewesen. Sie legt allerdings glaubhaft dar, Willi Münzenberg, Mitglied des ZKs der KPD und bis zuletzt (1933) Reichstagsabgeordneter, habe die Millionen, die sein verzweigter Konzern erwirtschaftete oder auftrieb, nie für private Zwecke verpulvert. Alles wurde ins Heilsgeschäft der Vorbereitung der Weltrevolution gesteckt. Als Chef verlangte er »das Äußerste an Initiative, Tempo und Arbeitsleistung« von seinen Mitarbeitern. Sie verehrten ihn. Einer von ihnen äußert später, Münzenberg habe an starken Minderwertigkeitsgefühlen gelitten und sich ständig selbst bestätigen müssen. Gross dementiert es nicht.

Münzenberg war Sprößling eines leicht aufbrausenden und oft betrunkenen Dorfgastwirts in Friemar an der Nesse, das unweit von Gotha liegt. In der Kasse der Schenke herrschte meistens Ebbe. »Dann ließ er dem Jungen vom Dorfschneider aus einem alten Anzug eine Jacke machen, die viel zu groß war. Und der Junge mußte sich mit Fäusten gegen die Dorfjugend wehren, die spöttisch Schwenker hinter ihm herrief.« Wahrscheinlich hielt Münzenberg entgegen vielen ihn grämenden Bedenken noch um 1933 eisern an der Partei- und Kominternlinie fest, damit ihn nicht auch noch Stalin oder Thälmann als einen Schwenker hänselten. Dabei gibt es nichts Widerlicheres, als den Zickzackkurs der Weimarer KPD zu verfolgen! Aber der beruhte eben auf abgesegneten Schwenkern. Nach der faschistischen »Machtergreifung« untergetaucht, schwang sich der 1889 geborene Münzenberg, von Gustav Regler als untersetzter, braunäugiger Mann mit vollem Haar beschrieben, in Paris zum größten Gegenspieler Joseph Goebbels' auf. Er besorgte das berühmte Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror und schuf weitere wirksame Plattformen antifaschistischer Einheitsfrontpolitik, wobei er sich, unter dem Eindruck der Moskauer »Säuberungen«, zunehmend gegen den Alleinvertretungsanspruch und die unlauteren Methoden der Kommunisten verwahrt haben soll.

Regler, Schriftsteller und zeitweise kommunistischer Politkommissar bei den spanischen republikanischen Truppen, zählte zum Mitarbeiterstab des Braunbuchs. In seinen ausgezeichnet geschriebenen Erinnerungen (von 1958) bestätigt er Münzenbergs Neigung zu beinahe täglichen Stimmungswechseln: heute heiter oder siegesgewiß, morgen betrübt und mürrisch – »pöbelhaft wie ein Müllkutscher und unsicher, wie nur Genies es sein können«. Dafür sei ihm die wahnhafte Furcht vor Spionen fremd gewesen, die Regler in Reinkultur durch Exil-Chef Walter Ulbricht verkörpert sah; Münzenberg habe sogar eine Leibgarde abgelehnt, obwohl Paris von braun- bis roteingefärbten Agenten wimmelte, die ihn liebend gern in die Seine befördert hätten. Münzenberg sei der einzige führende KP-Kader gewesen, der mit der Zeit lernte, »auch an alten kommunistischen Begriffen zu zweifeln«, etwa dem verherrlichten »Proletariat«. Seinen wachsenden Schwierigkeiten »mit den offiziellen Hütern der Ideologie« sei er mit »kleinen Bestechungen der Schergen« (etwa Pöstchen in seinem erfolgreichen Verlag) und Ausweichmanövern begegnet. Im Herbst 1936 hatte Münzenberg bereits Glück, nach Verhandlungen in Moskau wieder heil aus dem »sozialistischen Vaterland« herauszukommen. Er verlor sämtliche Pariser Machtbefugnisse und wurde zum Objekt »einer Flüsterkampagne der KPD-Emigrationsführung«, wie Wolfgang Leonhard (1989) schreibt. Im März 1939 gab der unerschütterliche Antifaschist im Wochenblatt Die Zukunft seinen Parteiaustritt bekannt. Den Rest seiner Sowjettreue raubte ihm dann wenig später der Hitler-Stalin-Pakt, der den Zweiten Weltkrieg nicht hemmen, vielmehr befördern half. Münzenberg starb 1940 auf der Flucht durch Südfrankreich unter Umständen, die bis heute nicht aufgeklärt werden konnten. Er war erst 50. Viele vermuten einen Mord auf Betreiben Stalins.

Bei gutem Frühlingswetter entschließe ich mich nach einem erfreulich kurzen Besuch im Gothaer Sozialamt, das unweit vom Ostbahnhof liegt, zu einem Radausflug nach Friemar. Ich habe noch einmal rund fünf Kilometer gen Osten zu fahren. Nennenswerte Steigungen sind nicht zu bewältigen. Dafür wirkt auch das Dorf ein wenig fade. Der ehemalige Gasthof Zum Erbprinzen findet sich nur einen Steinwurf von der Nesse entfernt in der Friedhofstraße am wiederum östlichen Dorfrand. Im Erdgeschoß ein Lebensmittelgeschäft, das den Gothaer Supermärkten trotzt. Einer alten Ansichtskarte zufolge, die an Herrn K.s Kasse lehnt, war der Gasthof einst ein stattliches Gebäude mit einem Eckgiebelturm, in dem auch ein Wappen prunkte. Das Gebäude wurde längst begradigt. Herr K. kaufte es nach der »Wende«. Immerhin machte er sich zum Gedenken an den hier geborenen Gastwirtssohn Willi Münzenberg mit einigen anderen Einheimischen für eine Kupfertafel stark, die dann an der Fassade angebracht wurde. Doch bald darauf lag sie auf dem Bürgersteig – gewaltsam abgerissen. Seitdem bewahrt sie Herr K. in seiner Wohnung auf. Die Zeichen der Zeit stünden wohl anders, meint er mit sarkastischem Achselzucken. Eine nach dem prominenten Antifaschisten benannte örtliche Straße oder Gasse gibt es nicht. Wer einen Blick auf die ebenfalls recht stattliche barocke Dorfkirche Friemars werfen will, kann immerhin einen winzigen Karl-Marx-Platz überqueren.

Margarete Buber-Neumann, die Münzenberg gut kannte, nennt ihn (1958) »eine erstaunliche Persönlichkeit, die einen fast magischen Einfluß auf Menschen der verschiedensten Kategorien ausübte.« Sie hebt seinen Ideenreichtum hervor. Gleichwohl sei er auch als einflußreicher Propaganda- und Konzernchef den Gewohnheiten der Jugendbewegung treu geblieben. Der junge Erfurter Fabrikarbeiter hatte dereinst in Zürich, wo er zu den Freunden des Emigranten Lenin zählte, die Kommunistische Jugendinternationale (KJI) gegründet und im folgenden geführt. Auch später habe es ihn an versammlungsfreien Sonntagen hinaus ins Grüne gedrängt. »Er trank kaum Alkohol, liebte es zu wandern, sich irgendwo im Wald zu lagern und Sport zu treiben.«

Ich schiebe mein Fahrrad über eine grünende Wiese ans Nesseufer, um einen Schokoladenriegel zu verzehren, den ich von Herrn K. erwarb. Auch die Pappeln und Weiden treiben schon aus. Eine Singdrossel beschimpft mich. Vereinzelte Wildkirschen sind bereits mit kleinen, weißen Blüten übersät. Die Sonne läßt sie leuchten, doch es fehlt ihr noch immer entschieden an Heizkraft. Die Wiese wird morgen früh wieder Rauhreif zeigen. Der April (2010) war durchweg kalt. Das Dumme ist, je älter man wird, desto frühzeitiger denkt man schon wieder mit Schrecken an den nächsten Winter. Ja, wenn der »Klimawandel« endlich käme! Aber er hustet mir was.



N., Irene († 2012), Behördenangestellte in Neuss. Am 26. September 2012 kochte der gebürtige Marokkaner und »Langzeitarbeitslose« Ahmed S. (52) bereits vor Wut, ehe er im einstigen Arbeitsamt von Neuss die Verkörperungen der neuen Namen »Arbeitsagentur«, »Jobcenter« oder »CTP (Come Together Point)« überhaupt auf sich hatte wirken lassen. Nun suchte er vergeblich nach einem bestimmten Mitarbeiter, den er wegen eines Schriftstücks zur Rede stellen wollte, bei dem er nur Bahnhof verstanden hatte. Er befürchtete Datenmißbrauch. Durch den Mißerfolg seiner Suche noch wütender geworden, betrat er ersatzweise ein Zimmer der Abteilung Visionen 50plus – ungelogen. Die 32jährige Sachbearbeiterin Irene N. hatte das Pech, daß es ihr Zimmer war. Nach kurzem Streit zog S. ein langes Fleischermesser aus seiner Kleidung und stach auf die Frau ein. Sie starb kurz darauf im Krankenhaus. Das Pech dieser Lückenbüßerin war das Glück jenes Kollegen, den der aufgebrachte S. nicht gefunden hatte. Nun war dieser sofort geständig. Da er von der Eingangstür an zwei Messer mit sich geführt hatte, verurteilte ihn das Düsseldorfer Landgericht ein halbes Jahr darauf wegen Mordes zu Lebenslänglich.*

Mit dem Geld, das die damaligen Umbenennungen und »Umstrukturierungen« auf dem »Arbeitsmarkt« verschlangen, hätte man wahrscheinlich alle marokkanischen Wüsten in Gärten verwandeln können. Aber all diese reformerischen Maßnahmen werden bekanntlich nur ergriffen, um das erwerbstätige Volk vor Verelendung zu schützen. Und nicht etwa, um es zu täuschen, zu verhöhnen und zu entwürdigen. Bedenkt man es recht, hat sich das Wort Schutz gerade Deutschland in den jüngsten Jahrzehnten zum Tummelplatz erkoren. Schon Kaiser Wilhelm hatte die großartige Idee, Schutztruppen nach Südafrika zu entsenden, um die dortigen Neger mit knusprigem Schiffszwieback vor der Verelendung zu bewahren. In der Heimat wirkte derweil die Schutzpolizei – hat es je einen freundlicheren und gemütlicheren dicken Mann gegeben als den »Schupo« an der Ecke? Na also. Später kamen Einrichtungen wie die Erhebung von Schutzgebühren für die Mafia oder Heinrich Himmlers Schutzstaffel (SS) oder die Anstalten der ARD und natürlich der Verfassungsschutz hinzu, ferner Maßnahmen wie die Schutzhaft, die Schutzimpfung und die Atemschutzmaskenpflicht für besonders gefährdete Kommunisten und Kinder – und jetzt haben wir, seit März 202o, ein unablässig verbessertes »Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite«, das der Bundestag selber, in griffiger Kürze, auch Bevölkerungsschutzgesetz nennt.** Für ihn, den Deutschen Bundestag, soll dieses Instrument vor allem »vereinheitlichen«, also nicht etwa gleichschalten. KritikerInnen meinen, es sei vor allem eine Berliner Abrißbirne gegen die spärlichen Überreste des deutschen Föderalismus'. Der war dereinst antifaschistischen Beweggründen entsprungen.

Wer all diese Hürden nimmt und mit 80 oder 90 »natürlich« wegstirbt, muß wahrlich einen Schutzengel besessen haben. Gustav Unfried (1889–1917) hatte keinen. Der schwäbische Fußballer, überwiegend bei den Stuttgarter Cickers aktiv, hatte mehrere Meisterpokale und eine Länderspielteilnahme (gegen die Niederlande) ergattert. Seine Position war Mittelläufer gewesen. Ich fürchte allerdings, Mitläufer war er auch. Schon vor dem »Ausbruch« des Ersten Weltkrieges soll sich der gelernte Landvermesser in dem Gebilde namens Deutsch-Ostafrika aufgehalten haben – vermutlich nicht, um zu kicken, sondern um eben das Gebilde zu messen. Da hatte er gut zu tun, war das Gebilde, auch »Schutzgebiet« genannt, doch beinahe doppelt so groß wie das »schützende« Kaiserreich. Im Krieg selber soll Unfried dann 1916 das Eiserne Kreuz errungen haben. Wo, bleibt unklar. Er soll aber wieder »Angehöriger« der sogenannten Schutztruppen des Gebildes gewesen, nur leider, als solcher in Gefangenschaft geraten sein. Allerdings setzten ihn nicht die einheimischen Neger oder Mohren fest, vielmehr die Briten. In deren Obhut soll der 28jährige im September 1917 verstorben sein. Näheres scheint in den zwei oder drei Sport-Nachschlagewerken nicht zu stehen. Vielleicht erlag Unfried der sogenannten Spanischen Grippe oder brachte sich vorsorglich um. Recht hätte er gehabt.

Ich nehme stark an, die Nachschlagewerke vermeiden auch den Hinweis auf die schweren Verwüstungen, die das Schutzgebiet als Schlachtfeld zwischen Deutschen und Briten/Belgiern zu erleiden hatte. Anderswo ist etwa von mehreren Hunderttausend Todesopfern unter den Einheimischen die Rede. Sie starben als TrägerInnen unserer tapferen Truppen, sie verhungerten oder steckten sich mit den zeittypischen Seuchen an. Wer nicht starb, hatte vielleicht nur noch ein Bein und schleppte sich auf Krücken bis ins nun britische Gebilde Tanganjika durch. Ab 1964 hieß der Hauptteil des ehemaligen »Schutzge-bietes« Tansania. Wie es der Zufall so will, ist Angela Mahr vor Kurzem in einem ausführlichen Artikel*** dem undurchsichtigen Tod des ungewöhnlich beliebten Staatspräsidenten John Pombe Joseph Magufuli (61) nachgegangen. Angeblich erlag er im März 2021 in einer Klinik von Daressalam dem berüchtigten »Herzversagen«, einer klassischen Überdehnung also. Magufuli hatte sich gegen die Eingriffe der Westlichen Tauschwertgemein-schaft in sein mit begehrten Bodenschätzen gesegnetes Land verwahrt. Er war dagegen, seine vielen WählerInnen als Versuchskaninchen für genmanipulierte Saatgüter oder Corona-Impfstoffe aufzufassen. Mahr streift das ganze Elend des vor- und nachkolonialen Afrikas, die Beseitigung Patrice Lumumbas (Kongo) eingeschlossen. Der wurde nur 35 Jahre alt.

* Tim Röhn, »Lebenslange Haft für Mord in Neusser Jobcenter«, Welt, 5. April 2013: https://www.welt.de/regionales/duesseldorf/article115034002/Lebenslange-Haft-fuer-Mord-in-Neusser-Jobcenter.html
** »Bevölkerungsschutzgesetz: Bundesweite Notbremse beschlossen«, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw16-de-infektionsschutzgesetz-834802
*** Angela Mahr, »Der Unbestechliche«, Rubikon, 26. Juni 2021: https://www.rubikon.news/artikel/der-unbestechliche-3
→ Zu Arbeitslosen- und ähnlichen Zahlen siehe A-24 Statistiken




Natsagdordsch, Daschdordschiin (1906–37), mongolischer kommunistischer Schriftsteller und Abweichler. Zwischen China und Rußland eingeklemmt, wirkt das riesige Land der Mongolen für flüchtige BeobachterInnen meist bedeutungslos. Es ist mehr als viermal größer als Deutschland, aber vergleichsweise menschenleer. Die Hälfte der gut drei Millionen Mongolen ballt sich heute bereits in der von Gebirgen, Steppen und Wüsten umgebenen Hauptstadt Ulan-Bator. Wer Weite und Stille sucht, wird sie wahrscheinlich noch immer in der Mongolei finden. Notfalls genügt Natsagdordsch' berühmtes langes Gedicht Meine Heimat von 1933. Schlankes Gras wiegt seine Ähren im Wind, die blau überwölbte Steppe gaukelt manch wundersames Bild vor; die Jurten der Nomaden nennt der Autor nicht, gleichwohl sieht man die Rauchfäden aus diesen kreisrunden, eher stumpf bedachten Zelten steigen, die offenbar gleichermaßen gut vor Hitzewellen und klirrender Kälte schützen. Ungeachtet früherer Ausfälle gegen Heimat und Lyrik muß ich einräumen, dieses innige Werk eines scheinbar schlichten Gemütes ergreift sogar mich. Daran dürfte die Übersetzerin Renate Bauwe keinen geringen Anteil haben. Sie stellt Meine Heimat und noch manches andere auf ihrer Webseite vor.*

Natsagdordsch stammte aus verarmtem Adel. Seine Mutter hatte er früh verloren. Der Vater, ein Kanzleischreiber, ermöglichte ihm Bildung. So wurde Natsagdordsch gleichfalls Sekretär. Bald nach der Volksrevolution 1921 gelangte er trotz seiner Jugend in hohe Partei- und Staatsämter. Daneben schrieb er Lieder und beteiligte sich, gemeinsam mit seiner ersten Frau Pagmadulam, an einer hauptstädtischen Theatergruppe, die als Keimzelle der neuen Kultur gilt. Ab 1925 folgen Studienaufenthalte in Leningrad und Deutschland, dort wohl hauptsächlich in Leipzig. Auch dabei begleitet ihn seine Frau. 1929 heimgekehrt, ist Natsagdordsch vorwiegend geisteswissenschaftlich, übersetzerisch und literarisch tätig. So schrieb er, aus Märchen schöpfend, die Vorlage für die nach wie vor vielgespielte Oper Die drei traurigen Hügel. Ein Roman blieb unvollendet.

Bald nach 1930 setzte Natsagdordsch' Niedergang ein. Maßgebliche Parteikader warfen ihm, nach Bauwe nicht ganz grundlos, Linksabweichung und westliches Gebaren vor. Selbst seine zweite Ehe mit der Sowjetbürgerin Nina Tschistakowa, die eine deutsche Mutter hatte, stieß auf Mißfallen. Im Winter 1935 wurde Tschistakowa sogar mitsamt der kleinen Tochter Ananda-Schri in die SU ausgewiesen – ohne den Gatten. Der hatte inzwischen auch schon einmal für ein halbes Jahr Bekanntschaft mit dem Gefängnis gemacht. Jetzt »resignierte und vereinsamte« er immer mehr, »ergab sich dem Alkohol und starb völlig mittellos«, schreibt Bauwe in einem 2011 überarbeiteten Porträt. Der Mann war erst 30 Jahre alt. Heute thront er in seinem Sterbeort Ulan-Bator in Bronze, wie ich vermute, auf einem fetten Klotz aus weißem Stein: der Nationaldichter.

Um 1990 ging die Mongolei den bekannten Weg in die kapitalistische Demokratie. Zu den Galionsfiguren des »Umbruchs« gehörte der meist als sehr ehrenwert gelobte Gelehrte Sandschaasuren Zorig (1962–98), auch Sanjaasürengiin geschrieben. Er machte politisch Karriere. Im Herbst 1998 hatte der 36jährige »Infrastrukturmi-nister« gerade gute Aussichten auf den Posten des Regierungschefs, als er in seiner Wohnung von zwei maskierten Personen überrascht und erstochen wurde. Ein schnöder Raubüberfall war es offenbar nicht. Dafür hatte er als »Infrastrukturminister« Staatsaufträge von beträchtlichem Umfang zu vergeben. Vielleicht wollte man unliebsame Enthüllungen oder ungünstige Weichenstel-lungen unterbinden. Erst 2016/17 soll es zu einem Prozeß gekommen sein – jedoch hinter verschlossenen Türen. Angeblich wurden drei Personen zu hohen Haftstrafen verurteilt. Laut der einheimischen (englischsprachigen) UB Post wird aber weiter nach dem Drahtzieher des Mordes gesucht. Die Akten des Falles umfaßten 14.926 Seiten, verrät das Blatt.** Die Demokratie mag unvollkommen und undurchsichtig sein – ihren Fleiß kann niemand bezweifeln.

* https://www.mongolian-art.de/03_mongolische_literatur/literatur_index.htm
** Bayarbat Turmunkh, »S. Zorig's assassination case file to be declassified«, 4. Dezember 2017: https://web.archive.org/web/20171229113829/https://theubpost.mn/2017/12/04/s-zorigs-assassination-case-file-to-be-declassified/




Nobel, Emil (1843–64), mit 20 Jahren Opfer des Fortschritts (seines Bruders). Den Nobelpreis kennt natürlich jeder. Bekanntlich läßt er in jedem Herbst, wenn die Blätter fallen, den Aktienkurs einiger Dichter und Denker emporschnellen, wodurch freilich auch der Preisstifter in aller Munde, wenn auch nur in den wenigsten Gehirnen ist. Wir werden ihn uns gleich vorknöpfen. Die Dotierung des von Alfred Nobel um 1900 gestifteten Preises stand 2020 auf rund 950.000 Euro je Kategorie. Ich fürchte, nur wenigen der vielen, die schon für den Nobelpreis vorgeschlagen worden sind, wäre er gar zu peinlich. Ein Arthur Koestler, dem niemand mangelhaften Ehrgeiz vorwerfen kann, hätte den Nobelpreis schon deshalb mit Handkuß genommen, weil sich dann Simone de Beauvoir, die er angeblich einmal verführte, und der Anwalt der Sowjetunion Jean Paul Sartre einträchtig schwarz geärgert hätten.

Sartre selber lehnte den Nobelpreis (1964) erfreulicher-weise ab. Laut Beauvoirs Erinnerungen scheint ihn allerdings nicht die Herkunft des Geldes bedrückt zu haben; ihm ging die politische Instrumentalisierung des Nobelpreises (im Kalten Krieg) gegen den Strich. Jedenfalls darf vermutet werden, Sartre hätte sein Preisgeld wohl kaum in ein neues Badezimmer seiner Villa gesteckt – wie Mauriac. Chruschtschow ist der Nobelpreis nie angetragen worden, obwohl er sich fast so glänzend wie Schiller als Tyrannenmörder in Szene zu setzen verstand. Trotzdem mußte er nicht auf jeglichen Westkomfort verzichten. Beauvoir in ihren Erinnerungen: »Er zeigte uns das Schwimmbad, das er sich am Meeresufer hatte einrichten lassen; es war ungeheuer groß und von einer Glaswand umgeben, die man durch einen Knopfdruck öffnen konnte: selbstgefällig führte er uns das Manöver mehrere Male vor.«

Heinrich Böll und Elias Canetti verweigerten sich 1972 und 1981 dem Nobelpreis nicht. Bei Canetti verblüfft das wenig, ist er doch möglicherweise noch eitler als Chruschtschow und Grass zusammen gewesen. Bölls Kohle ging wohl teilweise in nach ihm benannte (grüne) Stiftungen ein, die sich später als Schmieden glühender Karrieristen entpuppten, wobei Claudia Roth der eigene Nachname zustatten kam. Otto Krätz hat neulich (2002) darauf hingewiesen, in 100 Jahren seien nur 29 Frauen, dagegen 700 Männer eines Nobelpreises für würdig befunden worden. Möge Roth sich also strecken; im Bereich des Friedens ist immer etwas zu machen. Bekanntlich wird der Nobelpreis nicht nur für Literatur vergeben. Zum Beispiel erhielt ihn 1945 (rückwirkend für 1944!) der Chemiker Otto Hahn wegen seiner Verdienste um die Kernspaltung. Soweit ich weiß, hatte Hahn die Zeit von 1928 bis Kriegsende recht angenehm überstanden, nämlich als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie in Berlin-Dahlem. Ein prominenter Instituts-Kollege von ihm war Fritz Haber gewesen, der den Nobelpreis 1918 für die Erfindung des Kunstdüngers eingesackt hatte. Weil das schon fragwürdig genug war, sah man über Habers Beteiligung an der Entwicklung des Giftgases hinweg. Sie spielte eine Rolle beim Selbstmord seiner Gattin Clara →Immerwahr.

Zwar nahm auch der britische Dramatiker Harold Pinter (2005) den Nobelpreis an, doch war er immerhin mutig genug, in seiner Preisrede die Verbrechen des US-Imperialismus und von dessen Spießgenossen anzuprangern. Damit zum Frieden. Mit Preisträger Henry A. Kissinger wurde 1973 auf bis dahin selten dreiste Weise der Bock zum Gärtner gemacht. Christopher Hitchens kam in seinem Kissinger-Buch von 2001 aufgrund neuer Dokumente zu dem Schluß, der US-Außenminister habe den Vietnamkrieg keineswegs beenden, vielmehr in die Länge zu dehnen geholfen. Erwiesen ist, daß Kissinger als Sicherheitsberater des Präsidenten Nixon an den völkerrechtswidrigen Flächenbombardements in Laos und Kambodscha beteiligt war und zu den Drahtziehern jenes Militärputsches zählte, der unter anderem dem chilenischen General René Schneider und 1973 dessen gewähltem sozialistischem Präsidenten Salvador Allende das Leben kostete. In jener Zeit sei Kissinger ohne jeden Zweifel der faktische Chef sowohl der »verdeckten« Auslandsoperationen wie der Ausspionierung der eigenen BürgerInnen durch die CIA gewesen, läßt sich bei deren Chronisten Tim Weiner (2007) lesen. Was Barack Obama angeht, wie zahlreiche Schurken vor ihm vor den Wahlen zum »Hoffnungsträger« gestylt, habe ich schon keine Lust mehr, von ihm zu reden. Er bekam den Friedenspreis 2009, bevor er Libyen plattmachen ließ.

Auch vom Preisstifter Alfred Nobel her folgt der Kriegs-nobelpreis konsequent der Tradition. Vater Immanuel hatte sich mit Rüstungsgeschäften am Krimkrieg (1853–56) gesund gestoßen; wegen unglücklicher Kräfteverteilung an diplomatischer Front ging er dann aber trotzdem bankrott. Sohn Alfred half aus der Patsche, indem er (1866) das Dynamit erfand. Schon einer der ersten, vorausgehenden Laborversuche, in einem Schuppen auf dem väterlichen Anwesen im Süden Stockholms im Verein mit wechselnden Mitarbeitern vorgenommen, führte zu einer mittleren Katastrophe. Am 3. September 1864 lagerten 123 Kilogramm Nitroglyzerin im Schuppen. Als der Schuppen um 10 Uhr 30 in die Luft flog, wanderten fünf Personen mit: voran Alfreds jüngster Bruder, der knapp 21jährige Emil Nobel, dazu der Ingenieur Hertzman, die Dienstmagd Maria, der Laufbursche Herman und der Tischler Johan Peter Nyman. Einem zeitgenössischen Reporter zufolge waren lediglich »formlose Massen von Fleisch und Knochen« von ihnen übrig geblieben. Alfred war während dieser Explosion zufällig außer Haus gewesen. Soweit zum Auslöser dieser Betrachtung, Emil.

Dies alles konnte Alfred nicht daran hindern, eine Aktiengesellschaft zu gründen und für zahlreiche weitere Explosionen zu sorgen, bei denen zunächst die eigenen Fabrikgebäude oder Leute zu Schaden kamen. Ab 1866 hatte auch das deutsche Volk an dieser Entwicklung teil: Nobel eröffnete eine Fabrik in Hamburg-Krümmel und wohnte sogar einige Jahre dort. Bald nach dem Ersten Weltkrieg wird sie von dem einheimischen Riesenkonzern IG Farben übernommen, weil dieser bereits den Zweiten Weltkrieg wittert. Allein die »eigenen« Toten diverser deutscher Sprengstoff-Fabriken* hätten wahrscheinlich für die Gründung der Deutschen Kriegsgräberfürsorge (1919) ausgereicht. Im September 1939 sind auf dem zerfurchten Gelände in Krümmel, das später noch durch ein Atomkraftwerk gekrönt wird, um 3.000 Leute beschäftigt. Als stern-Reporter Günther Schwarberg 1986 eine Geschichte über die noble Krümmelei schreibt, wird sie von seiner (in Hamburg sitzenden) Chefredaktion abgelehnt.

Alfreds Goldgrube war der Panamakanal, mit dessen Bau 1879 begonnen wurde. Er verschlang Unmengen an Dynamit – nebenbei auch ungefähr 50.000 vom Gelbfieber dahingeraffte Kanalarbeiter. Nach 10 Jahren ging die französische Baugesellschaft in Konkurs, wodurch tausende von Kleinanlegern ihre Ersparnisse loswurden. Otto Krätz: »Einzig Nobel war der große Gewinner.« Der sah sich nie bemüßigt, auch nur einen Nachruf auf die Opfer seiner skrupellosen Sprengstoffproduktion zu verfassen. Er habe sich auch niemals öffentlich mit dem Mißbrauch und dem militärischen Gebrauch seiner Produkte auseinandergesetzt, schreibt -ju-.* 1888 ließ sich der geschäftstüchtige Schwede sein rauchfreies Schießpulver Ballistit patentieren, das, nach -ju-, überhaupt erst den Bau von Maschinengewehren ermöglichte. Dafür bemitleidete sich Nobel als einen verkannten Dichter. Er starb 1896. Offenbar brachte er niemals etwas Genießbares zu Papier – außer der Unterschrift unter jenes Testament, mit dem er Bares für geniale GeistesarbeiterInnen stiftete, um sich für alle Zeiten in deren Abglanz sonnen zu können. Mal sehen, wer sich noch alles von diesem Lumpen aushalten läßt.

* -ju-, Artikel »Dynamit« auf der Webseite der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Stand September 2020: https://geschichte-s-h.de/dynamit/



Nøis, Hilmar (1891–1975), Polarjäger auf Spitzbergen. Nördlich Norwegens und des Polarkreises gelegen, herrscht auf der Inselgruppe Spitzbergen bereits arktisches Klima. 60 Prozent der Landfläche sind von Gletschern bedeckt. Mittlere Jahrestemperatur minus 4,5 Grad. Sonst Geröll, keine Bäume, nur fleckenweise Gras, hin und wieder ein Horst aus gelb oder rot blühendem Steinbrech, kahle schroffe Berge.

Am Fuß eines solchen Berges steht ein dunkles Holzhaus mit weißgestrichenen Fenstern, von dem es in Alfred Anderschs schönem Buch Hohe Breitengrade aus dem Jahr 1969 sogar ein Farbfoto gibt. Unter diesem heißt es, es handle sich um das Haus des Jägers Hilmar Nöis am Ufer des Sassen-Tals, Innerer Eisfjord. Es ist das einzige weit und breit. Als Andersch dort auftaucht, sieht er im benachbarten Vorratsschuppen des Jägers frisch gerupfte Schneehühner und Brandgänse sowie geräucherte Fische hängen. »An einem Gestell am Strand sind Robbenhäute ausgespannt, liegt auch Robbenfleisch. Es gibt ferner einen Stapel Rentierfelle sowie einen alten Hundestall (doch keine Hunde) …« Ich nehme einmal an, Nöis hatte seine Hunde kürzlich abgeschafft oder mitgenommen, als er sich nach Harstad auf den Vesteralen-Inseln aufmachte, wo er bei Verwandten seinen Lebensabend zu verbringen gedachte. Damals hatte er wohl schon die 70 überschritten. Jetzt erklärt der große hagere und weißhaarige Jäger seinem Besucher, er habe es in Harstadt nicht ausgehalten – er ging zurück. Auf dem Küchentisch steht eine Petroleumlampe. In einem Wandbord ein paar Bücher. Nöis trage ein blaues Hemd und eine lederne Weste, erfahren wir von Andersch. Demnach hat der betagte Polarfuchs gut eingeheizt, falls er nicht schon längst die Widerstandskraft eines Walrosses besitzt. Andersch vermutet: »Ein so alter Mann wie er braucht sicher nur wenig Schlaf.« Schon möglich – was macht er aber, wenn er sich auf der Pirsch ein Bein bricht oder zu Hause von der Leiter fällt? Womit heizt er überhaupt? Was träumt er? Mit wem führt er erbauliche Gespräche über Das einfache Leben (Wiechert), falls er der Geselligkeit nicht restlos entbehren kann?

Ich habe ein wenig nachgeforscht. Nöis brachte es noch (1975) auf 84 Jahre. Da hielt er sich allerdings nicht mehr auf Spitzbergen auf. Als Trapper, gelegentlich auch Bergmann und Retter, war er rund fünf Jahrzehnte aktiv, bis 1963. Zwei Brüder waren ebenfalls Trapper oder Fischer. Seit ungefähr 1930 hatte er seinen Hauptsitz in jener schwarzen so genannten Villa Fredheim im Sassental. Das Häuschen gilt als vergleichsweise luxeriös. Hier wohnte anscheinend auch Nöis zweite Ehefrau Helfrid. Zum Heizen dient vorwiegend Treibholz, sonst Kohle. Nöis besaß aber noch zahlreiche andere Hütten in seinem ausgedehnten Jagdgebiet. Er soll einige tausend Füchse (per Falle) gefangen und 300 Eisbären geschossen haben, daneben zahlreiche Moorhühner. Die Kriegsjahre verbrachte er in Schottland, als Quartiermeister bei der Marine. Er galt als Meister im Hundeschlittenfahren. Er starb in Andöya, der nördlichsten Insel Vesterålens, Norwegen, wo sein verzweigter, namhafter Clan auch herstammte.

Martina Wimmer betont*, es gab nie Einheimische, nie ein Volk auf Spitzbergen. Man ging hin, um etwas zu holen, sprich zu erbeuten. Ab dem 17. Jahrhundert stellte man vor allem dem Grönlandwal nach – bis er, am Ende des 18. Jahrhunderts, nahezu ausgerottet war. Soweit ich weiß, waren Robben und Wale vor allem wegen dem einträglichen, in der Fettschicht sitzenden Tran (Brennstoff, Kosmetika) begehrt. Dabei war der Drang nach Norden der Rechnung geschuldet: je kälter, desto mehr Fett – und eben mehr Tran. Zu Nöis erster Gattin schreibt Wimmer, sie habe, nachdem sie allein in der entlegenen Hütte einen Sohn geboren hatte, einen Nervenzusammenbruch erlitten, von dem sie sich nie mehr erholen sollte. Nöis hatte wohl mindestens zwei Kinder.

Nach dem Dresdener Rolf Stange** hatte Nöis seine erste Frau Ellen Dorthe (geb. Johansen) 1913 in Norwegen geheiratet. Schon bei Geburt einer Tochter (Embjörg) habe er sich freilich nach Spitzbergen verzogen. Man sah sich selten. Stange bestätigt die Geschichte mit der einsamen, traumatischen Geburt des Sohnes, Kaps getauft. Angeblich hatte Nöis den Arzt aus Longyearbyen holen wollen, sich jedoch verspätet. Die Ehe wurde bald geschieden. Laut Stange war Villenbesitzer Nöis für seine Gastfreundschaft bekannt. Die Villa hatte zwei Nebenhütten und wohl auch ein Klohäuschen. Da sie noch heute steht, war sie anscheinend sturmfest verankert und gebaut. Laut Stange lebten die Eheleute »bis in die 1960er Jahre zusammen hier und zogen dann endgültig nach Norwegen. Hilmar kam auf legendäre 38 Überwinterungen in Spitzbergen, er starb 1975 im Alter von 84 Jahren. Helfrid wurde sogar 96, bis sie 1996 in Bodö starb.« Warum hatte Andersch dann nicht auch sie erblickt? Hatte der Trapper sie etwa im ausgebauten Dachgeschoß eingesperrt? Nun, ich deutete es bereits an. Offenbar war Nöis noch einmal solo zurückgekehrt, ehe auch er das Handtuch warf. Laut Stange galt die größte Begierde der meisten Trapper dem »neugierigen« Polarfuchs, Winterfell weiß und dicht. Die Schlagfalle schonte das Fell – nicht etwa den Fuchs. Selbst heute dürfen die Ansässigen noch Polarfüchse jagen. Andersch spricht auf S. 130 vom Beutedrang des Zweibeiners und von den Eisbären. Er konnte einige Eisbären beobachten. Noch vor 100 Jahren habe Spitzbergen von ihnen gewimmelt. Dann schrumpfte der Bestand. Seit 1973 ist dieser größte aller Bären, von Forschern wie Nansen einst gefürchtet, auch auf Spitzbergen geschützt. Man darf ihn nur erschießen, wenn er jemanden angreift. Das kommt gelegentlich vor.

Andersch erwähnt (157) das norwegische Wort »arktis-bitten« – von der Arktis gebissen, nämlich von ihrer seltsamen Schönheit betört, was ohne Zweifel für manche ForscherInnen und Touristen, nach Christiane →Ritter auch für manche Jäger gilt. Sie war Nöis, beträchtlich früher als Andersch, einmal begegnet. Andersch gibt allerdings noch weniger Erklärung als Ritter. Die Kapitänsgattin und Künstlerin streicht die Liebe zu dem kargen, schweigsamen Land und den Durst nach göttlicher Ansprache heraus. Zum fragwürdigen Gewerbe des Jägers oder Trappers schweigt auch sie sich aus. Sie erwähnt noch nicht einmal, wem sie was verkaufen. Ich nehme an, es ging schon zu ihrer Zeit vor allem um die Pelze. Das Fleisch der Beutetiere verzehrten Nöis und Gattin vermutlich zu einem geringen Teil selber, während der Löwenanteil jede Wette in die Mägen der Schlittenhunde wanderte. Die fressen einem ja die Haare vom Kopf.

Zur Persönlichkeit des Trappers Hilmar Nöis sagen die Quellen so gut wie nichts. Auf einem Foto, das ihn unter Verwandten zeigt, wirkt der stämmige, untersetzte Mann mit seinem tadellos rasierten Mondgesicht etwas töricht, aber das kann natürlich auch an der Mitternachtssonne oder am Beleuchter der Stubenszene liegen. Grundsätzlich glaube ich freilich, zum Vorbild für Anarchisten eignen sich Trapper wie Nöis kaum. Das verbietet sich einerseits durch die mehr oder weniger grausamen Züge ihres »Handwerks«, also vor allem des Hetzens und Fangens der Beute, andererseits durch die starke Neigung zu Entsagung und Märtyrertum. Dem setzen »spirituell« gestimmte Damen wie Ritter oder die eingefleischten trekking-Fans natürlich gern noch den Heiligenschein auf. Ich habe mich nie dazu verleiten lassen, die Jagd grundsätzlich zu verdammen. Soweit sie aufgrund von Nahrungsknappheit zur Eigenversorgung dient, geht sie in Ordnung. Schließlich stammt die Weltordnung nicht von mir. Dagegen erlag ich früher zeitweise der Versuchung, die grausamen Züge lediglich in der Menschenwelt zu finden. In Wahrheit wimmelt die irdische Flora und Fauna von ausgekochten Fallenstellern aller Art. Denken Sie nur an Schlupfwespen, die zumindest teilweise mit mordslangem »Legebohrer« zu Werke gehen, um ihre Eier im Holz schlummernden Larven anzudrehen, die die Zoologen dann »Wirte« nennen. Die Freuden, die uns verschiedene, oft bestens getarnte Giftschlangen bereiten können, sind bekannt. Vielleicht lauert das Kriechtier gerade in einem Baum, der einer sogenannten Kannenpflanze zum Klettern dient. Die Gute ist keineswegs Vegetarierin. Ihre kannenförmig gestalteten, gegen Regen sogar bedeckelten Blätter sind am oberen Rand mit leckerem, klebrigem Nektar versehen. Nascht ein Käferchen davon, gleitet es an den edelstahlglatten Innenwänden der Blätter in eine saure Pfütze, in der es ertrinkt und alsbald zersetzt wird. Gärtner Pötschke aus 41 564 Kaarst – der selbstverständ-lich hübsche Kannenpflanzen auf Lager hat – meint dazu auf seiner Webseite, Kannenpflanzen stellten »wirklich ein Wunderwerk der Natur« dar. Dasselbe könnte man von KZ-Verbrennungsöfen oder von in Ramstein gesteuerten US-Drohnen behaupten. Schließlich hat »die Natur« auch den uniformierten Zweibeiner hervorgebracht.

F. G. Jünger nannte diese Schöpfung, die jede Art von Pflanzen- und Tierquälerei einschließt, befremdlicherweise »vollkommen« – ohne Ironie, denn jede Art von Komik hatte er geächtet. Dabei genügt es doch bereits, am Zaun der nächsten Pferdekoppel zu beobachten, wie die Pferde von Fliegen und Bremsen heimgesucht werden. Manche Idioten stecken ihre Gäule deshalb in geschneiderte Rüstungen, die bei Julihitze ebenfalls das reinste Vergnügen sein dürften. Vielleicht sollte ich meine eigene Pferdekoppel, falls ich es einmal zu einer solchen bringe, mit Aronstäben einfassen. Im Spätsommer leuchten die knallroten Fruchtstände dieser kaum knöchelhohen, mehr oder weniger giftigen Pflanze auch am Waltershäuser Schloßberg aus dem Kraut hervor. Sie blüht bereits im April mit einem hübschen eselsohrigen Sonnensegel. Die braune Keule im weißen Ohr verströmt Aasgeruch. Schier bezaubert, rutschen die Fliegen am öligen Hüllblatt hinunter, passieren eine »Reuse« aus Sperrhaaren – und sind im Blütenkolben eingesperrt. Der vollkommene Schöpfer opfert sie, um seine unvollkommene Blütenpflanze zu bestäuben. Kommen sie aber aufgrund der verwelkenden Reusenhaare nach einer Woche wieder frei, ist es zumindest Haft und seelische Folter gewesen.

* https://www.mare.de/spitzbergen-content-5286, April/Mai 2022
** https://www.spitzbergen.de/fotos-panoramen-videos-und-webcams/spitzbergen-panoramen/fredheim.html, Stand 2019

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