Sonntag, 11. Dezember 2022
Nasen Loth—Matze

Lothar, Hanns (1929–67), Schauspieler, sogar mir von der nichtkinofreien Kindheit her bekannt. Damals verkör-perte dieser bewegliche, hagere Schauspieler, geboren in Hannover, den pfiffigen deutschen Jungen – mal gelassen, mal schnoddrig, zumeist als charmante Nervensäge. Das war genau das Richtige für die westdeutsche Wirtschafts-wunderzeit. Lothar gehörte seriösen Bühnen an, zuletzt dem Thalia Theater in Hamburg, trat aber auch gern in Fernsehkrimis auf.

1962 gab er den armen Schlucker Axel in Rainer Erlers Film Seelenwanderung geradezu herzzerreißend. Es handelte sich um eine Art Kammerspiel, schwarzweiß, 75 Minuten lang, gedreht nach einer Parabel von Karl Wittlinger. Axels Kumpel Bum war freilich vom Naturell her gar nicht der Richtige für die Wirtschaftswunderzeit. In der proletarischen Kneipe Trübsal blasend, befinden die beiden, Bum (Wolfgang Reichmann, rundlich, mit großer Stirnglatze) sei zu gutherzig, nicht kaltblütig genug, um endlich einmal auf einen grünen Zweig zu kommen. Das gibt Axel den Vorschlag ein, Bum möge sich seiner Seele entledigen. Tatsächlich gelingt es Bum, durch geballte Anstrengungen, seine Seele in einen leeren Schuhkarton zu »denken«, den ihnen der Wirt gegeben hat. Axel macht schnell den Deckel zu; Bum versetzt den Karton anderntags für fünf Mark im Pfandhaus und bahnt so seinen unaufhaltsamen Aufstieg zum skrupellosen Kapitalisten an. Von Axel will er jetzt nichts mehr wissen – bis er ausgebrannt im Sarg liegt und erkennt, aufgrund der verlorenen Seele ist ihm der Weg ins Jenseits versperrt; er muß als »Geist« durch die Stadt seiner Erfolge irren. Damit beginnt die Jagd nach dem Schuhkarton. Axel steht Bum bei, obwohl ihn dieser so schäbig behandelt hat. Der Herzensgute ist hier Axel, der durchtriebene Ganove.

Daß Lothar außerdem singen konnte, bewies er unter anderem als Christian Buddenbrock in einer Verfilmung des bekannten Romans von Thomas Mann. Lothar liebte Frauen, Fußball, Boxen, Alkohol. 1967 ereilte ihn bei Bühnenproben in Hamburg eine Nierenkolik, an der er starb. Er war knapp 38. Seine dritte Gattin Gabriele, um 23, soll gerade auf Reisen gewesen sein.

Damit zu einem Apfel, der nicht weit vom Stamm fiel, Marcel Werner (1952–86) mit Namen. Laut Zeit-Nachruf war der Berliner Schauspieler »ein langer, dürrer, schräger Mensch, immer bekümmert und deshalb immer auch ein wenig komisch«. Dieser Mensch war ein Sohn, den Lothar 1952 mit seiner Kollegin Elfriede Rückert (später Werner) gezeugt hatte. Marcel Werner spielte, sowohl auf der Bühne wie in einigen Filmen, vorwiegend Sonderlinge. Er trat im Juni 1986 in Hannover mit 34 Jahren endgültig ab. Man spricht zumeist von einem Langzeit-Selbstmord durch chronischen Alkoholismus. Die Zeit meinte etwas verwaschener, Werners Drang zur Selbstzerstörung habe seine Lust zur Selbstdarstellung überwogen. Möglicherweise streifte jener erste Drang auch noch andere. Laut Spiegel (19. Oktober 2007) lernte Werner 1978 die Schauspielerin Marion Michael kennen, die 1956 als barbusiges »Dschungelmädchen« eingeschlagen war. Sie hielt Werner für die Liebe ihres Lebens. Der Spiegel: »Ein schöner Mann, Trinker, gewalttätig. Ein Jahr später flieht sie vor ihm.«

Das Phänomen der Wiederholung ist nicht nur in Stammbäumen auffällig. Im 1982 veröffentlichten Kinderfilm Bananen-Paul von Richard Claus und Petra Haffter versetzt ein ausgerissener Zirkusbär eine Kleinstadt in Panik, obwohl er ein gutmütiger Bursche ist. Werner gab darin einen Fotografen. Das Werk könnte manchen Betrachter an ein Glanzstück meiner Kindheit erinnern: an das 1952 erschienene Jugendbuch Der Löwe ist los von Max Kruse. Als Werner für immer seine Augen schloß, 1986, rief sich der Ex-Scherben-Frontman Rio Reiser mit einem Hit, wie sich rasch zeigen sollte, zum König von Deutschland aus. Über Adolphe Adams Komische Oper Wenn ich König wär' von 1852 war bereits Gras gewachsen. Damit sollen allerdings keine Vorwürfe erhoben sein. Von nichts kommt nichts; wir sind alle nur Varianten. Eher würde ich über jene Leute Verachtung ausgießen, die sich um jeden Preis mit »Neuigkeiten« hervortun müssen – im Falle von Produzenten neuer Automodelle selbstverständlich um einen möglichst hohen Preis. Leider gilt das Ganze auch, zu ungefähr 80 Prozent, für jegliche »moderne Kunst«, Literatur eingeschlossen. Jetzt erhoben die Jarrys, Schwabs und Baselitze die Aufgabe zur Norm, von der Norm abzuweichen. Dabei belief sich der Sinn der Aufgabe darauf, Ruhm und Einkommen des Neuerers zu mehren. Der schweizer »Dramatiker« Werner Schwab, knapp 36, soff sich (1994) ebenfalls tot.

Am 21. Juli 2012 starb die 51jährige Berliner Schauspielerin Susanne Lothar. Sie war eine Tochter Hanns Lothars und eine Halbschwester Marcel Werners. Woran oder warum sie starb, wollte der Rechtsanwalt ihrer Familie, der »Privatsphäre« der Verstorbenen oder der Angehörigen zuliebe, nicht verraten. »Und so blühten die Spekulationen«, schrieb die Münchener Abendzeitung nicht ohne Folgerichtigkeit. Anzeichen für eine Krankheit etwa habe man bei Lothar, die 2007 ihren Ehemann Ulrich Mühe durch eine Krebserkrankung verloren hatte, noch am 30. Juni auf dem Münchener Filmfest nicht bemerkt. In Schauspielerkreisen werde von Selbstmord gemunkelt.* Und wenn schon? Hat der Rechtsanwalt die von ihm vertretene »Privatsphäre« verriegelt, weil in dieser ein Selbstmord als Makel gilt? Das würfe kein sonderlich vorteilhaftes Licht auf die von ihm Vertretenen. Wenn aber nicht – was wäre dann in diesem Todesfall noch schüt-zenswert? Jeder, selbst die Münchener Abendzeitung, wußte, daß mit Lothar eine ausgesprochen empfindsame und »verletzliche Charakterdarstellerin« verstorben war. Da liegt doch ein Selbstmord gleichsam von Jugend an in der Luft. Eine andere Frage ist, warum ausgerechnet ein derart angreifbarer Mensch die Brennpunkte öffentlichen Interesses aufsucht, Theaterbühnen und Filmfeste zum Beispiel. Sie führt vom Thema ab.

Leider ist auch die »Privatsphäre« ein verdammt weites Feld. Immerhin ist sie, ungeachtet ihrer Abmessungen, nie ein »natürliches« Feld. Ihre Grenzen werden in jeder Kultur und in jeder Epoche anders gezogen. In kapita-listisch verfaßten Demokratien kreist die »Privatsphäre« vor allem um die jeweiligen Einkommensverhältnisse, ob sie nun zu Hause im Wandsafe oder auf entlegenen, meerumrauschten Steuerparadiesen geschützt werden. Das hindert freilich die wenigsten GroßverdienerInnen daran, erstens mit ihren Platinuhren zu protzen, zweitens in Talkshows oder gut honorierten Zeitungsinterviews ihr Innerstes nach außen zu kehren, drittens den Bürokraten, Polizeibeamten und Berufsschnüfflern ihres Landes zu gestatten, die menschliche Würde mit Füßen zu treten, sobald einer auch nur einen zwergfichtengroßen Schatten auf die Fassade der kapitalistischen Demokratie wirft.

Wahre Demokratie lebt von Öffentlichkeit, Aufrichtigkeit, Nachvollziehbarkeit. Ich kann den anderen mitsamt seiner Beweggründe und seinen Bedürfnissen umso besser verstehen, je mehr ich von ihm weiß. Erst dadurch kann ich auch mich selber besser verstehen, denn alleingelassene Beschränktheit bleibt immer beschränkt. Aus diesem Hauptgrund – Vertiefung des Verständnisses – schreiben gewisse Leute Theaterstücke oder Schein-Lexika. Vielleicht könnte sich durch die Vertiefung des Verständnisses sogar die Erhöhung des Schutzes der »Privatsphäre« erübrigen, nämlich insofern, als durch diese Bildungs- und Vertrauensbildungsarbeit Angst abgebaut wird. Eine Gesellschaft ohne einschüchternde Strukturen und Drohgebärden würde weder Panzer-schränke noch Rechtsanwälte benötigen. Sagen Sie das mal dem Kabinett Merkel und der Ministerpräsidenten-konferenz, die lachen sich tot.

Auf der Linie jener Theaterstücke oder Schein-Lexika liegen sicherlich auch Biografien. Oft können diese Biografien allerdings erst einige Jahre nach dem rätselhaften, vielerörterten, von Spekulationen umwucherten Tod der betreffenden prominenten Person erscheinen; gut Ding will schließlich Weile haben. Und weil diese Bücher dann endlich die Wahrheit von den Todesumständen ihrer Gegenstände enthüllen, gehen sie weg wie warme Semmel. Das ist volkswirtschaftlich gesehen sinnvoll, wird doch auf diese Weise ein doppelter Umsatz erzielt, zunächst durch die Spekulationen, später durch die Biografie.

* Michael Heinrich, »Der Tod der Tragischen«, 26. Juli 2012: https://www.abendzeitung-muenchen.de/panorama/susanne-lothar-der-tod-der-tragischen-art-170421



Ludwig, Oliver († 1976), Junge aus Hamburg-Eidelstedt, wo er selber, sein 13jähriger Bruder Thomas und der 10jährige Stephan Behrmann wohnten.* Am 6. September 1976 gingen die Drei zum verwilderten Betriebsgelände der ehemaligen Chemischen Fabrik Dr. Hugo Stoltzenberg. Sie streunten umher, sammelten einige Dinge oder Stoffe ein und kehrten in den häuslichen Keller zurück, um mit ihrer Beute zu experimentieren. Was sie allenfalls verschwom-men wußten: auf dem Gelände lagerten illegal und höchst fahrlässig rund 80 Tonnen lebensgefährlicher Chemikalien und Sprengstoffe, darunter Gasgranaten. Prompt kam es im Keller der drei Jungen zu einer Explosion. Der achtjährige Oliver wurde getötet, die beiden anderen zogen sich schwere Verletzungen zu. Ferner löste die Explosion den üblichen Skandal, die bekannten Lügen und solche Reformen aus, die weder den Kapitalismus noch die Kriegslüsternheit antasten.

Schon 1928 hatte es bei Stoltzenberg Hamburg eine mittlere Katastrophe gegeben. Der Vorfall wurde auch von Carl Ossietzky in der Weltbühne aufgriffen: »Gasangriff auf Hamburg«, 29. Mai. Damals waren große Mengen Phosgen entwichen, die eine Giftgaswolke über der Großstadt bildeten. Nur günstige Winde verhinderten das Schlimmste. So sorgte das Unglück »lediglich« für mindestens 10 Tote und rund 300 Verletzte. Hugo Stoltzenberg selber, gestorben 1974 mit 90, ist dafür, so weit ich weiß, nie belangt worden.

Noch früher, im April 1915, stand Stoltzenberg Schulter an Schulter mit dem berühmten und noch heute hochge-ehrten Chemiker Fritz Haber, damals sein Chef, bei Ypern an der Westfront. Und was hatten sie da zu suchen? Sie hatten die Chlorgashähne zu öffnen, um den Franzmän-nern einmal zu zeigen, was eine Harke ist. Sie hatten das erste deutsche Giftgas für Kriegszwecke gemeinsam entwickelt. Der Einsatz war »erfolgreich«; Haber wurde gleich zum Hauptmann befördert. Seine Ehefrau Clara Immerwahr, ebenfalls Chemikerin, fand dies alles, den Charakter ihres Gatten eingeschlossen, gar nicht erhebend. Am 2. Mai erschoß sich die 44jährige mit Habers Dienstwaffe im Park der gemeinsamen Berliner Villa.

Ich komme noch einmal auf das Phänomen der Skandale und Katastrophen zurück. Womöglich haben einige LeserInnen eine gar zu weitgefaßte Vorstellung von ihm. Daß weltweit Jahr für Jahr Millionen von Menschen an Hunger, verseuchtem Wasser, Arzneimangel verrecken, während fast zwei Billionen Dollar für Militärisches verpulvert werden, ist kein Skandal. Dazu ist es zu allgemein, zu üblich, zu normal und zu günstig=unauffällig gestreut. Das gleiche gilt für jährlich grantiert 3.000 Straßenverkehrstote und 500 tödliche Badeunfälle allein in Deutschland. Sie stellen keine Katastrophen dar. Etwas anders sähe die Sache aus, wenn der Badeunfall beispielsweise einer prominenten deutschen »Kuratorin« auf den Kanarischen Inseln widerführe. Dann könnte man prüfen, ob es auf Fuerteventura StrandwächterInnen gibt, und wenn ja, ob die rund um die Uhr schlafen. Dieser Skandal wäre womöglich ein zureichender Grund, den spanischen Botschafter einzubestellen oder ihm gleich die Kriegserklärung zuzustellen.

Damit dürfte schon einiges klargeworden sein. Nur vergleichsweise ungewöhnliche und vergleichsweise brandneue Vorfälle sind skandal- und katastrophenfähig. Ferner müssen bestimmte, wichtige Personen vorhanden sein, an die das Schlimme geheftet werden kann. Schüttelte Rudi Dutschke die Faust, genügte es bereits. Der Skandal war da. Benno Ohnesorg dagegen mußte erst erschossen werden. Dadurch kam etwas in Bewegung. US-Präsident Carter sah sich erst dann genötigt, der Geierbande, die Nicaragua 40 Jahre lang ausgeweidet und in Blut gebadet hatte, seine Unterstützung zu entziehen, als ein Nationalgardist Somozas im Juni 1979 in Managua den US-Fernsehreporter Bill Stewart (37) abgeknallt hatte. Wäre Queen Elizabeth vom Rinderwahnsinn befallen worden, hätten Blair und Bush sofort die Viehweiden und Regenwälder der ganzen Welt besprühen lassen. Aber sie hatte ihn nicht nötig.

Hier drängt sich ein weiterer Gesichtspunkt auf, der vielleicht sogar der wichtigste ist. Vergangenes ist nie skandal- und katastrophenfähig. Schließlich liegt der Sinn der Vergangenheit gerade darin, uns Gegenwärtige zu entlasten. Deshalb haben wir nichts mit den Kanzleramts-akten zu tun, die Helmut Kohl beziehungsweise böse Bedienstete verschwinden ließen, bevor sie 1998 den Sessel im Bundeskanzleramt mit neuem Kalbsleder für den nächsten Fürstenarsch bezogen. Kohl selber, der Abgedankte, ging dann wieder seinem ursprünglichen Beruf als promovierter Historiker nach. Und schon gar nicht kann man uns für die »robusten« Maßnahmen haftbar machen, die einst der US-hörige General Suharto in Indonesien ergriff. Der Mann ließ ungefähr 500.000 »Kommunisten« umbringen, ferner jede Menge Chinesen. Nebenbei zweigte er in seiner »Regierungszeit« 15 bis 30 Milliarden Dollar für sich und seine Getreuen ab. Keinen geringen Teil davon verdankte er der CIA, wie bei Tim Weiner zu lesen ist. 1998 zum Rücktritt gezwungen, läßt sich Suharto im Jakartaer Nobelviertel Menteng nieder, wo er sich noch für 10 Jahre unbehelligt seiner unglaublichen Schandtaten erinnern kann. Er stirbt mit 86 im Januar 2008. Wen interessiert das schon? Seine Schandtaten sind vorbei.

Hexenverbrennungen und Conterganaffären; Sklaven-handel, Raketenabstürze und alle »Kollateralschäden« unseres sogenannten Gesundheitswesens, Impfmaß-nahmen eingeschlossen, werden bestenfalls zu ein paar Worten in Lexika und Fachbüchern. Die Toten und Einbeinigen und seelisch Zerrütteten leiden nicht mehr. Das sind alles eingebildete Kranke, denn die Zeit heilt Wunden. Wer weiß, ob es diese Leute und diese Verluste überhaupt gegeben hat. Wir merken nichts von ihnen. Ernst Kreuder sprach von unserem unausrottbaren Gegenwartsstolz. Real ist, was wir auf unseren hängeschrankgroßen Bildschirmen anzappen können. Und erfreulicherweise sind es stets die anderen, die vor unseren Augen mit Schweißbrennern oder Trennscheiben aus ihren zusammengestauchten Blechkisten geschält werden. Unser Auto steht vor der Tür.

* Uwe Bahnsen, »Die Giftfabrik des Dr. Stoltzenberg«, Welt, 6. Sep-tember 2009: https://www.welt.de/welt_print/vermischtes/hamburg/article4472392/Die-Giftfabrik-des-Dr-Stoltzenberg.html



Lully, Jean-Baptiste (1632–87), Musiker. In vielen Nachschlagewerken wird Mendelssohn als Erfinder des Taktstockes oder jedenfalls der Rolle des Dirigenten im heutigen Verständnis ausgegeben. Damit befördern sie eben den Geniekult, dem auch das Dirigieren dient. In Wahrheit bahnte sich das uns geläufige Dirigieren über Jahrzehnte hinweg schon vor Mendelssohn an, wie der Berner Musikwissenschaftler Anselm Gerhard 2005 in einem Aufsatz* erläutert hat. Traditionell »dirigierten« der Erste Geiger (mit dem Bogen) oder der Cembalist (mit der Notenrolle) von ihrem Platz am Instrument aus. Mit dem Aufkommen großer Opern – Chöre und TänzerInnen eingeschlossen – verfiel man darauf, dem Komponisten einen »Knüppel« zu geben, mit dem dieser auf den Boden stampfte oder auf einen Kasten schlug. Dem französischen Tänzer, Hofkomponisten und Dirigenten Jean-Baptiste Lully fiel dabei 1686 das Pech zu, sich bei der legendären Aufführung seines Te Deums den Knüppel versehentlich in den Fuß zu rammen. Das führte, nach Gerhard, zu einer schleichenden Blutvergiftung, an der Lully, 54, drei Monate später starb.

In Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit (um 1930) ist der Knüppel ein Rohrstock gewesen. Andere Quellen bescheiden sich mit Lullys »Spazierstock«, zu dem der Jugendfreund und dann Günstling des »Sonnenkönigs« Ludwig XIV. erbost gegriffen habe, um seinen Unmut ins Parkett zu stampfen. Vielleicht war dieser Spazierstock mit einer rostigen Eisenspitze versehen, durch die sich Lullys zunächst unbedeutende Fußwunde später entzündete; vielleicht waren aber auch schnöde Krankenhauskeime oder Kurpfuscherei im tödlichen Spiel. Jedenfalls lehnte der Stardirigent eine Amputation des Fußes ab, da er schließlich auch Tänzer sei. Ich halte es allerdings auch nicht für ausgeschlossen, schlitzohrige Biografen verlegten die Geschichte dieser tödlichen Verwundung flugs von der Straße oder dem Reitweg auf die Bühne, auf daß sie mehr Wirkung entfalte.

Damit zurück zum Dirigieren. Auch der Taktstock in Gestalt eines dünnen, womöglich noch weißlackierten Stäbchens ist keineswegs auf Mendelssohns Mist gewachsen. Der hervorragende Geiger Louis Spohr etwa pflegte ihn schon um 1820 zu benutzen, wenn auch meist nur für Proben. Selbst Mendelssohn dirigierte bei Konzerten oft vom Klavier aus. Aber er kam auf den Geschmack, bewährte sich das Insigne doch nicht nur in der Aktion. 1843 wechselte er in Leipzig mit dem Kollegen Hector Berlioz seinen Taktstock nach vollbrachter Tat – »wie die alten Krieger ihre Rüstungen getauscht hatten«, wobei der furiose Franzose sogar ausdrücklich von seinem »Tomahawk« sprach. Sie hatten das Publikum erlegt.

Die Musik begann in den Hintergrund zu treten. Noch 1779 hatte, wie Gerhard mitteilt, »ein anonymer teutscher Biedermann« lapidar festgestellt, soweit der Komponist vor der öffentlichen Aufführung »sattsame Proben gehalten« habe, bedürfe es »weiter keiner Direktion«; das Orchester dirigiere sich »alsdann von selbst, wie die Uhr, wenn sie aufgezogen worden ist.« Doch ab ungefähr 1870 trat das Buhlen um die Gunst des Publikums rasant in den Vordergrund. Und das Publikum fand offensichtlich Gefallen daran, Dompteure von Gesamtkunstwerken zu feiern, man denke nur an Wagners Riesenschinken. Laut Anselm Gerhard klagte der selbst vom Bratscher und Geiger zum Dirigenten »aufgestiegene« Paul Hindemith 1952, »die Kaste der Dirigenten« spiele im Musikleben »eine Rolle, die gänzlich außer Proportion zu Leistung und Stellung der übrigen Musiker« geraten sei. Aber sie geriet auch außer Proportion zum aufgeführten Werk. Die gleiche Entwicklung fand bekanntlich im Theater mit seinen Starregisseuren statt: die AufbereiterInnen wurden wichtiger und mächtiger als die UrheberInnen.

Elias Canetti führt gegen Ende seines dickleibigen, um nicht zu sagen: aufgeblasenen Werkes Masse und Macht von 1960 auf zweieinhalb empfehlenswerten Seiten aus, warum es »keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten« gebe. Das beginnt mit der herausgehobenen Position des Dirigenten und endet in dessen Kopf – ja sogar in den Köpfen seiner Untergebenen. »Er ist allwissend, denn während die Musiker nur ihre Stimmen vor sich liegen haben, hat er die vollständige Partitur im Kopf oder auf dem Pult. Es ist ihm genau bekannt, was jedem in jedem Augenblick erlaubt ist. Daß er auf alle zusammen achtet, gibt ihm das Ansehen der Allgegenwärtigkeit. Er ist sozusagen in jedermanns Kopf. Er weiß, was jeder machen soll, und er weiß auch, was jeder macht.«

Inzwischen bedarf es der Taktstäbchen nicht mehr. Einige ausgefuchste und kapitalkräftige DrahtzieherInnen der sogenannten Freien Märkte bringen heutzutage ganze Volkswirtschaften nur durch ein paar Mausklicks zum Einsturz. Sie profitieren von der ungeheuerlichen Unübersichtlichkeit der opferreichen Oper** namens Die Welt von heute.

* im Magazin für klassische Musik Partituren, Berlin, Heft 1 (Sommer 2005), S. 26–32
** Zum Thema Gesang sehen Sie bitte A-20 Trotz & Töne




Lyncker, Karl (1823–55), nordhessischer Heimatfor-scher und Sagensammler. Der Sohn eines glücklosen Kasseler Kaufmanns ist zunächst Schreiber des Justizamtes im nahen Städtchen Wolfhagen. Er büffelt Latein, betätigt sich aus eigenem Antrieb als Archivar und Heimatkundler und knüpft entsprechende Kontakte mit Historikern. Zur Wolfhagener Stadtgeschichte leistet er entscheidende Vorarbeit. Ab 1844 ist er, zwecks Gelderwerb, wieder in Kassel, zunächst als Sekretär der Halberstadtischen Fräuleinstiftung, später als Buchhalter im Bankhaus Louis Pfeiffer. Er kann sich nun verstärkt seinen Forschungen widmen. 1854 erscheint (in Kassel) seine Sammlung Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Aber schon ein Jahr darauf, im Mai, erliegt Lyncker im Gefolge eines ungewöhnlich harten Winters der Lungenschwindsucht, 32 Jahre alt.

Laut Volker Schilling* war der Verstorbene Wander- und insbesondere Schmetterlingsfreund. Auch habe er hin und wieder Gedichte verfaßt. Von daher vermute ich, er sei Junggeselle und eher Mönch als Zechbruder gewesen. Ob er erzfromm oder radikaldemokratisch gestimmt war, wissen wir offenbar nicht. Verbürgt ist nur, daß er in jenem Winter zunehmend von Husten geschüttelt wurde. Ungünstig für Kontur.

Ich will mich ersatzweise an einem Schnellporträt der Stadt Kassel versuchen. Sie hat einige Dinge oder Ereignisse zu bieten, auf die sie nicht gerade stolz ist, weshalb sie möglichst selten davon spricht. Zu den ersten Synagogen, die im deutschen Herbst 1938 brannten, zählte die in der Unteren Königstraße. SS-Fürst Josias aus dem nahen Barockstädtchen Arolsen ließ grüßen. Als Nazihochburg und »Stadt der Reichskriegertage« beschickte Kassel den Präsidentensessel des Berliner »Volksgerichtshofes« mit Roland Freisler. Er hatte sein Abitur auf dem heimischen Wilhelmsgymnasium gemacht. In den eigenen Mauern hatte Kassel die »Sonderrichter« Fritz Hassencamp und Edmund Kessler vorzuweisen, die den 29jährigen ungarischen Diplomingenieur Werner Holländer am 20. April 1943 wegen »Rassenschande« zum Tode verurteilten. Sie selber wurden sieben Jahre darauf mit jener bekannten Begründung freigesprochen, die nur von DDR-Bürgern nicht bemüht werden darf: da sie sich an damals geltende Gesetze gehalten hätten, stelle ihr grausamer Urteilsspruch wegen einiger Stelldicheins mit deutschen Mädels keine vorsätzliche Rechtsbeugung dar. Holländer war bei Henschel beschäftigt gewesen. Ob die lohnende Waffenschmiede gegen den Justizmord protestierte, ist nicht bekannt. Dagegen wissen wir, daß sich Kassel ihr und den Flugzeugwerken →Fieseler zuliebe im Oktober 1943 von den Briten in Schutt und Asche bomben ließ.

Jetzt kommt das Aufbauende, das jeden Kasseläner stolz Machende. 1.) Die Sprach- und Märchenspezialisten Gebrüder Grimm, Zeitgenossen von Lyncker. 2.) Der noch ältere Herkules, eingeweiht von Landgraf Karl 1717. Es handelt sich um eine wuchtig aufgebockte riesige Bronze, die einen nackten Mann darstellt, der sich auf anderthalb Keulen stützt. Da das Bauwerk den Bergpark von Schloß Wilhelmshöhe krönt, beherrscht Herkules locker das gesamte Kasseler Becken. 3.) Die Treppenstraße (1953). Sie gilt als erste geplante und ausgeführte deutsche sogenannte Fußgängerzone. Neuerdings wird befürchtet, sie könnte, aufgrund der sattsam bekannten Regierungsnotstandserlasse, die der Ausrottung eines Virus' oder des Mittelstandes dienen, veröden. Wenn ja, wird sich 4.) Hans Eichel im Grabe umdrehen. Schließlich kämpfte er, Jahrgang 1941, dereinst, als Chef der Kasseler »Jungsozialisten«, mit dem Megaphon in der Hand gegen die damals recht umstrittenen »Notstandsgesetze«. Dann wurde er Oberbürgermeister (bis 1991), noch später Gerhard Schröders Finanzminister und damit zu einem der verschlagensten »Sozialreformer« der deutschen Nachkriegsgeschichte. Schließlich 5.) die berühmteste Messe der künstlerisch ambitionierten Windbeutel und SchaumschlägerInnen dieses Planeten, die Documenta, nach der die Stadt inzwischen auch heißt.

Ist die Moderne Kunst so wichtig, sollten wir vielleicht noch ein wenig bei ihr verweilen. 2013 nahm das FBI ein US-Kunsthändlerduo wegen des Verdachts zahlreicher Fälschungen fest, die zunächst von »Experten« überwiegend nicht erkannt, vielmehr als Jackson Pollock, Mark Rothko, Robert Motherwell und dergleichen ausgegeben worden waren, wie die FAZ berichtete.** Offenbar lagen die »HinterwäldlerInnen«, die um 1970 angesichts solcher modernen Werke naserümpfend knurrten Das kann mein Fünfjähriger auch, gar nicht so schief. Sie hatten jedoch den Dreh mit den Inszenatoren noch nicht durchschaut. Gerade bei der Modernen Kunst kommt es ja zu ungefähr 95 Prozent keineswegs auf diese selber, vielmehr auf ihre Inszenierung an. Für die wichtigsten Agenten des Kunsthandels, die sogenannten KunstkritikerInnen, bedeutet das, ein fragliches Kunstwerk nicht etwa zu beschreiben und vielleicht von seiner Eigenart her zu verstehen, vielmehr uns mitzuteilen, welche Meinung man von ihm haben muß, zu welchem Behufe es natürlich auch viel allgemeines Wissen und viel Phrasensondermüll in die Setzkästen zu gießen gilt. Anders ausgedrückt, es bedeutet »mit Engelszungen Inserate reden«, wie der Maler und Essayist Hans Platschek schon 1966 schrieb. Das läßt sich in seinem Buch Über die Dummheit in der Malerei von 1984 nachlesen.

Im selben Jahr erschienen zufällig Walter Kolbenhoffs Erinnerungen Schellingstraße 48, die eine hübsche Anekdote von der Dummheit in der Modernen Lyrik zu bieten haben. Damals Redakteur des Rufs, fanden nach dem Kriege in Kolbenhoffs Münchener Wohnung öfter »informelle« Dichterlesungen statt. In diesem Rahmen erlaubte sich Stammgast Günter Eich eines Tages einen listigen Scherz, ohne sich wahrscheinlich über dessen Rückschlagskraft im klaren zu sein. Um Vortrag gebeten, griff sich Eich im Nachbarzimmer ein schmales Bändchen heraus, kam zurück, schlug es auf und begann mit dem Vorlesen. Sofort andächtige Stille. Als Eich den ersten Text beendet hatte, war es noch einmal eine Minute still, ehe eine Frau seufzte: »Es war wunderbar, es war ergreifend ..!« Doch Eich winkte ab und erwiderte zwinkernd: »Ach, das könnt ihr auch. Ihr könnt ja lesen. Ich habe mir erlaubt, euch das Inhaltsverzeichnis dieses Gedichtbänd-chens vorzulesen. Von mir ist es übrigens nicht.«

Der russische Clown Karandasch, gestorben 1983, brachte das Phänomen der Inszenierung oder Zelebration von letztlich austauschbaren Windbeuteln in seiner Nummer mit dem Teller auf den Punkt. Er benötigt zunächst Minuten, bis er einen Stuhl zufriedenstellend im Sand der Manege aufgebaut hat. Beispielsweise muß ein Bein mit einer sorgfältig gefalteten Zeitungsseite unterfüttert werden. Dann noch einmal Minuten, um einen Teller und einen Hammer auf dem Stuhl zu drapieren, wobei beide als echt und einwandfrei in der Gegend herumzuzeigen sind. Weiter hat sich der Clown die Ärmel aufzukrempeln, den Hut zurechtzurücken und dergleichen mehr. Schließlich nimmt Karandasch die beiden Kultgegenstände entschlossen vom Stuhl, legte eine Kunstpause ein – und zerschlägt den Teller. Dann präsentiert er die Scherben, lüftet seinen Hut, verbeugt sich würdig und geht ab.

* »Karl Lyncker / Der Verfasser der ersten Wolfhager Chronik«, in Geschichte erleben, ein Buch des Heimat- und Geschichtsvereins 1956 Wolfhagen, ebendort 2006, S. 165/66
** Niklas Maak, »Beltracchi auf Amerikanisch«, 21. August 2013: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunstfaelscher-skandal-in-new-york-beltracchi-auf-amerikanisch-12538461.html
→ Zur Lyrik A-21




Mackay, John Henry (1864–1933). Verstreute Bemer-kungen machten mich auf sein Buch Die Anarchisten von 1891 neugierig. Welches böse Erwachen, als ich an Weihnachten die ersten Seiten las! Dieses furchtbar geschriebene Buch gibt sich als Roman, wird aber von seinem Autor als Kulturgemälde bezeichnet. In Wahrheit geht ihm alles Bildhafte ab. Es ist ein drittklassiger Meinungsmarkt. In endlosen Gesprächen oder Vorträgen seiner angeblichen Protagonisten versucht Mackay, den von ihm bevorzugten »individualistischen« vom »kommunistischen« Anarchismus abzugrenzen. Die Weitschweifigkeit dieser Unternehmung fördert er nach Kräften durch viel zu lange und verschachtelte Sätze. Dramaturgische Fertigkeiten wurden dem Gymnasiasten, Verlagsbuchhändler, Philosophiestudenten Mackay noch nicht einmal ansatzweise mitgegeben. So bringt er die Biografien seiner beiden Hauptfiguren Auban und Trupp, statt sie zu streuen, auf der Hälfte des Werkes in zwei Blöcken, die wie ein typisch deutscher Dezember auf unser Gemüt drücken. Anflüge von Komik sind seltener als Hornissen in der Antarktis. Bei einer Demonstration durch London, bei der die Erwerbslosen mehr gegähnt als geschrien haben dürften, schwingt sich Mackay zu einem kleinen, krampfhaften Scherz auf: durch einen Faustschlag von hinten her wird einem stutzerhaften Schmäher der Zylinder über Augen und Ohren getrieben. Das Gefühls-leben seiner Helden beläuft sich auf sozialpolitische Leidenschaften. Die Liebe kommt bestenfalls als Fußnote vor. So wird eine kurzzeitige Ehe Aubans mit einer Frau erwähnt, die ihm wegstarb. Laut Auskunft der Lexika soll Mackay allerdings pädophile Neigungen besessen und darüber später auch noch kämpferisch geschrieben haben. Sein Vater starb bereits ein Jahr nach Mackays Geburt. Man darf vermuten, der Sohn war recht gebeutelt. In den Gemütszustand der Verlage, die sich durch einen Nachdruck von Mackays Werk empfahlen, versetze ich mich lieber nicht. Es waren schon mehrere, zuletzt der Forum Verlag Leipzig.

Wir erleben Mackays Helden im Alter zwischen 20 und 30. Wie kann er da die Liebe aussparen? In dieser Lebensphase stellte für mich ein jeder Tag ohne Geliebte einen verlorenen Tag dar. Hätte ich es nicht gerade hingeschrieben, würde ich es selber nicht glauben. Wie kann man so fanatisch um das andere Geschlecht kreisen (falls man nicht schwul ist)? Jetzt [wohl 2011] sitze ich schon seit über 10 Jahren auf dem Trockenen und habe mich immer noch nicht umgebracht. Noch einmal 10 Jahre, und meine Haut ist trockener als das Papier, auf dem meine Bücher gedruckt werden. In der sinnlichen Berührung liege ein Trost, bemerkt F. G. Jünger in seinem nachgelassenen Roman Heinrich March fast erschöpfend. Die besten Bücher und Sätze können ihn nicht bieten. Vor rund fünf Jahren mußte ich aus diskursiven Gründen auf eine bestimmte Frau verzichten, die mich sehr anzog: eine begnadete Sängerin, aber leider auch eine überzeugte Anthroposophin. Kürzlich durfte ich mich noch einmal geschmeichelt fühlen, als ich spürte, daß eine neue Kommunardin aus der Puppenfabrik ein Auge auf mich geworfen hatte. Über das Wesen dieser Frau Mitte 30 könnte ich mich nur rühmend äußern – nur bringt sie mich leider nicht in Wallung. Als ich mir das eingestand, war ich zerknirscht und beschimpfte mich und verfluchte den uralten Dualismus Leib/Seele.

Was muß das in einem Menschen anrichten, wenn er schon über 10 Jahre lang keinen körperlichen Kontakt mehr zu seinen Mitmenschen hat, Kinder eingeschlossen? Muß er nicht verhärten? Gut – man hat das Kissen, das auch mein Bekannter Roland bei seinem Herzanfall knüllte; man fährt mit der Hand über ein gehobeltes Kiefernbrett; schreitet tüchtig aus; formt mit Zwerchfell und Lippen den Querflötenton; trinkt Sonne oder Schnee mit manchen Poren … Ergo lebt man keineswegs rein geistig. Aber die entscheidende Strahlung fehlt. Sollte es die altmodische Herzenswärme sein? Die Nacktscanner, die sie jetzt an den Flughäfen aufstellen wollen, werden es uns nicht verraten. Stückpreis 150.000 Dollar. Nichts ist zu teuer, wenn es den Prozeß unserer Entwürdigung und Entrechtung sicherer zu machen gilt. Die Herzenswärme findet sich dann auf Seiten der HerstellerInnen wieder. Die ansteigende rote Kurve ihrer Gewinnerwartung durchblutet ihr Herz gut wie nie.

Allein die Tatsache, daß man als heterosexueller Mann gemeinhin nicht von anderen Männern angezogen wird, ist ein Grund, die Welt als verfehlte Einrichtung abzulehnen. Was dadurch an potentiellen Strahlungsquellen wegfällt! Mit der Vernunft ist es gar nicht zu begreifen, einen Mann, mit dem ich mich gut verstehe, nicht auch umarmen zu wollen. Aber man will nicht. Es wäre mir inzwischen sogar fast zuwider. Das war in meiner Kommunezeit anders – doch diese zärtlichen Gesten blieben stets oberflächlich und unverbindlich. Entsprechend verkamen sie bald zum Automatismus. Noch anders war es einmal in Westberlin um 1980 gewesen. In einem Kreuzberger Hallenbad, wo ich regelmäßig zu duschen pflegte, erwärmte sich ein nackter, wohlgestalteter Mann für mich, der offensichtlich nicht auf den Kopf gefallen war. G. hielt sich als Übersetzer von englischen Krimis über Wasser. Ich ging mit ihm nach Hause. Ich hatte keine Schwierigkeiten, seinen sinnlichen Mund zu küssen und mich an seinen kräftigen Brustkorb zu schmiegen. Doch meine Leidenschaft entfachen zu lassen, blieb mir verwehrt. Ich tat zunächst als ob, denn »schwule Sachen machen« gehörte damals in unseren Spontikreisen zum guten Ton. Dann ließen wir unsere Beziehung binnen weniger Wochen einschlafen. Vorwürfe wurden nicht ausgeteilt.



Mahmud, Sabeen (1975–2015), pakistanische Oppo-sitionelle, Gründerin und Leiterin der Begegnungs- und Kulturstätte The Second Floor in Karatschi, auch IT-Fachfrau. Ich gebe zu, bestimmte Schlagworte sind bereits geeignet, mir den Magen umzudrehen, bevor ich überhaupt nur eine vollständige Zeile der betreffenden Verlautbarung gelesen habe. Mahmud wird in jeder zweiten Quelle als Menschenrechtlerin geführt, ansonsten als Aktivistin. Hauptsache, aktiv … Ende April 2015 nach einem Seminar in ihrem Zentrum mit ihrer Mutter auf dem Nachhauseweg, wurde die 39jährige von zwei Auftragskillern beim Halt an einer Ampel erschossen. Die Mutter wurde verletzt. Selbst der Chef des pakistanischen Geheimdienstes gab sich entsetzt. Der angebliche Drahtzieher des Anschlages wurde bald darauf gefaßt und eingesperrt. Man spricht von einem bekannten religiösen Fanatiker.

Das erwähnte Seminar war bereits bedroht worden; es behandelte die Verfolgung von Oppositionellen in der Provinz Belutschistan. So jedenfalls die Petra-Kelly-Stiftung, Unterabteilung der bekannten Heinrich-Böll-Stiftung, 2019 in einer Ankündigung einer Filmveran-staltung. Für mich ist diese deutsche »grüne« Adresse nicht gerade eine Empfehlung. Einer offensichtlich Microsoft-freundlich gestimmten Webseite* entnehme ich, Mahmud habe in Karatschi schon »Kultstatus« genossen, was den »konservativen Kräften« des Landes überhaupt nicht gefallen habe. Passend dazu verrät die Filmemacherin Schokofeh Kamiz in einem Gespräch, Mahmud sei immer gerne Auto gefahren. Ja, in der Küstenstadt Karatschi kann es sicherlich gar nicht genug Autos geben. Schließlich ist sie von mindestens 15 Millionen Zweibeinern bevölkert, die sich nur ins Gehege kämen, wenn sie alle zu Fuß gingen. Aber Scherz beiseite: Was wollte man in oder an dieser wahren Hölle aus Lärm, Gift, Bestechung, Modernität und Gewalttaten aller Art noch retten oder gar verbessern? Man kann sie nur fluchtartig verlassen. Aber das Gegenteil ist der Fall: die Leute strömen hinein und bleiben – wie man unter anderen an Mahmud sieht, die ja ebenfalls die Stellung hielt. Von der Auflösung oder auch nur Verkleinerung solcher Moloche zu träumen, wäre ohne Zweifel illusionär. China plant und schafft emsig weitere Riesenstädte – und gegen diesen Trendsetter kommt niemand an.

Ich greife noch einmal die »konservativen Kräfte« auf. Für die meisten Linken, selbst Anarchisten, stellt »konservativ« das Gegenteil von »fortschrittlich« oder »progressiv« und daher zugleich ein Synonym für schlecht dar. Für sie sind die konservativen Kräfte ein ärgerlicher Hemmschuh; sie blockieren mehr Technik, mehr Geld, mehr Staat, mehr Urlaub, mehr Zerstreuung, mehr Bequemlichkeit, mehr Verblödung … In Wahrheit verdanken wir dem »Fortschritt« der Progressiven / ModernisiererInnen / GlobalisiererInnen schon fast die Zerstörung unsrer gesamten Lebensgrundlagen. Wogegen uns manche Konservative neue Autobahnen ersparen, weil ihnen die Rettung eines Auwaldes wichtiger erscheint. Das konservative Prinzip bewahrt und erhält; der Fortschritt zertritt. Große Sprünge nach vorne machte er während der Kolonialisierung durch die Zersetzung verschiedener ritueller Ordnungen, die »primitive« Gesellschaften zusammenhielten, und dann im Gefolge der Aufklärung mit Hilfe der Drachentöter Darwin und Nietzsche, die auch unseren zivilisierten Eingott erlegten. Den religiösen Rest – Glaube ans kommunistische Nirwana – erledigte die westliche Wühlarbeit am sogenannten Eisernen Vorhang. Seitdem haben wir der Leere zu wehren. Soweit zum »Überbau«.

An der gesellschaftlichen »Basis« stellte die um 1750 einsetzende Industrialisierung ein Meisterstück dar, das auf den Trümmern von kleinen Handwerksbetrieben und Bauernhöfen Zuchtanstalten mit Fabriksirenen, Stech-uhren und Videokameras schuf. Fabriken zerstückeln. Konnte es einst zur Menschwerdung kommen, dann nicht unerheblich durch die Schaffung von Behältern wie Tonkrüge, Kanus, Begriffe, Vollversammlungen, Dörfer. Behälter behalten oder enthalten etwas – mitunter eine ganze Zwergrepublik. Das Geschäft der sich herausbildenden Klassengesellschaften dagegen war die Spaltung. »Teile und herrsche« – damit war nicht das Teilen der Nahrung gemeint. Entsprechend finden sich in den »Ballungszentren« die Hungerleider hier, die Übersättigten dort eingepfercht. Der Stamm der Germanen wurde gleich in derzeit ungefähr 50 Millionen AutofahrerInnen zersplittert.

Die Ambivalenz der Entwicklung sei eingeräumt. So kamen in unseren Breiten um 1980 sehr sinnreiche Gehwagen oder Rollatoren auf, die man eigentlich schon im Mittelalter hätte erfinden können, denn sie stellen ja nicht mehr als Krücken auf Rädern dar. Auch Moskitonetze, Zimmeröfen oder Verhütungsmittel sind nützliche Erfindungen, zu denen man im Neandertal kaum das Zeug gehabt hätte.** Beim Internet dagegen, das auch von Mahmud verehrt wurde, melden sich schon wieder Zweifel. Vielleicht haben wir in ihm die Rache des abgesetzten Eingotts zu sehen, der es auswarf, um die erwähnte Leere mit Belanglosigkeiten, Bruchstücken, Lügen und »Honig-töpfen« zu stopfen, womit von Agenten gestellte Fallen gemeint sind. Es züchtet Beliebigkeit, Austauschbarkeit, Dummheit, Unterwürfigkeit. Wer nicht unablässig Befehlen folgt, hinkt rasch hinterher – bis er hinausfliegt.

Im Sinne der Austauschbarkeit ist selbstverständlich auch der alte politische Gegensatz von »links« und »rechts« hinfällig geworden. Als größtes Übel der jüngeren Jahrzehnte darf man getrost die rot, grün oder orange angestrichenen ModernisiererInnen bezeichnen. Sie setzten dem humpelnden Kapitalismus Edelstahlgelenke ein. Merkel erntet nur, was Schröder säte. Er säte geradezu obszöne Konzern- und Medienmacht und den Überwachungsstaat.

Der wesentliche Unterschied ist vielmehr der von unten und oben. Das libertäre steht dem autoritären Prinzip gegenüber. Die Faustregel könnte gar nicht einfacher sein: was Herrschaft und Fremdbestimmung untergräbt oder von vornherein verhindert, ist gut; der Rest schlecht. Sie beansprucht durchaus universelle Geltung. Nur ihre Prüfung in der Anwendung auf Einzelfälle erweist sich leider oft als verdammt schwierig.

* Christian Kahle, »Kult-Aktivistin und Tetris-Fan: Sabeen Mahmud wurde erschossen«, WinFuture, 27. April 2015: https://winfuture.de/news,86841.html
** Von der Antike an waren Verhütungsmittel durchaus bekannt. Nach Heinsohn/Steiger (Die Vernichtung der weisen Frauen, 1985) diente ihre bewußte Bekämpfung im Mittelalter (Hexenverfolgung) der Auffüllung der durch Seuchen ausgedünnten arbeitenden Bevölkerung – und bescherte uns später die so genannte Bevölkerungsexplosion.
→ A-22 Anarchismus




Majerus, Michel (1967–2002), erfolgreicher luxemburgisch-Berliner Kunst-Maler und -Installateur. Anfang November 2002 von Berlin in die Heimat unterwegs, stürzt das Linienflugzeug des 35jährigen, den Vogue auch neun Jahre später noch »farbstark« nennt*, im Nebel beim Landeanflug auf Luxemburg-Stadt über freiem Feld ab und zerschellt: 20 Tote, zwei Überlebende. In der Propellermaschine Marke Fokker 50 sollen vorwiegend deutsche Geschäftsleute gesessen haben. Was Majerus angeht, war er 1998 auf der Luxemburger Manifesta 2 in die höheren Einkommensschichten »durchgebrochen«. Während ihn Die Zeit, ebenfalls 2011, als »genialen« Schöpfer eines »gemalten Kunstgoogle« ausgibt, also einer Art von aufgewärmtem Pichelsteiner Poptopf, erfaselte sich das Konkurrenzblatt FAZ in seinem Nachruf** als Majerus' »große Leistung« die Ermöglichung der Erfahrung, »den virtuellen, vollkommen emotionslosen Raum mit der Wahrnehmung des realen Betrachters zu konfrontieren« – ein ganz heißer Anwärter auf die Top-10 der gedruckten KritikerInnen-Dummheiten des neuen Jahrhunderts. 2000 bemalte oder verzierte der Konfronteur in Köln eine »Halfpipe«, wie sie von Skatern benutzt wird. Dieses beiderseits von der Erde weggebogene, 455 Quadratmeter große Werk nannte er if we are dead, so it is. Das wurde zwei Jahre später von jener Fokker unterstrichen. Der Untersuchungsbericht gibt die Hauptschuld dem Chefpiloten. Ausgerechnet dieser hat überlebt und bekommt nach Jahren, wegen Fahrlässiger Tötung, eine geringe Haftstrafe aufgebrummt. Seine von vielen Seiten ebenfalls kritisierten Vorgesetzten von der Luxair kommen straflos davon.***

* Nr. 29, November 2011: https://www.vogue.de/people-kultur/kultur-blog/farbstark-die-gemaelde-von-michel-majerus-in-stuttgart
** Katja Blomberg, »Der Künstler Michel Majerus unter den Opfern«, 7. November 2002: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/flugzeugunglueck-der-kuenstler-michel-majerus-unter-den-opfern-180509.html
*** Bernd Wientjes, »18 Sekunden bis zur Katastrophe«, volksfreund.de (Trier), 5. November 2012: https://www.volksfreund.de/nachrichten/region/rheinlandpfalz/rheinlandpfalz/Heute-im-Trierischen-Volksfreund-18-Sekunden-bis-zur-Katastrophe-Der-Luxair-Absturz-heute-vor-zehn-Jahren;art806,3334551
→ A-23 Mauern (bemalt)




Marlitt, Eugenie (1825–87), anfänglich Opernsängerin. Wer sich einen Ausflug nach Arnstadt gönnt, weil er knöchelbrechendes mittelalterliches Marktpflaster oder noch nicht stillgelegte Bahnnebenstrecken schätzt, kommt an »der Marlitt« nicht vorbei. Der Stadtplan hebt ihre Villa oberhalb der ehemaligen Stadtmauer hervor; die einstige Leihbücherei an der Fußseite des spitz zulaufenden Marktplatzes, über der sie (1825) geboren wurde, hat sich neuerdings, nach der berüchtigen ostdeutschen »Wende«, ins Cafe Marlitt verwandelt. Ich sperre mich jedoch, krame meinen Reiseapfel aus dem Rucksack und steuere die erwähnte Villa an, die inzwischen (2017), man ahnte es bereits, in der Marlittstraße liegt, früher Hohe Bleiche.

Ab 1865 hätte die Marlitt selber ihre Röcke raffen und in die damals noch deftig dampfende Eisenbahn klettern können, um beispielsweise den Fürsten Pückler auf Schloß Branitz bei Cottbus zu besuchen. Mit dem greisen Schürzenjäger (82!), der ihr einen überschwenglichen Leserbrief schickte, sollte es 1868 zu einem kurzen Briefwechsel kommen. Soweit ich weiß, verreiste sie allerdings ab diesem Alter, um 40, überhaupt nicht mehr. Sie war oder fühlte sich schon zu gebrechlich für dergleichen Abenteuer. 1887, mit 61, starb sie in ihrer damals noch mörtelfrischen Villa. Zu Marlitts Zeit hatte Arnstadt, um 1700 vorübergehend Schwarzburger Residenz, ungefähr 10.000 EinwohnerInnen. Neben dem Ex-Schloß wies es Solbäder auf, und so trudelten mit der neuen Eisenbahn vermehrt »blasierte« Berliner Geheimrätinnen am Nordrand des Thüringer Waldes ein, »die mit ihren Crinolinen die Wege unsicher machen«, wie Marlitt einmal in einem Brief an ihre Wiener Freundin Leopoldine spottet [Hobohm, S. 37]. Der so genannte käseglockenförmige, durch Reifen verstärkte Unterrock hatte meist ein Schock weiterer Röcke zu halten oder zu stützen. Die Damenbekleidung war Eindruck schindende, üppig beleuchtete Festung, letztlich aber nur Zuchthaus-zelle. Auch die Bonner »Regierungsrätin«, die durch Marlitts Mamsell (von 1867) rauscht, erscheint meist in Krinoline. Ob sich die Schriftstellerin selber auch nach ihrer Zeit bei Hofe noch anstandshalber öfter in diese Folterkammer zwang, läßt sich den dürren Quellen nicht entnehmen.

Der Zeitschriften-Fortsetzungsroman Das Geheimnis der alten Mamsell markierte Marlitts endgültigen »Durch-bruch«. Schon im Februar 1868 erschien eine Buchaus-gabe. Da ich das Werk vor kurzem törichterweise von vorn bis hinten gelesen habe, schlage ich als Waschzettel für die nächsten, garantiert kommenden Auflagen vor: Bettelarme Waise, Tochter einer einst aus Adel verstoßenen, nun »tragisch« verunglückten Gauklerin, wird von hartherziger und habgieriger (Arnstädter) Patrizierin als Magd versklavt. Mit Hilfe einer Verwandten der Patrizierin, eben jener ins Hinterhaus abgeschobenen, sehr gebildeten und kunstliebenden »alten Mamsell«, erträgt die stolze und selbstverständlich wunderschöne Felicitas nicht nur alle Schmach und Schinderei; es gelingt ihr überdies, wenn auch ungewollt, den ungehobelten, rechthaberischen und zu allem Unglück auch noch vollbärtigen Sohn der Patrizierin zu läutern, einen angehenden Medizinpro-fessor. So verwahrt sich dieser just, als Felicitas im heiratsfähigen Alter und hinreichend (heimlich) unterrichtet worden ist, gegen das an ihr und der Mamsell begangene Unrecht und führt die junge Holde, von der jetzt sogar die hohe Abkunft bekannt wird, triumphal als die zukünftige Frau Professor heim.

Vielleicht wäre die Behauptung zulässig, die leibhaftige Eugenie Marlitt habe es verstanden, verschiedene Nöte in eine Tugend zu verwandeln. Das Glück, das sie schließlich ihren Gartenlauben-Lesern servierte, hatte stets einen Bogen um ihre wechselnden Stuben gemacht. Vor allem nach der Mädchenzeit war ihr Los eher hart. Ihr Vater, ein gelernter Kaufmann, hatte die bereits erwähnte Leihbücherei betrieben, machte jedoch bankrott und hielt die Familie (fünf Kinder) hinfort als Kunst-, vor allem Porträtmaler recht mühsam über Wasser. In dieser, vermutlich als beschämend empfundenen Verarmung könnte eine frühe Quelle von Marlitts Sorge ums Familienwohl und ihrem Trachten nach materieller Sicherheit liegen [Necker]. Im übrigen heißt es, das kleine Mädchen war verträumt. Zwar durchaus aufgeweckt, doch seine Streifzüge unternimmt es vorwiegend allein [Merbach, S. 12]. Möglicherweise träumte es dabei bereits seine späteren, vielverschlungenen Romane.

Auch die Mutter schätzt die Künste. Mit 16 wird Tochter Eugenie bei der Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen zwecks musikalischer Ausbildung untergebracht, denn E. singt gern und gut. Das Residenzstädtchen Sondershausen (nördlich von Erfurt) war mit rund 5.000 Einwohnern nur halb so groß wie Arnstadt (südlich von Erfurt). Diese Ausbildung ihres bald bevorzugten Schützlings läßt Mathilde, bis 1846, am Wiener Konservatorium vervollkommnen. Zwar tritt E., eine kleine, zierliche, hübsche, etwas breitgesichtige Dunkelhaarige mit blauen Augen, im folgenden als Opernsängerin unter anderem in Olmütz, Krakau, Lemberg auf, dabei stets von einer ehemaligen Kammerfrau oder ihrer eigenen Frau Mama begleitet beziehungsweise bewacht. Doch schon ihre Premiere (in Leipzig) wird von ihrem heftigen Lampenfieber beschädigt. Um 1850 paart sich diese Schwäche mit einem Gehörleiden, das bis heute gern übertrieben wird, dabei als rein körperliches Gebrechen. Abhilfe schaffen auch Konsultationen bei verschiedenen Ärzten nicht. Marlitt selber bekennt 1861 in einem Brief an Leopoldine, es habe sich um eine »Folge allzu großer Anstrengung beim Singen und einer nie zu beseitigenden Aufregung und Angst beim Auftreten« gehandelt [Hob. S. 29] – noch heute verbreitete, wohlbekannte Krämpfe. Dieser Rückschlag stürzte die angehende Künstlerin auch nach eigenem Eingeständnis in längere Schwermut. 1853 hängt sie ihre Karriere an den Nagel, um dafür der inzwischen geschiedenen Fürstin persönlich im Jagdschloß Friedrichsruhe bei Öhringen (Württemberg) und in deren Münchener Palais sowie auf Reisen als Gesellschafterin (Vorleserin, Sekretärin, Krankenpflegerin) zu dienen. Dieser Vorschlag, immerhin an eine »Bürgerliche«, war von der Fürstin gekommen.

In der Mamsell malt Marlitt das Bürgerliche geradezu bilderbuchreif. Die Geschichte kommt aber leidlich gut voran, da die Autorin, in stilistischer Hinsicht, nicht ganz so umstandskrämerisch veranlagt wie Stifter oder Dickens ist. Als frühere Musikerin versteht sie es auch, einen Spannungsbogen zu halten. Was sich dagegen kaum von der Stelle bewegt, sind fast sämtliche Charaktere der Geschichte. Sie bleiben so weiß oder schwarz, wie sie sind. Große Ausnahme: Johannes Hellwig, Sprößling der Sklavenhalterin und designierter Medizinalrat, den der von Felicitas ausgesandte »Strahl der Liebe« erweicht und verwandelt. Ob die Autorin wirklich an die läuternde Kraft der großen Liebe und deren überragende Bedeutung für das Glück des Menschengeschlechts glaubte, werden wir womöglich nie erfahren. Eigentlich war ja in Marlitts Milieu ringsum zu beobachten, wie rasch die große Liebe zum Giftzwerg schrumpft und den Beteiligten eher zum Unglück gereicht. Dafür steht fest, die Autorin hatte ein Auge für Unrecht, Widersprüche, Anmaßungen und Heuchelei; Religiöses eingeschlossen. Das muß man ihr lassen. Einmal beklagt sie sogar die »Herrschsucht« so vieler Menschen [Kap. 17] – ohne ihr freilich je auf den Grund zu gehen. Für sie ist Herrschaft oder Imperialismus ein Fehlverhalten, ein Irrtum. Mit der Sozialen Frage im Sinne des radikalen Flügels der »48er«, also dem Skandal der tiefverwurzelten Einteilung der Welt in Eigentümer und Habenichtse, Herren und Knechte, Durchblickende und Dumme, hat Marlitt nichts am blumengeschmückten Hut. Hinter den preußischen oder österreichischen Gutshöfen, Kasernen, Amtsgerichten, Fabriken und Fabrikantenvillen, die sie ja selbst in ihrem Arnstädtchen gesehen haben muß, steckte kein System. Ihre eigene Villa gesellte sich bald hinzu.

Ich komme auf Marlitts neue »Arbeitgeberin« Mathilde zurück, die Fürstin. Nach 10 Jahren, 1863, trennen sich die beiden Damen wieder voneinander. Sprechen Nachschlagewerke oder Webseiten zumeist von einer aus sparpolitischen Gründen erfolgten Entlassung seitens der Fürstin, dürfte beides schief, wenn nicht sogar falsch sein. Immerhin stattete Mathilde Marlitt mit einer mehr oder weniger kleinen Rente aus, die ihrem damaligen Gehalt entsprochen haben soll.* Auch verlor Marlitt nie die Achtung vor Mathilde, die übrigens lediglich rund 10 Jahre älter als ihre Gesellschafterin war. Aber die aufs Abstellgleis geschobene Fürstin pflog ihre Launen und kränkelte zunehmend; für Marlitt muß sie ähnlich anstrengend wie das Singen gewesen sein. Ich nehme an, gewisse finanzielle Schwierigkeiten der Fürstin waren lediglich der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen, nämlich E. zu Kündigung und Flucht in die Heimat brachte. Ein Bruder der Fürstin, Prinz Felix von Hohenlohe, hatte sich enorm verschuldet und war schließlich abgetaucht. Das schlug der Fürstin gewaltig sowohl aufs Gemüt wie auf den Geldbeutel. Prompt wurde E. gleichfalls »körperlich leidend«, wie sie Leopoldine verrät, wobei sie auch auf zahlreiche schlaflose Nächte in den letzten drei Jahren ihres Dienstverhältnisses hinweist. Schließlich hätten ihr ihre Nerven ihrerseits »den Dienst aufgekündigt«. »Ich war daher meiner Stellung, die mir täglich neue Erschütterungen brachte, nicht mehr gewachsen, und ging mit Beginn der milderen Jahreszeit wieder zurück in meine Heimat.« [Hob. S. 42] Hier nimmt die alleinstehende Ex-Gesellschafterin, inzwischen Ende 30, recht zielstrebig eine Laufbahn als freie Schriftstellerin in Angriff. Damit folgt sie verschiedenen, schon in Süddeutschland angestellten literarischen Versuchen, die sie ermutigt hatten – und, nach offizieller Leseart, erneut ihrer Hauptsorge, ihren Eltern und Geschwistern eine Stütze zu sein.

Selbst ihr Bewunderer Günter Merbach räumt [auf S. 51] ein, zumindest für ihr eigenes Empfinden war Marlitt in jenem Jahr 1863 als Gescheiterte heimgekehrt. Sie war berufslos, ruhmlos und sogar gattenlos. Solche jungen ledigen Frauen galten damals weithin als »alte Jungfern« – kein Ruhmestitel. Ob Marlitt freilich jemals ernsthaft versuchte, einen Mann zu ergattern, scheint fraglich. Die Quellen erwähnen eine Schülerliebe, die angeblich durch die Familie des betreffenden Jünglings rasch unterbunden wurde – aus Standesdünkel, Marlitts Romanthema! Was ihre Ausbildungszeit in Wien angeht, weist sie gezielt gestreute Gerüchte von überrundeten Hofschranzen, sie habe dort ein unanständiges Leben mit zahlreichen Liebschaften geführt, empört zurück; sie bekniet ihre dortige Freundin Leopoldine brieflich, die Wahrheit, also das Gegenteil, zu bezeugen [Hob. S. 26]. Das tut die Freundin. Moritz Necker erwähnt zudem eine sehr kurzzeitige Verlobung in Süddeutschland. Der nicht namentlich bekannte Bräutigam soll eher ein armer Schlucker gewesen sein. Dieses Mal habe Marlitt, die fürstliche Gesellschafterin, von der Verbindung Abstand genommen – angeblich, um ihr Unterstützungswerk fürs Elternhaus nicht zu gefährden.

Man sollte vielleicht bedenken: diese junge Kleinstädterin war grundsätzlich schüchtern, also nicht nur als angehende Opernsängerin. Das widerspricht Merbachs Feststellung, Marlitt sei von Kind auf »sehr ehrgeizig« gewesen [S. 16], keineswegs. Sie selber nennt sich außerdem »stolz« [Merb. S. 89], ferner »sehr mißtrauisch und verschlossen« [Hob. S. 126]. Diese Aussagen über einen in der Regel eher männlichen Zug dürfte Marlitt in der Mamsell [Kap. 19] bekräftigt haben, wenn sie feststellt: »Felicitas trug ihren tiefen Schmerz schweigend, mit jener Selbstbeherrschung, die groß angelegten Charakteren eigen. Die Schwäche, welche Trost im Zureden anderer sucht, kannte sie nicht – seit ihrer Kindheit war sie gewöhnt, alles Schwere mit sich allein auszukämpfen und ihre Seelenwunden ausbluten zu lassen, ohne daß ihre nächste Umgebung das Vorhandensein derselben ahnte.«

Und sicherlich ging es nicht nur um die »Seele«. Man darf wohl getrost befürchten, Marlitt habe von der sexuellen Frage ähnlich wenig Ahnung wie von der sozialen gehabt. Als der geläuterte Professor Johannes Hellwig (in der Mamsell) seinen Heiratswunsch äußert, hat er von seiner Zukünftigen, dieser »süßen Nachtigall unter – den Raben« [Kap. 21], bestenfalls einmal eine Feder oder ein Patschhändchen gestreift. Kaum ist das Brautpaar jedoch nach Bonn abgereist, fangen überall die Stricknadeln für Strampelhöschen zu klappern an. Hier muß die allgemeine, den Frauen in ganz Europa aufgezwungene viktorianische Einfalt am Werke gewesen sein. Kurz, ich vermute stark, Marlitt selber hat weder die Wonnen noch die Qualen sexueller Begegnungen jemals erfahren, ob mit Männern oder Frauen. Hatte sie wenigstens die Notlösung der »Selbstschändung« drauf, wie es damals Legionen von Pastoren, Pädagogen, Ärzten und Philosophen nannten? Diese Sittenwächter, darunter Esel oder Böcke wie Kant, Rousseau, Salzmann, Johann Heinrich Campe, warnten in einem fort vor der schrecklichen moralischen, seelischen und körperlichen Verwahrlosung, die durch Masturbation drohe. Nun, wir wissen es nicht. Angesichts jener Verschlossenheit der Marlitt dürfte es auch verfehlt sein, sich diesbezüglich für die Zukunft neue Forschungs-ergebnisse zu erhoffen.

Biograf Günter Merbach betont dafür wie so manche andere, Marlitt habe ihren Vater sehr geliebt und verehrt. Von Streit oder von unangenehmen Zügen ihres Erzeugers ist nirgends die Rede. Dieser gütige, gute Vater könnte glatt aus einem Marlitt-Roman stammen. In einem Brief an Leopoldine [Hob. S. 60] schildert sie ihn sogar. Der Tod ihres »theuren« Vaters (1873) habe eine »furchtbare Lücke« in ihr Dasein gerissen; »die Wunde schließt sich nicht wieder, ich weiß es. Ich hänge mit inniger, fast möchte ich sagen, fanatischer Liebe an meinen Angehörigen, zu der sich, meinem Vater gegenüber, noch eine tiefe Verehrung gesellte. Er war ein ungewöhnlicher Geist, ein rastloser, scharfer Denker bis nahe an seine letzten Lebensstunden, und dabei breitete eine humane Lebensanschauung, ein Gerechtwerden der fortschreitenden Zeit und ihrer jeweiligen Anforderungen eine unbeschreibliche Milde über sein ganzes Wesen.« Zur Mutter scheint sie sich dagegen gar nicht geäußert zu haben. Diese starb bereits 1853. Später kommt Marlitt einmal, in einem Briefsatz [Hob. S. 30], auf den »herbsten Verlust, der ein Menschenherz treffen kann«, zurück, nämlich auf jenen frühen Hingang ihrer »theuren« Mama – eine bekannte, für die erlauchte Freundin bestimmte Kurzarie, wobei »theuer« ohnehin zu Marlitts Lieblingswörtern zählt.

Als Autorin hat Marlitt Glück. Ernst Keil, der Gartenlauben-Chef, erwärmt sich gleich für ihre erste, in Leipzig eingereichte Arbeit; ab 1865/66 ist sie bereits Stammautorin des Wochenblatts, ja sogar Zugpferd. In Arnstadt lebt sie zunächst bei ihrem Bruder Alfred, einem Oberlehrer mit Familie. Er bestärkt sie und wird gleichsam ihr Agent. Aufgrund ihres überraschenden und raschen Erfolges kann sie schon 1871, mit Vater und Bruder, ihre neuerrichtete Villa »Marlittsheim« (so der ursprüngliche Name) am Berghang beziehen, unter sich die Altsstadt, über sich Wald. Es heißt jedoch, die Erfolgsschriftstellerin habe nie geprahlt und geprunkt. Nach Merbach war sie, trotz ihres Ehrgeizes, »unendlich bescheiden« bis zuletzt [S. 151]. Jedenfalls schenkte sie offenbar gern und übte auch im größeren Maßstab Wohltätigkeit.

Den Hochmut, den Marlitt am Adel haßte, kannten ihre Dienstboten [Merb. S. 124] sicherlich kaum. Die Schriftstellerin wird als häuslich und als Liebling ihrer die Villa bevölkernden Nichten und Neffen beschrieben. Bekanntschaften, auch mit Berufskollegen, meidet sie. Unglücklicherweise gesellt sich zu ihrer Schwerhörigkeit schon vor dem großen Umzug in die neue Villa ein Gelenkleiden, vielleicht Rheuma, Arthrose, Gicht. Der Verdacht auf einen psychosomatischen Zug liegt auch in diesem Fall nahe. Aufregungen sind Gift für Marlitt. Für Necker stand das Gelenkleiden »in einem unaufgeklärten Zusammenhang mit ihren Nerven.« Man könnte mutmaßen, es sei Marlitts wichtigste Fessel an den gut abgeschirmten Schreibtisch gewesen. Zuletzt sitzt sie überwiegend im »Fahrstuhl«. Damit konnte sie freilich den hübschen Treppenhaus-Turm ihrer Villa nicht erklimmen, wie sie es hin und wieder liebte. 1883 läßt sie sich einmal in einem eigens erworbenen »Tragstuhl« ins »Turmzimmer« befördern, doch auf dem Rückweg zur Erde fällt sie unglücklich aus demselben, weil eine Stange brach – Knieverletzung und rund ein Jahr schreibunfähig. Sie wird vom Chirurgen und »Poeten« Richard von Volkmann alias Leander aus Halle behandelt. Im Winter 1879/80 war sie von Gürtelrose heimgesucht worden. Allgemein kränkelte sie zunehmend, blieb jedoch heiter, wie es überall heißt, solange sie ihr »Pensum« schreiben konnte. Im Winter 86/87 wird sie von einem wohl besonders qualvollen Ende mit Rippenfellentzündung und »Lähmungen« an Magen und Herz ereilt. 61 Jahre alt, stirbt sie im Juni.

Die erfolgreiche Autorin aus Thüringen, meist im Fach »trivialer« oder »sentimentaler Literatur« geführt, gilt als erste (weibliche) »Bestsellerautorin« überhaupt. Sie kam in knapp 20 Jahren auf rund ein Dutzend Bücher, die durchweg hohe Auflagen und etliche Übersetzungen erfuhren; auch gesellten sich Raub-Dramatisierungen hinzu, die Keil und Marlitt als »verballhornt« empfanden. Der Bedarf war offensichtlich da. Vor allem dank der Beiträge Marlitts hatte sich die Auflagenhöhe der Garten-laube in 10 Jahren (1866–76) mindestens verdoppelt. Da steckte man die Anwürfe aus der germanistischen Ecke gerne ein.

Die Marlitt ging, ihre Villa blieb. Laut Merbach gab es nach der Testamentseröffnung langwierige Erbstreitigkeiten – es war wie in Marlitts Romanen. Wie das Gebäude in der DDR genutzt wurde (wo Marlitt als Produzentin von »Kitsch« und »Kolportage« verfemt worden war), ist nirgends zu lesen. Um 1990, mit der bereits gestreiften »Wende«, trat vermutlich eine Änderung ein. »Nunmehr« sei das Gebäude, so Merbach 1992, »in Privatbesitz und der Öffentlichkeit leider nicht zugänglich.« [S. 192] 2003, mit knapp 75 Jahren, starb Günter Merbach. Er gilt als wichtigster Anreger einer Interessengemeinschaft Marlitt e.V., die nach wie vor aktiv ist. Gleich 1993 sorgte sie beispielsweise für den Wiederaufbau des Marlitt-Denkmals auf dem Alten Friedhof, das 1951 entfernt worden war. Sorgte die rührige IG womöglich auch für Marlitts Villa? Das Internet, die Webseite der IG eingeschlossen, verrät es nicht. Immerhin ist im Impressum der IG-Webseite als Vereinssitz »Marlittstraße 9 (Villa Marlitt)« angegeben – Kontaktperson: Inge Merbach. Vielleicht die Witwe oder eine Tochter des Verstorbenen?

Auch an der Villa selber hält man sich offensichtlich ein wenig bedeckt. Immerhin, die April-Sonne lacht, sodaß auf der Gartenseite der weiße Schriftzug Villa Marlitt am durch Giebel gekrönten Terrassenvorbau blinkt, und die darunter zu sehende Flügeltür steht einladend auf, wie ich von der Straße aus erspähe. Die Villa scheint also nicht entvölkert zu sein. Am Zaun kann ich weder Namensschilder noch Hinweistafeln entdecken. So wäre ja etwa der Hinweis denkbar: »Asylsuchende aus Übersee bitten wir, ihre Schwimmwesten abzulegen«. Gewiß, ich könnte das Grundstück kurzerhand betreten, notfalls durch eine Rolle über den Zaun – und würde mich sehr wahrscheinlich einmal mehr in die Nesseln setzen, in meinem Alter ungesund.

* Laut dem anonymen Verfasser eines Nachwortes** zu Marlitts Thüringer Erzählungen, wohl der liebe Bruder Alfred John, der es ja wissen mußte. Er wird auch bei Merbach in einem Verzeichnis angeführt, S. 234.
** https://www.projekt-gutenberg.org/marlitt/thuererz/lebwerk.html
Literatur: Moritz Necker: E. Marlitt, in: Die Gartenlaube, Leipzig 1899, Heft 9–12 # Günter Merbach: E. Marlitt. Das Leben einer großen Schriftstellerin. Aus alten Quellen zusammengestellt, Hamburg 1992 # Cornelia Hobohm (Hrsg): »Ich kann nicht lachen, wenn ich weinen möchte.« Die bisher unveröffentlichten Briefe der Marlitt, Wandersleben 1996




Marx, Caroline (1824–47), Prominentenschwester. Es geht hier nicht um den weltberühmten, meist vollbärtigen Denker Karl Marx, Sohn eines Trierer Justizrates. Marx junior wurde vergleichsweise alt. Mit seiner Ehefrau Jenny hatte er sieben Kinder, von denen allerdings fünf früh starben, vorwiegend sogar als Kleinkinder. Das war damals leider nicht ungewöhnlich. Aber für dieses Werk ist es zuviel. Ich will mich deshalb in der namentlichen Nennung auf die frühverstorbenen Geschwister des Denkers beschränken. Das sind immer noch genug, nämlich gleichfalls fünf. Im ganzen hatte Frau Justizrat Henriette neun Kinder geboren.

Caroline Marx wurde mit 23 von der Tuberkulose weggerafft. Sie war immer schwächer und müder geworden. Über ihre Schulbildung sei nichts bekannt, heißt es in einem anscheinend gut belegten Wikipedia-Artikel über die Geschwister. Die gescheiterte deutsche Revolution von 1848 verpaßte sie um ein Jahr. Ihr Temperament? Ihre Sehnsüchte? Die Sekundärliteratur zum berühmten Bruder ist länger als die Mosel; kraulen Sie tapfer hindurch; vielleicht finden Sie ein Bröckchen.

Henriette Marx (1820–45) war nur geringfügig älter geworden, 24. Auch sie fiel der Schwindsucht zum Fraß. Trotz ihrer Erkrankung hatte sie im September 1844 einen künftigen Eisenbahndirektor geheiratet. Wenige Monate später war sie tot. Das ersparte ihr immerhin die fünf Schwangerschaften, die der Witwer dann der Nachfolgerin gemacht haben soll.

Mauritz David Marx (1815–19), der Älteste, wurde keine vier. Bei ihm ist noch nicht einmal die Todesursache bekannt.

Hermann Marx (1819–42) erlag, laut Kirchenbuch, mit knapp 23 der »Lungensucht«. Er hatte Kaufmann gelernt und war zeitweise sogar in Brüssel angestellt. Sein genaues Verhältnis zum Geld ist vermutlich unbekannt. Aber er hätte wohl kaum dicke Bücher über dieses Phänomen verfaßt.

Eduard 11 (1826–37), Gymnasiast in Trier, Schwindsucht.

Man sieht also, in der Familie Marx senior saß der berüchtigte Tuberkulose-Wurm. Sohn Karl wurde offensichtlich von ihm verschont – warum, dürfen Sie mich nicht fragen. Ein Spitzfinder wird Ihnen allerdings versichern: »Einer mußte doch den Marxismus erfinden! Das wußte der Wurm.« Die anderen Geschwister hatten eben das Los der Pechvögel gezogen. Nebenbei höre ich gerade, ein paar SchülerInnen meines Landes Thüringen hätten Glück. Das Familiengericht Weimar habe zwei Schulen der Goethestadt zahlreiche Corona-Maßnahmen, voran die Masken- und die Testpflicht, mit der Begründung untersagt, sie stellten eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls dar, ohne daß dafür ihr Nutzen erkennbar und belegt sei. Die Beweislast liege auf Seite der Regierenden. Die Aussagekraft der Tests wird in dem Urteil ausdrücklich bezweifelt. Freilich stoße es bei den Mainstreammedien, wenn nicht auf Desinteresse, auf Ablehnung, heißt es im Portal* des Altsozialdemokraten Albrecht Müller, der neuerdings revolutionäre Töne angeschlagen hat. Vermutlich werde das Urteil aber sowieso gekippt. Das Bildungsministerium des von mir überaus geliebten Landesvaters Bodo Ramelow habe bereits seine Entschlossenheit bekundet, das Urteil weitgehend zu ignorieren. Die warten jetzt schön die Kippung durch eine sogenannte Höhere Instanz ab. Spurt die aber auch nicht, wird uns Gottvater Ramelow einmal zeigen, wer den Schlüssel zum Geräteschuppen mit den Karrierehürden und den Zugang zu den Geldhähnen im Keller hat.

Man wird vielleicht seufzen: »Die haben den eben gewählt – was wollen Sie machen?« Ich will einmal nachdenken, erwidere ich. Gerade so wie Karl Marx, der studierte Jurist und Philosoph, allerdings über das Phänomen der Vertretung, das er möglicherweise nie behandelt hat. Er hat mit seinem Marxismus nur dafür gesorgt, daß sich viele Millionen von Kleinen Leuten nach ihm von Führern wie August Bebel oder Walter Ulbricht vertreten – und verarscht sahen.

Soweit ich sehe, wird die Reich- und Kragenweite des Systems der Vertretung von Laien oft unterschätzt. Das gilt selbst für »alternative« Laien. Fordert der Vegetarier, wer Fleisch wolle, müsse auch bereit sein, dessen Träger zu töten, etwa ein niedliches Kalb, verlangt er viel. Dann müßten wir neben dem Metzger auf die halbe Menschenwelt verzichten. Nur Tiere vertreten einander nie. Weder schickt das Kalb den behelmten Bullen noch der Igel Rennmeister Lampe vor. Das Vertreten eröffnet uns ungeheure Spielräume. Da der alte Sumerer im Tempel seine Beterstatuette wußte, konnte er sich wichtigen Markt- oder Waffengängen widmen, statt im Tempel auf den Knieen zu liegen. Opfert Abel ein Lamm oder Gott Jesus, brauchen wir uns nicht zu opfern. Fehlt einem Knaben das Zeug zum Till Eulenspiegel, kann er sich gegen Glasmurmeln oder Gummibärchen eine Art mittelalterlichen Lohnkämpen mieten, der seinen Hänslern tüchtig eins auf die Fresse gibt. Eben nach diesem Muster bedienen wir uns des Metzgers, der das Kalb für uns absticht. Schmierende Komödianten wie Peter Hartz bemühen Betriebsräte oder Rechtsanwälte, bevor sie vielleicht einen Mörder dingen. Alle Arbeitsteilungen, alle Ablösungen wie Geld, Symbole, Sprache sind Vertretungen, die unseren Verkehr erleichtern, unsere Spielräume vergrößern, unsere VolksvertreterInnen bereichern.

Die Nachteile liegen ja auf der Hand. Der Lohnkämpe erpreßt, der Abgeordnete betrügt mich. Vorgefundene Arbeitsteilung erstickt Begabung, verhindert Entdeckungen, vergrößert Abhängigkeit. Zunehmende Verästelung läßt uns immer häufiger straucheln; wir verfangen uns; wir fallen herein. Kurz und schlecht: Fortschritt bedeutet, Entfremdung und Entmündigung nehmen unaufhaltsam zu. Dagegen behalten die Füchse und Dachse ihre Nahrungssuche, Interessen, Perspektiven lieber in der eigenen Pfote.

Allerdings kennen sie keine Gerechtigkeit. Bei ihnen hat der Magere Pech und gerät unter die Räder. Sie sind dem Zufall unterworfen – den die Vertretung auszuhebeln versucht. Das gereicht ihr aber trotzdem nicht zur Rechtfertigung. Das System der Vertretung setzt immer schon das ungerechte System voraus; gerade so wie die Rechtfertiger des Geldes stets den Tausch voraussetzen. Dabei ließen sich Ausgleich und Solidarität auch in einem runden System gewährleisten, etwa einer 30köpfigen Kommune. Hier beruht alles auf Absprache und Teilhabe. Aber schon für ein Residenzstädtchen wie Weimar (das heute 65.000 EinwohnerInnen hat) sehe ich in dieser Hinsicht schwarz. Wahrscheinlich werden alle Weltverbesserungsprogramme an der Unmöglichkeit zerschellen, die Menschenwelt und ihre Einrichtungen wieder zu verkleinern, statt sie unbeirrbar aufzublähen. Es ist ja klar wie Kloßbrüh: Absprache, Teilhabe, Rechenschaftslegung bedürfen der Überschaubarkeit. Ist diese aufgrund schierer Größe und der interessegeleiteten Wühlarbeit mächtiger Nachbarn nicht mehr gegeben, schleicht sich bald die Verderbnis ins republikanische Gebilde ein.

Vor knapp 50 Jahren erschien (zunächst auf englisch) das Buch Small is Beautiful des Volkswirtschaftlers und Katholiken Ernst Friedrich Schumacher und löste sofort breite Erörterungen aus. Davon will heute keiner mehr etwas wissen. Offenbar haben selbst in allen systemkritischen Kreisen ganz überwiegend Duckmäuser oder Großmäuler das Sagen, die der Wahrheit ungern ins Auge sehen. Ihr Geschäft ist der Zweckoptimismus. Sie werden uns noch mit ihren basisdemokratischen Ammenmärchen und Durchhalteparolen in den Ohren liegen, wenn die Kanzlerin (Wagenknecht?) die 163. Pandemie-Welle verkündet hat oder in Karatschi Pest und Pocken wieder ausgebrochen sind.

* Tobias Riegel, »Gericht in Weimar verbietet Schulen Maskenzwang und Testpflicht«, NachDenkSeiten, 12. April 2021: https://www.nachdenkseiten.de/?p=71509



Matzeliger, Jan Ernst (1852–89), surinamischer Erfinder. Der freigekaufte Sklave, Kind gemischter Eltern, zeigte sich früh in mechanischen Dingen geschickt und erlernte zusätzlich das Handwerk des Schuhmachens. Dadurch stieg er sogar noch weiter auf. Das ergab sich ab 1877 in Lynn, Massachusetts, USA. In dieser Küstenstadt, damals um 35.000 EinwohnerInnen, hatte sich die Schuhfabrikation geballt. Zunächst Assistent eines kleineren Fabrikanten, entwickelte Matzeliger eine spezielle Nähmaschine, die Schuhschäfte und Sohlen miteinander verband. Um mit der deutschen Wikipedia zu sprechen: »Durch diese Zwickmaschine wurde die Herstellung von Schuhen mechanisiert und sie konnten dadurch wesentlich kostengünstiger und schneller produziert werden. Am 20. März 1883 ließ sich Matzeliger diese Maschine patentieren.« Seither galt er als Erfinder dieser bedeutenden Innovation, wie man heute fremdworteln würde. Allzuviel hatte Matzeliger, mit einem zeitgenössischen Schimpfwort auch der »Dutch nigger« gerufen, allerdings nicht mehr davon: sechs Jahre darauf erlag er, mit knapp 37, der Tuberkulose.

Leider bindet uns Wikipedia hier einen Schuh auf, der, ich will nicht sagen, falsch ist, aber zumindest sehr schief. Die Mammut-Enzyklopädie befördert eine ungemein beliebte Verengung des Blickwinkels auf betriebswirtschaftlichen Nutzen. Diese Verengung ging mir bereits vor Jahren auf, als ich im Berliner Technikmuseum am Gleisdreieck ehrfürchtig vor einer gewaltigen, blitzenden Dampfma-schine stand, die einmal in England eine Kornmühle angetrieben hatte. Hier nun war sie über etliche Treibräder und -riemen mit allerlei Zahnradmaschinen verbunden, so mit einer Drehbank gleichen Baujahrs (1860), die aus der Drechselbank hervorging. Ein Schild klärte mich auf: »Nun konnten Metallteile für Maschinen, Lokomotiven und andere Zwecke genauer, schneller und billiger als zuvor bearbeitet werden.«

Da dämmerte mir, manche Leute begreifen ihre eigenen Verknüpfungen nicht. Denn: genauer und schneller gewiß – aber niemals billiger. Bereits die Dampfmaschine besteht aus zahlreichen Metallteilen, die erst einmal hergestellt sein wollen. Welcher Aufwand, solche Schwungräder, Zylinder, Flansche haargenau zu gießen, schmieden, fräsen, feilen! Und diese Metallteile finden sich nun in den benachbarten Dreh-, Bohr- oder Stanzmaschinen, von denen sie hergestellt werden können, wieder. Angesichts eines derart komplexen Verzehrwerks wird die naheliegende Frage, ob das Huhn oder das Ei eher da war, ziemlich unerheblich. Dabei habe ich noch nicht von dem Aufwand gesprochen, mit dem der Rohstoff all dieser Maschinenteile gewonnen wird. Ein Erzbergwerk ist weder ein Sandkasten noch ein vergilbtes Kalenderblatt. In jeder automatischen Tür, die sich heute wie Sesam vor uns öffnet, stecken die Verluste, die in den Bergwerken des 18. Jahrhunderts gemacht wurden. Neben viel Energie und einigen beträchtlichen Laubwäldern zählen dazu die Schinderei, das Hungern und eine Menge Tote. Diese fallen bis heute an: in China etwa kamen allein 2008 bei Unfällen 3.200 Bergleute ums Leben. Das wären bereits 10 Prozent der Einwohnerschaft von Lynn zu Matzeligers Zeit.

Ziehen Sie einmal lediglich die Verbrennungen zusammen, die Menschen bei der Stahlgewinnung erlitten, und Sie kommen bereits auf die Wüste Sahara. Sämtliche Opfer unserer »Mobilität« Fuß an Kopf gereiht, könnten wir sämtliche Verkehrsadern dieses Planeten nachzeichnen – rot. Ich schlage auch vor, die Schlachtfelder aller Zeiten abzuwandern, denn nach Lewis Mumford (Der Mythos der Maschine) verdanken wir den Löwenanteil unserer technischen Errungenschaften dem Krieg. Zur Stunde, Mitte April 2021, trommelt die Nato zum Krieg in der Ukraine.

Das Gegenteil jenes verengten betriebswirtschaftlichen Blickwinkels ist die volkswirtschaftliche, historische und moralische Sicht.
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