Freitag, 9. Dezember 2022
Nasen Josi—Kolo
ziegen, 18:39h
Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont (1896–1967) residierte bis zu seinem Tod mit geringen Unterbrechungen in Arolsen, das ein in vielen Kunst-führern gerühmtes Barockschloß hat. In Wolfgang Meddings umfangreicher Stadtgeschichte Korbach von 1955, die auch als wichtiges Werk zur Geschichte des Fürstentums Waldeck gilt, taucht der Erbprinz mit keinem Sterbenswörtchen auf. Für Medding hat er nie existiert.
Dabei hatte Josias sicherlich nicht nur einmal in der nahen Kreisstadt Korbach zu tun. Vor mir liegen Fotos. Reichs-bauernführer Darré spricht vor 7.000 Leuten auf dem Hauerplatz. Die Parade in der Hindenburgstraße nimmt Josias ab. Wie sich versteht, trägt er die schwarze Uniform der SS. Josias war nicht irgendwer. Als einer der ersten Vertreter des deutschen Adels hatte er sich gleich 1929 – da ließ sich das Fürstentum Waldeck endlich von Preußen einverleiben – der SS angedient. Er sorgt dafür, daß seine Residenz Arolsen Garnisonstadt und eine Hochburg der Nazis wird. Bei der »Ausschaltung« der um Ernst Röhm gruppierten SA-Führung legt er sich vor Ort – in München – ins Zeug. Eine Zeitlang ist er als Laienrichter an den brutalen Urteilen des Berliner »Volksgerichtshofes« beteiligt. Schließlich macht ihn sein Duzfreund Heinrich Himmler zu einem der 47 Höheren SS- und Polizeiführer des »Dritten Reiches«. In Fragen der Gerichtsbarkeit untersteht ihm damit auch das KZ Buchenwald bei Weimar. Noch im Frühjahr 1945 befiehlt er dessen Evakuierung, was Hunderten Häftlingen das Leben kostet.
22 Jahre später stirbt der 71jährige Landesfürst selber – in Frieden. Die Lokalpresse hat es leicht, den Toten in weißer Weste zu geben, weil niemand in dem Dreck zu stochern wagt, der längst unter den Teppich gekehrt worden ist. Wegen seines »untadeligen« Lebenswandels, den man ihm nun bescheinigt, war Josias 1947 von einem US-Militär-gericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden. 1948 zu 20jähriger Haft begnadigt, verurteilte ihn ein Jahr darauf eine deutsche Spruchkammer zu fünf Jahren Arbeitslager abzüglich der bisherigen Haftdauer und zur Abgabe von 70 Prozent seines Vermögens. Selbst das war angesichts des nahenden Wirtschafts- und Verzeihungswunders noch zu viel. So wird er schon 1950 zum »Hausarrest« auf sein fürstliches Anwesen in Arolsen entlassen, und auch sein Vermögen bleibt nahezu unangetastet. Schließlich ist Sprößling Wittekind da, der solide erzogen und ausgebildet werden muß.
Zwar schreibt auch Gerhard Menk keine Geschichte von unten, doch muß man dem Marburger Staatsarchivar zugute halten, die schändliche Rolle des Josias in seinem Büchlein Waldecks Beitrag für das heutige Hessen (2001) nicht verschwiegen zu haben. Über das 1949 in Fritzlar stattfindende Spruchkammerverfahren gegen Josias gibt er sogar Details, die Anke Schmelings bahnbrechende Josias-Studie von 1993 ergänzen. Scharen angereister AnhängerInnen stärkten ihrem »Fürsten« den Rücken. Es kam zu Tumulten, die nur durch Polizeieinsatz unterbunden werden konnten. Von Reue bei Josias keine Spur. Vielmehr bemüht er sich in geschickter Demagogie, sein disziplinarisches Vorgehen gegen den Buchenwald-Lagerleiter Karl Koch mit dem antifaschistischen Widerstand in Verbindung zu bringen. Das nennt Menk frivol. Ein schockierter US-Offizier versichert in seinem Bericht, auf dem Niveau der »Entnazifizierung« werde in Deutschland keine Demokratie bestehen können.
Inzwischen (2007) hat Sprößling Wittekind, Jahrgang 1936, schon seinerseits die 70 überschritten. Mit dem Titel des »Fürsten« übernahm er von seinem Vater den Sinn für die rechte Traditionspflege. Hessens Ministerpräsident Roland Koch wußte das 2001 durch die Verleihung eines Verdienstordens zu würdigen. Unter Wittekinds mehr oder weniger heimlichen Schirmherrschaft konnten in Arolsen noch um 1990 die regelmäßigen »Kameradschaftstreffen« diverser SS-Einheiten und Wehrmachtsverbände stattfinden. Sein Ruhestand ist gesichert. Das Land Hessen, das sein verkommenes Barockschloß für veranschlagte 20 Millionen Euro sanieren läßt, räumte ihm dort ein Wohnrecht auf Lebenszeit ein. Sein Vermögen – auf 3.000 Hektar Land- und Waldbesitz fußend – wurde vor rund 20 Jahren auf 65 Millionen Mark geschätzt.
Damals empfing er eine Journalistin der Frankfurter Rundschau. Anne Riedel* erkundigte sich auch, wie Wittekind mit seinen berühmten Paten umgehe. »Überhaupt nicht.« Sich von ihnen zu distanzieren oder zu lösen, halte er für überflüssig. »Die haben sich von mir gelöst. Als ich neun war, waren die tot.« Nur von daher spricht Wittekind von einem »Fehlgriff« bei der Auswahl seiner Paten – sie konnten sich nicht mehr um ihn kümmern. Die Paten hießen Heinrich Himmler und Adolf Hitler.
* »Die Anhänglichkeit der alten Kameraden«, FR 7. Juli 1988
Kadić, Ena (1989–2015), österreichische Modistin, 1,77 groß. Aus Jugoslawien stammend, hatte Kadić in Inns-bruck, Tirol, eine Fachschule für Mode und Bekleidungs-technik besucht. 2013 gewann sie den jährlichen Miss Austria-Schönheitswettbewerb. Der anschließende schicke Rummel scheint ihr aber nicht behagt zu haben.* Sie entzog sich ihm und arbeitete als Verkäuferin in einem Innsbrucker Modegeschäft. Am 16. Oktober 2015 wurde sie am Innsbrucker Bergisel gesehen – und schwerverletzt unterhalb der Aussichtsplattform Drachenfelsen aufgefunden. Anscheinend war sie über rund 30 Meter in die Tiefe gestürzt. Drei Tage darauf starb sie. Auf dem Handy der 26jährigen fanden die ErmittlerInnen auch eine Textnachricht an einen Verwandten, in der sie einen Selbstmord ankündigte. Wie so oft, wollte es die Familie zunächst nicht glauben und brachte beispielsweise einen »Guru« der Modistin ins Spiel, den sie sogar nach dem Absturz noch angerufen hatte, wohl ein reuiger Hilferuf. Später machte sich allerdings selbst der Anwalt der Familie die Feststellung der Innsbrucker Staatsanwalt-schaft zu eigen, nach den Ermittlungen sei Mord auszuschließen, Selbstmord sehr wahrscheinlich.*
Kadićs Motive bleiben undurchsichtig. Die Sache mit dem »Guru« erinnert an den wenig älteren »Fall« des 20jährigen Topmodels Ruslana Korschunowa, New York City. Hier nun wußte Gala (4. Februar 2016), Kadić habe »jede freie Minute« mit diesem Mann verbracht, der sie auch wiederholt akupunktiert habe. Dagegen habe er ihr »nach einem Hundebiß mit tiefen Wunden« die vom Arzt verschriebenen Antibiotika untersagt, woran sie sich auch gehalten habe. Man könnte natürlich argwöhnen, sie sei durch den Hundebiß in den Tod getrieben worden. Dadurch zöge man sich allerdings einmal mehr den Haß von ungefähr 70 Prozent der Menschheit zu.
Bekanntlich ist die Beurteilung der ausschlaggebenden »Todesursache« oft schwierig, zuweilen sogar müßig. Hier fällt mir Auguste Böhmer ein. Die 15jährige soll sich (1800) im Kurort Bad Bocklet die Ruhr geholt haben, also ein Bakterium, das meist für heftige Durchfälle, Fieber, Entkräftung bis hin zum Tod sorgt. Antibiotika standen noch nicht zur Verfügung. Also versuchte es »Natur-philosoph« Schelling, der neue Liebhaber von Augustes Mutter, mit Wein und Opium, was dem Konzept der »alternativen«, auch im nahen Bamberg gepflogenen medizinischen Schule des Brownianismus entsprach, für das sich Schelling erwärmt hatte. Die Dröhnung schlug fehl – oder eben die letzten Nägel in den Sargdeckel. Seitdem hat der Streit über Schellings Eingreifen und den Brownianismus allgemein schon viele Zeitungs- und Buchseiten gefüllt. Der Arzt Gerd Reuther läßt in seinem jüngsten Werk, einer aufschlußreichen kritischen Medizingeschichte**, kein gutes Haar an den Lehren John Browns, den er zu den »Scharlatanen« des 18. Jahr-hunderts zählt. Brown starb 1788 – möglicherweise just an Alkohol und Opium …
* Eva Kaiserseder, »Ena Kadic: Miss Austria beging vor einem Jahr Selbstmord«, Portal Web.de, 14. Oktober 2016: https://web.de/magazine/panorama/ena-kadic-miss-austria-beging-jahr-selbstmord-31958204
** Heilung Nebensache, München 2021, S. 72–75
Kandlbauer, Christian (1987–2010), österreichischer Mutprobler. Wie ich schon wiederholt angedeutet habe, geht mir der beliebte Glaube an »Willensfreiheit« seit langem ab. Mit den völlig undurchsichtigen Umständen unserer Geburt wählen wir nämlich auch unser Gehirn und unseren Willen nicht, sei er stark oder schwach oder elastisch wie ein Autoreifen. Auch die angeblichen »Spielräume«, die er uns gewährt, sind somit aufgezwungen. Wer diese Absage widerlegen kann, den möchte ich einmal sehen. Allerdings wäre sie in ihren praktischen Folgen recht problematisch, vielleicht sogar verhängnisvoll. Zunächst läuft sie ja offenkundig sowohl in moralischer wie in juristischer Hinsicht darauf hinaus, niemanden mehr wirklich zu verurteilen. Denn »er kann ja nichts dazu«. Ich glaube beinahe, einen solchen Verzicht könnte die Gesellschaft als Gewinn verbuchen. Gewiß muß sie sich vor Gewalttaten schützen – aber sie muß die sogenannten TäterInnen keineswegs strafen. Weder Verbote noch Strafen haben jemals die Welt verbessert, ganz im Gegenteil. Sperrt man in einem Dorf der anarchistisch verfaßten Mollowina randalierende Jugendliche in einen Weingutskeller, dann nur aus den erwähnten Schutzgründen. Solche Gesellschaften sind »trocken« – ohne Rachedurst. Zeigen die festgesetzten Jugendlichen keine Einsicht in ihre Verfehlung und verweigern auch jede Wiedergutmachung, kann man sie nur zum Teufel jagen. Schickt sie nach Deutschland.
In einer gespaltenen und »flächendeckend« verdummten Gesellschaft wäre mit meiner Absage an »Willensfreiheit« zahlreichen Bösewichten, Faulpelzen und Windbeuteln in der Tat ein Freibrief ausgestellt. Sie könnten sich bei allen Schandtaten oder auch nur Fahrlässigkeiten darauf zurückziehen, sie seien lediglich ihrem Naturell gefolgt. Ich beschränke mich jetzt auf die Fahrlässigkeit. Kfz-Mechaniker-Lehrling Kandlbauer aus der Steiermark fühlte sich 2005 zu einer »Mutprobe« gedrängt, erklomm einen Strommasten und verbrannte sich in luftiger Höhe beide Arme. In der Folge versah ihn die Gesundheits-industrie unter beträchtlichem volkswirtschaftlichem Aufwand mit zwei Armprothesen. Die eine Prothese war per Muskelkraft durch den Armstummel steuerbar, die andere wurde, über Nervenbahnen, unmittelbar von Kandlbauers Gehirn gesteuert. Der Passiv ist hier keineswegs unangebracht; schließlich hatte sich auch Kandlbauer schon sein Gehirn nicht ausgesucht. Er war bereits eine halbe Maschine gewesen – und jetzt war er fast eine ganze. Durch die Kunstarme konnte er als Lagerist arbeiten und sich auch einer anderen weltweit beliebten Prothese wieder bedienen, nämlich mit dem eigenen Auto zur Arbeit fahren. Nur glücklich war er offenbar nicht. 2010 fuhr sich der knapp 23jährige bei Leitersdorf (Bezirk Hartberg) mit seinem Subaro an einem Landstraßenbaum tot.* ZynikerInnen hielten Kandlbauers Gehirn den Verzicht darauf zugute, den Subaro in einen anderen Wagen oder in ein Benzinlager zu steuern. Oder hatte womöglich schon jemand oder etwas von außerhalb die Befehle gegeben?
Mit meiner Wende zur Technik dürfte sich die Ahnung erhärten, Verantwortungslosigkeit zeichne durchaus nicht anarchistische, vielmehr gerade kapitalistische Gesellschaften aus. Bekanntlich arbeitet unsere neuartige »Bewußtseinsindustrie« schon sehr zielstrebig und selbstverständlich auch sehr gewinnbringend an der Überwindung der berüchtigten »Schnittstelle« zwischen Mensch und Computer. Das Schlachtvieh in den USA wird längst geklont. In Berlin oder Frankfurt am Main dürften bereits Dutzende von Zweibeinern mit soundso vielen unsichtbaren, nämlich implantierten, sende- wie empfangsfähigen Geistesarbeiterwerkzeugen durch die Gegend laufen, von ihren Kunststoffkniescheiben und ihrer Spenderniere einmal abgesehen. Es wird bald schwierig werden, für einen lügenden oder amoklaufenden Bundestagsabgeordneten irgend jemanden haftbar zu machen. Jeder wird sich darauf zurückziehen können, er sei lediglich eine Marionette gewesen – aber niemand wird mehr sagen können, von dem und dem. Die Menschheit trägt zunächst Gott zu Grabe, hebt dann das Gehirn aufs Schild – und vollendet sich in der »vernetzten« Verantwortungslosigkeit.
* »Prothesen-Träger Kandlbauer: Alles deutet auf Selbstmord hin«, Standard (Wien), 13. Dezember 2010: https://www.derstandard.at/story/1291454997204/ermittlungen-eingestellt-prothesen-traeger-kandlbauer-alles-deutet-auf-selbstmord-hin
Kaplan, Fanny (1890–1918), Russin, soll auf Lenin geschossen haben. Über Anarchisten sind ähnlich unzählige falsche (und oft bösartige) Vorstellungen im Umlauf wie beispielsweise über Rasputin. Selbst in dem 1905 veröffentlichten Roman Professor Unrat von Heinrich Mann wird der titelgebende Gymnasiasten-schreck unangemessenerweise wiederholt als Anarchist bezeichnet. Auch Schüler Lohmann, von Unrat nie »gefaßt«, höhnt angesichts der vom Professor und seiner Geliebten Rosa Fröhlich aufgezogenen Lasterhöhle, der Tyrann habe den Pöbel in seinen Palast gerufen, um ihm die Anarchie zu verkünden. Tyrann ist er natürlich. Menschenfeind Unrat straft und schadet für sein Leben gern, hat immer recht, dafür nicht einen Funken Selbstkritik. Aber Anarchist? Ich selber verstehe mich so, und ich verstehe darunter den Anhänger einer Ordnung ohne Herrschaft, was bedeutet, daß er autoritäre Knochen wie Unrat am wenigsten gebrauchen kann. Ich nehme an, Heinrich Mann saß damals einem um 1900 beliebten Klischee des Anarchisten auf. Es verdankte sich »Kämpfern«, die Victor →Serge (in seinen bedeutenden Erinnerungen) »Desperados« nennt. Serge lebte unter ihnen. Sprengen sie Zaren, Polizeipräfekturen, Kaffeehäuser oder sich selbst in die Luft, dann aus menschenverachtender Selbstherrlichkeit, die auf wenig Eigenliebe schließen läßt. Das heißt nicht, ich sei grundsätzlich gegen Anwendung von Gewalt. Vielmehr heißt es, daß ich Gewalt verabscheue und möglichst zu vermeiden suche. Das ist ein wichtiger Unterschied, auf den etwa George Orwell hingewiesen hat.* Nebenbei ist der gängige Gewalt-Begriff viel zu eng, wie ich schon früher angedeutet habe. Näheres weiter unten.
Die jugendliche angebliche »Anarchistin« Fanny Kaplan, Tochter eines jüdischen Lehrers aus der Ukraine, hatte sich 1906 an einem Attentat auf einen kaiserlichen Regierungsbeamten in Kiew beteiligt. Sie erlitt durch die Bombenexplosion schwere Sehschäden und wurde in Gefängnisse und entlegene Zwangsarbeitslager gesteckt, wobei sie ins politische Lager der Sozialrevolutionäre wechselte. Im Sommer 1918 sah die gesundheitlich zerrüttete, inzwischen 28 Jahre alte Frau im obersten »Volkskommissar« und bolschewistischen Parteichef Lenin einen neuen Zaren. Als er am 30. August nach einer Rede eine Moskauer Waffenfabrik verließ, brachten ihm Pistolenkugeln Schulter- oder Nackenverletzungen bei, von denen er sich nie mehr richtig erholen konnte. Als Schützin wurde Kaplan festgenommen. Angeblich bekannte sie sich auch in einer kurzen Stellungnahme zu der Tat, schwieg jedoch im folgenden eisern. So wurde sie nach wenigen Tagen von der Geheimpolizei Tscheka kurzerhand in einer Moskauer Garage ohne formelles Gerichtsverfahren erschossen. Unter Historikern ist Kaplans Täterschaft aufgrund zahlreicher Ungereimt-heiten, darunter Kaplans Sehschwäche, umstritten. Manche glauben, sie habe als Sündenbock herhalten müssen oder habe aus freien Stücken die wahren Täter gedeckt. Doch wer auch immer schoß – laut Jens Teschke**, der auch die Ungereimtheiten anführt, räumte Armeechef Leo Trotzki ein, wer den Nutzen von den drei oder vier Schüssen hatte: »Die Revolution wurde bemerkenswerterweise nicht durch eine kurze Phase der Ruhe stabilisiert, sondern durch die Bedrohung durch das Attentat.«
* Essay »Lear, Tolstoy and the Fool« von 1947
** »Kalenderblatt« (30.8.1918) für Deutsche Welle, Stand 2021: https://www.kalenderblatt.de/index.php?what=thmanu&manu_id=998&tag=30&monat=8&weekd=&weekdnum=&year=1933&dayisset=1&lang=de
Kapp, Gottfried (1897–1938) und Luise. Vermutlich sagt Ihnen der Name Luise Kapp, geborene Windmüller, so wenig wie der von Gottfried Kapp. Die beiden heirateten 1927. Neuerdings lese ich seit Wochen in einem Band mit Briefen Gottfrieds an Luise, veröffentlicht 1963 in Dülmen. Ich kannte bis dahin lediglich Gottfried Kapps Roman Das Loch im Wasser von 1929. Ein reizvoller Titel, wie ich finde, aber das Buch konnte mich nicht so richtig packen. Kapp, geboren 1897, stammte aus einer Mönchenglad-bacher Arbeiterfamilie, wurde jedoch Literat. Er neigte zu der Schwärmerei, die man von Legionen romantisch, mystisch, »spirituell« veranlagter Menschen her kennt beziehungsweise nicht kennt. Denn was diese Leute eigentlich wollen, bleibt stets nebulös. Insofern endet Kapps junger Romanheld angemessen: er geht ins Meer. Er schwimmt in die Nordsee hinaus; er wird immer kleiner – bis man ihn nicht mehr sieht. Vielleicht hat er jenes Loch im Wasser gefunden.
Hält man sich an die Briefe, könnte der niederrheinische, später südhessische Erzähler, der bis heute nicht sonderlich viel Anerkennung fand, ein humorvoller und überwiegend angenehmer Mensch gewesen sein. Er schreibt Briefe am laufenden Meter, klammert sogar Philosophisches und Politisches weitgehend aus, und dennoch sind sie nie langweilig. Was mir freilich mißfällt, ist die Rolle, die die Empfängerin dieser unterhaltsamen Briefe offensichtlich zu spielen hat. Diese Rolle ist weder neu noch witzig. Auch die 1898 geborene Luise scheint im wesentlichen die klassische Muse und Hauseselin gewesen zu sein. Sie kocht, bügelt, flickt, putzt, und tippen tut sie selbstverständlich ebenfalls. Nebenbei ist sie wohl auch als Buchbinderin tätig gewesen. Nach Kapps frühem Tod kümmert sie sich hingebungsvoll um sein Werk und schreibt außerdem ein ganzes Buch über ihn. Die Liebe zwischen den beiden muß groß gewesen sein. Kapp hat ein Füllhorn an Kosenamen für Luise. Allerdings auch eine streckenweise geradezu rüde Ironie. An Luises Stelle hätte mich diese Ironie ohne Zweifel gekränkt.
2001 legte Doris Sessinghaus-Reisch eine überfällige Monografie über Luises Gatten vor. Sicherlich eine verdienstvolle Tat, wenn auch nach Schema und Stil einer typischen Diplomarbeit vollbracht. Meines Erachtens geht aus dem biografischen Abschnitt der Arbeit nicht klar hervor, warum der junge Niederrheiner Kapp um 1916, nach seiner Relegation vom Odenkirchener/Linnicher Lehrerseminar, dem Schicksal des Kanonenfutters, also dem Ersten Weltkrieg entging. Immerhin betont die Autorin jedoch, Kapp sei damals nicht der allgemeinen Kriegsbegeisterung und Vaterlandsliebe verfallen, daher Außenseiter gewesen (S. 54). Auf Wanderschaft in Bayern unterwegs, sei er zu einem Bayreuther Infanterie-Regiment eingezogen worden. Dort sei er aber »nicht lange« geblieben, sondern »zur Wiederherstellung der Gesundheit in ein Erholungsheim in Franken überwiesen« worden (56). Sein Leiden wird nicht benannt. Vermutlich war es just der Mangel an Kriegsbegeisterung und Vaterlandsliebe. Mit anderen Worten, ich nehme an, er verstand es, sich zu drücken.
Die nächste Enttäuschung: Über Kapps Gattin Luise, »Tochter aus einer großbürgerlichen jüdischen [Lippstädter] Familie«, ist von Sessinghaus-Reisch so gut wie nichts zu erfahren. Kapp hatte sich in Lippstadt dem kurzlebigen Versuch, das Abitur nachzumachen, dann aber lieber dem Schreiben sowie dem dortigen Fußballverein Borussia gewidmet, der ihm sogar eine Wohnung zur Verfügung gestellt habe. Mit diesem Club habe er am 1. Mai 1921 »die Meisterschaft der A-Klasse« errungen, vermutlich der westfälischen, denn die an diesem Spieltag mit 2:5 gegen Lippstadt unterlegene Mannschaft kam aus Ahlen (bei Warendorf, Münsterland). Mögen im übrigen Fußballexperten feststellen, wie hoch dieser Abstecher des abgebrochenen Lehrers und zukünftigen Schriftstellers (vor allem Erzähler) in den Leistungssport zu werten sei. Kapp soll sich damals sogar bemüht haben, aufgrund von Drähten nach Rumänien, Fußballtrainer auf dem Balkan zu werden (57). Somit kann er kein so schlapper Junge gewesen sein. Der Vater war Facharbeiter in einer Maschinenfabrik. Man wohnte, am Niederrhein, im eigenen Haus. Das einzige mir bekannte Bildnis – schmale Lippen, hohe Stirn, die Brillengläser rund – zeigt Fußballer Kapp mit eher weichen Zügen.
Nach der Heirat (1927) lebt das Ehepaar Kapp zunächst in Berlin, dann eine Zeitlang auf Capri, Italien. Kapp versucht sich bereits als Freier Schriftsteller über Wasser zu halten. Trotz der wohlhabenden Schwiegereltern scheint Kapp ums Brot zu kämpfen zu haben. 1934 kann er immerhin mit finanzieller Hilfe der Schwiegermutter im Städtchen Kronberg am Taunus, nahe der in Frankfurt lebenden Schwägerin, ein »kleines Haus« erbauen. Glanzstücke des Häuschens seien eine Bibliothek und ein Klavier gewesen, »an dem Kapp oft und gerne saß« (61). Möglicherweise ging Kapps Blick vom Klavierschemel aus ins Hessische Ried bis nach Darmstadt, wo Kollege Ernst Kreuder mit Gattin Irene in der ehemaligen Kaisermühle (angeblich) der berüchtigten »Inneren Emigration« nachging. An Kreuder, der nur einige Jahre jünger war, erinnert mich Kapps Leben und Wirken in mancherlei Hinsicht immer mal wieder. Daß sich die beiden einmal getroffen hätten, wüßte ich nicht, aber es ist keineswegs unwahrscheinlich.
Den »gleichgeschalteten Kultur-Institutionen« der Nazis blieb Kapp, wie es aussieht, fern. Er habe deshalb auch alle Hoffnungen auf Broterwerb in Presse und Rundfunk begraben müssen, schreibt Sessinghaus-Reisch (61, 68). Ferner sei es der »Jüdin« Luise schon nicht mehr möglich gewesen, einkaufen zu gehen, »dies übernahm Gottfried«. Doch im September 1937 zerschlägt sich auch der Ausreisewunsch des Paares, weil Kapps Antrag auf Reisepaß abgewiesen wird. Das Paar wird zunehmend schikaniert. Am 10. November 1938 (»Reichskristall-nacht«!) setzte es zunächst Prügel und Zertrümmerung im Hause Kapp mit abschließender Verhaftung für mehrere Tage. Schon eine gute Woche nach diesem faschistischen Überfall werden die Eheleute erneut zu Hause belästigt und, nach Beschlagnahmung »verdächtiger«, nämlich »staatsfeindlicher« Texte Kapps, auch erneut verhaftet. Man sperrt sie getrennt im Frankfurter Gerichtsgefängnis ein. Am 21. November wird Gottfried Kapp im Haus der Gestapo dem Verhör unterzogen, das ihm, 41 Jahre alt, das Leben kosten sollte. In einer Zuschrift an die Frankfurter Neue Presse im Jahr 1963, die Sessinghaus-Reisch anführt, behauptet der ehemalige Gestapo-Beamte Heinrich Baab, auf dem Weg zu seinem Dienstzimmer habe er damals verfolgt, wie Kapp von Kriminal-Obersekretär Gabbusch und Kriminal-Sekretär Fengler prügelnd durch den Flur des Polizeigefängnisses getrieben und auf eine Bank unter einem Fenster geworfen worden sei, worauf sie den Häftling vorübergehend allein gelassen hätten. Nach wenigen Minuten habe Baab von seinem Dienstzimmer aus Aufregung vom Flur her vernommen. Man erklärte ihm wohl, Kapp sei aus dem Flurfenster gesprungen. Baab behauptet, er sei wie andere auf den Hof geeilt und habe dort noch den letzten Atemzug des Schriftstellers erlebt. Fengler sei die Angelegenheit sichtlich unangenehm gewesen. Gabbusch und Kriminal-Assistent Wildhirt hätten Späße gemacht, während sich Kriminal-Rat Grosse jeden Kommentar verkniffen habe (63 u. 212).
Die offizielle Version der Gestapo belief sich offenbar auf »Selbstmord im Polizeigefängnis« (213). Kapp war also selber schuld … Ob im Nachhinein jemand versuchte, den Vorfall aufzuklären und zum Beispiel die Genannten, falls noch am Leben, ihrerseits gezielt in Sachen Kapp verhören zu lassen, bleibt bei Sessinghaus-Reisch unklar. Leserbriefschreiber Heinrich Baab, geb. 1908, damals wohl Sekretär bei der Frankfurter Gestapo, später Chef des dortigen »Judenreferats«, war natürlich mehr als befangen. Nach verschiedenen Internetquellen hatte er zahlreiche Morde an Mitbürgern auf dem Gewissen und saß von 1947–73 im Gefängnis. Kriminalrat (ab 1940) und SS-»Sturmbannführer« Ernst Grosse kam, vor Einstellung der Ermittlungen 1952, wegen seines faschistischen Wirkens mit wenigen Jahren Haft davon. Kriminal-inspektor Hans Gabbusch wurde in der SBZ/DDR verurteilt und bis 1956 eingesperrt; ein Jahr darauf starb er in Westberlin. Kriminalsekretär Fengler hieß mit Vornamen wahrscheinlich Gotthold oder Gottlieb. Ein Kriminalassistent Wildhirt ist im Internet überhaupt nicht bekannt.
Was die Darstellung durch Baab betrifft, den es von allen genannten Faschisten nach dem Krieg am härtesten traf, ist Anschwärzung und Rachsucht sicherlich nicht ganz auszuschließen. Im Grunde dürften die Einzelheiten und Tatanteile allerdings unerheblich sein. Kapp wurde wegen der Solidarität mit seiner jüdischen Frau und wegen seiner antimilitaristischen und antifaschistischen Haltung eindeutig verfolgt, gequält und in den Tod getrieben. Hier läge immerhin ein auffallender Unterschied zum Schicksal Ernst Kreuders oder gar Horst Langes vor. Allen gemeinsam ist dafür ein streckenweise schmerzhaftes Pathos der romantisch-mystischen, also der unbestimmten Art. Sie verbreiten Nebel über Bodenständigkeit, Seelengröße, sittsamen Lebenswandel und erhebende Kunstwerke. Dabei hat Kreuder Kapp einen gewissen antiautoritären Zug voraus; jener pflegte Amtspersonen und große Umgestalter der Menschheit, Fabrikherren und pflügende Bauern eingeschlossen, nicht, wie dieser, mit Ehrfurcht zu bedecken. Kapp war ohne Zweifel »Einzelgänger«, wie Sessinghaus-Reisch schreibt; er war auch sicherlich ein mutiger, scherzhafter und hilfsbereiter Zeitgenosse; aber zum Anarchisten hätte er nicht getaugt. Er war ein etwas fruchtloser Grübelkopf.
In stilistischer und dramaturgischer Hinsicht stand er den genannten Kollegen keineswegs nach. Das bezeugt unter anderem sein meist als sein »Hauptwerk« gehandelter Roman Peter van Laac, den er 1931 vollenden, aber zu Lebzeiten nie (im ganzen) veröffentlichen konnte. Er ist stark autobiografisch gefärbt. Entsprechend spielt er hauptsächlich am Niederrhein. Aber auch in diesem Text ist Kapp der Frage nach Militärdienst und Kriegsteilnahme (der Hauptfigur Peter) ausgewichen, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt. Ferner zählt Kapps schon erwähnte Ämterliebe zum Fundament des Romans. Der unstete und grüblerisch veranlagte Peter wird nämlich »Sekretär«, will heißen rechte Hand und Wahlkampfhelfer des wohlhabenden Sozialreformers und zukünftigen Brüggendoncker Oberbürgermeisters Dr. Nieder. Zuletzt wird er sogar selber Stadtoberhaupt, wenn auch nur des von beiden Männern geschaffenen Brüggendoncker Vororts »Heidsee«. Man rät wohl nicht sehr daneben mit der Vermutung, Kapp habe diese Gartenstadt mit Fabriken, Siedlungshäusern und Heilstätten an das bekannte Reformprojekt Hellerau bei Dresden angelehnt. In Heidsee sind alle Einrichtungen zunächst Gemein-, dann Stadtbesitz. Bis zur Verknöcherung staatsbüro-kratischer Natur fehlte wahrscheinlich nicht mehr viel, aber vorher endet der Roman. Er endet, nach manchem Wälzen von Schuldgefühlen der Hauptfiguren, versöhnlich, zudem hoffnungsfroh. Das schließt »natürlich« Peters Ehebund mit Nieders Tochter Eugenie ein. Ein furchtbarerer weiblicher Vorname war Kapp nicht eingefallen.
Katte, Hans Hermann von (1704–30), preußischer Offizier, hingerichtet. Bevor Friedrich II. der bekannte »Große« wurde und gleich nach seiner Thronbesteigung im Jahr 1740 in die militaristischen Fußstapfen seines Erzeugers trat, hatte er eine jugendliche antiautoritäre Phase zu durchlaufen, die seinem deutlich älteren Busenfreund Von Katte den Kopf kostete. Sie hatten im selben Regiment gedient, gemeinsam Flöte und womöglich sogar wechselseitig an ihren ähnlich geformten Fortpflanzungswerkzeugen gespielt. Als Friedrich 18 war, hielt er die Bevormundung durch seinen Alten nicht mehr aus und bat Von Katte, ihm beim Ausreißen gen Frankreich zu helfen. Das war im August 1730. Leider flog das abscheuliche »Fahnenflucht«-Unternehmen auf. Beide Rebellen wanderten in den Kerker. Zwar wurde dann »nur« Leutnant von Katte, 26, auf königlichen Befehl in der Festung Küstrin enthauptet, aber angeblich zwang der Alte seinen Sprößling Friedrich dabei zuzusehen. Später söhnten sich Friedrich Wilhelm der I. und sein Kronprinz wieder aus.
Im folgenden wurde der berühmte Vorfall zu den unterschiedlichsten literarischen Werken verwurstet, die kaum noch zu zählen sind. Ich nehme ihn zum Anlaß mich zu fragen, was eigentlich von dem vielgestaltigen, weitläufigen, wenn auch stets gut zentralisierten Gebilde namens Staat zu halten sei? Selbstverständlich gar nichts. Der Staat wurde vor einigen tausend Jahren erfunden, damit beschäftigungslose BürgerInnen ihrer sogenannten Elite dienen konnten. Die Elite war nämlich nicht erpicht darauf, auch noch ihre eigene Beschäftigung zu verlieren. Die bestand vor allem im Kriegführen. Dazu benötigte die Elite die Steuern und die Söhne ihrer BürgerInnen – und zwar bald in erhöhtem Maße, damit man sich den neugeschaffenen Staat überhaupt leisten konnte. Diese ganzen Befehlsstäbe, Politbanden und Bürokratenheere, für die schon der Schatten der Pyramiden nicht zur Deckung ausreichte, wollten ja besetzt und ernährt sein.
Zum Glück besaß der Staat auch das Monopol aufs Geld – Finanzhohheit genannt. Niemand verbot ihm, sich bis ins Astronomische hinein zu verschulden oder die Gelddruckmaschinen anzuwerfen. Dabei fiel dann auch Mildtätigkeit gegenüber den Bedürftigen der Gesellschaft ab – denn sie in Krisenzeiten (keine Kriege, keine Arbeit, keine Impfbereitschaft) einfach verhungern zu lassen, geht ja nur in Unrechtsstaaten wie der DDR. Vorher hatten sich die Leute kurzerhand aus dem Wald ernährt. Jetzt wurden sie verwaltet. Wir stehen hier vor dem entscheidenden Punkt des Geniestreichs namens Zivilisation: den Bürger entmündigen, um ihm helfen zu können. Er sollte sich nicht mehr selber helfen. Vater Staat nahm ihm großzügig alles ab. Die Politik, die Arbeit, das Geld, die Bildung, die Verantwortung, ja selbst seine Geheimnisse und noch manches andere. Ihn in mehr oder weniger kleinen, selbstgewählten Bündnissen leben und wirtschaften zu lassen, wie es ihm grad beliebt, kommt heute schon gar nicht mehr in Frage, weil die Elite auf Globallisierung pocht beziehungsweise den Planeten zu einer Schiefen Ebene zu planieren gedenkt, auf der die Rubel wirklich nur noch in ihre Taschen rollen.
Die Rede vom Vater Staat ist verräterischer, als die Schröders und Merkels denken. Verzweifelt unsereins regelmäßig an der Ohnmacht unterdrückter und unrecht behandelter Menschen in Nah und Fern, knüpft er selbstverständlich an seiner Kinderstube an. Unsere Väter waren die ersten, die das Recht beugten, weil sie die Auslegungshoheit und das Gewaltmonopol besaßen. Sie waren die ersten, die Fürsorglichkeit heuchelten, wenn sie Eigennutz meinten. Sie versorgten uns um den Preis, ihnen zeitlebens dankbar sein zu müssen. Bleiben wir diese Dankbarkeit schuldig, versorgen sie uns gern mit Schuldgefühlen. Kriechen wir wieder zu Kreuze, bläuen sie uns erneut das vernagelte »Clandenken« ein, das im größeren Maßstab »Vaterlandsliebe« heißt. Mehr zum Staat (»Gewaltmonopol«) siehe A-11.
Vor rund 20 Jahren war ich für knapp zwei Jahre im Sozialdienst eines Korbacher Altenheims angestellt. Einmal sah mich meine Vorgesetzte in ihrem Büro stirnrunzelnd an und sagte: »Ich glaube, Sie haben ein Autoritätsproblem, Herr R. …« Offenbar hatte ich mich einmal mehr verstockt oder aufsässig gezeigt. Und die Dame hatte natürlich recht. Es ist ein umfassendes Autoritätsproblem, anhand dessen man sich mehr oder weniger erfolglos durchs Leben hangelt. In vielen Fällen läßt sich leider kaum oder gar nicht entscheiden, ob eine Widersetzlichkeit einer armlangen Schraubzwinge, die immer wieder vom geleimten Sofagestell abspringt, oder aber dem Chef, Vater Staat, Mutter Natur, dem System, der Geworfenheit in die Welt oder auch einer Geliebten gilt, die einen kürzlich verlassen hat. Dieser treulosen Beißzange schmeißt man dann wütend die trotz oder wegen eingekerbter Andruckklötze zum 28. Male abgesprungene Schraubzwinge ins Gesicht. Man sollte deshalb, neben dem Staat, auch das Problem Vermischter Motive nicht unterschätzen. Wegen dieser Gemengelage tat ich meinem letzten Chef, ein in seinem Fach ausgezeichneter Raumausstatter-Meister, ohne Zweifel wiederholt auch Unrecht. Im übrigen war er ein glühender Verfechter des Leistungs- und Führungsprinzipes. In der DDR hätte er es womöglich bis ins Staatssekretariat für Arbeit und Löhne gebracht.
Ich fürchte fast, das weite Feld »Autoritätsproblem« sei letztlich ein »Ich-Problem« – das Problem eines Ohnmächtigen, der nie als Machthaber zum Zuge kommt. Ob sich mein Zorn gegen harmlose Gebrauchsgegenstände, etwa eine klemmende verglaste Bücherschranktür, oder gegen durchtriebene Angehörige, Hunde, Vorgesetzte richtet, dürfte doch im Grunde egal sein. Denn er gilt stets einer Verweigerung. Sowohl die erwähnte Schraubzwinge wie die abtrünnige Geliebte verweigern ihren Gebrauch. Auch der Politiker, der in durchaus bejahendem Zeitgeist einen Erlebnispark einweiht, ergrimmt mich durch ein »Nein!« – mir wäre die Erhaltung eines Sumpfes, in dem sich Ringelnattern und Regenpfeifer tummeln, lieber gewesen. Der Zorn raucht stets aus dem Schlund eines Ichs. Das möchte die Welt so und so haben, doch sie zeigt ihm nur einen Vogel.
Hier wird man natürlich einwenden, dies sei kindisch. Das ist nicht falsch. Ich bin imstande, abspringende Schraubzwingen oder zusammengebackene Briketts auf der einen und Kinderstuben oder Bundeskabinette auf der anderen Seite mit der gleichen Inbrunst zu verfluchen, weil sie die gleiche Zumutung darstellen. Sie werden mir vorgesetzt; ich bin von ihnen abhängig; ich kann sie so gut wie nicht beeinflussen. Meine Ohnmacht und Kränkung ist in allen Fällen die gleiche. Sogar das Vermögen, beispielsweise Allmacht, Unverwundbarkeit, Freiheit zu denken, wurde mir aufgezwungen. Nur die Freiheit selber enthielt man mir leider vor.
Kelly, Petra (1947–92), grüne Kämpferin für Frieden. Ein ziemlich frischer Gedenkartikel von mir hieß »Der General und die Grüne«. Der doppelte Tod von Gert Bastian und Petra Kelly war gerade 30 Jahre alt. Er hatte im Herst 1992 nicht nur in der damaligen deutschen Bundeshauptstadt wie eine Bombe eingeschlagen, zumal ja ein General a. D. beteiligt war. Die beiden PolitikerInnen hatten trotz eines beträchtlichen Altersunterschiedes von gut 24 Jahren gemeinsam ein zweigeschossiges Reihenhaus in Bonn-Tannenbusch bewohnt. Sie starb mit 44, er mit 69. Bastian war schon im Zweiten Weltkrieg Offizier gewesen, brachte es dann bei der Bundeswehr bis zum Generalmajor, ehe er 1980 seinen Hut nahm. Er hatte sich nämlich inzwischen zum Atom- und Kriegsgegner gewandelt und tat sich deshalb mit den Grünen und eben auch mit deren »charismatischer« Galionsfigur Kelly zusammen. Offiziell blieb er mit seiner Gattin Charlotte verheiratet und besuchte sie sogar öfter in München. Sie hatten zwei Kinder. Bastian saß nun, wie Kelly, im Bundestag (er bis 1987, sie bis 1990) und folgte der Galionsfigur ansonsten auf Schritt und Tritt. Ob er sie dabei eher stützte oder ihr eher wie eine Kanonenkugel am Bein hing, ist umstritten. Manche verunglimpfen ihn als Kellys unentbehrlichen Fürsorger und Trottel, an dem sie ihre Launen auslassen konnte. Sie habe ihn auch durchaus mit anderen Männern betrogen. Jedenfalls waren zunehmende, teils lautstarke Streitigkeiten zwischen den beiden zu bemerken, aus welchem Grund auch immer.
Kelly, studierte Politologin, muß eine schillernde kleine Person gewesen sein, obwohl ihrem feinen, schmalen Gesicht zumeist eine besorgniserregende Blässe beschei-nigt wird. Das würde sich mit ihrem märtyrerhaften Zug decken: es gab kein Leid in der Welt, das vor ihren dunklen Argusaugen sicher war. Das Gründungsmitglied der Grünen (1980) galt als mitreißend, fordernd, arbeitswütig und stets abgehetzt. Kelly wetterte gegen Krieg, aber auch gegen Abtreibung. Sie war für Tibet, für die Kurden, für alle möglichen IndianerInnen. Ungefähr ab 1990 traten die Grünen allerdings die umgekehrte Wandlung des Gert Bastian an: zurück zum Krieg. Aber soweit ich sehe, zogen sich er und Kelly weniger deshalb von der politischen Bühne in das Reihenhäuschen zurück. Kelly war vielen Mitstreitern zu eigensinnig und unkooperativ. Sie liebte den Rummel der Medien um ihre Person zu sehr. Totz ihrer eher »fundamentalistischen« grünen Positionen befürwortete sie, schon damals, bezahlte Berufspolitik. Entsprechend boykottierte sie das »Rotationsprinzip« (den regelmäßigen Ämterwechsel) und den »Ökofond« ihrer Partei. Verständlicherweise trugen die Anfeindungen nicht gerade zu ihrer Gesundheit bei. Laut Biografin Saskia Richter von Kind auf nierenkrank, wirkte sie inzwischen ausgelaugt und durchängstigt. Bei der Polizei hielt man sie für gefährdet. Als Schulkind hatte sie einen aus den USA stammenden Stiefvater bekommen. Erstaunlicherweise war John Edward Kelly auch schon hoher Offizier gewesen, ein Oberst. Nun, vermutlich am 1. Oktober 1992, schießt ihr betagter General und Gefährte sie, der amt-lichen Version zufolge, bei einem Nachmittagsschläfchen in die Schläfe. Anschließend richtet Bastian seine Pistole (von schräg oben) gegen die eigene Stirn. Es dauert merkwürdigerweise fast drei Wochen, bis die beiden vermißt und entdeckt werden. Umso rascher hat sich der Staatsanwalt sein Bild gemacht: Bastian habe beide Schüsse abgegeben, entweder im Einvernehmen mit Kelly oder in der Überzeugung, ohne ihn sei sie verloren. Damit liege ein »erweiterter Suizid« vor. Für ein »Fremdver-schulden« gebe es keine Anhaltspunkte.***
Etliche BeobachterInnen sehen das anders. Mal halten sie Bastian für den Mörder seiner Gefährtin; mal glauben sie, Dritte hätten das Paar umgebracht. Beide Annahmen sind keineswegs an den Haaren herbeigezogen, weil es wieder einmal Ungereimtheiten gibt. Warum wurden die Leichen so spät gefunden? Um eine Obduktion zu unterlaufen? Die gab es immerhin noch. Was Kelly angeht, habe die Obduktion keine Hinweise auf eine ernsthafte Krankheit erbracht. Im übrigen fanden sich weder Abschiedsbriefe noch Testamente noch sonstige Erklärungen der Verstorbenen. Zwar surrte im Erdgeschoß eine elektrische Schreibmaschine, doch sie enthielt auf der Walze nur einen belanglosen Geschäftsbrief, der mitten in einem Satz und sogar einem Wort abgebrochen worden war. Von ihm her schloß die Kripo auf das mutmaßliche Todestagsdatum, 1. Oktober. Sie hatte Bastian, den Autor des Geschäftsbriefes, im Flur des Obergeschosses hingestreckt gefunden, Kelly dagegen auf ihrem Bett. Die Alarmanlage des Hauses war abgeschaltet. Weiter geben eine lediglich angelehnte Balkontür und ein umgestürztes Bücherregal (im oberen Flur) zu denken. Bastian könnte es jedoch nach dem Schuß in die eigene Stirn im Fallen mitgerissen haben. Schmauchspuren von der Tatwaffe will die Kripo nur an seinen Händen bemerkt haben. Solche Spuren lassen sich vermutlich auch vortäuschen, falls sie einer benötigt.
Wer ein Mordmotiv Dritter suchte, könnte es wohl im Antimilitarismus und in den entsprechenden Enthüllungen (Waffengeschäfte) des Paares finden – obwohl mir die Mundtotmachung oder Vergeltung zu jener Zeit des Privatisierens ein wenig spät erschiene. Manche Quellen* führen den Verdacht an, Kelly sei seit Jahren, von CIA und von neofaschistischer Seite her, einem Psychoterror ausgesetzt gewesen. Davon sprach wohl auch Kelly selber wiederholt. Möglicherweise suchten diese Kräfte den bereits angedeuteten Deformierungsprozeß der Grünen zu befördern, der diese »underdogs« binnen weniger Jahre von der Anpinkelei des Imperialismus' in die Geschäftsführung des Imperialismus' katapultierte. Andererseits war das Paar zumindest teilweise durchaus im Sinne westlicher Strategen tätig, man denke etwa an Tibet. Hier schillert es also ebenfalls.
Entgegen dem Bild des Staatsanwaltes bezweifeln viele Freunde oder Kollegen von Kelly, ihr Tod könne ihr Wunsch gewesen sein. Lukas Beckmann: in Petras Unterlagen fanden sich Hinweise darauf um keinen Deut, und ihr Terminkalender vor voll. Angeblich hatte sie sogar eine Professur in den USA in Aussicht. 2007 bezweifelt auch Saskia Richter, die 2010 noch eine Kelly-Biografie vorlegen sollte, im Spiegel einen Todeswunsch der abgedankten Politikerin: »Sie hatte Pläne, und als der Schuss fiel, schlief sie.« Nach manchen Quellen ist auch das bekannte, in diesem Fall durchaus naheliegende Motiv Eifersucht nicht ausgeschlossen. Marina Friedt behauptet 2017 im Spiegel, Kelly habe zuletzt eine Liebschaft mit einem tibetischen Arzt unterhalten. Vielleicht sah der Ex-General deshalb rot.
Eine recht einleuchtende Theorie zum Tathergang vertrat und vertritt der Arzt und Schriftsteller Till Bastian. Das ist der Sohn. Der Focus-Autorin Beate Strobel gegenüber malt er seinen Erzeuger 2017** keineswegs als den humorlosen Schleifer, den man bei einem altgedienten Militär erwarten könnte. Obwohl in schnelle Autos und Waffen vernarrt, sei er eher verspielt und tolerant, vielleicht auch gleichgültig gewesen. Er sei jenseits der Familie seinem Leben nachgegangen, dabei viele Frauengeschichten. Kelly habe Bastian die nach wie vor engen Fäden zu seiner Gattin immer sehr übel genommen. Mich überraschten die Schüsse nicht, sagt der Sohn. Er habe seinen Vater damals sofort für den Täter gehalten. Im folgenden Jahr, 1993, schreibt er in einem Artikel für das Wochenblatt Zeit (Nr. 37): »Ich glaube, daß mein Vater – der an schwerer Gefäßverkalkung auch der Herzkranzgefäße litt – an jenem Donnerstagmorgen von einem heftigen Angina-pectoris-Anfall, einem Infarkt oder einer Lungenembolie heimgesucht wurde; im Gefühl des kommenden Todes glaubte er vielleicht, Frau Kelly, die oft beteuert hatte, nicht ohne ihn leben zu können, nicht allein lassen zu dürfen, sondern mit in den Tod nehmen zu sollen, und erschoß erst sie und dann sich. Es wäre dies eine soldatische Art gewalttätiger Fürsorge gewesen, wie sie sehr gut zu meinem Vater gepaßt hätte.«
Auf meine briefliche Nachfrage teilt mir Till Bastian freundlicherweise mit, er habe damals mit dem Gerichts-mediziner telefoniert. Mit dessen Befund einer »hochgra-digen Arteriosklerose« bei dem Vater sei Bastians Hypothese »gut vereinbar«, habe ihm der Mann versichert. Nebenbei habe sich in der Brieftasche des Vaters ein Zeitungsartikel gefunden: Was tun bei Herzinfarkt? Sowas trage man ja nicht ohne Grund mit sich herum. Was Kelly angeht, sei sie ihm, dem Arzt, zuletzt »sehr ängstlich und hypochondrisch« vorgekommen. Sein Vater habe eine seelische Erkrankung bei der Gefährtin befürchtet. Von »Verfolgungswahn« habe er, der Sohn, allerdings weder etwas bemerkt noch auch nur gehört.
Für Ulrike Winkelmann*** läßt sich der Doppeltod, »wenn überhaupt«, wohl am ehsten »aus der zerstörerischen Abhängigkeit der beiden voneinander« erklären. Das scheint ja auch der Sohn so zu sehen. Winkelmann gegenüber nennt er die Beziehung »eine Falle«.
* etwa die Webseite https://www.arbeiterfotografie.com/politische-morde/index-1992-10-01-petra-kelly-gert-bastian.html, o. J.
** Beate Strobel, 24. November 2017: https://www.focus.de/kultur/medien/mein-vater-ich-hatte-eine-stinkwut-auf-meinen-vater_id_7890282.html (anscheinend aufgrund eines Gesprächs mit Till Bastian)
*** Ulrike Winkelmann, 1. Oktober 2017: https://www.deutschlandfunk.de/tod-von-petra-kelly-und-gert-bastian-zwei-leichen-viele-100.html
Kepler, Barbara (1573–1611), geb. Müller, Promi-nentengattin. Im Jahr 1597 war der Astronom Johannes Kepler noch jung (25) und unberühmt. Rund drei Jahre früher hatte er einen Posten als Hochschullehrer für Mathematik in Graz, Steiermark, ergattert. Nun schritt er daran, eine Familie zu gründen. Seine Braut Barbara besitze hier »Güter, Freunde und einen reichen Vater; ich dürfte, allem Anschein nach, in einigen Jahren kein Gehalt mehr brauchen«, teilt er seinem Tübinger Förderer und Freund Michael Mästlin brieflich mit. Koestler versichert*, über die Person der Braut oder über Keplers Gefühle für dieselbe finde sich in dem Brief kein Wort. Immerhin erspart uns Kepler dadurch Heuchelei.
Wahrscheinlich kommt seine Gefährtin auch sonst, in der Quellenlage überhaupt, äußerst dürr weg – obwohl sie doch so »einfältig und fett an Gestalt« war, wie der Astronom irgendwo anders festgestellt haben soll. Volker Bialas (2004) streift sie nur flüchtig und erwähnt ihren Tod lediglich indirekt. Aber auf ihres Gatten Charakter gibt er viel. Auch von Mechthild Lemckes Rowohlt-Monografie (1995) über den Gatten heißt es, die Autorin gehe kaum auf sein Privatleben ein. Sind Männer wie Kepler Sonnen, erzielen ihre Gefährtinnen bestenfalls die Aufmerksamkeit von Möndchen entfernter, nur aus »Rotverschiebung« ermittelter Planeten. Im Fall Kepler kommt noch der Mißstand hinzu, daß wir in den spärlichen, leider ziemlich ungünstigen Aussagen des ehrgeizigen und rhetorisch beschlagenen Gatten anscheinend auch schon die einzige nennenswerte Quelle zum Wesen der jungen Hauseselin haben, mit der er 14 Jahre lang verheiratet war und fünf Kinder zeugte.** Daran rüttelt vermutlich auch Gadi Algazis erstaunlich gründliche Betrachtung des Keplerschen Haushaltes von 2012 nicht***, die im Internet leider nur bruchstückhaft einsehbar ist. Algazi stützt sich hauptsächlich auf einen langen, wohl 1612 entstandenen Briefentwurf des Astronomen.
Erschreckender-, wenn auch üblicherweise hatte Barbara, Tochter eines wohlhabenden Müllers aus Gössendorf bei Graz, bereits zwei Ehemänner über sich ergehen lassen müssen, ehe sie, als junge Witwe, von dem schwäbischen »Sterngucker« umworben wurde. Erstmals zwangsver-heiratet mit 16, war sie bei ihrer dritten Hochzeit im Jahr 1597 erst 23. Für Johannes entpuppte sie sich als seine Bürde. »In ihrem ganzen Tun ist sie wirr und unbeholfen. Sie gebärt auch schwer. Alles übrige ist gleicher Art.« Laut Koestler stellt Kepler sie als blöde, mürrisch, wehleidig, zänkisch, geizig hin. Ihre Liebe habe ausschließlich Kindern gegolten, aber damit hatte sie ja ebenfalls Pech. Nur zwei von den fünf Kepler-Sprößlingen überlebten ihre Kindheit. Zuletzt, in Prag, fiel Barbaras Liebling, der sechsjährige Friedrich, den vielleicht von Soldaten eingeschleppten Pocken zum Opfer. 1611 wurde das Unglück der Mutter von einem »Ungarischen Fieber« gekrönt, das epileptische Anfälle und Geistesstörungen mit sich brachte. 37 Jahre alt, sei Barbara Kepler »in geistiger Umnachtung« gestorben, schreibt Koestler.
* Arthur Koestler: Die Nachtwandler, deutsche Fassung Bern 1959, Seite 271–74 und 387
** Zudem gab es wohl noch eine Tochter, die Barbara bereits in die Ehe mit Johannes eingebracht hatte.
*** Gadi Algazi, »Johannes Keplers Apologie«, in: Reich / Rexroth / Roick (Hrsg): Wissen, maßgeschneidert. Experten und Experten-kulturen im Europa der Vormoderne, München 2012, S. 214–48
Kirchberger, Martin (1960–91), rheinhessischer satirisch gestimmter Künstler. Seine Ader für Komik mündete in 28 Särgen. Der Absolvent der Offenbacher Hochschule für Gestaltung hatte sich bereits einen gewissen Namen mit »Aktionskunst« und satirischen Kurzfilmen, vor allem der Sorte »Pseudo-Dokumentar-film«, gemacht und seine eigene Produktionsfirma Cinema Concetta gegründet. Am 22. Dezember 1991, zwei Tage vor Weihnachten, ließ eine Meldung über einen Flugzeug-absturz bei Heidelberg die Redaktion der Rüsselsheimer Main-Spitze »zunächst nur kurz aufhorchen«, wie Ralf Schuster 20 Jahre später in einem Gedenkartikel erwähnt. Das ist die richtige Einstellung von Presseprofis, sage ich dazu. Dann habe sich aber schnell der bedeutsame lokale Bezug des Unglücks herausgestellt, fährt Schuster fort. Kirchberger, bei der Main-Spitze wohlbekannt, hatte zu Zwecken satirisch geprägter Dreharbeiten in Frankfurt/Main eine historische DC 3-Maschine mit seinem Team und einem Rudel LaienschauspielerInnen besetzt und in derselben das schöne Heidelberg angesteuert. Während des niedrig angesetzten, zunächst am Rhein orientierten Flugs wurde bereits gedreht. Nicht zum Film gehörte freilich ein Donnerschlag gegen 12 Uhr: die Maschine war bei dichtem Nebel unweit der Neckarstadt gegen den Hohen Nistler geprallt, einen knapp 500 Meter hohen Berg des südlichen Odenwalds, und an ihm zerschellt. Die mehr oder weniger zerfetzten Leichen, die dann im Wald herumlagen, waren teils geschminkt. Es gab vier verletzt Überlebende. Unter den 28 Toten befanden sich neben Kirchberger, 31, die beiden Piloten, sodaß sich später ein Gerichtsverfahren erübrigte. Einer behördlichen Untersuchung zufolge war die 50 Jahre alte Maschine mängelfrei. Dafür hätten die Piloten die Flüsse Rhein und Neckar verwechselt, während der Fahrt Interviews gegeben und, gleichfalls auf Drängen des Regisseurs, unzulässige Sichtbehinderungen durch Bekleben der Scheiben gebilligt.* Vielleicht hatten sie sich gedacht: wenn draußen sowieso schon Nebel ist …
Wie sich versteht, waren die BürgerInnen und KunstliebhaberInnen der Region bestürzt. Letztere hatten zunächst nichts Dringlicheres zu tun, als den durch Nebel verhinderten Film Bunkerlow des verstorbenen Regisseurs fertigzustellen; dann riefen sie die Cinema Concetta Filmförderung ins Leben**, auf die ich gleich zurückkomme. Worum es bei dem Film ging und geht? Es handelt sich um eine Satire auf Kaffeefahrten. Man bietet dabei Privat-Bunker feil, von deren Bombensicherheit sich die Kunden vom Flugzeug aus überzeugen können, wenn ich alles richtig verstanden habe. Das Transportmittel »Flugzeug« selber steht im Film anscheinend nicht zur Debatte.
Dieses Werk wurde also gerettet. Ob die Concetta-Stiftung dann auch die Rechnungen für 28 Särge, vier Krankenhausbehandlungen und mindestens 70 THW-HelferInnen und Polizisten beglich, die für mehrere Tage an der Absturzstelle tätig waren, ist mir nicht bekannt. Einer Selbstdarstellung zufolge** sieht die in Rüsselsheim ansässige, als »wohltätig anerkannte« und auch schon preisgekrönte Stiftung ihre Aufgabe darin, das Andenken an die Opfer zu wahren und, im Sinne Kirchbergers, »ähnliche Filmarbeiten mit weitestgehend satirischem Inhalt zu fördern«. Zum Andenken zählte möglicherweise ein Holzkreuz, das für etliche Jahre am Hohen Nistler stand. Da es allmählich verwitterte, wurde es Anfang 2014 durch ein Denkmal aus rotem Sandstein mit Inschrift ersetzt – von der Stadt Heidelberg.*** Ob die Stiftung wenigstens ein paar selbstkritische Erwägungen beisteuerte, die man nun dort im Walde von der Rückseite des Steins ablesen kann? Im ganzen Internet nicht eine Spur von dergleichen. Also weiter so, wohlan, Glück auf!
* Michael Abschlag, »Vor 25 Jahren: Tödliche Verwechslung am Hohen Nistler«, Rhein-Neckar-Zeitung, 17. Dezember 2016: https://www.rnz.de/geschichte_artikel,-Die-Geschichte-Vor-25-Jahren-Toedliche-Verwechslung-am-Hohen-Nistler-_arid,242041.html
** »Über die Cinema Concetta Filmförderung«, Stand 2022: https://satirische-kurzfilme.de/de_DE/entstehung
*** »Hoher Nistler: Gedenkstein erinnert an den Flugzeugabsturz von 1991«, 3. Februar 2014: https://www.die-stadtredaktion.de/2014/02/rubriken/gesellschaft/geschichte-ressorts/hoher-nistler-gedenkstein-erinnert-an-den-flugzeugabsturz-von-1991/
Kivi, Aleksis (1834–72), südfinnischer Schriftsteller, verkannt. Ein Spezial-Lexikon über die Spezies der Verkannten dürfte ähnlich umfangreich wie mein 24bändiger Brockhaus ausfallen. Kivi steht immerhin schon drin. Vielleicht ist mir zunächst die Frage gestattet, durch was sie alle, die Verkannten, eigentlich verbunden werden. Die Antwort liegt auf der Hand: durch Zufall. Das Alphabet täuscht nur. Man wird nicht einen Fall der Verkennung oder aber der Anerkennung vorbringen können, der nach so etwas wie zwingender Notwendigkeit verlaufen wäre. Das schließt Namen von etlichen Berühmtheiten ein, die ich für Windbeutel halte, wobei ich mich allerdings hüten werde, sie an dieser Stelle zu nennen. Erfolg und Mißerfolg hängen immer von Dutzenden von Faktoren ab, die der Betreffende nicht oder kaum zu beeinflussen vermag, die kulturpolitischen Umstände, seinen Gesundheitszustand und selbst das Wetter eingeschlossen. Dieser schwankenden Lage, bei der ein Künstler wie auf einem Fluß zu turnen hat, der genauso viele Eisschollen wie Strudel bietet, entspricht natürlich der Umstand, daß noch niemand den Meßpegel für künstlerische, insbesondere literarische Qualität erfunden hat. Auch deren Beurteilung hängt von vielen zufälligen Bedingungen ab, unter denen die Voreingenommenheit oder die Faulheit des Kritikers nicht die seltenste darstellt.
Das einzige, worauf in diesem Bereich Verlaß ist, sind die betroffenen KünstlerInnen selber. Sie fühlen sich immer verkannt. Woran liegt das? Selbstverständlich an jener befangenen Selbstliebe, die vom Automobil bis zur Vaterlands- und Kindesliebe vor nichts Halt macht. Was uns gehört, unser Eigenes, ist immer das Schönste und Wichtigste. Das beliebte Argument zur Rechtfertigung dieser Selbstüberschätzung, nämlich man wünsche die Anerkennung billigerweise als Entschädigung für die große Mühe, das viele Wissen und die lange Zeit, die man in das betreffende Kunstwerk gesteckt habe, darf getrost in der Pfeife geraucht werden. In die Stadt X. zum Beispiel habe ich nicht einen Backstein gesteckt. Aber ich wurde in ihr geboren, ich wuchs in ihr auf, ich verliebte mich in ihr zum ersten Male, ich kenne alle ihre lauschigen Winkel wie meine Westentaschen, ich durfte in ihr die Uraufführung meines ersten Theaterstückes erleben und so weiter – und deshalb ist sie immer die schönste und wichtigste Stadt auf der Welt.
Nehmen wir Weimar. Im September 1987 war dort eine Ausstellung über Aleksis Kivi zu sehen. Ich will mich darauf beschränken, den berühmten Mann mit einigen Worten des zu unrecht wenig bekannten DDR-Schrift-stellers Armin Müller vorzustellen, gestorben 2005. Müller lebte in Weimar. Er schreibt* über den Schneidersohn, der sich schon früh auf Bücher geworfen hatte: »Als Kivi, Anfang Dreißig, seine Sieben Brüder zum Druck geben wollte, winkten die Verlage ab, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Roman im Selbstverlag herauszubringen. Doch das sollte ihm nichts helfen. Der berühmteste Kritiker des Landes verriß das Buch, und Kivi, ein sensibler, kränklicher Mann, zerbrach daran. Er war erst achtunddreißig, als er 1872 in einer Nervenheilanstalt starb. / Zehn Jahre später fand sein Buch die verdiente Anerkennung. Seitdem gilt Kivi als der bedeutendste Dichter Finnlands, der Roman ist in zwanzig Sprachen übersetzt, und der Geburtstag seines Autors wird als Nationalfeiertag begangen. / W. H. erzählt diese Geschichte auf der Wahlversammlung des Schriftsteller-verbandes in Weimar, und mancher der Anwesenden hört sie sichtlich gern. Die potentiellen Kivis unter uns scheinen in der Mehrzahl zu sein.« – Laut Petri Liukkonen** hatte man bei dem verschuldeten und zunehmend verwirrten Schriftsteller Kivi »Schizophrenie« diagnostiziert. Sein Bruder Albert habe ihn aus der erwähnten Nervenheil-anstalt losgeeist und ihn für sein letztes Lebensjahr in ein gemietetes oder gekauftes Häuschen in Tuusula am Tuusulanjärvi-See (bei Helsinki) verfrachtet, wohl dem Heimatort ihrer Mutter. Das selbstbewußte letzte Worte des 38jährigen Verkannten gibt Liukkonen mit »minä elän!« wieder: Ich lebe!
Einmal abgeschweift, führe ich auch noch Wien an. Niemand kennt Antonín Smital – auch ich nicht. Für den österreichischen Schriftsteller und Journalisten Stefan Großmann war er »ein slawisches Talent«, das seine wöchentlichen »dichterischen Skizzen« in Victor Adlers Wiener Arbeiterzeitung mit »Oblomow« zeichnete. Auch Peter Altenberg habe damals, um 1895, große Stücke auf Smital gegeben. Doch eines schlechten Tages, das war 1897, habe man just aus der Arbeiterzeitung erfahren, Smital sei tot. Niemand habe sich um den Nachlaß des ungefähr 34jährigen tschechisch-deutschen Schriftstellers gekümmert, der sich auch als Übersetzer (Bozena Němcová) versuchte. »Nie ist auch nur eine einzige Sammlung der kleinen Novellen Smitals erschienen, die ihn berechtigt hätten, sich neben Anton Tschechow zu stellen«, schreibt Großmann in seinen 1930 veröffentlichten Erinnerungen Ich war begeistert. Für ihn zählt Smital zu den vielen Beweisen dafür, wie töricht der Glaube sei, jedes wirkliche Talent finde auch die Beachtung, die es verdiene. »Ruhm ist Zufall und noch dazu ein unhaltbarer. Ruhm ist außerdem eine Angelegenheit des Willens. Gerade die Edelsten wollen nicht.« Oder die Götter waren nicht gewillt, wie ich schon gelegentlich bemerkte, ihnen einen starken Willen mitzugeben.
Für »die vielen Kivis unter uns« ist es natürlich tröstlich, wenn auch Großmann sich fragt, welche Unmengen an Talenten oder Genies, an zukünftigen Shakespeares oder Tschechows wohl allein deshalb verkümmern mußten, weil die Ungunst der Stunde oder Lebensunmut sie am Aufblühen hinderten. Dasselbe fragte sich 1985 der zeitweilige P.E.N.-Vorsitzende Martin Gregor-Dellin in seinem Buch Was ist Größe? Man muß aber heute zu bedenken geben, daß an dieser Verkümmerung nicht nur Gene, Milieus und Austilger wie der finnische Kritiker August Ahlqvist oder wie Johannes Brahms schuld sind (Fall →Rott). Sondern es gibt inzwischen, entsprechend sowohl zur Übervölkerung dieses Planeten wie zur grundsätzlichen Überschätzung des Kunstschaffens, einfach zu viele Talente. Unter »marktwirtschaftlichen« Bedingungen ist unmöglich Platz für sie alle. Das Netz ist voll. Da kommen nur die ruppigsten Exemplare oder die Eintagsfliegen durch.
Eine jüngste Internet-Suche zwingt mich zu einer Ergänzung zu Smital. Möglicherweise hat er mindestens zwei Bücher veröffentlicht, nämlich 1888 das »Galiziſche Sittenbild« Die Familie Kobinſan und 1894 den Roman Von Herzen — mit Schmerzen. Das steht in einem zeitgenössischen Lexikon (Franz Brümmer, Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Bd. 6, 6. Aufl. Leipzig 1913, S. 450) – aber auch nur dort. Brümmer hat überdies ein paar spärliche biografische Angaben zu bieten. Danach war Smital Landwirtssohn aus dem mährischen Dorf Pollein, Gymnasiast von schwacher Gesundheit, befaßte sich in einigen Jahren neben dem Feldbau »privatim« mit Philologie und Geschichte. Besonderes Vergnügen hätten ihm vogelkundliche Studien bereitet. Schließlich aus familiären Gründen zur Erwerbstätigkeit gezwungen, habe er sich zunächst in Prag, dann in Wien schriftstellerisch betätigt. Dort sei er in die Redaktion des Neuen Wiener Tagblatts eingetreten. Damit endet Brümmers Schilderung. Ferner scheint es einen deutlich jüngeren, 1991 erschienenen, ungefähr fünf Seiten langen Porträt-Artikel über Smital von František Spurný zu geben. Eine Webseite*** nennt als Titel: »Zapomenutý česko-německý spisovatel Antonín Smital« (Der vergessene tschechisch-deutsche Schriftsteller Antonín Smital, 1863–97).
* Tagebuch Ich sag dir den Sommer ins Ohr, Rudolstadt 1989, S. 283
** in seinem Authors' Calendar, Stand 2018: https://authorscalendar.info/akivi.htm
*** https://biblio.hiu.cas.cz/records/b231a41b-6e53-4620-8484-a247db911b9c?back=https%3A%2F%2Fbiblio.hiu.cas.cz%2Frecords%2Fe36b151d-d9b9-420c-9424-a64d8d27ba40%3Flocale%3Dde&group=b231a41b-6e53-4620-8484-a247db911b9c
Klaunig, Karl (1824–62), sächsischer Pädagoge und Orthograph. Der langjährige Lehrer an der Leipziger »Städtischen Realschule«, verheiratet mit der 10 Jahre jüngeren Thecla geb. Berndt und Vater von mindestens einem Sohn namens Carl Kurt, war federführend an der Erarbeitung einheitlicher Rechtschreibregeln zunächst für die Schulen Sachsens, bald auch vieler anderer deutscher Staaten, darunter Preußen, beteiligt. Er starb auch in Leipzig, mit 37 – aber woran? Nach freundlicher Auskunft eines Leipziger Stadtarchivars (für 28 Euro) weiß man's wieder einmal nicht genau. Aufgrund der Personalakten-notiz »wegen gänzlicher Untüchtigkeit aus dem Militärdienst freigelassen« könne man jedoch eine schwache Gesundheit vermuten. Und in der Tat, im Leipziger Tageblatt vom 22. Februar 1862 finde sich die private Todesanzeige der Witwe, wonach ihr »guter Mann … nach langer Krankheit gestern Mittag« entschlafen sei.
Worin Klaunigs »Güte« bestand, wissen wir also auch nicht genau. Gewiß könnte einer auf Klaunigs Verdienste als Grammatiker pochen, aber mit denen will ich mich ungern beschäftigen, weil ich das in gewisser Weise schon früher tat. Hier nur das folgende. Neulich zeigte sich ein Kunstwissenschaftler, den ich um einige Auskünfte gebeten hatte, von meiner altmodischen Rechtschreibung erstaunt. Die würde doch vermutlich einige LeserInnen vor den Kopf stoßen, mir also schaden. Aber »erstaunt« ist noch höflich ausgedrückt. In Wahrheit dürfte er mich für einen greisen Kauz und Kindskopf halten, der unbelehrbar seine Grillen pflegt. So ganz falsch ist das freilich nicht. Zwar meine ich, den übergroben und nebenbei sündhaft teuren Unfug der jüngsten »Rechtschreibreform« ziemlich unwiderleglich in meinem 2016 veröffentlichten Aufsatz »Ihr tut mir Leid« dargestellt zu haben [siehe A-12], aber selbstverständlich ist die Sache längst gelaufen. Das ist ja gerade das Schlimme. Der Mensch gewöhnt sich an alles; das »Skandalöse« einer genauso fruchtlosen wie überflüssigen Rechtschreibreform oder einer sogenannten Schweinegrippe (2009) hat er nach wenigen Jahren, ja Monaten vergessen; er paßt sich jedem Sprung von ß zu ss oder umgekehrt wie ein Chamäleon an den Wechsel von Sonnenlicht und Baumbestand an.
Es ist also nicht so, daß ich mir einbildete, durch meine winzigen Widersetzlichkeiten der Menschheit zu dienen. Ich diene mit ihnen vor allem mir selber, nämlich meinem Gewissen und meiner Selbstachtung. Auf die Sache kommt es dabei noch nicht einmal in erster Linie an. Ich könnte auch auf den Gebieten des Gartenbaus oder der Haartracht rebellieren. Nur auf allen zusammen nicht. Man muß sich, je nach persönlicher Beschaffenheit, kurzerhand ein paar bestimmte Dinge herauspicken, und in denen hat man dann konsequent zu sein. Wenn es hochkommt, hat es sogar doch eine gewisse Signalwirkung. Zum Beispiel fahre ich seit dem Ende meiner Kommunezeit (2006) kein Auto mehr – und eine etwas jüngere Freundin hält es inzwischen genauso, obwohl sie keineswegs so arm ist wie ich. Kinder kann sie ja sowieso nicht mehr kriegen – sie weiß, ich bin Gründer des BAM, des Bundes für die Abdankung der Menschheit. Sie weiß auch, daß ich mich des Fernsehens sogar schon seit inzwischen rund 40 Jahren enthalte. »Und was machst du, wenn die Zwangsimpfung kommt ..?« – »Ich hoffe, sie wird mich in meiner unauffälligen Kleinstadtrandexistenz nicht erreichen.« – »Und wenn doch ..?«
Hoffen wir, ich bleibe prinzipienfest. Die Impfschäden könnte ich wohl verkraften, denn in wenigen Jahren liege ich, soeben 71 geworden, sowieso in der Kiste. Aber diese Form der staatsterroristischen Abstempelung, die so offensichtlich an gewisse Todesstrafenpraktiken und an gewisse mit Gaskammern bestückte Barackenlager erinnert, ist zuviel. Da werde ich notfalls toben. Zuerst werden sie mich vielleicht nur schneiden und erpressen, wie jene freundlichen Email-DienstleisterInnen, die mich mit immer neuen Drohungen und Schikanen zum Genuß von Werbung zwingen wollen. Sie werden mir den Besuch meines Zahnarztes unmöglich machen, weil ich diesem keinen »Impfpaß« vorlegen kann. Rücken sie aber mit Handschellen an, werde ich mich unter Umständen an das Muster erinnern, daß Alfred Andersch (1957) in Sansibar mit seinem Pfarrer Helander gab. Ich kann das Buch getrost anführen, weil die Leute, die uns regieren und zensieren, sowieso Analphabeten sind.
Vielleicht wird sich mancher fragen, ob ich keine anderen Sorgen als orthographische oder Zahnprobleme hätte. Meine Antwort: Habe ich durchaus. Am Abend des 3. März 2021 verschwand die 33jährige Sarah Everard in Südlondon, als sie von der Wohnung einer Freundin nach Hause ging. Auf diesem Weg hatte sie sogar noch mit ihrem Freund telefoniert. Einige Tage später wurde ihre Leiche in einem Wald in Kent gefunden. Vermutlich war sie von einem 48 Jahre alten Elite-Polizisten nach Schichtende entführt und getötet worden; der Mann sitzt in Untersuchungshaft. Als es in London zu einer »ungenehmigten« Mahnwache von Frauen kam, schritt die Polizei, wegen der »Corona-Ansteckungsgefahr«, so brutal gegen verschiedene Teilnehmerinnen ein, daß sogar der Londoner Bürgermeister Sadiq Kahn und noch höhere Tiere schimpften. Jetzt wird die Londoner Polizeichefin Cressida Dick zum Rücktritt aufgefordert. Sie will aber nicht. Laut Christian Bunke* sind schon wieder gesetzliche Verschärfungen=Beschneidungen des Demonstrations-rechtes auf dem Weg ins Unterhaus, und selbstverständ-lich würden daran auch 50 NachfolgerInnen von Dick nicht mit vereinten Kräften rütteln. Nebenbei umfaßt der betreffende Polizeigesetzentwurf, der unter anderem auch Kindern und Frauen mehr Beistand verschaffen soll, rund 300 Seiten. Glaubt einer wirklich, die Ärsche im Unterhaus würden das lesen? Jener Elite-Polizist gehörte übrigens einer Einheit zum Schutz von Parlamentariern und Diplo-maten an. Ja prima, ringsum wird der Bürger nur »ge-schützt«, General von Trotha (»Deutsch-Südwestafrika«) und Heinrich Himmler hätten ihre Freude daran.
* »Mit Corona-Regeln gegen Proteste nach Polizeimord«, Telepolis, 16. März 2021: https://www.heise.de/tp/features/Mit-Corona-Regeln-gegen-Proteste-nach-Polizeimord-5988582.html
Klepper, Jochen (1903–42) und Familie. Vor 80 Jahren geschah in Berlin ein selten beleuchteter Dreifach-Selbstmord. Aber bekanntlich sind Gottes Wege sowieso unerforschlich. Ursprünglich evangelischer Theologe, hatte sich Jochen Klepper nicht, wie sein Erzeuger, aufs Pfarramt, vielmehr auf Freie Schriftstellerei verlegt. Das faschistische Schreibverbot ereilte ihn erst 1937, wurde zudem erst 1942 in Kraft gesetzt. Man hatte Klepper inzwischen, nach rund einjährigem Kriegsdienst, als »wehrunwürdig« eingestuft und zuletzt die ganze Familie mit Deportation bedroht, weil seine (13 Jahre ältere) Ehefrau Johanna und deren jüngere Tochter Renate Stein, wohl 18 Jahre alt, »jüdisch« waren. Im Dezember des Jahres entschlossen sie sich deshalb (angeblich) gemeinsam, in den Tod zu gehen: Schlaftabletten und Gas. An die Wohnungstür hatten sie vorsorglich ein Warnschild geklebt. Die ältere Tochter Brigitte entging diesem Familientod, weil man ihr noch die Ausreise gestattet hatte. Klepper war 39.
Entgegen manchen schöngefärbten Quellen war der glü-hende Christ Klepper keinesfalls »Widerstandskämpfer«, ja noch nicht einmal Demokrat. Ohne seine »falsche« Ehe hätte er im »Dritten Reich« kaum Ärger gehabt. Klepper war monarchistisch, also autoritär gestimmt. Neben einem angeblich bedeutenden Tagebuch wird oft sein zweibändiges Werk Der Vater. Roman des Soldatenkönigs (Friedrich Wilhelm I. von Preußen, um 1700) gelobt. Klepper hatte selber einen übermächtigen Vater, entschuldigte ihn aber, wie er alles entschuldigte, mit »Gottes Wille«. Die Arnsberger Freie Publizistin Ursula Homann, geboren 1930, drei Kinder, verhehlt dies alles (auf ihrer Webseite*) nicht, scheint es freilich auch nicht für sonderlich betrüblich zu halten. Selbst bei ihr finde ich kein Aufmerken angesichts der Tatsache, daß wir in Kleppers Fall vor einem Dreifach-Selbstmord stehen. Seine ungefähr 18jährige Stieftochter Renate, über die man leider im gesamten Internet buchstäblich nichts erfährt, starb ja ebenfalls – freiwillig? Von den lebensbedrohlichen Aussichten erzwungen? Oder vielleicht doch in erster Linie von ihren Eltern? Möglicherweise wird diese heikle Frage in der vergleichsweise umfangreichen Literatur über Klepper erörtert; ich fürchte freilich, eher nicht.
Wird Kleppers innige Liebe zu seinen Kindern beschwo-ren, gerate ich jedenfalls ins Grübeln. 1933 erzielte er als Journalist und Schriftsteller die erste größere Aufmerk-samkeit mit seinem gern als »frech« ausgegebenen Roman Der Kahn der fröhlichen Leute, 1950 sogar verfilmt (Regie Hans Heinrich). Der Roman ist im zeittypischen »coolen« Ton der »Neuen Sachlichkeit« geschrieben, der wahrscheinlich, in seiner Kurzangebundenheit, mitverantwortlich für den Mangel an Anschaulichkeit und Buchklima ist. Nun, das fand man damals geil. Man nahm es dem Autor vermutlich auch nicht übel, daß er sich für diesen Roman aus dem Dunstkreis der zeitgenössischen Oderschiffahrt als Theologe oder sendungsbewußter Laienchrist vollständig in Nebel gehüllt hatte. Die Religion hat nicht den geringsten Anteil an der angeblichen Fröhlichkeit des gesamten Romanpersonals. Die ungefähr 12jährige, blonde Wilhelmine Butenhof, Vollwaise und »Schiffseignerin« eines altersschwachen Frachtkahns, darf sogar ungerügt den Konfirmandenunterricht, ja sogar die Konfirmation selber schwänzen. Dafür macht sich Klepper einmal unverhohlen über die »frommen Leute in Köben« lustig, »die in den Nachmittagsgottesdienst gingen statt in den Schifferzirkus« (S. 111).**
Nun mag man die Abwesenheit der Religion in der Tat verschmerzen können, aber leider spielt auch die Soziale Frage nicht die geringste Rolle in dem Werk. Ob Fischer, Bauer oder Bäcker; Gutsherr, Tuchfabrikant oder Reichsminister, man hat die jeweils zugemessene Bürde halbwegs redlich – und eben fröhlich zu tragen. Prahlerei ist erlaubt, sogar förderlich. Dem Schiffsjungen ist der Traum von der Kapitänsmütze unbenommen. Es ist ein völlig unkritisches, dazu wenig einfühlsames Buch. Mit Wilhelmine mutet uns Klepper ein Waisenkind zu, das in einem geschlagenen Jahr für keine Minute seine Eltern oder sonst eine Geborgenheit vermißt. Aber verloben muß sich Wilhelmine, am Schluß. Zwei Hochzeiten krönen das Werk. Bis dahin hat das Waisenkind auch das Spielen selten vermißt, denn Klepper hat ihm schließlich die erwähnte Rolle der »Schiffseignerin« verordnet, der eingebildeten Chefin, die bald ein Dutzend Leute zu ernähren glaubt. Dieser an der Oder zwischen Breslau und Stettin aufgefädelte, eigentlich bemerkenswerte Grundeinfall erweist sich dummerweise als Krampfader. Vielleicht hätte Klepper aus seiner Wilhelmine doch lieber die Flußpiratin und Rachefurie machen sollen, von der sie anfangs, nach dem Tod ihrer Eltern und der Übernahme des mürben Kahns unter Aufsicht eines Vormunds, wenigstens einmal träumen darf (S. 38). Aber das wäre, mit Günter Eich aus Lebus an der Oder gesprochen, Sand im Getriebe gewesen. Klepper stammte aus dem nahen Oderstädtchen Beuthen, dieselbe Gegend. Kurz, das Buch ist schlecht. Das hindert jedoch zahlreiche Verlage nicht daran, es bis zur Stunde immer wieder neu aufzulegen.
Erstaunlich differenziert und gründlich äußerte sich vor knapp 10 Jahren*** der damalige Regensburger Prälat Bernhard Felmberg in einem Vortrag über Klepper. Der Pastorensohn habe leider von Jugend an – wo er häufig an Asthma, Migräne, Schlafstörungen litt und auch schon Selbstmordgedanken hegte – eine befremdliche Neigung zu Gehorsam, Masochismus, Märtyrertum gezeigt. Durch die Heirat kam es zum Bruch mit dem autoritären und antisemitisch gestimmten Vater. Die Frau war vermögend. 1938 wird die Familie wegen den städtbaulichen Plänen der Nazis aus ihrem Haus gesetzt. Gleichwohl dachte Klepper offenbar nie an Flucht. Er habe im Gegenteil wiederholt Ergebenheit und Abwarten dem schließlich von Gott gewollten NS-Staat gegenüber angemahnt. Auch zuletzt habe er verschiedene ungesetzliche Möglichkeiten, seine Stieftochter Renate zu retten, gehorsam ausgeschla-gen. Für Klepper sei alles Prüfung durch Gott gewesen.
Bedauerlicherweise traf es dann auch Vortragsredner Felmberg hart. Er stieg 2020 zum Militärbischof auf und mutierte bald zum Ukraine-Fan. Hoffentlich hat er damit nicht den Keim zum eigenen Selbstmord gelegt.
* Aufsätze »Das Leid der Welt zur Sprache bringen / Leben und Werk von Jochen Klepper« und »Religiöse Fundierung«, beide o. J.: https://ursulahomann.de/DasLeidDerWeltZurSpracheBringenLebenUndWerkVonJochenKlepper/komplett.html und https://ursulahomann.de/JochenKleppersRomanDerVaterDieRomanbiografieDesSoldatenkoenigsAlsZeitansage/kap002.html
** Seitenangaben nach der Ullstein-Ausgabe Ffm 1984
*** https://www.ekd.de/27209.htm, 17. Januar 2013
Kolomak, Lisbeth (1907–24), Bremer Schusterstochter, wohl eher eine Unschuld vom Lande. Doch von einer vermeintlichen Freundin und Prostituierten eben derselben Berufsausübung bezichtigt (Hure), wird das Mädchen – »anscheinend ohne Benachrichtigung, geschweige denn Erlaubnis der Eltern« – Anfang März 1924 in eine entsprechende Krankenstation verschleppt und dort aufgrund der Polizeiarztdiagnose »Syphillis im fortgeschrittenen Stadium« mit dem neuen, noch kaum erprobten Medikament Salvarsan behandelt. Drei Monate später war die knapp 17jährige tot. Heute gilt es als wahrscheinlich, daß sie keineswegs an der Syphilis, vielmehr an der »Kur« gegen diese verendete. Man habe jedoch damals nichts unternommen, um die Todesumstände aufzuklären, heißt es in einem dicken Buch über den Fall.* Die Sache kam ohnehin erst ans Tageslicht, als die empörte Schustersfrau, Elisabeth Kolomak, ein gefälschtes »Tagebuch« ihrer Tochter verfaßte und (1926) veröffentlichte, mit dem sie Lisbeth zu entlasten und die Behörden anzuklagen versuchte. Damit geriet der Fall zur berühmten Justizposse. Nun wird nämlich der Mutter (1927) ihrerseits der Prozeß gemacht – aber nicht etwa wegen Betrugs, vielmehr wegen »schwerer Kuppelei«, denn so sei es angezeigt worden. Im Ergebnis wird die Mutter zu acht Monaten Gefängnis verknackt. Es gibt Schlachten in der Presse, viel Gelächter und ein Berufungsverfahren. Dieses wird 1928 aufgrund eines drei Jahre alten Amnestiegesetzes eingestellt. Elisabeth Kolomak stirbt 1943 mit 57 Jahren.
In einem bissigen Weltbühne-Artikel** hob Carl von Ossietzky im Prozeßjahr vor allem die brutale Buchstabengläubigkeit der Justiz, den Rachedurst der Sittenpolizei und die Weltfremdheit gewisser RichterInnen hervor, die sowohl vom beengten Leben damaliger Arbeitermädel wie von deren Bedürfnissen keinen blassen Schimmer hätten. »Ein religiöses Jahrhundert hätte diese Frau: Elisabeth Kolomak vielleicht als Hexe verbrannt. Aber um sie mit dem Kuppeleiparagraphen zu justifizieren, dazu war schon der moderne Rechtsstaat notwendig.« Nebenbei kostete diese Justiz- und Presseposse wieder ein Heidengeld – und das Leben einer 17jährigen, um es nicht zu vergessen.
* Eva Schöck-Quinteros und Sigrid Dauks (Hrsg), »Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?« / Der Fall Kolomak in Bremen 1927, Bremen 2010, bes. S. 223 + 239
** »Maß für Maß in Bremen«, im Ossietzky-Lesebuch (Reinbek 1989) S. 211–14
→ A-13 Ein neuerlicher Fall Unbefleckter Empfängnis
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