Dienstag, 6. Dezember 2022
Randolph Bourne
ziegen, 14:26h
Um Menschen zu bedauern, die gleichsam stets ihren Berg dabeihaben, muß man den Göttinger Professor Lichten-berg nicht unbedingt kennen. Bourne tuts auch. Ich fürchte allerdings, Sie haben noch nie von dem ähnlich kleinwüchsigen linken US-Essayisten (1886–1918) gehört. Er hatte wegen Wirbelsäulen-Tuberkulose von Kind auf unter einem entstellten Gesicht und einem Buckel zu leiden. Er maß lediglich fünf Fuß, um 1 Meter 50. Auch sonst war seine Kindheit kein Deckchensticken.* Der Vater verarmte und tauchte unter. Der verkrüppelte Sprößling konnte jedoch Klavier erlernen und nutzte dies zum Broterwerb. Max Eastman, der Redakteur der Masses, schrieb sogar, Bournes Pianovortrag habe einem Tränen sowohl der Freude wie des Mitleids in die Augen getrieben.**
Schon während eines Studiums an der Columbia-Universität in NYC schrieb Bourne für mehr oder weniger linke Blätter. 1913/14 unternahm er eine Europareise. Er brach sie ab – wegen Kriegsausbruch. Präsident Wilsons Friedens-Tiraden empfand er als Heuchelei. Bourne vertrat kosmopolitische und antimilitaristische Stand-punkte, wies auf die Symbiose von Aufrüstung und Staat hin und warnte folgerichtig auch vor dem Kriegseintritt (1917) der USA. Was Wunder, wenn er selbst von liberalen und linken Blättern zunehmend geschnitten wurde. Kaum hatte er das Kriegsende begrüßt, raffte ihn, 32 Jahre jung, angeblich die gewaltige Welle der sogenannten Spanischen Grippe dahin. Ich kann es kaum überprüfen.
In der Belletristik schätzte Bourne die Romane Sinclairs und Dreisers. Sein Aufsatz über Freundschaft von 1912 liest sich gut***, doch die wahrscheinlichen Erschwernisse des Krüppels lassen sich hinter diesem wohlgesetzten Lobpreis der Freundschaft nur schwer vermuten, von Liebschaft ganz zu schweigen. Davon erfährt man in allen Internet-Quellen buchstäblich nichts. Möglicherweise würde man in einer Biografie fündig, die Bruce Clayton 1984 unter dem Titel Forgotten Prophet: The Life of Randolph Bourne veröffentlichte.
Da sich die Mär von der Friedensbringerin USA nach wie vor peinlich gut hält, will ich mir noch einen knappen historischen Abriß, damit auch ein paar Wiederholungen aus meinem Yankee-Aufsatz gestatten. In Wahrheit war die USA von Gründung an (um 1780) eine rücksichtslos ausbeuterisch und eroberungswillig gestimmte Nation. Das bekamen die Briten und Franzosen, dann vor allem die IndianerInnen und die schwarzen Sklaven zu spüren. 1845 stand das US-Militär bereits vor Mexiko; es ging um Texas, das von den Vereinigten Staaten einkassiert worden war. Im Ergebnis schoben diese ihr Territorium bis zur Pazifikküste vor. Befördert von »innerer Festigung«, wozu es (um 1860) eines blutigen Bürgerkrieges bedurfte, streckten sie dann ihre Finger auch gen Alaska, über den Pazifik und in die Karibik aus (Hawai, Kuba). Spanisch-Amerikanischer (1898) und Philippinisch-Amerikanischer Krieg (Sieg 1902) brachten der USA eine Vormachtstellung in der Karibik und geradezu ein deftiges Kolonialreich im Pazifik ein. Hunderttausende an Leichen, dazu an Vertriebenen und Gedemütigten pflasterten ihren Weg. Die einzige Rücksichtnahme, die sie für geboten hielt, war die Zurhilfenahme höflicher Kriegsvorwände (Februar 1898 Explosion der USS Maine vor Havanna) und abgrundtiefer Scheinheiligkeit. Laut Brockhaus (Band 23 von 1994, S. 176–79) verkündete die sogenannte »Monroedoktrin« von 1823 »die Überzeugung von der 'offenbaren Bestimmung' der USA, ihr freiheitlich-demokratisches System über den ganzen nördlichen Kontinent auszudehnen«, und um 1900 strebte sie bereits »einen Platz unter den Weltmächten« an. Gott wollte es so. Aber es war keine himmlisch-irdische Vetternwirtschaft, keine Begünstigung des Lieblingskindes Gottes; es geschah der Ausbreitung der Demokratie zuliebe. 1902 marschierte die USA in Venezuela ein, 1904 riß sie sich die Kanalzone in Panama unter den Nagel. »Zahlreiche Interventionen in Lateinamerika« folgten.
Im Lichte dieser Linie, Agitprop-Muster eingeschlossen, muß man auch den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg sehen, vor dem nicht nur Bourne warnte. Dieser Schritt konnte 1917 erst nach Überwindung großer Widerstände in der eigenen Bevölkerung erfolgen. Präsident Woodrow Wilson gab ihn selbstverständlich als »Kreuzzug für die Demokratie« aus. Seine PR-Leute stellten das kaiserliche Deutschland gerade so als preußisches Untier hin, wie man später – und bekanntlich bis zur Stunde – den roten russischen Bären an die Wand malte. Aber selbst Brockhaus räumt ein, daß dahinter nicht nur »missionarisches Denken mit universalem Anspruch« stand. Vielmehr sei es auch um enorme Rüstungslieferungen an die Alliierten und die Absicherung der dafür von der USA gewährten Kredite sowie um die Einsicht gegangen, ohne Kriegsteilnahme käme die USA bei einer günstigen Gestaltung der weltweiten »Friedens-ordnung«, also beim Wettlauf der imperialistischen Mächte, entschieden zu kurz. Damit kam auch noch die Gesundung diverser US-Konzerne an der Ausrüstung der eigenen, in Übersee kämpfenden Truppen hinzu. Das ganze Moralin-Gesäusel der gewinnsüchtigen und machthungrigen KriegstreiberInnen kann man getrost in die Schuhwichsdosen ihrer Soldaten stecken, immer und überall. Ich erinnere nur an den Überfall auf Jugoslawien von 1999 und an die angebliche, mit riesigen Dollar-Beträgen geschmierte Revolution von 2014 in Kiew.
Selbstverständlich lief es im Zweiten Weltkrieg grundsätzlich ganz genauso. Wie Albert Norden**** darlegt und auch belegt, halfen die USA bereits in der Weimarer Zeit nach Kräften, das mißratene und bös gestolperte Deutschland wieder aufzurüsten – vor allem gegen jenen roten russischen Bären, der ein riesiges Reich bewohnte. Die Yankees sahen in den postmodernen Germanen stets den vorzüglichsten Rammbock gegen Moskau. Neuerdings tut ihnen eben die grüne Frau Baerbock den Gefallen, sie in dieser Auffassung restlos zu bestätigen. Damals waren angelsächsische Konzerne genauso an der Mästung Francos wie an der Mästung Hitlers beteiligt. Selbst in den berüchtigten faschistisch geprägten Frankfurter Firmen IG Farben und Metall AG hatten sie beträchtlichen finanziellen und personellen Einfluß. Hitlers Raubzug gen Wien, Prag und Warschau ließen sie (heimlich) gern geschehen, diente es doch der Umklammerung und Erwürgung jenes verhaßten Bären. Erst als die Faschisten im Osten versagten und im Westen nicht weichen wollten, ging es ihnen selber ans Fell. Im Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie. Somit sind kriegsgeile Völker und Weiber immer ein doppelt gutes Geschäft. Man päppelt sie zunächst emsig für den Krieg auf, um ihnen dann, im Interesse des Friedens, umso wirkungsvoller in den Arm fallen zu können. Die Angelsachsen triumphieren über die faschistische Schweineherde! Ein fetter Happen und ein gewaltiger PR-Erfolg. Und die eisernen Antikommunisten Adenauer und Schumacher gabs noch als Nachtisch dazu.
Behaupten einige kritische Köpfe, der Dritte Weltkrieg laufe bereits, könnten sie sogar richtig liegen. Vielleicht zieht er sich diesmal länger als der Zweite hin. Schließlich geht es um nichts Geringeres als die überall – und überall anders – beschworene »Neue Weltordnung«. Am 9. November erschreckte mich die Junge Welt mit der Meldung, US-Admiral Charles A. Richard habe vor Militärs und Rüstungsindustriellen gemeint, die Gefechte in der Ukraine seien lediglich »ein Aufwärmen« für den unvermeidlichen Schlag gegen Konkurrent China. Dem widersprach Thierry Meyssan nicht unbedingt, wenn er am 22. November (auf VoltaireNet) zu meiner Überraschung versicherte, in einigen Monaten sei Präsident und Großmaul Selenskij weg vom Kiewer Fenster, weil ihn die USA gerade fallen ließen. Wahrscheinlich fänden bereits heimliche Gespräche zwischen Washington und Moskau statt. Man müsse dies vor dem Hintergrund der nordamerikanischen Ahnung sehen, dem Weltpolizisten Nr. 1 drohten inzwischen überall die Felle wegzu-schwimmen. Dazu paßt ein Artikel, der vier Tage später, am 26. November, auf den NachDenkSeiten zu lesen war. Danach haben zwei hohe US-Militärs, nämlich der oberste Militärberater des Weißen Hauses, General Mark Milley, und der ehemalige Pentagon-Berater Colonel Doug Macgregor öffentlich vor der maßlosen Selbstüber-schätzung der USA gewarnt. Weder seien die Staaten in der Lage, die Russen zu besiegen, noch stellten sie länger die stärkste Militärmacht auf Erden dar. In dieser Hinsicht belögen sich die Yankees seit mindestens 20 Jahren selbst. Führend darin seien übrigens Zivilisten, also Politiker-Innen und Wirtschaftsbosse, und nicht etwa Offiziere. Die beiden raten zum Eingeständnis der eigenen Schwäche – und entsprechend zu Verhandlungslösungen.
Allerdings dürfte es ein Einfaltspinsel sein, der nun glaubt, die angeschlagenen Yankees zögen die Uniform des Welt-polizisten zähneknirschend freiwillig aus. Ihre Kapital- und Machtinteressen werden ihnen eher Amokläufe diktieren. Die einzige Hoffnung sind Widersprüche im eigenen Lager, aber auch die kosten stets eine Menge Blut. Meine Lieblingsvorstellung geht auf eine Neuauflage des nordamerikanischen Bürgerkriegs, bei der sich die Yankees gegenseitig restlos selber auslöschen. Die dünn gesäten dortigen antikapitalistisch gestimmten Bürger-Innen hätten vorher nach Mexiko oder Uruguay auszu-wandern. Nur ringe ich noch mit mir, was man dann mit Baerbock macht. Bourne hätte jedenfalls darauf gewettet, sie würde in diesem betrüblichen Fall sofort eine Nach-züchtung der Yankees einleiten, zunächst in Ramstein, dann im Kosovo vielleicht.
* Jeff Riggenbach, »The Brilliance of Randolph Bourne«, 27. Mai 2011: https://mises.org/library/brilliance-randolph-bourne
** John Simkin für Spartacus Educational, 1997/2020: https://spartacus-educational.com/USAbourne.htm
*** https://monadnock.net/bourne/friendship.html
**** So werden Kriege gemacht!, erweiterte, 4. Auflage Ostberlin 1968
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