Sonntag, 4. Dezember 2022
Nasen Aden—Bontjes

Adenauer, Emma (1880–1916), Lehrerin, Tochter des Kölner Versicherungsdirektors Emmanuel Weyer und Nichte Max Wallrafs, von dem ihr zukünftiger Gatte 1917 das Amt des Kölner Oberbürgermeisters erben sollte. Sie hatte den nahezu mittellosen Jura-Assessor Konrad Adenauer 1901 im Tennisclub Pudelnaß kennengelernt. Sie schenkte ihm ihr Herz und damit auch gleich die Eintrittskarte zu ihren gesellschaftlichen Kreisen. Man sollte meinen, als Frau Adenauer (seit 1904) hätte sie locker zwei von deutschem Boden ausgehende Weltkriege überstehen und Frau Bundeskanzler werden können. Doch seit der Geburt ihres ersten Kindes war sie nierenkrank, und nach zwei weiteren Kindern wurde ihr (1916) mit 36 Jahren eine Pilzvergiftung zum Verhängnis, an der sie starb. So stieg Konrad kurz darauf ohne sie zum Oberbürgermeister auf. Offenbar hatte er zufällig nicht mitgespeist, oder er war bereits so resistent gegen giftige Pilze wie nach 1945 gegen die Faschisten, mit denen er sich in seinem Mitarbeiterstab umgab. Adenauer wurde 91 – noch älter als Hindenburg, und fast dreimal so alt wie seine erste Gattin.

An mir hätte Direktor Emmanuel Weyer keine Freude gehabt. Von den gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtversicherungen einmal abgesehen, besitze ich von Jugend an nicht eine Versicherung. Ich denke, ich habe viel Geld gespart. Als mich einmal ein Vermieter wegen meiner fehlenden Haftpflichtversicherung mit der Aussicht konfrontierte, meine Waschmaschine liefe aus und überschwemmte die Wohnung unter mir, versicherte ich ihm, ich ließe die laufende Waschmaschine nie aus den Augen. Zudem sei ich ja Handwerker. Zum Glück bohrte er nicht nach. Einem Bewerber, der noch nicht einmal eine Waschmaschine besitzt, hätte er wohl kaum die adrette Wohnung anvertraut. Ich wusch meine Kleider damals »in einem Aufwasch« mit, wenn ich selber duschte. Während des Duschens in der Wanne »eingeweicht«, hatte ich sie anschließend nur noch mit kaltem Wasser durchzuspülen und auszuwringen.

Die Waschmaschine schleudert uns auch schon den Unfug der Versicherungen ins Gesicht. In der Puppenfabrik-kommune laufen in der ebenerdigen Waschküche zwei Maschinen – sollten sie einmal auslaufen, dann unmittelbar in die Kanalisation. Versicherungen zeigen untrüglich soziales Defizit an. Statt Solidarität wird das Einzelkämpfertum gefördert. Jeder brütet in seiner Wohnzelle aus, wie er sich noch geschickter, üppiger, betrügerischer absichern kann, um im Existenz- und Konkurrenzkampf die Nase vorn zu haben. Mag auch »das Risiko gestreut« werden – Verantwortung und Lösungs-suche werden gerade nicht sozialisiert. 10 Lastschriften von Allianz, Gothaer, Aspirina – und ich bin unwider-ruflich ans System gekettet. Die Versicherung bewahrt den Kapitalismus vorm Einsturz.

Sie normiert uns zudem. Verblüffende Lösungen werden rar, weil sich nie Not in Tugend verwandeln läßt. Mein Bekannter Lutz hatte das Häuschen seiner verstorbenen Tante bezogen. Als das Hochwasser nach einem Unwetter bis ins Eisfach seines Kühlschranks stand, kam er auf die Idee, sich für rund 1.000 Mark einen noch fahrtüchtigen Bauwagen zuzulegen. Er baute ihn aus und verkaufte das Häuschen. Über Pfützen lacht er. Mal wohnt er am Meer, mal in den Bergen. Im Fränkischen machte er einmal einen Brauereiinhaber auf eine halb ausgehängte Lukentür aufmerksam, die jederzeit auf den Bürgersteig oder in einen Kinderwagen fallen konnte. »Dagegen sind wir versichert!« beruhigte ihn der Mann. Seitdem weiß Lutz, was Zynismus ist.



Aicher, Pia (1954–75), Abiturientin. Das prominente Ehepaar Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher (der Bildende Künstler) hatte fünf Kinder. Die Familie bewohnte bei Memmingen im Allgäu eine ehemalige Mühle. Tochter Pia wurde lediglich 20.

Kurz nach ihrem schriftlichen Abitur sitzt die junge Frau neben ihrem Vater in dessen BMW; sie wollen, von der Rotis-Mühle aus, nach Ulm, wie mir ein Familienmitglied (2015) auf Anfrage mitteilt. Dann sei ein vor Otl Aicher fahrender Lastwagen ziemlich unvermittelt links abgebogen; Otl rast hinein. Pia, wohl unangeschnallt, sei mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geknallt. Sie starb einige Tage darauf im Krankenhaus. Dort war auch ihr Vater gelandet, doch wurde er offensichtlich wieder hergestellt. Mein Gewährsmann sagt, er habe Aicher dort erstmals im Leben weinen gesehen. In einem Buch von Otl Aichers Schwiegertochter Christine* findet sich die Ergänzung, er habe im Krankenhausbett »wie ein verprügelter Gladiator« gewirkt (S. 124), möglicherweise aus schlechtem Gewissen. Mehrere Zeitzeugen erwähnen, der untersetzte, bäuerisch-wurzelig wirkende Künstler, der seit Jahren wiederholt von Herzanfällen heimgesucht wurde (102), sei leidenschaftlicher Auto- und Motorradfahrer gewesen; er raste gern, »wie ein Verrückter« (124). Seine Frau Inge habe jedoch, wegen Pia, nie einen Vorwurf gegen Otl gerichtet (155). Dessen Biografin Eva Moser** schildert den Unfall mit Pia überhaupt nicht, falls ich es nicht übersehen habe. Sie erwähnt lediglich, Vater und Tochter hätten sich auf dem Weg zu Pias mündlichem Abitur befunden. Dann setzt sie hinzu: »Schuld im juristischen Sinne war Aicher sicher nicht, aber er war ein wilder Autofahrer, hatte viele Unfälle gehabt, zeitweise drohte ihm sogar der Führerschein-entzug, und von Sicherheitsgurten hielt er nichts.« Er sei lange Zeit nur eingeschränkt arbeitsfähig gewesen; das Lenkrad habe ihn vor Schwererem bewahrt.

Und was für eine junge Frau war diese Pia Aicher nun gewesen? Funkstille im ganzen Internet. Vielleicht fände man in der Literatur über die berühmten Eltern noch ein paar Striche zu einem Porträt; ich fürchte jedoch, nach vielen ähnlich gelagerten Fällen, eher nicht.

Der gelernte Bildhauer Otl Aicher (1922–91), auch Grafiker, 1953 Mitgründer der Ulmer Hochschule für Gestaltung, überdies Herr der Rotis-Mühle, fuhr also auch gern Motorrad. Ironischer- und makabererweise kam er aber nicht durch sein eigenes Motorrad um. Wenn mich die Landkarten nicht täuschen, wird das ausgedehnte Mühlengrundstück von einer Kreisstraße durchschnitten. Am 26. August 1991, inzwischen 69, saß Aicher auf seinem kleinen, wenn auch »lärmenden« Rasenmähtraktor, ist bei Moser zu lesen. Beim Zurücksetzen auf jene Straße habe Aicher ein sich näherndes Motorrad »überhört«, das deshalb auf ihn prallte. Dessen Fahrer sei »fast nichts« geschehen. Aicher dagegen kommt mit schweren Hirnverletzungen ins Günzburger Krankenhaus, wo er am 1. September stirbt. Die in Ulm erscheinende Schwäbische Zeitung hat schon den Nachruf bereit, streift aber den Unfall nur noch kurz.*** Auch nach dieser Quelle stieß Aicher »rückwärts« auf die in der Regel verkehrsarme Straße, als ihn das Motorrad erwischte. Somit hatte dessen Fahrer zufällig Glück im Unglück, wie man wohl sagen darf.

* Christine Abele-Aicher (Hrsg.): Sammelband über Inge Aicher-Scholl Die sanfte Gewalt, Ulm 2012
** Otl Aicher: Gestalter, Ostfildern 2011, S. 380 & 403
*** Gisela Lindner im Kultur-Teil, 2. September 1991




Atria, Rita (1974–92), Sizilianerin. Täuscht mich der Eindruck nicht, den mir Petra Reskis mutiges und überdies ausgezeichnet geschriebenes Buch* über sie vermittelt, scheinen die Leute auf Sizilien eine erschreckende, wenn auch gleichsam natürliche Neigung zu Roheit, Gefühls-kälte, gnadenlosem Clandenken und hollywoodreifer Heuchelei zu besitzen. Vielleicht erklärt sich diese Verfassung zumindest teilweise aus der Unerbittlichkeit des ausgedörrten Landstrichs, dem sie ihr Auskommen und ihr Glück abzuringen haben. Da liegt es womöglich nahe, dem erfolgreicheren Nachbarn die Kehlen seiner drei Dutzend Schafe durchzuschneiden, den Fiat eines »singenden« Abtrünnigen mit Maschinengewehrfeuer zu durchsieben, die Verweigerung von »Schutzgeld«-Zahlung mit ein paar Messerstichen zu quittieren, den erlebnishungrigen Jugendlichen in den öden Kleinstädten Haschisch oder Heroin anzudrehen. Zum häuslichen Altar heimgekehrt, dankt man dann der Jungfrau Maria für ihr gnädiges Geleit.

Rita, bis zu einer Abmagerungskur, die sie sich in Rom verordnen wird, ein etwas »pummeliges« untersetztes Mädchen, wuchs im westlichen Winkel der Insel in Partanna auf. Das Städtchen war von zwei mehr oder weniger miteinander verfeindeten Mafia-Clanen geprägt. Ritas Familie zählte durchaus dazu. Als die Händel jedoch dazu führten, daß zunächst Ritas Vater Vito, dann, 1991, ihr wohl 27 Jahre alter Bruder Nicola stummgemacht wurden, entschloß sich die Jugendliche, wie schon ihre nun verwitwete Schwägerin Piera, bei den Behörden »auszupacken«. Sie hatte beide Männer, Vater und Bruder, heiß geliebt. Von seiten ihrer Mutter dagegen hatte sie unter der erwähnten Gefühlskälte und schlicht unter Tyrannei gelitten. Diese verschiedenartigen Verluste hielt sie einfach nicht mehr aus.

Durch ihre Erzählungen von den heimischen Mafia-Machenschaften den Staatsanwälten in den nahen Küstenstädten Marsala oder Palermo gegenüber war Rita natürlich plötzlich selber höchst gefährdet, zumal dies schon bald zu Verhaftungen führte. Selbst der Junge, mit dem sie »geht«, zeigt ihr jäh die kalte Schulter. Man nahm sie deshalb ins »Zeugenschutzprogramm« auf, bewachte sie und hielt es zum Jahresende 1991 sogar für angebracht, sie heimlich aus Sizilien fortzuschaffen. Sie durfte nach Rom zu ihrer Schwägerin und deren Töchterchen ziehen, denen man dort bereits eine Wohnung unter falschem Namen besorgt hatte. Ihre Schulausbildung im Hotelfach durfte sie per Fernunterricht fortsetzen. Zum Glück verstand sie sich mit Piera gut. Auch der Großstadttrubel gefiel Rita. Die Frauen bekamen sogar staatlichen Unterhalt. Allerdings mußten sie ständig auf der Hut sein und in den nächsten Monaten wiederholt umziehen, aus Sicherheitsgründen. Dazu litten sie selbstverständlich unter der für sie neuen Entwurzelung. Wurden sie alle paar Wochen zu weiteren Aussagen vor den sizilianischen Staatsanwälten geflogen, geschah es unter strenger Geheimhaltung und Bewachung. Hin und wieder geleitete man Rita sogar zu ihrem Elternhaus in Partanna, aber diese Begegnungen mit der Mutter waren eher eine Qual. In den verblendeten Augen der Mutter war sie zur Verräterin geworden. So verblüfft es wenig, wenn die matronenhafte Frau Atria vier Monate nach Ritas Beerdigung auf den Friedhof von Partanna marschiert, einen Hammer aus ihrer Handtasche zieht und in »rasender Wut«, wie Reski behauptet (S.19 & 234), das auf Ritas Grabstein eingelassene Foto zertrümmert, das ihre nie geliebte Tochter zeigt. Diese Tat bringt Giovanna Atria später durch das Urteil einer örtlichen Amtsrichterin zwei Monate und 20 Tage auf Bewährung ein – was ja immerhin beweist, daß Partannas Justiz nicht mehr völlig in der Hand der Mafia war.

Engster Betreuer und zugleich Freund der beiden jungen Frauen war in jenen Monaten vor Ritas Tod ein »hohes Tier«, nämlich Richter und Oberstaatsanwalt Paolo Borsellino, der zwischen Sizilien und Rom hin- und herpendelte. Er und Giovanni Falcone waren damals die prominentesten »Mafia-Jäger«, die in Italien jedes Kind kannte. Bei vielen staatlichen Stellen machten sie sich durch ihren unbestechlichen Eifer eher unbeliebt. Borsellino war ein stattlicher grauhaariger Mann mit einer »rauchigen« Stimme, um die ihn mancher Mafioso beneidet hätte. Er zeigte insbesondere für die »kleine« Rita mit dem kastanienbraunen Haarschopf viel Verständnis, machte ihr Mut, ging auf ihre Wünsche ein. Er hatte selber zwei Töchter, außerdem einen Sohn. Er war im Herbst 52 Jahre alt geworden – und zum Entsetzen vieler Menschen schaffte er das nächste Lebensjahr nicht mehr. Zu allem Unglück war sein Mitstreiter Falcone bereits Ende Mai 1992 Opfer eines Anschlages geworden. Und nun, am 19. Juli, flog in Palermo auch Borsellinos Auto, trotz höchster Vorsichtsmaßnahmen, in die Luft. Anscheinend war der Arm der Mafia länger als der italienische Stiefel, sodaß er bis in etliche staatliche Behörden reichte. Neben dem Richter starben fünf Mitglieder seiner Begleitmannschaft.

Nun kommt wieder einmal einiges zusammen. Makabererweise hatte Rita gerade eben ihren Wunsch durchgesetzt, in Rom eine eigene Wohnung zu bekommen. Fünf Tage nach Borsellinos Ermordung hilft ihr Piera beim Umzug in die Via Amelia (S. 192). Zwar hat Rita kürzlich einen »Märchenprinzen« kennengelernt, Gabriele, doch der junge Mann muß gegenwärtig eine Wehrübung in Albanien ableisten. Bei aller Verliebtheit: durch den Mord ist Rita in übelster Verfassung. Das geht auch aus ihren Tagebüchern hervor, die Reski wiederholt zitiert. Gleichwohl schlägt Rita den Vorschlag aus, ihre Schwägerin und die kleine Vita Maria per Flugzeug zu einem Besuch bei Pieras Eltern in Sizilien zu begleiten, der vielleicht Ablenkung, Linderung gewährt. Rita läßt sich auch nicht umstimmen. Ihre neue Wohnung liegt im siebten Stock. Zwei Tage später – eine Woche nach Borsellinos Ende – stürzt sich Rita aus einem Fenster gleichfalls in den Tod.

Die ErmittlerInnen schließen jede »Fremdeinwirkung« aus (201). Sie hat sich umgebracht. »Jeder macht sich Vorwürfe«, schreibt Reski. Aber der krasse Schritt kam letztlich überraschend, weil Rita teils als lebenslustig, neugierig, frech, teils als abgebrüht galt. Sie sei keine normale 17jährige gewesen, meinte Piera zu Reski. »Sie verhielt sich wie eine reife Frau, wie eine 40jährige.« (227) Aber im Grunde habe sie sich wohl allein gefühlt. Der Tod von Borsellino dürfte ihr dann den Rest gegeben haben. An eine Zimmerwand ihrer neuen Wohnung hatte sie groß, mit Bleistift, geschrieben: »Ich liebe dich, verlaß mich nicht, aber ohne dich kann mein Herz nicht leben.« (200) Das kann sie ja kaum auf den Wehrpflichtigen in Albanien bezogen haben.

Die Mafia ist ein Männerbund, nichts für Weiber. Die Männer beherrschen alles. Das Sizilien des vergangenen Jahrhunderts steht und fällt mit der Männlichkeit. Piera versichert, Rita und ihr »großer« Bruder Nicola, auch schon ein richtiger Mafioso, seien »wie Verliebte« gewesen. Ihren Vater Vito verehrte sie kritiklos. Mütterliche Geborgenheit erlebte sie nie. Aber Nicola und Vito waren verschwunden. Dann kam Borsellino. Er wird nun ihr Vertrauter. Ja, mehr noch, schreibt Reski: »Er füllt die Lücke in Ritas Leben. Er ist ihr Held ..(..).. Ein Übervater aus einer anderen, besseren Welt …« (162) Aber immerhin, durch Ritas Verzweiflungstat kam unter den Frauen Siziliens und des Festlands einiges in Bewegung. Für sie ist Rita jetzt die Heldin.

* Rita Atria – eine Frau gegen die Mafia, Hamburg 1994



Bachmeier, Anna († 1980). Das sieben Jahre alte Lübecker Mädchen wurde mutmaßlich vom Metzger Klaus Grabowski erwürgt, einem vorbestraften »Sexualstraf-täter«. Ein Jahr darauf, 1981 mit 35, wird Grabowski von Annas Mutter Marianne, einer knapp 31jährigen Wirtin, im Gerichtssaal zu Lübeck mit einer von ihr eingeschmug-gelten Pistole erschossen. Man verurteilt die hübsche, zierliche Frau zu sechs Jahren Gefängnis. Später, nun 46 Jahre alt, erliegt sie einer Krebserkrankung. Wie manche Quellen betonen, war Marianne Bachmeier schon durch ihren autoritären Vater, frühe Geburten und eine Vergewaltigung geschädigt. Ihr fröhliches Töchterchen war beim Schuleschwänzen entführt worden. Ob es in der stundenlangen Gefangenschaft mißbraucht wurde, blieb ungeklärt. Grabowski soll den Mord sogar gestanden haben. Er brachte eine angebliche Erpressung durch Anna ins Spiel, was die Mutter, als Abwälzung der Schuld, besonders empört haben soll. Ob Bachmeier dann mit Vorbedacht im Keller ihrer Kneipe schießen übte, ist umstritten. Fest scheint zu stehen, daß sie ihren Aufsehen erregenden »Akt von Selbstjustiz« mit Hilfe »unerlaubten Waffenbesitzes« nie bereute* und damals sogar in einem beträchtlichen Teil der sogenannten Öffentlichkeit Billigung oder jedenfalls Sympathie fand. So dürfte der medienwirksame Fall von zwei beliebten, nicht unbedingt gegensätzlichen Ideologien gezehrt haben. Auf der einen Seite muß »Selbstjustiz« unnachsichtig unterbunden und also verdammt werden; auf der anderen darf eine deutsche Mutter wie eine Löwin für ihr Kind beziehungsweise dessen Ehre kämpfen. Aber bitte nicht für irgendein hergelaufenes Negerlein. Oder gar noch gleich für 10.

* Irene Altenmüller, »Annas Tod und die Rache der Marianne Bachmeier«, NDR.de, Stand 6. März 2021: https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Marianne-Bachmeier-Selbstjustiz-einer-Mutter,mariannebachmeier101.html



Balcke, Ernst (1887–1912), Berliner Student, Freund des später hochgelobten Lyrikers Georg Heym (1887–1912). Beide Genannten starben mit 24 Jahren. Auch die Berliner Lufttemperatur des 16. Januar 1912 dürfte für beide ungefähr gleich gewesen sein, knapp 14 Grad Minus. Im Wasser war es vermutlich nicht nennenswert wärmer. Die beiden waren zur Havel gefahren, Schlittschuhlaufen. Balcke stand damals im Begriff, sein Studium der Romanistik und Anglistik an der Berliner Universität abzuschließen. Busenfreund Heym, unzufrieden mit seinem ihm aufgezwungenen Dasein als angehender Jurist, liebäugelte mit der Offizierslaufbahn. Ein Jahr zuvor hatte Heym bei Rowohlt einen Gedichtband veröffentlicht. Wenige Jahre später wurde er von allen »Experten« unter die Gipfel der deutschsprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts eingereiht. Allerdings hatte sich damals auch der junge Balcke schon als »Dichter« versucht. Und bei dem Ausflug stürzte er gegen 14 Uhr nicht weniger tief als sein Freund. Bei Schwanenwerder hatte sich in der Strommitte plötzlich eine Öffnung vor einem von ihnen aufgetan, die man für die Wasservögel ins Eis gehackt hatte. Offenbar konnte der betreffende Läufer diesem Loch nicht mehr ausweichen, stolperte, fiel hinein. Der andere versuchte ihm vielleicht zu helfen – und kam dabei ebenfalls um. Beide Freunde wurden Tage später tot aus der Havel gefischt.

Von Augenzeugen ist in den Quellen, die das Internet bietet, nie die Rede. Gleichwohl wissen die meisten von diesen Quellen genau: Balcke war zuerst verunglückt, nämlich mit dem Kopf auf den Rand des Eislochs geschlagen, während Heym erst ertrank, als er den Freund herauszuziehen trachtete. Es macht sich einfach zu gut. Wer wollte noch an einem Gipfel der Lyrik vorübergehen, den eine versuchte Lebensrettung krönt? Wobei nicht selten auch Details beweiskräftig sind. So versichern einige Quellen, Heyms Mütze, eine gelbe oder blaue vielleicht, habe sich unmittelbar neben dem Eislochrand gefunden! Und nicht etwa Balckes rote oder bunt geringelte Mütze. Nur die Mütze von Heym behielt Oberwasser und Beweiskraft. Was freilich die jungen Männer angeht, wühlte sie jener »Todeskampf der Farben«, von dem Balcke in seinem Gedicht Sturm geschrieben hatte, beide nicht mehr auf.

Laut Spiegel 23/1960* war sich die Berliner Zeitung anderntags noch nicht einmal über den genauen Unfallort sicher. Man vermutete ihn lediglich in dem Eisloch Höhe Schwanenwerder/Kladow, weil es die einzige freie Stelle des zugefrorenen Wannsees gewesen sei. Der Wannsee ist Teil der Havel. Aber möglicherweise führen der Herausgeber der »Hamburger Gesamtausgabe« Karl Ludwig Schneider oder der jüngste Heym-Biograf Gunnar Decker (2011) schlagendere Belege oder Argumente an? Am Ende sogar für eine verblüffende Paarselbstmord- oder Mordtheorie? Somit gebe ich meinen Einspruch nur unter Vorbehalt. Ich werde ja nicht so dumm sein, mich in Heym-Literatur zu vertiefen.

* https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43065884.html



Balogh, Fritz (1920–51), süddeutscher Fußballer. Der torgefährliche »Halblinke« hatte seit Kriegsende beim Oberligisten VfL Neckarau gespielt, einem erfolgreichen Mannheimer Vorortclub. Mit eben diesem Verein am Abend des 14. Januar 1951 auf der Rückreise von einem Auswärtsspiel beim FC Bayern München, fiel (oder sprang) der 30jährige Stürmer aus unbekannten Gründen in der Nähe des Bahnhofs Nersingen (bei Ulm) aus dem fahrenden Zug und war vermutlich auf der Stelle tot. Nach einem Gedenkartikel* von 2011 hatte er einen Schädel-basisbruch erlitten. Man nahm zunächst einen von niemand beobachteten Unfall an, doch niemand weiß Genaues: Baloghs buchstäblicher Fall ist, zumindest für Scheerer, bis heute ungeklärt.

Leider gibt der Artikel des Sportredakteurs keinen Hinweis auf die damalige Gemütsverfassung des 30jährigen. Balogh habe zuletzt mit seinen Kameraden im Speisewagen gesessen und diesen (vielleicht zum Austreten) verlassen. Als sie ihn bald darauf, beim Eintreffen in Ulm, vermißten, setzte die Bahnpolizei eine Suche in Gang und fand nur noch Baloghs Leiche neben den Gleisen, etwa 700 Meter vom Nersinger Bahnhof entfernt. So blieb es bei der bekannten nichtssagenden Formel vom »tragischen Unfall«, über die, soweit ich sehe, auch die Mannheimer Lokalpresse zum Thema Balogh nie hinausgekommen ist.

Keine zwei Monate vor seinem Tod hatte Balogh die Ehre des ersten Länderspiels gehabt. Der kleingewachsene, aber enorm flinke und trickreiche, auch hübsche junge Fußballer, der in Neckerau mit Frau und Tochter lebte, war vor allem in Süddeutschland beliebt und gefeiert. Bundestrainer Sepp Herberger soll große Stücke auf ihn gehalten haben. Von daher kann Balogh kaum abgrundtief enttäuscht gewesen sein. In München hatte es allerdings, an jenem klirrend kalten Januartag, ein 3:5 gesetzt. Angenommen, Balogh hatte in München einen Elfer verschossen. Dann gab es im Speisewagen wahrscheinlich nicht viel zu lächeln.** Wäre das jedoch ein hinreichender Grund sich umzubringen? Diesbezüglich sollte man eher an Krankheit oder Familienunglück denken, ob das Herz oder den Geldbeutel betreffend. Nur schweigen Familien, nach allen Erfahrungen, in solchen Fällen wie ein Grab.

Was die polizeilichen Ermittlungen angeht, erwähnt Scheerer lediglich eine »pathologische Untersuchung«. Anscheinend wies sie den Schädelbruch nach – und sonst nichts? Daneben wüßte man natürlich gern, ob sich die Polizei zum Beispiel auch den Zug vornahm. Standen Fenster oder Türen offen? War eine Türverriegelung defekt? Gab es Zeugen? Selbst ein Mord ist ja nicht völlig ausgeschlossen. Möglicherweise hatte Balogh Feinde oder aber eine zufällige Begegnung im Zug, die zu einem handfesten Streit ausartete. Von alledem ist nirgends etwas zu hören. Sollten die Ermittlungen so schlampig erfolgt sein, wie zu befürchten steht, hätte der damals zuständige Staatsanwalt sicherlich keine Straße verdient.

1949 hatte Balogh, der hauptberufliche Fußballer, gemeinsam mit seiner Frau im Hauptbezirk seines sportlichen Wirkens ein Toto-Lotto-Geschäft eröffnet. Dieser Familienbetrieb kann eigentlich nicht hoch verschuldet gewesen sein, denn er überdauerte bis heute.*** Ende 1982 zog Baloghs Tochter die Hülle vom Straßenschild des soeben gekürten Baloghwegs, wie sich einem Foto aus einem Mannheimer Blatt entnehmen läßt. Dieser Weg stößt in Neckarau rechtwinklig auf den Rhein. Wer sich wegen der erbärmlichen Entwicklung im Profifußball ertränken wollte, brauchte nur in ihn einzubiegen und immer geradeaus zu gehen.

* Wolfgang Scheerer, »Das Rätsel um den Todessturz des Nationalstürmers«, Südwest Presse, 20. Januar 2011
** Porträtfoto bei 11 Freunde: https://11freunde.de/artikel/einer-flog-durch-neckarau/404401
*** Neckarau Almenhof Nachrichten vom 10. Juli 2009, Seite 10




Bamberski, Kalinka (1967–82), mutmaßliches Mordopfer in Lindau am Bodensee. Hier war es, anders als etwas früher (1980/81) im Fall Anna →Bachmeiers, der Vater, der den Tod seines Kindes zu »rächen«, vielleicht auch nur »Gerechtigkeit« suchte. Ob ihn die Schüsse der Mutter Annas im Lübecker Gerichtssaal zu seinem immerhin nicht Tod bringenden Schritt der »Selbstjustiz« anregten, habe ich nicht herausbekommen. Im Gegensatz zu Marianne Bachmeier mußte er allerdings eine Riesengeduld aufbringen.

Die 14jährige Tochter Kalinka des Franzosen André Bamberski, eine hübsche, sportliche, langhaarige Blondine mit blauen Augen, hatte ihre letzten Sommerferien (1982) bei ihrem damals 47 Jahre alten Stiefvater Dieter K., einem Arzt, in Lindau am Bodensee verbracht. Dort starb sie, unter fragwürdigen Umständen von K. behandelt, angeblich in ihrem Bett. Krank war sie nicht gewesen. Bamberski, ihr leiblicher Vater, damals 45, wohnhaft in Toulouse, argwöhnte bald nach der Obduktion sexuellen Mißbrauch und, zwecks dessen Vertuschung, Mord. Auch bei der Obduktion, wahrscheinlich von Arzt K. nicht unbeeinflußt, war offensichtlich nicht alles mit rechten Dingen zugegangen. Dennoch ordnete die deutsche Justiz die Einstellung der Ermittlungen an und schmetterte auch ein Klageerzwingsverfahren von Bamberski ab. Nun war die groteske, wenn auch völlig normale Lage so, daß K. in Frankreich hätte verfolgt und verurteilt werden können, weil Kalinka Französin war. In der Tat kam es, auf Betreiben Bamberskis, zunächst (1985) zu einer zweiten Obduktion (bei der die Entfernung von Kalinkas Geschlechtsteilen aufgedeckt wurde!*), dann sogar zu Anklage und Verurteilung: 15 Jahre Gefängnis und hoher Schadenersatz – allerdings nur in Abwesenheit des Angeklagten, denn Deutschland hatte sich gehütet ihn auszuliefern. Das war 1995, geschlagene 10 Jahre später. Doch nun erkannten die deutschen Behörden auch dieses Urteil insofern nicht an, als sie sich, mit üblicher spitzfindiger Begründung, zu seiner Vollstreckung außerstande erklärten. Dies alles zog sich hin und hin. Warum der zwielichtige Mediziner so beflissen und nachhaltig gedeckt wurde, kann auch Hammer nur mutmaßen.* Als sich K. schließlich (2008/9) mit Plänen zu tragen schien, nach Afrika zu entweichen, und zudem die Verjährung des französischen Urteils gegen ihn drohte, platzte dem inzwischen rund 70jährigen Buchhalter Bamberski der Kragen. Er heuerte Fachleute an, die den mutmaßlichen Mörder seiner Tochter nach Mülhausen im Elsaß entführten und im gefesselten und geknebelten Zustand sozusagen vor die Treppe des dortigen Zollamts warfen.* Prompt wurde K. nach Paris überstellt und erneut angeklagt. Das 2011/12 gesprochene Urteil gegen ihn blieb im wesentlichen das alte: 15 Jahre. Freilich ließ man auch den pensionierten Buchhalter und nebenberuflichen Freischärler Bamberski nicht völlig ungeschoren. Ein Mülhausener Gericht brummte ihm, wegen der Entfüh-rung, im Sommer 2014 ein Jahr mit Bewährung auf.**

Da möchte mancher vielleicht mit einem Schmunzeln zum nächsten Fall übergehen, doch ich will mir zwei Hinweise erlauben. Zum einen: Bei dieser Posse kam ein knapp 15jähriges Mädchen um. Wobei es wahrscheinlich auch noch gequält worden war. Stiefvater und Mediziner K. hatte sich übrigens während der 1990er Jahre noch mit weiteren Vorwürfen auseinander zu setzen, etwa wegen Vergewaltigung einer anderen Minderjährigen, Mißhandlung seiner ersten Ehefrau und jüngster illegaler Berufsausübung.* Er kam freilich auch in diesen Fällen glimpflich davon. Nebenbei ist er soeben, 202o, als 84jähriger aus Krankheitsgründen von der französischen Justiz auf freien Fuß gesetzt worden.

Zum zweiten: in einer wirklich freien Republik hätte sich die Tonnen an Kraft und Volksvermögen verzehrende Posse weitgehend erübrigt. Weder sogenannte Vorschriften und Amtswege noch eine sogenannte Staatsangehörigkeit spielen in dieser Republik, die mir vorschwebt, eine Rolle. Entscheidend sind die allgemeinen moralischen Grundsätze sowie die Betroffenen eines Falls, immer auch durchmischt mit Unbefangenen. Und selbstverständlich werden sie rasch bemerken, dieser Dieter K. hat keine saubere Weste und muß folglich zur Rede gestellt werden. Erhärtet sich der Verdacht bis hin zu dem Konsens aller Beteiligten, er habe eine schändliche Tat vollbracht, wird K. zur Besserung und Wieder-gutmachung aufgefordert. Er zeigt sich allerdings hartnäckig uneinsichtig? Also kommen wir nicht umhin, die Republik vor ihm zu schützen. Ihn nach Frankreich zu jagen, wäre selbstverständlich eine Schweinerei, weil er dort über kurz oder lang das nächste Mädchen in die Falle locken wird. Einsperren verbietet sich aber ebenfalls, weil wir uns diese enormen Kosten der Bewachung und Versorgung gar nicht leisten können. Ergo ..?

Sollten sich ein paar der Beteiligten wohl oder übel zu einer Tötung gezwungen sehen, werden sie diese selbstverständlich so rasch und schmerzlos wie möglich vornehmen. Die Folterer, das sind zum Beispiel jene PolitikerInnen und Bürokraten, die jeden Tag 20 Gesetze über Staatszugehörigkeiten, Amtswege, Behörden-formulare und Strafmaße erlassen. All diese Hürden, die sie aufbauen, verfolgen im wesentlichen nur zwei Zwecke: denen, die an den Hebeln sitzen, das schöne Gefühl der Machtausübung zu ermöglichen; den Kleinen Leuten dagegen das Leben so sauer und schwer wie nur möglich zu machen. Zu diesen Hürden zählt letztlich auch der ganze Apparat demokratischer Rechts- und Gefangenen-fürsorge, wie ich betonen möchte. Vor allem entbindet er den »Staatsbürger« von jeder Eigenverantwortung. Sodann verwandelt er die Hürden, die zu antiken Zeiten immerhin noch zählbar waren, in einen undurchdring-lichen Dschungel, der restlos alles Leben erstickt.

Ich höre den Einwand, die Ächtung der Todesstrafe in vielen postmodernen »Demokratien« sei doch auch der erwiesenen Gefahr des Irrtums und der Unwiderruflichkeit des Todes geschuldet. Aber dieser Einwand ist nur auf den ersten Blick stark. Ich glaube nämlich daran, in einer Freien Republik überschaubaren Ausmaßes wäre die Gefahr des Irrtums viel geringer, weil die Republikaner-Innen erheblich aufgeklärter, sorgsamer und lebensklüger wären als die Bande der Bürokraten und Rechtsverweser-Innen, mit der man es in Molochen wie Deutschland und Frankreich zu tun hat. Ihr gegenüber muß man sicherlich an der Ächtung der Todesstrafe festhalten. Diese Bande ist zu allem fähig. Im übrigen sind die Rechtsauffassungen, die ich hier einzuschieben wage, ohnehin rein spekulativ, weil »Freie Republiken überschaubaren Ausmaßes« nur in den Sternen stehen. Greift ein Untertan des Molochs zur »Selbstjustiz«, hat es weder Methode noch stellt es eine vorbildliche Lösung dar. Es ist seine aus Knechtschaft und Gewissensnot erfolgte persönliche Verzweiflungstat. Hammer beschreibt ziemlich gut, was Bamberski durchzumachen hatte. Nebenbei hätte ihn sein Widerstand auch in finanzieller Hinsicht fast ruiniert.

Gewiß werden zuweilen noch heute PolitikerInnen oder RichterInnen des Molochs dafür gelobt, sie hätten ein Problem erfreulich »unbürokratisch gelöst«. Aber auch das wird sich in wenigen Jahrzehnten erübrigt haben. Es wird dann nämlich keine PolitikerInnen und RichterInnen mehr geben, vielmehr nur noch Roboter – also Computer-programme, die den Drahtziehern des Ganzen hörig sind. Diese Roboter werden dann entscheiden, ob ein Begehren des Staatsbürgers den Vorschriften entspricht oder nicht. Sie lachen vielleicht? 2050 sprechen wir uns wieder.

* Joshua Hammer, »The Kalinka Affair«, The Atavist Magazine, no. 13, März 2012: https://magazine.atavist.com/the-kalinka-affair
** Stefan Brändle im Standard am 18. Juni 2014: https://www.derstandard.at/story/2000002123831/fall-kalinka-vater-in-mulhouse-wegen-selbstjustiz-verurteilt
→ Zum heiklen Thema Recht bietet der Anhang gleich vier Beiträge (A-1–4), darunter zu einem Wälzer des bekannten »linken Rechtsanwalts« Heinrich Hannover




Barta, Max († 1990) und Toni. Wanderkarten von Nordhessen kennen ihr Haus genau – Haus Rübezahl. Es liegt als einziges festes Gebäude auf dem rund 300 Meter hohen Wartberg, der mit einigen schroffen Basaltfelsen vor bürstigem Gehölz gen Fritzlarer Dom schaut. Ihm vorgelagert ist ein stärker bewaldeter Hügel mit dem Gruselnamen Leichenkopf, an dessen Fuß ich Bott zuliebe die »Kommune Emsmühle« angesiedelt habe. Zu ihr unterhält mein Snooker spielender Zeitungszusteller aus Gudensberg gute Beziehungen. Einmal ist er dem Kasseler Landrichter, Jäger und gutbetuchtem Reaktionär Horst Kallenbreuer auf den Fersen. Ihn quartierte ich schweren Herzens im Haus Rübezahl ein. Später, in meiner Erzählung »Schnitzeljagd mit Leichenschmaus«, durfte es, angemessener, das Domizil der Kunstmalerin Ortrun Kramm abgeben.

Das schlichte eingeschossige Haus mit überdachter Terrasse und einem Walmdach, das unterhalb jener Felsen aus hohen wildwachsenden Hecken lugt, war um 1950 von zwei bitterarmen Leuten errichtet worden, die es sich buchstäblich vom Mund abgespart hatten: Toni und Max Barta. Das Ehepaar stammte aus Mähren. Ich lernte es im Gefolge meiner Mutter als Knirps kennen. Max war ein Hüne mit kantigem Schädel. Lachte er wiehernd, galoppierten seine buschigen, blonden Augenbrauen. Trotz seiner blauen Augen und seines Mutes hatte er nichts Herrisches. Im Gegensatz zu ihrem Gatten war Toni Barta ziemlich dick. Sie hatte einen Kropf und Wasser in den Beinen. Schlurfte sie durchs Erdgeschoß ihres unfertigen Hauses – Keller und Dachgeschoß betrat sie nie – nahm sie stets die Möbel, Wände, Türklinken als Geländer. Sie atmete schwer, seufzte und wehklagte viel – aber niemals hätte sie sich mit ihrer hohen singenden Stimme über den lieben Gott beschwert.

Obwohl im Haus Rübezahl ständig Geldnot herrschte, glaube ich nicht, daß sich die Bartas jemals ernsthaft stritten. Vielleicht erhielten sie eine kleine Rente. Jeden überzähligen Groschen steckten sie in ihr bescheidenes Heim, das über Jahrzehnte hinweg einer Baustelle glich. Bis zuletzt fehlten hier Scheuerleisten, dort Kacheln; im Dachgeschoß auch die Zimmertüren. Für elektrischen Strom mußte ein Generator sorgen. Fehlte das Geld für dessen Reparatur, brannte in der Küche eine Petroleumlampe. Überall Unaufgeräumtheit und Armseligkeit. Seine Besorgungen und Aufträge erledigte Max mit Hilfe eines klapprigen Fahrrades, das er sicherlich mehrere tausend Male den Wartberg hinaufschob. Allerdings konnten die Bartas einen gewissen Teil ihrer dürftigen Einkünfte stationär erzielen, nämlich durch einen kleinen Ausschank. Max hielt Limonade, Kekse, auch Flaschenbier bereit; Toni backte Kuchen und kochte Kaffee. Es handelte sich dabei keineswegs um eine richtige Gastwirtschaft. Aus den umliegenden Dörfern kam mal ein Bekannter auf ein Bier vorbei; aus Fritzlar, Warburg, Kassel machten die eingeweihten Wandervögel bei den Bartas Rast.

Tatsächlich steht der Wartberg schon seit Jahrzehnten unter Naturschutz. Zum Beispiel hat er die winzige pinkfarbene Heidenelke, den stolzen Rotmilan und manchen Neuntöter zu bieten. Der Panoramablick über die Herzgegend des Chattengaus kommt hinzu. Die Chatten waren die ersten Hessen. Sie saßen zwischen Gudensberg und Niedenstein. Auf dem Wartberg hätten sie, wenn es nach mir gegangen wäre, die Flagge Vergeßt die Nationen! Nie wieder Krieg! gehißt. Max Barta hätte das Fahnentuch bemalen können. Geboren 1900, hatte er in Wien Maschinenbau und Gebrauchsgrafik studiert. Vor dem Zweiten Weltkrieg soll er zu den führenden mährischen Werbegrafikern gehört haben, wie Wikipedia zu entnehmen ist. Verwundet aus Breslau gerettet, hielt sich Max vor allem als Schildermaler und Schaufenstergestalter über Wasser. Als Künstler versuchte er sich auch. Er schnitzte Bergschrate aus Holz und malte schlesische Tannen oder nordhessische Dorfkirchen in Öl. An der östlichen Giebelwand seines Hauses gravierte er – wie hätte es anders sein können – einen überlebensgroßen Rübezahl in den weißen Verputz. Mit dickem Knotenstock und wehendem rotem Bart stapft der Sagenumwobene zu Tale. Hat er den Fritzlarer Dom angepeilt – oder wird er bereits bei den Anarchisten in der Emsmühle einkehren?

Bei aller unkonventionellen Lebensweise waren die Bartas doch sehr fromm. Von daher erklärt sich auch ihr letzter betrüblicher Schritt, ihre Bleibe, bevor sie (1989/90) starben, nicht meiner Mutter, vielmehr der Katholischen Kirche zu vermachen. Meine Mutter Hannelore hatte davon geträumt, Haus Rübezahl in ein kleines Wohnheim für Geistig Behinderte zu verwandeln. Den Bartas war sie über Jahrzehnte eine Art Tochter gewesen, die half, wo sie konnte, aber auch umgekehrt manchen Trost empfing. Auf ihr Betreiben hatte Max Barta natürlich auch das riesige Schild gemalt, das unser Geschäft am Gudensberger Untermarkt unübersehbar machte. Rot auf Gelb, vielleicht auch umgekehrt, zog sich da Rudolf Reitmeier / Rundfunk & Fernsehen über die Ladenfront. Jedenfalls hat es sich im Lauf meiner Kindheit in ein rotes Tuch verwandelt.

Meine Mutter trennte sich von ihrem Mann, als ich acht oder neun war. Sie kam, mit ihren beiden Söhnen, bei ihren Eltern in Kassel-Bettenhausen unter. Gelegentliche Besuche der Söhne beim Vater erübrigten sich bald, war es doch offensichtlich, daß er sich nicht gerade brennend für sie interessierte.



Bashkirtseff, Marie (1858–84), Hundeliebhaberin, Malerin und Schriftstellerin aus südrussischem Landadel, sucht Linderung in Frankreich, stirbt aber dort, erst 25, an Tuberkulose, von der sie seit Jahren geplagt worden ist. Ihr Tagebuch gilt als »Kultbuch«. Zu den Bewunderern der möglicherweise leicht prunk- und ruhmsüchtigen Dame* zählen vor allem Frauen, aber auch Schriftsteller wie der Londoner Zoologe und MS-Kranke Barbellion. Ich kann ihr literarisches Werk nicht beurteilen, räume aber gerne ein: höre ich »Kultbuch«, sträuben sich mir automatisch die Haare wie einem Dachs, der statt eines Wachtelgeleges einen Sack mit Eierkohlen wittert. Als Malerin gelangen Bashkirtseff wahrscheinlich ein paar Treffer, etwa das in ihrem Todesjahr entstandene Ölgemälde Das Treffen.** Jedenfalls strahlt dieses Werk mehr Poesie aus als beispielsweise →Degenhardts Roman über einen antifaschistischen Kinderclub Zündschnüre. Im übrigen sollte man bei frühverstorbenen Künstlern grundsätzlich auf der Hut sein – eben, weil ihnen die Lebenskürze gern bedeutungssteigernd angerechnet wird. Mögen sie selbst Stümper sein: das in statistischer Hinsicht weggefallene Leben reißt ihr Stümpertum mit in den Abgrund. Für Glanz sorgt dann ihr Ruf – den zu schaffen sie selber leider nicht mehr die Zeit fanden.

* Mausoleum in Paris: https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Bashkirtseff#/media/Datei:Bashkirtseff-grave.jpg
** https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Bashkirtseff#/media/Datei:Bashkirtseff_-_The_Meeting.jpg




Berneri, Marie-Louise (1918–49), italienische Anarchistin, ab 1936 in London, wo sie als Redakteurin für die Zeitschrift War Commentary arbeitet und einige Bücher schreibt. Sie stirbt unerwartet mit 31 an einer Infektion im Wochenbett. Das ist natürlich haarsträubend; erinnert nebenbei an Eileen →O'Shaughnessy. Berneris Vater soll (1937) in Barcelona von Kommunisten erschossen worden sein, wo ja auch Orwell und dessen genannte Gattin mitmischten, erfreulicherweise in den anarchistischen Reihen. Später, in England, war die Tochter angeblich mit Orwell befreundet. Möglicherweise war sie auch Emma Goldman begegnet. Es hätte ihr nicht geschadet, wenn die Bekanntschaften mit solchen Schriftstellern etwas stärker auf sie abgefärbt hätten.

1950 erschien, posthum, Berneris Studie Reise durch Utopia, mit der sie eine recht gründliche Besichtigung von utopischen Gesellschaftsentwürfen aller Epochen vornimmt, von Platons Staat bis zu Huxleys Schöner neuen Welt von 1932. Bei der Abfassung meiner eigenen Utopien (Konräteslust, Mollowina, Pingos) kannte ich Berneris Buch noch nicht; ich glaube jedoch, dadurch sind mir keine wesentlichen Erkenntnisse oder Anregungen entgangen. Der widerwärtige autoritäre Zug der meisten Utopien, die bislang auf uns kamen, war mir sowieso schon klar. Daneben stellt Berneris Werk nicht gerade einen literarischen Hochgenuß dar. Ich denke dabei am wenigsten an die bekannte schlampige Art, in der die deutsche Übersetzung (Renate Orywa) 1982 in einem bekannten Berliner »linken« Verlag zwischen zwei Buchdeckel gebracht worden ist, also an typografische und editorische Gesichtspunkte. Zum Beispiel bricht der Rücken bereits beim Hineinschnuppern; für den Satzspiegel bedarf es einer Lupe und eines Kompasses; die Fußnoten bieten einen Salat, bei dem man nie weiß, ob sie jetzt von Berneri oder dem sogenannten Herausgeber stammen, dessen Name pietätvoll verschwiegen wird. Berneris stilistisches Vermögen ist eher gering. Man glaubt, die übliche Diplomarbeit zu lesen, was mit Berneris akademischer Ausbildung zusammenhängen mag; sie studierte in Paris Psychologie. Aber gerade an der mangelt es. Zurecht weist Berneri auf die Gleichschaltungsfreude vieler Utopisten hin, doch sie selber ist nur anflugweise imstande, jenen »persönlichen Ausdruck« zu entwickeln, den Orwell wiederholt anmahnte. Dieser persönliche Zug allein, nicht zu verwechseln mit einer dadaistischen Masche, macht ein Buch wirklich fesselnd. Aber er ist den wenigsten Schriftstellern gegeben. Berneris Darstellungs-kunst stellt also leider die Regel dar, und so will ich nicht länger auf sie einhacken.

Ernest Callenbachs Werk Ökotopia von 1975 (auf deutsch im Rotbuch Verlag erschienen) konnte naturgemäß von Berneri noch nicht berücksichtigt werden. Ich dagegen kannte es durchaus, als ich 2009 Konräteslust in Angriff nahm. Mit diesem Vorhaben – eine zeitgenössische anarchistische Zwergrepublik in Romanform vorzustellen – trug ich mich seit mehreren Jahren und sammelte entsprechend Material. Diszipliniert, wie ich bin, quälte ich mich also auch durch Callenbachs schmalen angeblichen Roman hindurch. Der Berkeley-Lektor und Dozent für Filmfragen siedelte seine im Jahr 1999 spielende Handlung im Westen der USA an. Zwar legt der abtrünnige Freistaat Ökotopia mit der Hauptstadt San Francisco Wert auf Dezentralisierung, doch scheint er eine ziemlich gewöhnliche Regierung zu haben. Die Präsidentin an der Spitze gibt die starke Frau. Einmal zeigt sie sich gar bereit, gewisse außenpolitische Maßnahmen »zu verheimlichen« – nicht unpassend, denn Ökotopia wird ein ausgezeichnet arbeitender Geheimdienst nachgesagt. Das hätte einer anarchistischen Zwergrepublik gerade noch gefehlt.

Auch Recht und Geld spielen bei Callenbach die übliche Rolle. Der Freistaat garantiert ein geringes Grundein-kommen, doch fast alle ÖkotopianerInnen sind offenbar darauf erpicht, es durch Lohnarbeit beträchtlich aufzustocken. Recht befremdlich die ritualisierten Kriegsspiele unter Lebens- oder Arbeitsgemeinschaften, die für Aggressionsabfuhr sorgen sollen. Sie fordern durchschnittlich 50 Tote im Jahr. Gegen äußere Feinde hat Ökotopia Streitkräfte; es sieht oder sah sich ja vor allem von Washington bedroht. Einen guten Eindruck habe ich von den selbstorganisierten und lebensnahen Schulen gewonnen. Interessant auch noch die genormten Wohnröhren (mit ovalem Querschnitt, aber waagrechtem Fußboden), die beliebig kombiniert werden können. Hauptsiedlungsform sind Kleinstädte um 10.000 EinwohnerInnen. Für mein Empfinden schon viel zu groß.

Der Erzähler, ein US-Reporter und -Sonderbotschafter, ist mir unsympathisch; zu eitel. Er läßt sich bekehren und bleibt in Ökotopia. Aber vor allem ist das Buch schlecht geschrieben. Es hat wenig Anschaulichkeit und gar keine Atmosphäre. Entsprechend unglaubwürdig und konstruiert wirkt dieses Ökotopia. Als Lektor hätte ich Callenbach zu einem Posten als Wohnröhren-Prüfer beim TÜV geraten.

→ Zu Utopien siehe auch A-5 Iberien



Birnbaum, Carl (1803–65). Kaum war die Eisenbahn erfunden, wurde sie auch von Lebensmüden als Beförderungsmittel entdeckt. In Tolstois berühmtem Roman Anna Karenina, geschrieben um 1875, wirft sich sogar die Titelheldin vor einen Zug. Damit war sie so bequem und fortschrittlich wie möglich im Jenseits gelandet. Ihre NachahmerInnen sind bis zur Stunde Legion. Statistisch betrachtet, können Sie sicher sein, daß sich an dem Tag, an dem Sie diese Zeilen lesen, wieder ein bis zwei MitbürgerInnen auf die Schienen geworfen haben, denn allein Deutschland verzeichnet jährlich rund 700 (erfolgreiche) Selbstmorde dieser Art. 2008 und 2009 hatten sogar zwei ganz prominente Mitbürger keine Bedenken, dem Personal und den Fahrgästen des erwählten Zuges mindestens Traumata, höchstens den Mittod zuzumuten. Der 74jährige Industrielle und Spekulant Adolf Merckle warf sich in Blaubeuren (bei Ulm), der 32jährige Fußballtorhüter Robert →Enke nahe Hannover vor einen Zug. Die Trauer war riesig, der Tadel verschwindend gering. Eine Autobahn wäre vielleicht eine gleichwertige Alternative zum Bahndamm gewesen – Irrtum! Schließlich kann der Lebensmüde am Bahndamm oder in einem U-Bahnhof auf einen Schlag viel mehr MitbürgerInnen in Mitleidenschaft ziehen. Zeitungen oder Blogs, die an der Zurechnungsfähigkeit der betreffenden SelbstmörderInnen zweifeln, kann man wirklich mit der Lupe suchen, wie ich aufgrund meiner ausgedehnten Nachforschungen zu Frühverstorbenen versichern möchte. Insofern stellen die unkritischen Journalisten, Angehörigen und Fans noch das größte Ärgernis dar. Schließlich neigt der Lebensmüde selber gleichsam von Natur aus zu extremen, unverantwortlichen Handlungen, wie man vielleicht sagen darf.

Ich teile nun eine schillernde Geschichte aus dem Jahr 1865 mit, die ich einem erstaunlich gediegen ausgestatteten Werk des Stuttgarter Theatergeschichtlers Adolf Palm verdanke.* Im betreffenden Abschnitt geht es um das Ende des Schauspielers Carl Birnbaum, geboren 1803. Der hatte vornehmlich, zuletzt in Kassel und Stuttgart, in komischen Rollen geglänzt. Aber er war vom Pech verfolgt. Zunächst ließ sich seine 1837 geborene Tochter Auguste, selbstverständlich ebenfalls Bühnenkünstlerin, auf den ältesten Sohn des Kasseler Kurfürsten ein. Der Sprößling hieß Friedrich Wilhelm, wohl schon damals Prinz oder Fürst von Hanau. Er versprach seiner Angebeteten das Blaue vom Himmel und machte sie schon einmal zur »Gräfin« – nur hatte er kaum noch einen Taler in der Tasche, weil sein Alter wegen der unstandesgemäßen, in England geschlossenen Ehe die Geldzufuhr gesperrt hatte. Vater Birnbaum, ohne Zweifel geschmeichelt, half zunächst aus der Klemme. Er steckte den Frischvermählten Summen zu, die ihn um ein Haar ruiniert hätten, wie uns Palm versichert. Aber nach wenigen Ehejahren war die Adelsspuk zuende: der Prinz kroch beim Alten in Kassel zu Kreuze, die »Gräfin« durfte sehen, wo sie blieb. Natürlich schlich sie nach Hause, zu Vater Birnbaum in Stuttgart also. Dort kam sie »gebrochen, zerschlagen an Körper und Seele« an, offensichtlich sterbenskrank. Als ihr Vater sie in Cannstatt begraben mußte, war sie noch keine 25 Jahre alt. Das war im Sommer 1862. Doch Gram und Schmach machten auch vor dem Vater nicht halt. Noch im selben Jahr starb Birnbaums eigene Gattin Maria. Vom Intendanten der Stuttgarter Hofbühne Ferdinand von Gall fühlte sich der Komiker zunehmend geschnitten und gekränkt. Er biß die Zähne zusammen. Dann kam es zur Stuttgarter Erstaufführung der Karlsschüler von Heinrich Laube. Das war Anfang 1865. Birnbaum war erst kürzlich 61 geworden. Für diese Produktion hatte man ihm die Rolle des schwäbischen Serganten Bleistift zugeteilt, »jener armen gehudelten Unterthanenseele, in welcher er ein Stück seines eigenen Duldens, seines eigenen verpfuschten Daseins ausgeprägt fand«. Entsprechend sorgfältig habe sich Birnbaum mit der Rolle vertraut gemacht. Ihren Glanzpunkt hat sie in Bleistifts Erzählung aus seinem traurigen Vorleben, plaziert im zweiten Akt. Über diesen Akt kam die Erstaufführung des 10. Februars nicht hinaus.

Birnbaum hatte seine Erzählung durchaus eindrucksvoll über die Bühne gebracht; »stürmischer Beifall«. Er ließ sich bereits auf der Hinterbühne erschöpft auf irgendeiner Kiste nieder. Plötzlich vernahm der Inspizient Birnbaums Aufschrei. Er sprang hinzu und fing den Taumelnden in seinen Armen auf. Dann lag der blauberockte »Sergant Bleistift«, jäh vom »Schlagfluß« getroffen, auch schon als geschminkte Leiche lang auf den Brettern, die ihm die Welt bedeutet hatten, während auf der Vorderbühne die Tabak rauchenden und Punsch trinkenden Karlsschüler lärmten. Palm zufolge wurde der zweite Akt noch zu Ende gespielt, das Stück im ganzen jedoch nicht. Birnbaums Mitspieler Grunert, »Herzog Karl«, setzte das Publikum ins Bild und schickte es nach Hause.

Keine Panik bitte, die Pointe kommt noch. Dafür sorgte das Gericht, als es die Papiere des Verstorben durchsah. Es zog einen Zettel hervor, den Birnbaum erst kürzlich handschriftlich bekritzelt hatte: »Morgen, am Tage nach der ersten Aufführung der Karlsschüler wird man meinen hoffentlich rasch und tödtlich zerrissenen Leichnam auf den Eisenbahnschienen zwischen Feuerbach und Kornwestheim finden. Ich bitte um freundliches Angedenken und um ein stilles, einfaches Grab an der Seite meines geliebten Kindes. Es bedarf keiner Inschrift.« Für Palm ist damit klar, Birnbaum hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen, als er sich in der Garderobe zum Serganten Bleistift schminkte. Nur habe ihm »ein letzter Strahl von Schicksalsgunst« das Los erspart, »im fröstelnden Grauen eines Februarmorgens auf dem harten Lager der Eisenbahnschienen« zu liegen. Das verhinderte Grauen verschiedener Bediensteter und Fahrgäste der Eisenbahn dagegen liegt jenseits des Palmschen Horizonts.

* Briefe aus der Bretterwelt, Stuttgart 1881 (Verlag Adolf Bonz und Comp.), S. 182–87



Birreg, Manfred (1941–80), Künstler und Pechvogel in Westberlin. Ich versicherte bereits andernorts, ich hätte mir nie eingebildet, zu den Hoffnungsträgern im Reich der Musik zu zählen. Wenn ich mich trotzdem an einer Laufbahn als Liedermacher versuchte, ist die Kreuzberger Asphaltoper schuld. Das war eine von Rainer Ganz (später AL-Abgeordneter) geleitete Westberliner Agitproptruppe, die sich um 1976 vor allem des Zündstoffs der Miet- und Sanierungsfrage annahm. Mir half sie entscheidend, den Zusammenbruch meiner (maoistischen) Partei und meiner Ehe zu verwinden; nebenbei durfte ich Gitarre und Tenorbanjo schrubben. Zur Querflöte griff ich erst um 1979 bei der von mir mitgegründeten Musikgruppe Trotz & Träume, die sich sogar zu einer (selbstproduzierten) Langspielplatte aufschwang. Ich glaube, wir ließen 1.000 Stück pressen. Sobald Putin in Berlin eingefallen ist, werden seine KämpferInnen sicherlich noch ein paar Kartons aus irgendeinem Keller ziehen, um mit unseren scharfen Scheiben Frisbee zu spielen.

Die Asphaltoper hatte immerhin einen Trompeter zu bieten. Das war Manfred, ein hübscher, blondgelockter, drahtiger Kerl, der wahrscheinlich deshalb jäh aus unserer Mitte gerissen wurde, weil er auch bildhauerische Neigungen besaß. Mit seiner Mutter aus Ostpreußen geflohen, war Manfred bei Hamburg aufgewachsen. Er habe schon als Junge stets einen Bleistiftstummel in der Hosentasche gehabt, zum zeichnen, heißt es in einer unveröffentlichten Erinnerung der Bremer Journalistin Eva Schindele, die ihn gut kannte. Ein Versuch Seemann zu werden, scheitert an seinem eher zarten, etwas scheuen Naturell. Ab 1964 studiert der gelernte Schaufenster-gestalter und frühe Wehrdienstverweigerer zeitweilig Architektur an der Westberliner Kunstakademie. Später widmet er sich der künstlerischen und politischen Arbeit im Rahmen der antiautoritären Subkultur der »Frontstadt«. Er entwirft Plakate, liefert Karikaturen und bläst für die Kreuzberger Asphaltoper bei der Mieteragitation ins Blech. Er nimmt durch Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft für sich ein. Den Einzug ins Charlottenburger Rathaus (für die Alternative Liste) verpaßt er um wenige Stimmen. Sein Geld verdient er durch Nachtarbeit in Kliniken; dieses Milieu kennt er bereits von seinem Ersatzdienst her. Er ist anspruchslos, beinahe ein Asket. Im »Sanierungsgebiet« Klausener Platz wohnt er an einem schon damals begrünten Hinterhof. Auf den Dielen im Zimmer liegt kein Teppich, aber regelmäßig eine Meditationsmatte. Und dann stehen überall seine »Installationen« herum.

Manfred nahm sich gern ausgedienter alltäglicher Gegenstände an, um sie in Kunstwerke zu verwandeln. Er liebte vor allem Lichtobjekte. Zuletzt arbeitete er, darin früher »Öko«, an einem Pflanzenkrankenhaus. Die Patienten sollten in einer beleuchteten Glasvitrine von Ziegelsteinen erwärmt werden. Dazu benötigte er offenbar das alte elektrische Bügeleisen, das er sich beim Trödler besorgt hatte. Am betreffenden Wochenende im September 1980 wunderten sich Freunde und Nachbarn, daß sich Manfred gar nicht mehr blicken ließ. Am Montag drangen sie in seine Wohnung ein. Der 39jährige lag rücklings auf den Dielen, in der einen Hand das Bügeleisen, in der anderen einen Schraubenzieher – tot. Sie riefen die Polizei.

Schindele meint, ein Mord- oder Selbstmordverdacht sei nie erhoben worden. So dürfte er denn versehentlich einem Stromschlag zum Opfer gefallen sein. Ob er vielleicht leichtsinnig gehandelt hat, kann sie nicht beurteilen.



Bliss, Philip Paul (1838–76), US-Erweckungskompo-nist. Am 29. Dezember 1876 kämpfte sich der Pacific Express von Erie aus durch die verschneiten Bundesstaaten Pennsylvania und Ohio. Aber der Schnee war noch nicht das Schlimmste. Vor dem Städtchen Ashtabula, damals 2.000 EinwohnerInnen, führte eine erst vor rund 10 Jahren errichtete schmiedeeiserne Fachwerkbrücke über die Schlucht des Ashtabula Rivers, Spannweite 47, Höhe im Schnitt 20 Meter. Als der mit rund 150 Personen besetzte Zug sie befuhr, brach sie aufgrund von Konstruktions- und Baufehlern, wie sich später herausstellte, zusammen und riß den Zug mit sich in die Tiefe. Wegen der Öfen in den Waggons ging er sofort in Flammen auf. Die Hitze des Infernos ließ selbst die Eisdecke des Flusses schmelzen; etliche in den Trümmern eingesperrte Insassen ertranken. Andere verbrannten oder brachen sich das Genick.

Im ganzen wurden wahrscheinlich 92 Menschen getötet, über 60 verletzt. Den für Bau und Wartung der Brücke verantwortlichen Chefingenieur der Lake Shore & Michigan Southern Railway, Charles Collins, fand man drei Wochen später mit einer tödlichen Schußwunde am Kopf in seinem Bett auf. Man sprach von Selbstmord aus Gewissensnot. Allerdings wiesen der Tatort und andere Umstände einige offensichtliche Ungereimtheiten auf, die die New York Times noch knapp zwei Jahre später veranlaßten, ein »foul play« zu vermuten, also einen vertuschten Mord.* Vielleicht hatte jemand den Racheengel gespielt oder versucht, Enthüllungen vor dem amtlichen Untersuchungsausschuß zu verhindern. Collins' Vorgänger Amasa Stone, Mitkonstrukteur der Brücke und dann zum Direktor der Eisenbahngesellschaft aufgestiegen, brachte sich 1883, knapp sieben Jahre später um. Beide Männer – juristisch nie belangt – sollen in der Tat stark an Schuldgefühlen und Selbstzweifeln gelitten haben.

Zu den Todesopfern aus dem Zug zählten der 38jährige Komponist und Evangelist Philip Paul Bliss und dessen Frau Lucy Jane, geb. Young, 35. Mister Bliss aus Pennsylvania, ein Sohn der Unterschicht, hatte sich in seiner Jugend ziemlich zeitgleich für Musik und Religion erwärmt. Nun zog er schon seit etlichen Jahren mit methodistischen oder presbyterianischen Erweckungs-predigern im Nordosten umher, schrieb viele fromme Lieder, teils auf eigene Texte. Als sein Waggon über die Brücke ratterte, hatte er vielleicht gerade über so etwas wie »Eine feste Burg ist unser Gott« nachgedacht. Den Gospelsong »Hold the Fort«, von Erzählungen des Majors Daniel Webster Whittle aus dem Bürgerkrieg angeregt, hatte er bereits geschrieben. Oder er beugte sich im Abteil gerade zu einem Kind vor, deutete mit dem Daumen auf seine eigene Brust und erklärte dem Kind unter Kopfnicken: »Jesus Loves Even Me«. So der Titel eines anderen Bliss-Liedes. Dann krachte es.

* NYT, 24. November 1878: https://query.nytimes.com/mem/archive-free/pdf?res=990CEED9153EE63BBC4C51DFB7678383669FDE



Blüher, Peter (1941–74), DDR-Fußballspieler. Ende Mai 1974 schlitzt Heidrun Blüher in Ostberlin-Friedrichshain, Lichtenberger Straße, einen Brief von der Kreisvolkspolizei in Lübben (Spreewald) auf. Sie zieht das Anschreiben sowie eine Telefonrechnung, zwei unausgefüllte Scheckformulare und einen Zahlungsabschnitt der Staatlichen Versicherung über 263 Mark hervor. Gezahlt oder nicht? Wofür? Etwa für den Wagen? Dies alles wird aus meinen Unterlagen nicht klar. So oder so dürfte sich die Witwe aber ziemlich bitter gesagt haben: Die nützt ihm jetzt nichts mehr, die Versicherung … Und dann hat sie vielleicht wieder geweint. Die Papiere hatte man im Wagen ihres 32 Jahre alten Mannes Peter gefunden, nachdem er in oder bei Lübben verunglückt und im dortigen Krankenhaus gestorben war. Er hatte auch seinen Personalausweis bei sich. Nur nicht sie, die Gattin.

Laut Totenschein tat der diplomierte Physiker und ehemalige Berufsfußballer Peter Blüher seinen letzten Atemzug am 18. Mai um 3 Uhr 15 in der Frühe. Vielleicht machte sich vor dem Krankenhausfenster gerade die erste Amsel singbereit. Der dunkelhaarige Pechvogel im Bett hatte unter anderem einen Schädelbruch erlitten. Von seiner stattlichen Torwart-Größe, 1,85, war möglicherweise nicht mehr viel übrig. Blüher, Sohn eines Landwirts und Müllers und einer Kontoristin, hatte seine ersten Meriten als jugendlicher »Balltöter« in seiner Heimatstadt Finsterwalde errungen, Bezirk Cottbus. 1961 wurde der kaum 20jährige vom SC Motor Jena verpflichtet. Ende 1965 schien er es »geschafft« zu haben, rief ihn doch kein Geringerer als der 1. FC Union Berlin, immerhin ein Hauptstadtclub, der 1968 sogar das DDR-Pokal-Finale gewann. Da lief Torwart Blüher freilich schon nicht mehr auf, wie von Dr. Hanns Leske zu erfahren ist. Zwar habe der Zugang aus Jena großen Anteil am ersten Oberligaaufstieg der Union gehabt, doch bereits nach einer Spielzeit habe ihm Rainer Ignaczak »den Rang abgelaufen«. Leske gilt als »Sporthistoriker«. Am Schluß seines großformatigen Prunkbandes über DDR-Fußballtorhüter* (der mich antiquarisch, mit Porto, 22 Euro gekostet hat) sind wir vielleicht von Leskes knapp dreiseitigem Literatur- und Quellenverzeichnis beeindruckt – nachdem wir in seinem Eintrag zu Blüher nicht einen Einzelnachweis entdeckt haben, schon gar nicht zu dessen ortlosem angeblichem »Motorradunfall«.

Im Internet wird wahlweise auch von Blühers Verkehrsunfall gesprochen. Ein Ort, sowohl des Unfalls wie des Sterbens, wird nirgends genannt. Das gilt selbst für das beliebte DDR-Wochenblatt Die neue Fußballwoche. Die Fuwo, wie sie oft nur genannt wird, ist sogar kaltblütig und höhnisch genug, in ihrer schwarz eingerahmten, verdammt kurzen, jedoch mit Porträtfoto illustrierten Todesmeldung** das genaue Datum des Unfalls oder Sterbens zu verschweigen. Dafür erfahren wir, nach Beendigung seiner aktiven Laufbahn habe sich der Diplom-Physiker bei der Union als Übungsleiter im Nachwuchsbereich betätigt. Wo er vielleicht ansonsten erwerbstätig war, erfahren wir nicht. Auch seine familären Verhältnisse werden nirgends angedeutet. Hier könnte die Botschaft lauten: Machen Sie sich keine Sorgen, liebe LeserInnen, er fehlt keinem.

Wie unter Umständen nicht jeder weiß, waren die Fußballhelden des ostdeutschen Sozialismus nur dem Schein nach Amateure. Faktisch wurden sie, zumal in der Oberliga, von staatlichen Betrieben, zuweilen auch Behörden ausgehalten. Ich glaube, die Recken des SED-Vorzeigeclubs Dynamo Berlin wurden unmittelbar von Erich Mielkes MfS, dem »Ministerium für Staats-sicherheit«, bezahlt. Sonderprämien, ob in Gestalt einer Waschmaschine oder einer Wohnung, waren gang und gäbe. Übrigens hatte diese Entwicklung just um 1960 in Jena eingesetzt***, als Blüher zu Motor ging. Ihr verdankte er vermutlich auch sein Auto. Die DDR war eben eine Leistungsgesellschaft, da mußte sie sich auch Unfallwagen leisten. Genauer war sie ein Papagei. Sie äffte als solcher getreulich alles nach, was es auf der einen Seite in Moskau und auf der anderen in Düsseldorf zu erspähen gab, etwa Autos, Rennboote, Fernsehgeräte und nuklear betriebene Armbanduhren. Über diese peinliche Nachäffung des Westens kann man sich gar nicht genug aufregen. Und nun wohne ich auch noch im Osten. Als ich nach meinem Herzug (2003) durch thüringische Städte wie Eisenach oder Mühlhausen ging, kam ich aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Während sich die Linienbusse im Wettstreit mit den modischen »Gelände«-Limousinen durch die engen Gassen zwängten, sah ich hier und dort noch einasphaltierte Straßenbahn-schienen aufblinken. Am liebsten hätte ich mich verzwei-felt hingeworfen und meine Zähne in die stillgelegten Schienen geschlagen. Das haben die ostdeutschen »Sozialisten« in den 1970er Jahren freiwillig, ja mit Begeisterung gemacht!

So manchem DDR-Bürger war es freilich immer noch zu wenig. Deshalb, aus dem Grund der Verlockung nämlich, begingen auch viele Sportler »Republikflucht«. Zwischen 1950 und 1989 soll diese, im ganzen, über 600 Spitzensportlern gelungen sein. Ob sich Blüher ebenfalls zeitweise oder gar zuletzt mit solchen systemfeindlichen Fluchtgedanken trug, kann ich natürlich nicht wissen. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich. In einer schmalen 1979 »abgelegten« Blüher-Akte****, die mir, auf Antrag, die Berliner Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) übermittelte, wird sogar hervorgehoben, der Fußballer habe, in seiner aktiven Zeit, häufig im Ausland, auch im »kapita-listischen«, zu tun gehabt – und dies offensichtlich nicht dazu genutzt, sich abzusetzen. Dann war er bei der Union ausgemustert worden und für den »Leistungssport« sowieso zu alt. Wie sich (für einen autoritär gestimmten Staat) versteht, war Blüher wiederholt vom MfS »überprüft« worden. Anhaltspunkte dafür, es habe Versuche gegeben, ihn fürs Ausspionieren zu werben, kann ich in der Akte nicht entdecken.

Nach verschiedenen Dokumenten, darunter zuletzt die Todesanzeige des Lübbener Krankenhauses, war der Diplom-Physiker bei der »IPH-Berlin« erwerbstätig. Möglicherweise war das bereits seit Jahren sein »Trägerbetrieb«, sein Sponsor also. Hinter dem Kürzel verbirgt sich, falls ich nicht irre, das Institut Prüffeld für elektrische Hochleistungstechnik. Man könnte argwöhnen, Blüher sei vielleicht West-Spion gewesen und nun, im Mai 1974, auf dem Weg in die Schweiz gewesen. Da Lübben ungefähr auf halbem Wege zwischen Berlin und Finsterwalde liegt, glaube ich aber eher, er war zu seinem Heimatstädtchen unterwegs, oder umgekehrt, von diesem aus zurück zur Frau. In der Akte des MfS wird Peter Blüher als intelligenter, umgänglicher, wenn auch eher unpolitischer Mensch beschrieben. Er sei im Privat- und Familienleben aufgegangen. Man zähle ihn »zu den Bürgern unseres Staates, die wenig Schwierigkeiten bereiten«, so jedenfalls im Dezember 1965. Trifft das Urteil zu, hätten wahrscheinlich auch unsere jüngsten Berliner Panikregierungen ihre Freude an ihm gehabt. Nebenbei wäre Blüher im harmlosen Falle nicht nur zu seiner Frau, sondern auch zu zwei Kindern zurückgekehrt. Die werden in der erwähnten Todesanzeige des Krankenhauses angeführt, wenn auch ohne Namen. Heidrun Blüher, geboren 1942, war nur geringfügig jünger als ihr Mann. Die Ehe wurde 1962 geschlossen. Das war recht früh, würde ich sagen. Es war kurz nach Blühers Einstieg bei Motor Jena.

Dies alles – was sich nicht im Internet oder bei Herrn Dr. Leske fand – habe ich in Monaten mühsam zusammen getragen. Aber im Grunde ist es nur ein Klacks. Das Wesentliche fehlt noch immer. Und selbst der Unfallhergang ist eher undurchsichtig, wie ich finde. Das einzige dazu steht im Totenschein. Blüher sei mit einem Pkw von der Straße abgekommen und gegen einen Telefonmasten geprallt. Dadurch u.a. Schädelbruch, wie schon erwähnt. Keine Autopsie angeordnet. Gez. Oberärztin M. Ionascu. Von weiteren Betroffenen ist nicht die Rede. Auch die Möglichkeit, Blüher habe den (in der DDR am Fuß meist einbetonierten) Telefonmasten mit Absicht aufs Korn genommen, wird mit keinem Komma angedeutet. Es war eben ein Unfall. Warum hätte er sich auch umbringen sollen? Wegen der längst zu dicken Luft zu Hause? Wegen der 263 Mark? Wegen der alten Abfuhr bei Union – oder wegen der neuen auswärtigen Geliebten, die sich leider schon wieder sträubte? Alles Unfug.

Gewiß ließe sich die Wahrscheinlichkeit eingrenzen, wenn man wüßte, wer und wie die Person Blüher war. Aber gerade damit liegt es ebenfalls im Argen. »Sporthistoriker« Leske bringt es noch nicht einmal fertig, ein paar fußballerische Eigenarten / Schwächen / Stärken des Torhüters anzuführen. Zu seinem Charakter sagt er null. Ich fürchte, die Mutter des ganzen Werkes über die Magneten ist nicht gerade die Sorgfalt gewesen.

* Magneten für Lederbälle von 2014
** Nr. 22 vom 28. Mai 1974, S. 14
*** Michael Kummer, »Wir hießen eben Amateure«, Neues Deutschland, 2. Oktober 2015: https://www.nd-aktuell.de/artikel/986447.wir-hiessen-eben-amateure.html
**** MfS Allg. P. 3847 / 79, jetzt wohl im Bundesarchiv




Bolotin, Jacob (1888–1924), blinder Arzt. Um 2007 schenkte mir ein Gartennachbar hübsche leuchtend bunte Peperoni. Ich wusch sie in meiner Vogeltränke und dachte über das Pfannengericht nach, das ich mir vielleicht zubereiten könnte. Dabei rieb ich mir wohl unwillkürlich irgendeine Mißempfindung aus einem Augenwinkel, wie man es sicherlich dutzende Male am Tage tut. Aber schon meinte ich, in Flammen zu stehen. Ich knickte zusammen, wälzte mich im Gras und sah meinen Garten nur noch bruchstück- oder nebelhaft. »Wasser! Wasser!« durchfuhr es mich immerhin. Glücklicherweise mied ich die Vogeltränke, tappte stattdessen stöhnend zu meinem 5-Liter-Kanister auf der Hütten-Veranda, der noch halb voll war. Ich goß ihn nach und nach in meine Schüssel und wusch mir in den nächsten Minuten halbwegs das brennende Auge aus. Nach einer Viertelstunde hatte ich den Eindruck, mein Auge sei gerettet.

Seit diesem Denkzettel fällt mir die »Empathie« mit Einäugigen leichter – was es jedoch bedeutet, von Geburt an völlig blind zu sein und nicht schon als Knabe zu sterben, wie Kolja →Herzen, übersteigt nach wie vor mein Vorstellungsvermögen. Jacob Bolotin, Sohn von polnischen Einwanderern in Illinois, USA, erkämpfte sich damals, um 1900, sogar eine medizinische Ausbildung und, als erster nichtsehender US-Bürger überhaupt, die Zulassung als Arzt. Er soll sich große Verdienste erworben haben, schon durch sein Vorbild, ferner durch seine teils verblüffend treffenden Diagnosen, viele Vorträge, auch die Schaffung und Leitung einer ausschließlich aus blinden Knaben bestehenden Pfadfindergruppe.

Sein auffälliges Frühsterben scheinen die meisten Quellen zu übergehen. Selbst Deborah Kendricks Bemerkung dazu in ihrer Besprechung* einer Biografie riecht nach Ausflucht. Der blinde Mediziner habe sich anscheinend buchstäblich totgearbeitet – »maintaining such a rigorous schedule of seeing patients and giving speeches that his body wore out.« Zu Bolotins Liebesleben, falls vorhanden, sagt sie nichts. 5.000 Leute seien zu seiner Beerdigung erschienen. Vielleicht war Bolotin, mit 36, weder an Tuberkulose, Herzfehler, »Überarbeitung«, vielmehr an der Verzweiflung über das ihm verordnete Schicksal gestorben, für das es noch nicht einmal einen Hauch an Rechtfertigung gibt. Vielleicht versagten seine krampf-haften Selbstbeschwichtigungen, nicht seine Organe.

* »The Blind Doctor«, Braille Monitor, Januar 2008: https://www.nfb.org//images/nfb/publications/bm/bm08/bm0801/bm080105.htm



Bontjes van Beek, Cato (1920–43), Keramikerin, Segelfliegerin und Antifaschistin aus Worpswede bei Bremen. Wegen ihrer Aktivitäten im Rahmen der sowjet-freundlichen Organisation Rote Kapelle wurde die 22jäh-rige in Berlin-Plötzensee ermordet. Kopf ab für Plakate kleben, Juden verstecken, »Feindsender« abhören und ähnliches mehr. Nach dem Krieg wurde die Rote Kapelle zum »monströsen KGB-Spionagering« aufgeblasen, wie Katja Gloger 2004 in einem Wochenmagazin anmerkt.* Die Tänzerin und Malerin Olga Bontjes van Beek hatte 12 Jahre lang gegen das Land Niedersachsen zu prozessieren, bis sie eine Rehabilitierung ihrer Tochter Cato erwirkte.

Im Sammelband Recht ist, was den Waffen nützt, herausgegeben von Helmut Kramer und Wolfram Wette 2004, wird eins der äußerst dünngesäten Verfahren gegen die faschistische Wehrmachtsjustiz erwähnt, nämlich gegen Generalrichter Dr. Manfred Roeder, mitverant-wortlich für mindestens 45 Todesurteile (von über 70 Todesurteilen?) gegen WiderstandskämpferInnen der Roten Kapelle, die ich ja eben als »sowjetfreundlich« bezeichnet habe. Das Verfahren wurde 1951 von der Staatsanwaltschaft Lüneburg eingestellt. In der ursprünglichen, nach öffentlichen Protesten etwas abgemilderten Begründung ist zu erfahren, diese Leute seien zu Recht zum Tode verurteilt worden, da Grundlage ihres Wirkens Landesverrat gewesen sei. »Landesverrat hat immer und zu allen Zeiten als das schimpflichste Verbrechen gegolten.« Darauf, was in dem betreffenden Lande geschieht, kommt es also nicht an. Dein Land kann ein Jauchefaß sein; es kann im Laufe von 30 Jahren 15 Vietnamkriege exportieren – solange es dein eigenes ist, darf es niemand ungestraft beschimpfen.

Ich komme noch einmal auf die Widerstandskämpfer-Innen zurück. Gewiß schlug am 20. Juli 1944 im »Führer-hauptquartier« Wolfsschanze ein Bombenanschlag auf Hitler fehl, für den anschließend etliche hohe Amtsträger der zivilen oder militärischen Art mit ihrem Leben zu büßen hatten, darunter so junge Leute wie Major Egbert Hayessen (30) und Oberst Claus Schenk von Stauffenberg (36), die jedes Kind von Briefmarken oder Schulbüchern her kennt und für große Vorbilder hält. Waren sie also nur durch dumme Zufälle in diese führenden und viel Unheil anrichtenden Positionen des »Dritten Reiches« gerutscht, während ihnen an der Wiege doch bereits revolutionäre Lieder gesungen worden waren? Selbstverständlich nicht. Diese Leute, die unverschämterweise seit vielen Jahrzehnten den Widerstand gegen den deutschen Faschismus repräsentieren dürfen, gehörten von Hause aus einem reaktionären Club an, dessen Mitglieder alle Mühe hatten, vor dem Einwickeln der Bombe in Butterbrotpapier und deren Verstauung in einer speckigen Aktentasche ihren Ekel vor dem roten Pöbel, dem Bolschewistengesindel, den Pazifistenschweinen zu unterdrücken, mit denen sie möglicherweise, nach Hitlers Beseitigung, gemeinsame Sache zu machen hatten. Diese Aktentasche stellte lediglich ihre nebenbei dilettantisch angebrachte Notbremse dar. Sie bäumten sich in ihren Clubsesseln in letzter Minute auf, um nicht mit in den Abgrund gerissen zu werden. Näheres dazu hat Engelmann schon 1975 ausgeführt.**

Ähnliches gilt für den christlichen, etwas liberaler gesinnten »Kreisauer Kreis« um den Juristen und Mitarbeiter der Abwehr der deutschen Wehrmacht Helmuth James Graf von Moltke (mit 37 hingerichtet 1945). Dieser Club stand mit den Attentätern in Verbindung. Wenn ihn die Konrad-Adenauer-Stiftung auf ihrer Webseite kühn zur »führenden Gruppe des deutschen Widerstands« gegen den Faschismus erhebt (den sie freilich beschönigend »Nationalsozialismus« nennt)***, sind auf einen Streich »Hunderttausende«, wie Engelmann schätzt, aus Kreisen der Werktätigen und der linken Intelligenz vom Tisch gewischt, die im Sommer 1944 bereits seit mindestens 10 Jahren aufrichtig und mutig Widerstand geleistet hatten. Tausende davon kamen um.****

* »Die Legende von der 'Roten Kapelle'«, stern, 8. Juli 2004: https://www.stern.de/politik/geschichte/widerstandsorganisation-die-legende-von-der-roten-kapelle-526650.html
** Bernt Engelmann: Einig gegen Recht und Freiheit, Göttinger Ausgabe 2001, S. 282 ff. Neuerdings siehe auch Jutta Ditfurths Börries-von-Münchhausen-Biografie: Der Baron, die Juden und die Nazis, Hamburg 2013, bes. S. 299–306.
*** Artikel »Kreisauer Kreis« von Wilhelm E. Winterhager, o. J.: https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/kreisauer-kreis
**** Ähnlich fragwürdig ist meines Erachtens der Rummel, der teils seit vielen Jahren um jung bis sehr jung ermordete Tagebuch-schreiberInnen gemacht wird, voran die allbekannte Deutsche Anne Frank, 15, ferner beispielsweise die Tschechin Věra Kohnová und die Ungarin Éva Heyman, beide 13. Da hat man plötzlich ein Herz für Kinder; im Straßenverkehr und bei Plandemien (Masken, Impfen) aber nicht.

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