Sonntag, 4. Dezember 2022
Nasen Anhang 35—40

A-35 Shot to nothing (2000/2011, → Steenken)

Das Billardspiel Snooker bietet einige Merkwürdigkeiten. So gibt es eine Art Stoß mit Netz. Meistens geht er über eine längere Strecke – die Diagonale eines Snookertisches mißt immerhin rund vier Meter. Beim Shot to nothing kann sich der Spieler eine gewisse Chance ausrechnen, die angepeilte Zielkugel mit Hilfe seines durch Lederkuppe wohlabgefederten, kerzengeraden Billardstockes und des weißen »Spielballs« in einer Tasche zu versenken; für den Fall des Mißerfolges sorgt er jedoch dafür, daß die Weiße in einer (meistens entlegenen) Region des Tisches zur Ruhe kommt, wo der Gegner erst einmal kein Unheil anrichten kann. Denn nach jedem Fehlstoß – dazu zählen auch Fouls – wechselt die Aufnahme: der Gegner ist am Zug.

Aber das Snookerspiel betört seine gläubigen, zuweilen auch süchtigen AnhängerInnen nicht nur durch die taktischen Spielräume, die es gewährt. Kann es doch selbst bei vorhandenem Gegner von vorn bis hinten allein ge-spielt werden! In diesem Fall wechselt eben die erwähnte Aufnahme nie, sieht man einmal von einem kurzen Auftaktgeplänkel ab, in dem keine Kugeln fielen. Nun locht (oder pottet) man Kugel um Kugel und verwandelt den Mitspieler durch die immer eindrucksvoller werdende Serie in einen Zuschauer, der freilich nichts zu lachen hat. Um solche Serien oder Breaks zu schießen, sind zentimetergenaue Ablagen unumgänglich. Die Weiße soll dort zum Stillstand kommen, wo ich sie brauche, um die nächste Rote oder Farbige, je nach dem, in einer Tasche verschwinden zu lassen. In der Regel müssen Rote und Farbige abwechselnd versenkt werden. Versenkte Farbige kommen wieder auf den Tisch, wozu sie feste Lagepunkte haben. Sind alle Roten verbraucht, geht es auch den Farbigen an den Kragen. Der Tisch wird abgeräumt.

Gewisse Spitzenspieler setzen dabei ihren Ehrgeiz nicht nur ins Erreichen der höchstmöglichen Punktzahl von 147; sie wollen dieses Maximum Break auch noch möglichst schnell erzielen. In der Thüringenliga (dritthöchste Ebene des deutschen Amateursnookers) rechnen die Mannschaften mit einer durchschnittlichen Spieldauer pro Frame von 30 Minuten. In Laienkreisen schleppen sich die jeweiligen Kontrahenten oft doppelt so lang über den Teppichboden und das gebügelte, grüne Tischtuch, weil einfach keine nennenswerten Serien zustande kommen. Da ist der Weltrekord für das zügigste vollständige Abräumen eines Snookertisches doch etwas anderes. Der Brite Ronnie O'Sullivan hält ihn mit 5:20 Minuten. In dieser Rekordzeit hat er 1997 in einem Turnier-Frame abwechselnd 15 Rote (15 Punkte) und 15 mal die wertvolle Schwarze (105) und abschließend die sechs Farbigen (27) versenkt – macht nach Adam Riese 147 Punkte.

Soweit ich sehe, gibt es kein anderes Spiel, bei dem dies möglich ist: trotz Vorhandenseins eines Gegners das Spiel ganz allein zu bestreiten. Es sei denn, man nennt das Schreiben ein Spiel. Hierbei sind zwar Legionen von Gegnern vorhanden, doch sie stehen nur im Lexikon.

Mein jüngster Versuch, als Frührentner nicht nur am Schreibtisch hocken zu müssen, erwies sich leider als Schuß in den Ofen. Mit einem Freund hatte ich der »Öffentlichkeit« im Kreis Gotha per Presse, Rundfunk, Aushänge und Mundpropaganda mitgeteilt, nichts sei naheliegender und einfacher, als die Region endlich mit einem hübschen Snookerclub zu bestücken und zu beglücken, am besten in der riesigen Stadt Waltershausen, wo wir zufällig leben. Aber die Öffentlichkeit hustete uns etwas – niemand biß an.

Am Thüringer Wald kann der vernagelte Kulturzustand der hiesigen Bevölkerung nicht liegen, denn Ilmenau, auch nicht gerade eine Weltstadt, schmiegt sich ebenfalls an den nördlichen Rücken dieses bewaldeten Höhenzuges – und es hat einen Snookerclub. Dieser rührige Club verfügt sogar über vier Tische. Ein Snookertisch nimmt ungefähr den Platz eines leergefegten Frisiersalons ein und kostet, jedenfalls fabrikneu, 3.500 bis 5.000 Euro. Schon eine neue Bespannung (mit grünem Tuch) – die möglichst jährlich erfolgen sollte – macht den Club um 500 Euro ärmer. Die vier Tische in Ilmenau sind in gepflegtem Zustand, wie ich kurz vor den diesjährigen Profiwelt-meisterschaften (2011) mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Fingerkuppen ertasten konnte. Allerdings finden die Profiweltmeisterschaften nicht in Ilmenau statt. Ich hatte mich Ende März (per Eisenbahn) zum letzten Spieltag der Saison eingefunden, der die Entscheidung über den jüngsten thüringischen Mannschaftsmeister bringen würde. Wie sich herausstellte, war ich der einzige Zuschauer.

Das flache Vereinsheim liegt etwas unattraktiv im Osten von Ilmenau im Schatten etlicher Plattenbauten. An diesem Sonntag steht ein Pkw mit Erfurter Kennzeichen im Hof: aha – der Gegner! Während in den beiden Bundesligen pro Mannschaft vier Leute antreten, beschränken sich die unteren Ligen auf drei Leute – die sogar in einen Trabi passen. Bei den Mannschaftswett-bewerben spielt jeder gegen jeden. Wie sich bald zeigt, kommen die Recken aus Erfurt und Ilmenau, obwohl sie vorschriftsmäßig geschniegelt sind (kurze Lederhosen oder Baseballkappen sind verboten), selten über zwei oder drei Kugeln in Folge hinaus, sodaß man Sitzfleisch oder nicht zu enge Schuhe benötigt. Natürlich kennen und schätzen sich die Spieler. Beim gemeinsamen Mittagstisch, den die einzige Frau zubereitet hat, die im Vereinsheim zu erblicken ist, tauschen sie Neckereien und Anekdoten aus. Ich nutze die Chance, um mich ebenfalls etwas in Szene zu setzen, habe ich doch zufällig mein schmales Buch mit Kriminalerzählungen aus Thüringen Der Fund im Sofa dabei. Ich lobe es als Highest-Break-Preis aus. Zweieinhalb Stunden später ist es für eine Serie von 38 Punkten an einen Erfurter Spieler gegangen. Den 6:3-Gesamt-Sieg fährt freilich die Heimmannschaft ein. Damit heißt der neue Thüringenmeister (der Saison 2010/11) Ilmenau. Goethe wäre begeistert gewesen – er hielt sich am Kickelhahn (860 Meter) gern zur Sommerfrische auf.

Zum Leidwesen vieler schwarzrotgold gestrickter Fans hat Deutschland, trotz »Wiedervereinigung« und zuneh-mender Kommerzialisierung des Bundesligabetriebes, noch keinen berufsmäßig spielenden Snookerstar hervor-gebracht. Dazu bedürfte es wiederholter Startberechtigung und dauerhafter Behauptung in der sogenannten Maintour. Die Profis schlagen sich nämlich, im Rahmen der Ranglistenturniere, die ihr Verband im jährlichen Turnus ausrichten läßt, gleichsam »international« um die Preis- und Werbegelder. Die meisten Turniere der Maintour finden in Großbritannien und China statt. Ein Snookermekka ist die mittelenglische Stadt Sheffield, Austragungsort des jährlichen Weltmeisterschaftsturniers.

Die im Kreis um höchstens zwei Snookertische angeordneten Ränge des Sheffielder Crucible-Theaters bieten rund 1.000 eingeschworenen Fans Platz, die für ihr Ticket pro Spieltag jeweils 60 bis 175 Pfund (im Finale), also beim derzeitigen Wechselkurs immerhin rund 75 bis 220 Euro auf den Tisch gelegt haben – auf den Tisch des Kassenhäuschens selbstverständlich. Das grüne Tuch der Snookertische wird in jeder Matchpause gebürstet und gebügelt. Schließlich sollen die Kugeln wie an der Schnur gezogen laufen, es sei denn, der Spieler wünscht seinem Stoß einen eleganten Bogen zu verleihen: er gibt dem Spielball Seiteneffet. Wie sich versteht, wird das sakrale »Ereignis« von Fernsehkameras (BBC oder Eurosport) in alle Welt getragen, sogar nach Waltershausen. Allerdings habe ich kein Fernsehen. So pflege ich mich mit ein paar Video-Aufzeichnungen zu begnügen, die mir das Internet bietet. Der zeitliche Rückstand juckt mich nicht die Bohne. Lese ich in einer Biografie über den britischen Schriftsteller D. H. Lawrence, seine Bekannte Dorothy Brett habe es (um 1915) geliebt, in der Kneipe unversehens auf den Snookertisch zu springen, ihren Rock zu lüften und auszurufen: »Nur zu, Jungs, versenkt die Rote!« – lese ich es jetzt. Es erfüllt mir den Augenblick, als wäre ich mit am Zug oder Stoß gewesen.

Der hochklassige Reißer zwischen Ding Junhui und Stuart Bingham aus dem Achtelfinale liegt bereits hinter mir. Der junge Chinese schlug den stämmigen Engländer denkbar knapp mit 13:12. Gleichwohl ist mein Eindruck vom Auftreten der Stars nicht der beste. Gewiß verhalten sie sich in der Regel fair und höflich, aber sie wirken durchweg verbissen und kalt, dies auch dann, wenn sie einmal lächeln. Nette oder solidarische Gesten untereinander sind so gut wie nicht zu beobachten. Jeder denkt nur an den eigenen Sieg – nicht um jeden Preis, aber in diesem Fall um 250.000 Britische Pfund.

Diesen Batzen gibt es allein für den Finalsieg. Gelingt einem Spieler das höchste Break des Turniers, kassiert er um 10.000 Pfund unabhängig von seiner Plazierung. Wie sich versteht, bringen WM-Erfolge, und sei es »nur« das Erreichen des Viertelfinales, noch zahlreiche weitere Rubel ins Rollen, vom sogenannten Weltruhm einmal abgesehen. Der Schotte Higgins, der sich trotz vieler Patzer erneut ins Halbfinale gemogelt hat, bekam neulich eine Sperre wegen eines mutmaßlichen Versuchs zum Wettbetrug – es ficht die Fans nicht an. Schließlich betrügen wir alle gern, wie zumindest Frisöre und SchriftstellerInnen wissen. Man bewundert die Kunst der Pointe, des Safes (Sicherheitsstöße, eingeschlossen Shot to nothing) und der Ausrede, also auch die Kunst, sich bei sogenannten Unregelmäßigkeiten, die vom Bilanzfälschen bis zur Vorbereitung eines Angriffskrieges gehen können, nicht erwischen zu lassen. Higgins war nichts nachzuweisen. Nun steht er im Finale. Während die wichtigsten Begegnungen bei Amateur-Turnieren häufig nur über Best-of-Five oder -Seven gehen, ist das WM-Finale für Best-of-35 ausgeschrieben, was bedeutet, um jene rund 300.000 Euro reicher ist der Spieler, der zuerst über die Hälfte der Gesamtzahl kommt, also 18 Frames für sich entschieden hat. John Higgins gewinnt das Finale (gegen Judd Trump) mit 18:15.

Lasse ich hier in der Regel bei »Spielern« die »Innen« weg, handelt es sich nicht um Betrug. Snooker ist nämlich trotz enorm wachsender Beliebtheit nach wie vor Männerdomäne. Das spiegelt sich leider auch im Wikipedia-Artikel über Snooker wieder (Stand März 2009), der weder Spielerinnen noch das Problem weiblicher Randexistenz im Snookergeschehen kennt. Yvonne Kampmann vom 1. SC Dortmund, amtierende westfälische Landesmeisterin in der Frauensparte, schätzt den Anteil der registrierten Spielerinnen im deutschen Snookergeschehen auf fünf Prozent. Frauen ziehen traditionell dem Gegen- das Miteinander vor, etwa beim Ballspielen oder Tanzen. Die Eleganz des Snookerspiels kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es den Typ des einsamen Killers bevorzugt. Schließlich ist dieses Spiel, wie oben schon festgestellt, geradezu darauf angelegt, den Gegner so wenig wie möglich ins Geschehen eingreifen zu lassen, ja ihn am besten zur völligen Untätigkeit zu verdammen. Man ist versucht, von Onanie oder Sodomie zu sprechen. Der Billardstock – Queue genannt – wird zum unfehlbar rasenden Dolch, mit dem der Champion das auf dem grünen Tuch liegende Schwein schlachtet. Auch im Amateursnooker stoßen Frauen so gut wie nie in Finalrunden oder Bundesligamannschaften vor. Sie sind zwar überall zugelassen, doch in ihrer Not spielen sie meistens separate »Damen«-Turniere, an denen keine männlichen Spieler teilnehmen dürfen.

Wären wir im Tennis, könnten wir ihr Schattendasein mit körperlicher Schwäche erklären, doch beim Snooker sind Arme im Format von Oberschenkeln eher hinderlich. Da Klugheit keine Männerdomäne ist, bleibt zur Erklärung nur der erwähnte Killerinstinkt. Kampmann und ihre Kameradin Christiane Mommert von Astoria Walldorf betonen allerdings zwei andere Gesichtspunkte. Zum einen falle Frauen im allgemeinen bekanntlich räumliche Orientierung schwer – auf dem Billardtisch, wo es um zentimetergenaue »Ablagen« geht, ein echtes Manko. Zum anderen neigen sie dazu, allzu rasch die Flinte ins Korn zu werfen. Das vertreibt sie unweigerlich aus jedem Snookersalon, denn das Spiel ist zu kompliziert, um rasche Erfolgserlebnisse bieten zu können. Mit Liebe ist hier wenig auszurichten – und zu Glaube und Hoffnung haben sich erbittertes Training und eiserne Disziplin zu gesellen. Die entsprechenden Bedingungen werden Frauen oder gar Mädchen im deutschen Snookergeschehen noch zu wenig geboten, beklagen Kampmann und Mommert. Die Britin Reanne Evans, damals 23, legte 2008 Breaks von 82, 109 und (gegen Suzi Opacic) sogar 140 vor.*

Aber vielleicht ist die Erotik des Snookerspiels letztlich doch zu einseitig gepolt. Seine »Männlichkeit« läßt sich ja kaum übersehen. Ein Stab buhlt um die Gunst entzückender Kugeln. Die Lederkuppe küßt die Kugel; der Stock stößt sie ins Loch. Daß sie zumeist rot gefärbt ist, dürfte kaum Zufall sein. Siehe die oben erwähnte Dorothy Brett.


Nachtrag. Täusche ich mich nicht, sieht Steve Davis, sechsmaliger Profi-Weltmeister und inzwischen Star-Kommentator in der Branche, die Sache sehr ähnlich wie ich. Um in die höheren Etagen des Snookergeschehens vorzudringen, ermangele es dem Weibe an einer typisch männlichen Besessenheit und Verbissenheit, die sich noch die stumpfsinnigste »Konzentration« verordne, um auf einem bestimmten, in diesem Fall völlig abwegigen Terrain den Blumentopf zu gewinnen, versichert er 2014 Caroline Rigby von BBC.** Der hagere, einst rothaarige britische Fuchs, Jahrgang 1957, scheut hier selbst das Wort »idiotisch« nicht. Nur das Ziehen verschiedener Parallelen erläßt er sich – sofern es nicht Rigby war. Die oben bereits erwähnte Top-Spielerin Reanne Evans widerspricht Davis nicht, dämpft freilich ab. Typisch weiblich.

* Anfang 2018 erzielt die 18jährige Thailänderin Nutcharat Wongharuthai, genannt Mink, im Training eine sehenswerte 109: https://www.youtube.com/watch?v=9mveBhTAzOM
** https://www.bbc.com/sport/snooker/27253279, 2. Mai 2014: »World Snooker: Steve Davis says women will never match top men«




A-36 Das Offensichtliche (2022, → Toschke)

Zu den übelsten und hartnäckigsten Überzeugungen auf Erden zählt der Mythos, in der Regel siedele sich die Wahrheit auf Seiten der Mehrheit an. Tatsächlich verhält es sich genau umgekehrt. In dieser Überzeugung erfährt man Gottseidank sogar Schützenhilfe von einem prominenten US-Naturforscher, Stephen Jay Gould. In seinem bedeutenden Buch Illusion Fortschritt, deutsche Ausgabe Ffm 1998, merkt er zur Auffassung eines Kollegen eher beiläufig an: »Eine solche Bekräftigung des 'Offensichtlichen' legt das Denken lahm; nur allzuoft stimmt das Nichtoffensichtliche …«

Sie erinnern sich vielleicht: Über viele Jahrhunderte hinweg war es »offensichtlich« Gepflogenheit der Sonne, von Osten nach Westen – und somit um die ganze Erde zu wandern. Sie drehte sich um uns, glaubte die Erdbevölkerung zu mindestens 90 Prozent mit Stolz und Inbrunst. Immerhin stellte das ein Kunststück der Sonne dar, war die Erde doch bekanntlich eine Scheibe. Genau deshalb durften sich Seefahrer nicht zu weit Richtung Horizont vorwagen, sonst fielen sie herunter. Taten sie es doch, steckte sicherlich die Verwünschung einer zahnlosen alten Kräuterfrau dahinter: Hexenwahn.

2001 legte der Arzt Gerd Reuther mit Heilung Nebensache eine empfehlenswerte kritische Medizingeschichte vor. Den durch Jahrhunderte erbarmungslos angewandten Aderlaß nennt er kurzerhand einen »therapeutischen Unfug«. Dieser weithin angebetete Unfug sorgte für gewaltige Schäden, spülte aber auch eine Menge Geld in Ärztetaschen. Ähnliches gilt für die Impfung, die bei uns 1874 mit dem Reichsimpfgesetz sozusagen amtlich wurde. Hinter dem Impfwahn steht bis zur Stunde der preußisch-militaristische Irrglaube, Erreger gehörten ausgerottet. Laut Reuther wurden Impfschäden viele Jahrzehnte lang von der Schulmedizin gar nicht erst in Betracht gezogen. Heute werden sie nur mangelhaft erfaßt und notfalls verharmlost oder vertuscht. Die Haftung wälzen die Pharmariesen eiskalt auf die Politik ab – die sie mit Vergnügen trägt. Die Steuerschafe zahlen ja.

Warum glauben die das alles? Weil es auf Seiten der Mehrheit viel gemütlicher ist als am Rand der Gesellschaft. Wagt ein Kind zu bezweifeln, nach drei Hornissen-Stichen oder einem Häppchen vom lustigen, rotweiß bemützten Fliegenpilz fiele es tot um, hat es sich schon mit seinen eigenen und Millionen anderen Großeltern überworfen. Wagt es ein erwachsener Handwerker, den sogenannten menschengemachten Klimawandel zu bestreiten, ziehen ihm gewisse »linke« Öko-EinpeitscherInnen sogar in der kommunistischen Tageszeitung Junge Welt eins über, so etwa am 18. Februar 2010. Wie abwegig das Gerede von einem Streit unter den Wissenschaftlern über die Bedeutung der Treibhausgase sei, zeige sich bereits an der Tatsache, »daß Fachpublikationen, die den drohenden Klimawandel grundsätzlich in Frage stellen, mit der Lupe zu suchen sind.«

Leider gilt das auch für Fachpublikationen, die den Segen der Privatisierung von Eisenbahnen und Wasserwerken oder gar den ganzen Kapitalismus »grundsätzlich in Frage stellen«. Man kann sie mit der Lupe suchen. Der salonfähige Autor ist daher klug genug, lieber auf die Mehrheit zu setzen, weil er auf diese Weise – als der Stärkere – stets im Recht bleibt. Die AnführerInnen der Mehrheiten wiederum wären schön blöd, wenn sie die Demokratie verböten. Schließlich verschaffen ihnen die Mehrheiten Ansehen und Legitimation. Somit stinkt das Mehrheitsprinzip hinten und vorne nach Macht. In anarchistischen Lebensgemeinschaften werden Entscheidungen nur im Konsens getroffen. Statt sich wie ein Eisbrecher »durchsetzen« zu wollen, möchte man einander verstehen und helfen. Kommt kein Konsens zustande, bleibt es einstweilen beim Status quo. Dieses Verfahren setzt allerdings die Abwesenheit von unüberbrückbaren Interessensgegensätzen, ferner von Dummheit und Bequemlichkeit voraus.

Der französische Gutsbesitzer Michel de Montaigne war eher staatsfromm als anarchistisch gestimmt. Gleichwohl beklagte er in seinem vor gut 400 Jahren veröffentlichten Essay Von den Hinkenden die unselige Sitte, als den »besten Prüfstein der Wahrheit die Menge der Gläubigen« zu erachten – »in einem Gewimmel, in dem die Zahl der Narren die der Weisen um ein so Vielfaches übertrifft.«



A-37 Dörnberg (Um 2007, → Weinheim)

An seinem kalkhaltigen Südhang hätte ich die heimische Orchideenvielfalt studieren können. Doch machte mich Botanik um 1970 noch nicht manisch. Ich warf mich lieber auf Baran/Sweezys Monopolkapital und Karl Marx höchstselbst. Andere wichtige Bestimmungsbücher hatten Adorno/Horkheimer geliefert. Ich verfügte über ein helles Praktikantenzimmer in Hessens linker Hochburg, dem Landesjugendhof auf dem Dörnberg. Zur freien Kost gesellten sich etliche »Referenten«-Honorare, denn das Haus veranstaltete rund ums Jahr Seminare.

Der dominierende Löwe des Dörnbergs hieß Gerhard Büttenbender. Er sprach wie Adorno, sah aber nicht so aus. Um 30, mittelgroß, war sein markanter Schädel von der blonden Mähne gekrönt. Da sein Adornitisch einen mainfränkischen Akzent besaß, ließ sich der kehlige Klang nicht unbedingt seinen 40 täglichen Rothändl-Zigaretten anlasten. Er blies gern durch die Nüstern. Er bewegte sich lässig und lachte häufig wiehernd, was sein Löwenhaupt zum Pferdeschädel machte. Sein Busenfreund war Adolf Winkelmann. Mit diesem aufstrebenden Filmemacher aus dem nahen Kassel teilte Kunstpädagoge Büttenbender fast jede Vorliebe. Man hörte Warhols Velvet Underground und Tiny Tim, fuhr Limousinen von Volvo und heiratete »die Zwillinge«. Man achtete selbstverständlich auf feine Unterschiede. Während Adolf einen silberfarbigen modernen Volvo mit Fünfganggetriebe fuhr, hatte Gerhard eine Antiquität ergattert. Sein olivgrüner Volvo ähnelte den buckligen Gangsterkarossen und hatte hellbraune Ledersitze.

Bei einem Autounfall wurden die Zwillinge schwer verletzt, genasen jedoch. Adolf war die schöne Jutta, Gerhard die schöne Gisela zugefallen. KennerInnen konnten sie stets auseinanderhalten. Sogar ich. Obwohl schon 19, hatte die antiautoritäre Freizügigkeit meine christliche Verklemmtheit nicht zu knacken vermocht. Ein Jammer angesichts des jugendhofeigenen Hallenbads, das sich für nächtliche Orgien geradezu anbot. Einmal besuchte mich Barbara, diese Nymphe aus Bad Oeynhausen, von deren verblüffend prallen Brüsten ich bis heute träume. Ich konnte sie noch nicht einmal in mein Bett bewegen; sie saß nur mit entblößtem Oberkörper auf der Kante. Sie hätte mir die Verklemmtheit bestimmt genommen, weil sie noch verklemmter war.

Immerhin griff die Aufklärung auf einem anderen Gebiet. Barbara hatte unlängst an einem Seminar teilgenommen, das Winkelmann und der Marburger Psychologe Christian Rittelmeyer leiteten. Hier floß lediglich Theaterblut. Es handelte sich um eine nordhessische Variation auf die berühmten Folter-Experimente Stanley Milgrams. Der US-Psychologe hatte in Versuchsreihen nachgewiesen, daß die nettesten Menschen zu Sadisten werden, wenn man sie autoritären Strukturen unterwirft. Sie quälen eine ihnen unbekannte Versuchsperson (mit Elektroschocks) nicht etwa aus »natürlicher« Aggressivität, sondern weil sie sich in dem weltweit beliebten »Befehlsnotstand« wähnen. Adolf Winkelmann bediente sich der Autorität einer Filmproduktion. Die vor der Kamera an einen Stuhl gefesselte Versuchsperson sollte »nur« aus rein wissenschaftlichen oder ästhetischen Gründen geohrfeigt werden. Der betreffende Seminarteilnehmer hatte die Heftigkeit der Ohrfeigen zu steigern. Wie sich zeigte, schlugen einige TeilnehmerInnen auch dann weiter, wenn dem Gefesselten bereits das Blut aus den Mundwinkeln rieselte. Das war das Theaterblut. Unser Mann hatte Farbbeutelchen im Mund gehabt und zur geeigneten Zeit zerbissen.

Im zweiten Teil des Seminars schloß sich an die Enthül-lung der Vorwände eine Erörterung des Experimentes an. Als Mensch, der aus solcher abenteuerlichen Jugend tatsächlich etwas gelernt hat, fühle ich mich zuweilen stark in der Minderheit. Außer einer Handvoll Kommunarden, Sträflingen und vielleicht Jutta Ditfurth sind sie alle umgefallen. Sie sind das ewige Moralisieren über den deutschen Faschismus leid. Sie führen weltweit Krieg, weil unser germanischer »Standort« mal wieder zu eng wird und uns »mehr Verantwortung« diktiert. Sie beteuern, wenn es die Staatsräson erfordere, müsse man auch einen Airbus voller Zivilisten abschießen. Auf dem kahlen Teil des Dörnbergs wird bis heute Segelflug betrieben.



A-38 Schauermärchen und Durchhalteparolen (Sommer 2022, → Weinheim)

Je größer die Fernsehschirme und je schneller die Rechner werden, desto kürzer unser Gedächtnis. Das Schreck-gespenst des Jahres 2009 war die Schweinegrippe. Die WHO hatte diese Grippewelle zur »Pandemie« erklärt. Sie war ungefähr fußknöchelhoch. Gut 10 Jahre später stellten kritische Fachleute wie der Statistiker Gerd Bosbach (NDS 26. März 2020) unmißverständlich fest, die Schweine-grippe sei damals »völlig überschätzt« worden. Tatsächlich sei sie »milder als viele saisonalen Grippen der Vorjahre« verlaufen. Eine Aufarbeitung der Aufbauschung durch Medien und Politik sei leider nie erfolgt. Lieber ließ man Millionen, von Steuergeld bezahlte Impfdosen unauffällig in den Sondermüll wandern. Der später vielverleumdete Arzt und SPD-Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg legte die Einzelheiten dieses über Jahre vorbereiteten Großbetrugs 2015 unter dem Obertitel Falscher Alarm ausführlich dar. Unter anderem hatte die WHO zu dem Trick gegriffen, ihre Kriterien für eine Pandemie abzuschwächen, um eine solche überhaupt ausrufen zu können.

Nach einem noch zu wenig bekannten Gesetz helfen gegen einmal schlagfertig und massiv ausgestreute Lügen keine Dementis mehr. Dieses Gesetz befolgen unsere Politiker-Innen am liebsten. Deshalb ist auch die jüngste angebliche Pandemie schon längst zu einer historischen Tatsache geronnen, die so unumstößlich und selbstverständlich ist wie beispielsweise der angebliche Urknall. Dabei wies Wodarg schon am 2. Mai 2020 (in Rubikon) nach, auch diese Grippewelle des zurückliegenden Winters sei keineswegs aus dem leider üblichen Rahmen gefallen. Er wagte im Gegenteil zu behaupten: »Ohne den von deutschen Wissenschaftlern entworfenen PCR-Test auf SARS-CoV-2-Viren hätten wir von einer Corona-'Epidemie' oder gar 'Pandemie' nichts bemerkt.« Ein Zwischentitel des Artikels nennt den Test »unspezifisch, medizinisch unnütz, aber ängstigend«. Diese Aussagen hätte man vielleicht an die Eingangstüren sämtlicher deutschen Läden und Behörden heften sollen, an denen uns, stattdessen, das Maskentragen und Impfnachweiszücken zugemutet worden ist.

Leider sprechen selbst kritische Publikationen oft von der Pandemie – ohne Gänsefüßchen oder auch den Zusatz sogenannte. Zu allem Unglück kommt meist auch noch ihr Versäumnis hinzu, nicht einen Schritt über die Bannmeile des Aktuellen, die Ideologie des Kleineren Übels, das Feuerwehrspielen hinauszugehen. Sie sind und bleiben Reformisten und Flickschuster. Sie fragen sich tapfer, wie nun »das Schlimmste« zu verhüten sei, ohne das System des Schwerverbrechens auch nur mit einem Komma in Frage zu stellen. So ist die Ausschüttung der nächsten Übel gleichsam garantiert. Mit der Bitte, die schreckliche »Ukraine-Krise« auszubaden, klopft es bereits an des Deutschen Haustür. Sollte die Krise kurzfristig »beigelegt« werden, holt man vielleicht das vor Jahrzehnten in Umlauf gebrachte Gespenst des »Klimawandels« wieder aus der Flasche. Und so weiter und so fort. Um es einmal deutlich zu sagen: Das System des Schwerverbrechens beruht unter anderem auf dem Privat- oder Staatseigentum an Produktionsmitteln, Grundstücken, Mietshäusern, ganzen Wäldern und Landstrichen und den entsprechenden Erbschaften; auf den Seilschaften der professionellen Politik; auf der Existenz einer gutgeschmierten, riesigen, parasitären Bürokratie, Geheimdienste und Massenmedien eingeschlossen. Helle Köpfe wie F. G. Jünger und Lewis Mumford sprachen bereits vor Jahrzehnten vom technischen Kollektiv oder der Megamaschine. Wer nicht darlegen kann, wie dieses Ungeheuer zu stoppen und zu demontieren wäre, sollte unverzüglich analog darauf verzichten, sich großspurig Revolutionär zu nennen.

Aber haben uns denn nicht Leuchttürme wie Karl Marx und Robert Kurz versichert, es bräche, früher oder später, »von selber« zusammen? Ja, das höre ich seit meinen antiautoritären Schülerzeiten. Offenbar ist der Kapitalismus so verschlagen wie zäh. Er wird sich auch weiterhin auf die gleichermaßen groteske wie geniale Weise gegen sein Ende sträuben, die Michael Schneider kürzlich in einem Gespräch mit Milena Rampoldi sehr gut, wie ich finde, umrissen hat.* Der Kapitalismus wird die Massen mit Schauermärchen in Angst vor Schimären halten und dadurch »solidarisch« zusammenschweißen; er wird sowohl die mittelständische Wirtschaft wie eine Menge an überflüssigen Arbeitskräften, Alten, Geimpften ausrotten; dafür wird er die nicht an Impfstoff, Verzweiflung oder Krieg Gestorbenen, also den Rest, einer fast lückenlosen Überwachung und Lenkung aussetzen, die sogar Orwell verblüfft hätte. Nur die Schafsköpfe der Welt wundern sich nicht. Vielleicht sollte man sie alle nach China schicken, das ist noch ausbaufähig. Es hat nach wie vor viele Dörfer, die sich gern zu 20- bis 30-Millionen-Städten aufblasen lassen.

Das neuerliche große Umfallen der »Linken« Anfang 2020, das den rotgrünen Taumel von 1999 (Bomber gen Belgrad) fortsetzte, wird von Michael Schneider, inzwischen fast 80, recht einleuchtend erklärt. Auf jenes grotesk-geniale »Narrativ« der internationalen Geheimdienst-, IT- und Medien-Oligarchie waren sie einfach nicht gefaßt. Dem stand und steht auch ihre, so Schneider, »Staatsgläubigkeit« entgegen. Jetzt tragen sie brav, ja sogar begeistert die neue Russenphobie mit, wegen des Einfalls im seit Jahren von Kiew bekriegten Donbaß, und sind stolz darauf, zu einer überwältigenden Mehrheit, um nicht zu sagen: Querfront von angeblich Friedens-willigen zu zählen, die ihre größten FürsprecherInnen im Weißen Haus und bei Rheinmetall hat. Sich stets instinktsicher auf die Seite der Mehrheiten zu schlagen, bietet den Riesenvorteil, in der Regel zu den Stärkeren, als0 den Siegern zu gehören.

Leider zeigt sich der Berliner Schriftsteller am Schluß seiner Ausführungen mit dem typisch linken Brechtvertrauen gesegnet, das nie auf Durchhalteparolen und Zweckoptimismus verzichten wird. Für mich ist es einfältig, ja sogar schädlich. Der geballten Macht der genannten Oligarchie hat die Opposition nichts entgegen zu setzen – und hätte sie es, nähme sie selber rasch den tyrannischen Zuschnitt an. Die Zeit der geringen Chance auf Ausscheren und alternatives Wirken ist vorbei. Die Nischen werden zugemauert. Unter Umständen dürfen die Insassen sogar vor dem Zumauern drinbleiben. Man bringt dann ein Schild an der Haustürklingel an: »Hier wohnen die Verweigerer der Kommune X«. Das Menschen-feindliche an der postmodernen Welt liegt nicht unerheblich in ihrer erdrückenden, unüberschaubaren und undurchdringlichen, freilich auch wieder anfälligen Mammuthaftigkeit. Solche Systemstrukturen lassen sich nur von völlig skrupellosen und aalglatten Schlaubergern handhaben, wenn überhaupt. Die Sehnsucht der Menschheit galt schon seit Geschichtsbeginn, ja seit der Erhebung zum »aufrechten Gang« mit völlig überfüllter Riesenbirne, der Größe – und an ihr wird sie vermutlich auch verrecken.

In den systemfeindlichen Kreisen wird das Phänomen der Mammutisierung nahezu vollständig ausgeklammert, weil man sich eben den schönen Zweckoptimismus nicht untergraben will. Deshalb zeugt man auch weiterhin mit verbissener Wonne Kinder. Für mein Empfinden sollte man unseren bedauernswerten, vielfach tyrannisierten Kleinen aber endlich das Glück gönnen, gar nicht erst auf die Welt zu kommen. Haben Sie sich einmal überlegt, was das für Zeitgenossen werden: diese 12jährigen, die lieber mit Algorithmen als mit Puppen oder Bauklötzen spielen? Und achten Sie auf der Straße einmal auf die jungen Frauen, die beim Kinderwagenschieben entschieden gebannter auf ihr Smartphone als auf ihr Kleinkind blicken! Dann wissen Sie: der Raum, das Leibliche, die Herzenswärme lösen sich längst in Luft auf. »Digitali-sierung« heißt im Grunde: Freie Bahn der uhrenmäßig und tauschwerthaft aufgefaßten »Zeit«, Sieg der erbarmungs-losen Abstraktion. Deshalb ist für mich die Abdankung der Menschheit angesagt. Dabei wäre mir eine freiwillige entschieden lieber als eine erzwungene. So oder so – der Planet wird aufatmen, wenn wir endlich verschwunden sind. Die Bakterien und Viren brauchen uns nicht. Sie kennen unzählige Alternativen.

* »Die meisten Linken sind …«, Neue Rheinische Zeitung, 12. Januar 2022: https://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27865



A-39 Folgen eines Skiunfalls (Erzählung von 2017, → Weinheim)

Nach dem »tragischen« Unfall ihres Gatten wird die 39jährige Mecklenburgerin Heike Zuberdorf mit Beileidsbekundungen und Tröstungen überhäuft. Sie hatte mit ihm und den Kindern, auf seinen Wunsch hin, in einem »Skiparadies« der Alpen Urlaub gemacht. Bei einer Abfahrt an steilem Hang war seine Bahn ausgerechnet von einem Berliner Bundesminister gekreuzt worden, der ihn so über den Haufen fuhr. Der Minister lag jetzt mit ernsten Schädelverletzungen im Krankenhaus, während Ralf noch im Rettungshubschrauber gestorben war. Ein Teil der Kommentatoren nahm den Minister, der eindeutig fahrlässig gehandelt hatte, mit dem Argument in Schutz, er habe wenigstens einen Helm getragen, Ralf Zuberdorf dagegen nicht. Ja, das war Heike im ersten Augenblick auch seltsam vorgekommen. Aber sie kannte ihn. Wahrscheinlich war die Verlockung zu groß gewesen, seine langen, blonden Locken im Fahrtwind wehen zu lassen und dadurch die Herzen weiblicher Skihaserl aufzuwühlen. Er hatte auch in der Belegschaft des Kreiskrankenhauses, wo er als leitender Anästhesiearzt beschäftigt war, hier Begehrlichkeit, dort Neid erweckt. Nun war er hin.

Dem Pech mit dem Helm stand ein glücklicher Zufall gegenüber, war es doch Ralf an diesem Vorfrühlingstag des Jahres 2009 nicht gelungen, sowohl Heike, vor allem aber die beiden gemeinsamen Kinder mit auf den Berg zu zerren. Ein Söhnchen ihrer sehr netten Pensionswirtin hatte Geburtstag gehabt und Heike damit einen willkommenen Vorwand geboten, sich zu verweigern. Von der schon länger währenden allgemeinen Entfremdung zwischen den Gatten einmal abgesehen, haßte sie gerade das supersportliche Mitläufertum Ralfs. Dabei hatten sie beide noch die DDR erlebt, wenn auch die erklärtermaßen »leistungsorientierte« und dabei krampfhaft motorisierte. Selbstverständlich mußten sie nun im nagelneuen, allradgetriebenen Monsterauto VW-Touareg in die Alpen aufbrechen – es wäre kaum verblüffend gewesen, wenn die ganze Familie schon auf der Autobahn hopsgegangen wäre. Und was den sündhaft kostspieligen Kult um Skiausrüstungen und Tiefschneeschwängerungen anging, hatte er Heike bereits vor der Abreise mit Ekel erfüllt. Ralfs aktive Rolle in der Ex-PDS hatte ihn nicht daran gehindert, diesen Kult zu billigen, ganz im Gegenteil. Diese »Linken« standen auf Volkswagen. Kurz, sie ließ es sich zwar wohlweislich nicht anmerken, war aber im Grunde heilfroh, daß dies alles ein unverhofftes jähes Ende gefunden hatte, Ralf eingeschlossen. Nicht auszudenken, wenn er, wie der Minister, überlebt hätte und nun in einer Klinik im Koma läge, wo sie alle zwei Tage zu erscheinen und tiefste Trauer zu heucheln hätte! Und das vielleicht noch auf Jahre hin. Furchtbar.

Der Minister war übrigens bald wieder auf die Beine gekommen, gleichwohl geflissentlich zurückgetreten. Ein alpenländischer Staatsanwalt sah sich sogar gezwungen, gegen den Minister zu ermitteln und ihn schließlich der Fahrlässigen Tötung anzuklagen. Doch mit rund 33.000 Euro Strafe und 5.000 Euro »Schmerzensgeld« an die Witwe kommt der Politiker ziemlich glimpflich davon. Immerhin bietet er der Witwe und ihren Kindern, auf seinen »guten Ruf« bedacht, sofort eine »weitaus höhere« Entschädigung an. Darüber wird geheim verhandelt. Unterdessen überlegt sich Heike, ob sie dieses »Blutgeld« überhaupt annehmen darf – eben wegen der schon eingangs geschilderten Sachlage. Sie überwindet ihre Skrupel zum einen der Kinder wegen, zum anderen der ihr selber gebotenen Chance zuliebe, endlich ein anderes, ja überhaupt zum ersten Male ein eigenes Leben zu führen. Immerhin stehen ihr nach gut einem Jahr, Ralfs Lebensversicherung eingeschlossen, auf einen Schlag rund 100.000 Euro zur Verfügung. Darüber, wie so ein eigenes Leben nun aussehen könnte, zerbricht sie sich allerdings nicht weniger den Kopf.

Der Minister hatte es sich einfach gemacht. Kaum zurückgetreten, hatte ihn ein Autokonzern als Manager »übernommen«. Heike war Kinderärztin, hatte diesen Beruf freilich nicht lange ausgeübt, weil Ralf darauf gedrungen hatte, sie als Hüterin des Hauses und der beiden Kinder hinter dem schmiedeeisernen Gartenzaun zu wissen. Dieses Haus verkauft sie nun. Damit hat sich ihr Vermögen glatt verdoppelt: 200.000 Euro. Sie war von Anfang an entschlossen, Mecklenburg zu verlassen, und zwei Jahre nach dem Skiunfall nimmt sie den Vorschlag ihrer Schwester Annett an, sich in deren Haus einzukaufen. Es liegt in der thüringischen Kleinstadt Truhn unweit des Marktplatzes auf einer Böschung, die sich nach hinten, zum Friedhof hin, in langgestreckten Gärten fortsetzt. Heike erwägt einerseits, sich in dem Städtchen als Kinderärztin niederzulassen, denn der Bedarf ist da. Andererseits hat sie neuerdings einen ungeheueren Bildungshunger und schmökert sich durch den Vormittag, sobald die Kinder in der Schule sind. Dabei kommt ihr Annetts Posten als Leiterin der Stadtbücherei entgegen. Von einer eigenen ärztlichen Praxis würde sie erfahrungsgemäß aufgefressen werden. Sie überlegt noch hin und her, als sie schon wieder einen Mann trifft, der ihr Leben verändern wird, hoffentlich zum Besseren.

Heike hatte sich bewußt nicht eigens nach neuen Geliebten umgeschaut; sie hatte eher die Nase voll von Männern. Dabei war sie eine durchaus anziehende, auch eindrucks-volle Person. Mit 1,74 nicht gerade klein, an Busen und Hintern wohlgerundet, hatte sie ursprünglich sogar ähnlich prächtige Locken wie Ralf aufgewiesen, nur diesmal kastanienbraun. Sie hatte die Pracht bereits zu seiner Beerdigung radikal stutzen lassen. Die Schwieger-eltern dachten: aus Gram.

Drei Jahre später wurde sie in der Truhner Stadtbücherei nicht durch Locken, sondern zunächst durch den bebilderten Vortrag eines etwas geschwätzigen, kinnbärtigen einheimischen Oberstudienrates aufgewühlt, der sich offensichtlich selber gerne reden hörte. Aber seine Botschaft war immer noch erschütternd. Der Mann hatte Indien und Pakistan bereist und zeigte oder schilderte Bilder unglaublichen Elends und unglaublicher Gegensätze. Er, vielleicht auch Annett, hatten einen ungefähr küchentischgroßen Computerbildschirm aufgestellt, darauf rief er seine Fotos auf. Als Lehrer verstand er es natürlich, sie mit Anekdoten und sogenannten Hintergrundinformationen zu würzen. Die 30 oder 40 Leute im Saal hatten sich unter seiner Führung in 10- bis 2o-Millionen-Molochen wie Lahore und Karachi unzähliger schmutz- und beulenstarrender bettelnder Hände zu erwehren; sie mußten über Heroinabhängige und Obdachlose steigen, die buchstäblich wie die Ölsardinen auf den Bürgersteigen lagen; sie hätten den stinkenden, zähen Smog in den Straßenschluchten locker mit den Schwertern des vorbritischen Adels teilen können; sie wurden in preiswerte »Restaurants« gezwungen, deren Inhaber sich nur deshalb notdürftig über Wasser halten konnten, weil sie ihre vergleichsweise billigen Speisen mit »Second-Hand-Öl« zubereiteten oder servierten, das schon einmal in den teuren Restaurants benutzt worden war. Diese Lokale und die Geschäftspaläste zeigte der Mann natürlich ebenfalls. Er berichtete von einer Korruption in der Elite und deren Bürokratie, gegen die Städte wie Schwerin, ja selbst Düsseldorf Horte der Tugendhaftigkeit waren. Wie sich versteht, ließen sich die Alt- und Neureichen ihre gesunden Tafelwässerchen aus Übersee kommen. In Pakistan stürben jedes Jahr mehr als 200.000 Kinder allein durch verseuchtes Trinkwasser, flocht der Vortragsredner einmal beiläufig ein, und dieser Satz brannte sich unter Heikes nun kurzgelockter Ponyfrisur mit glühendem Eisen ein.

Wie ihr Jonathan später erzählte, saß der Oberstudienrat auch im Truhner Stadtrat – just für die Ex-PDS, der Partei ihres Ex-Gatten. Jonathan Blüth war das andere aufwühlende Ereignis des Abends. Heike hatte sich nach Vortragsende in ihrer Verstörung an den immerhin bartlosen Kahlkopf gewandt, weil er zufällig neben ihr saß und weder nach Gregor Gysi noch nach Springerstiefeln roch. Er war geringfügig kleiner als sie, nicht dick und hatte sie gelegentlich aus recht verschmitzten Augen traurig angesehen. Sie schätzte ihn auf gut 50. Sie erfuhr bald, er sei von Hause aus Tischler und habe zuletzt in einer örtlichen anarchistischen Kommune gelebt. Als beiderseitiger Ärger aneinander zunahm, nutzte Jonathan die Möglichkeit, mit 60 in »Frührente« zu gehen, auch gleich dazu, die Kommune zu verlassen und wieder allein zu wohnen. In Wahrheit war er nämlich Jahrgang 1950 und damit rund 20 Jahre älter als Heike. Aber davon merkte sie in seinem Bett wenig. Er wurde ihr neuer Geliebter.

Wie sie sich nach einiger Zeit nicht scheute, auch Annett oder anderen Bekannten gegenüber festzustellen, wurde er zugleich ihr Lehrer. Nicht etwa in Liebeskünsten, das hatte sie nicht nötig. Nein, es stellte sich heraus, Jonathan Blüth war sowohl gut belesen wie im Selberschreiben beschlagen, und obwohl er nahezu jede herkömmliche Lehr- oder Volksmeinung unerschrocken und oft verblüffend, sofern nicht verärgernd, gegen den Strich zu bürsten pflegte, ließ sich Heike Schritt für Schritt von den meisten seiner Auffassungen überzeugen und nahm schließlich seine Warte, im großen und ganzen betrachtet, selber ein. Das vollzog sich selbstverständlich nicht in Wochen, vielmehr in einigen Jahren, und es brachte manche Gefechte und manche Ernüchterungen für Heike mit sich. So löste einmal ein Tadel Heikes an die Adresse ihrer halbwüchsigen Töchter eine ausgiebige Erörterung über Pädagogik und letztlich über soziale Strukturen überhaupt aus. »Aber ich muß sie doch irgendwie erziehen!« schimpfte Heike jammernd. Prompt entgegnete Jonathan: »Erziehung ist neuzeitlicher Mist«, und im Laufe der mit einiger Lektüre verbundenen Erörterung stellte sich heraus, daß auch die Familie Mist war, leider sogar ein viel älterer. Diese Erörterung beschwor tausend unerfreuliche Bilder aus Heikes Kindheit und natürlich auch aus ihrer Zeit mit Dr. Ralf Zuberdorf herauf, und am Ende sagte sie entsetzt: »Jonathan, ich komme aus der Hölle!«

Jonathan seinerseits war viel zu gefestigt, um sich noch nennenswert ändern zu lassen. Das erwartete Heike auch gar nicht. Für ihn war die Welt eine völlig mißlungene, leidvolle und offensichtlich unheilbare Erfindung von weiß der Teufel wem. Wenn er noch immer darin ausharre, dann nur deshalb, weil er leider nicht wisse, ob es nach dem »Ausstieg« nicht noch schlimmer komme – »und neuerdings natürlich wegen dir!« beeilte er sich mit schmachtendem Blick hinzuzufügen. Es war die Wahrheit. Ihre mit Wissensdurst, Gerechtigkeitsliebe, Mut und Herzenswärme gepaarte Sinnlichkeit machte ihn in der Tat um Jahre jünger und stimmte ihn auch wieder zuversichtlicher. Nebenbei konnte er bald ziemlich sicher sein, mit Heike endlich eine geeignete Nachlaßverwalterin gefunden zu haben, die sich zumindest darum bemühen würde, nach seinem Ableben die Webseite zu betreuen, die er seit Jahren betrieb. Auf ihr stand sein gesamtes literarisches Werk, es war nicht wenig. Von spärlichen Veröffentlichungen in Periodika abgesehen, hatte er nie einen Verlag für seine Schriften erwärmen können. Er nahm an, sie fanden sie viel zu respektlos oder abseitig, obwohl sie durchaus gediegen, ja sogar »brillant« geschrieben waren, wie einige KennerInnen des Faches meinten. Aber diese Leute waren kaum weniger einflußlos als er selber. Auch seine Webseite wurde, soweit er sah, woanders so gut wie nie erwähnt.

Als Heike Einblick in Jonathans materielle Lebensführung erhielt, gereichte es ihr aufgrund ihrer bürgerlichen Vergangenheit und ihres Erbes teils zur Scham, teils zur Wut. Zwar wohnte er mietfrei. Ein Gönner der Kommune hatte Jonathan auf seinem jenseits des Marktes gelegenen Anwesen ein eher schäbiges, schmales Hinterhofhäuschen überlassen. Jonathan hatte den Oberstock wohnlich hergerichtet und nutzte das Erdgeschoß als Werkstatt und Brennholzlager. Er zahlte dem Gönner lediglich eine Pauschale für Strom- und Wasserverbrauch. »Ich stelle dir gerne Quittungen aus«, hatte der Gönner gesagt, »fürs Sozialamt. Auch deine Heizkosten könntest du doch eigentlich geltend machen, wenn du denen schon die Miete ersparst.« Das hatte Jonathan dankend abgelehnt. Er haßte Bürokratie, und es war schon viel, wenn er sich vom Sozialamt die Krankenversicherung erstatten und seine Rente aufstocken ließ, die sich wegen mancher »Ausfallzeiten« auf lächerliche 230 Euro belief. Sie legten 170 drauf, womit er auf den von ihnen errechneten monatlichen »Regelbedarf« von rund 400 Euro kam. Davon lebte er. Heike gegenüber hatte er außerdem argumentiert: »Warum soll ich den Staat mehr schädigen, wenn es unnötig ist? Diese zusätzlichen Anzapfungen steckt er sowieso locker weg, weil er sie dem Kleinen Mann auf der anderen Seite prompt wieder aus der Tasche zieht, denn eine Belastung der von ihm gemästeten Elite kommt selbstverständlich nicht in die Tüte.« So schlug Jonathan unter dankbarer Billigung seines Gönners Stück um Stück eine eingefallene Scheune ab, die am selben Hof lag. Dadurch gewann er Balken, Latten und Bretter, die er vor oder in seiner Werkstatt in Brennholz verwandelte. Er sägte ausschließlich von Hand, abwechselnd links und rechts. Das nervte niemanden und hielt ihn selber fit – argumentierte er Heike gegenüber. Sie kicherte und warf sich gleich an ihn.

Heikes Töchter, inzwischen auf eigenen Wunsch Gymnasiastinnen und zunehmend »auf Achse«, gerieten über viele Monate hinweg in eine gewisse Verlegenheit, sobald sich Freundinnen oder Freunde erkundigten, was eigentlich ihre Mutter so treibe oder demnächst vorhabe. Vom Arztberuf hatte Heike Abstand genommen. Sie spürte, sie würde sich irgendwie öffentlich und anklägerisch betätigen müssen, doch was die Ausführung dieses Planes anging, stolperte sie von Idee zu Idee. Sie verwarf eine jede, weil ja auch in dieser Hinsicht, durch ihre Lektüre und ihre Gespräche mit Jonathan befördert, leider immer mehr ausschied. Ob man nun ein libertäres Kinderheim, eine sogenannte Freie Schule oder einen Buchverlag gründete, eine parteipolitische Laufbahn in Angriff nahm oder das genossenschaftliche Rösten »fair« eingekaufter Kaffeebohnen unterstützte – es war und blieb, wie sie befanden, mindestens vergeblicher, oft sogar schädlicher reformistischer Käse. Denn an dem Goldenen Kalb des Privateigentums, des Marktes und des Staates rüttelten diese Maßnahmen nicht; sie fütterten es eher noch.

Der erlösende Gedanke stellte sich im dritten Jahr ihrer Liebschaft an einem Sommerabend ein. Diese Erlösung würde sich letztlich sowohl für das Paar wie für Heikes Töchter recht makaber gestalten, aber das vorauszusehen, wäre wohl zuviel verlangt gewesen. Richtung Schloßberg schlendernd, streiften sie einen stadtbekannten, schlichten, quadratisch in Sandstein gefaßten Brunnen, der selbst im Winter sprudelte, weil er von Quellbächen aus den nahen bewaldeten Hügeln gespeist wurde. Ein kleines Mädchen hatte sich gerade von seiner Mutter losgemacht und schickte sich mit verdrehtem Köpfchen an, den köstlichen Brunnenstrahl in seinen Hals laufen zu lassen. Doch die Mutter, wohl eine Auswärtige, erspähte noch rechtzeitig das Schild Kein Trinkwasser, das in den Beckenrand eingelassen war. So schimpfte sie, riß ihr Töchterchen zurück und riet ihm für die Zukunft dringend von solchen leichtfertigen Alleingängen ab. Heike blieb entsetzt stehen. Während das Mädchen sichtlich einschrumpfte, vor Schreck und Scham, mischte sich Jonathan ein, indem er auf das Schild tippte und der Mutter versicherte, das brauche sie nicht zu ernst zu nehmen. »Das Wasser ist gut, direkt aus den Bergen, das wird Ihnen jeder zweite Einheimische versichern!« Darauf ging die Frau nur mit einem abfälligen Blick ein, ehe sie sich mit ihrem Töchterchen im Schlepp entfernte.

Heike seufzte schwer, Jonathan strich ihr beruhigend über die Schulter. Sie setzten sich übereck auf den Brunnenrand und ließen ihre Hände durch das kühle Wasser gleiten. »Ja, noch ist es gut«, nickte Heike aufs Wasser, »aber wie lange noch, Jonathan?« Sie mußte wieder an die Kinder in Pakistan denken und sagte das auch. Jonathan nickte und schwieg. Dann sprach Heike von dem eingeschüchterten durstigen Mädchen, von den vielen tausend Verwundungen, die ein jeder aus seiner Kinderstube mit sich schleppe, von den zerfetzten oder selber Granaten werfenden Kindern in Somalia oder Syrien, aber sie sprach auch von ihren wohlbehüteten, bald erwachsenen eigenen Töchtern, die offensichtlich nicht so gut geraten waren, wie das Wasser, das neben ihnen aus dem gebogenen Brunnenrohr plätscherte, wobei es noch nicht das größte Übel sei, daß sie ihrer Mutter erst in dieser Woche wieder das brandneuste und superschickste smartphone aus den Rippen geschmachtet, genörgelt und geschnitten hätten …

Nach einer Weile, in der sie beide schwiegen, erhellte sich Heikes Miene. Sie straffte sich, schlug energisch aufs Wasser und verkündete: »Jonathan, wir müssen endlich Schluß machen!«

Jonathan wischte sich ein paar Brunnenwassertropfen von Stirn- und Kopfhaut, runzelte dieselbe und erkundigte sich: »Du meinst, wir sollten uns trennen? Oder gemeinsam in den Brunnen stürzen ..?«

»Unfug! Wir, das ist die Welt. Die Welt muß endlich damit aufhören, Kinder in die Welt zu setzen. Jeder mitfühlende und verantwortungsbewußte Mensch hat ab sofort darauf zu verzichten, Kinder zu zeugen oder zu gebären, die ja doch nur zu dem Hauptzweck auf die Welt kommen, gequält zu werden und die Qual fortzusetzen, falls sie ihre Kindheit überhaupt überleben. Die ganze Menschheit muß weg. Die Menschheit hat freiwillig abzudanken, weil sie eine Pest für diesen Planeten und noch einige Nachbarplaneten ist. Hast du das nicht selber schon irgendwo so geschrieben? Na also. Die Menschheit hat auszusterben. Die Begründung dafür findet sich unter anderem in deinen Schriften; man müßte sich nur die Mühe machen, sie zu studieren. Aber das können wir natürlich nicht gleich von jedem verlangen, obwohl es auch ein Vergnügen ist, sie zu studieren. Folglich müssen wir zum Auftakt unserer Bewegung und für alle Anfänger-Innen ein vergleichsweise kurzes Manifest verfassen. Du wirst dieses Manifest verfassen, mein lieber Jonathan!«

Sie sprachen noch die halbe Nacht über diese Sache. Jonathan lehnte sie nicht rundweg ab, meldete aber etliche Bedenken an. So sei ja abzusehen, daß sie sich mit einem derartigen »Programm« nicht nur den Hohn, sondern auch den Haß sämtlicher vorhandenen ideologischen Lager auf den Hals ziehen würden. Das meiste davon bekäme natürlich Heike als öffentlich auftretende Initiatorin ab. Nicht nur deshalb werde die »Bewegung«, die ihr vorschwebe, vermutlich eine Sekte mehr unter tausend bereits bekannten Sekten bleiben. Weder »die Intelligenz« noch das sogenannte einfache Volk würde dieses »Programm« begrüßen, ganz im Gegenteil. Denn nichts sei dem Menschen heiliger als der Mensch, dieses Schwein. Wer an der Mission oder auch nur der Daseinsberechtigung des Menschen, daneben auch der Zeugungskraft der Männer zweifle, treffe die Leute im Mark. Entsprechend gereizt würden sie reagieren.

Heike war nicht mehr von ihrer Idee abzubringen. Sie war entschlossen, sich in der Rolle als Gründerin, Generalsekretärin und ersten Vortragsrednerin des BAM in einer neuen Lebensaufgabe zu bewähren. »Na, ganz so neu ist die nun auch wieder nicht«, murmelte Jonathan schon im Halbschlaf. Aber er schrieb das verdammte Manifest.

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Manifest des Bundes für die Abdankung der Menschheit, kurz des BAM

Der Mensch ist eine Mißgeburt. Er sollte es endlich einsehen und freiwillig von diesem Planeten und allen womöglich schon eroberten Nachbarplaneten abdanken. Die Methode dazu ist so schonend wie einfach: er setzt ab sofort keine Kinder mehr in die Welt. Sowohl die ungeborenen Kinder wie die Planeten werden aufatmen und es ihm danken und von seinem freiwilligen Aussterben rühmend bis in die fernsten Galaxien künden.

Der sogenannte Fortschritt hat sich als grausamer Hohn erwiesen. Er hat die Menschheit nicht nur nicht beglückt und befriedet, vielmehr ihre Lage von Jahrhundert zu Jahrhundert verschlimmert. Statt die Kette der Kriege durchzutrennen, wurden die Waffen ausgefeilt. Die angebliche Erhöhung der Bequemlichkeit wird mit ungeheuerlichen ökologischen und gesundheitlichen Schäden erkauft. Der Mensch betet Killermaschinen wie Autos, Flugzeuge und Drohnen an und sorgt durch immer neue »Informationstechnologie« für die Verblödung seiner selbst und vor allem seiner Kinder. Unsere Kleinen sind die größten VerliererInnen des Fortschritts. Wieviele Millionen von ihnen mußten bereits ins Gras beißen, ehe sie laufen oder rechnen konnten? Wer wollte die Wunden zählen, die ihnen sowohl verseuchtes Trinkwasser wie vergiftetes Familienleben schlägt?

Den gleichen Hohn beobachten wir in der sogenannten Emanzipation. Die Verfeinerung der Sitten und des Geschmacks hat zu einer Blüte der Nadelstichtaktiken geführt; hilft aber alles nichts, schlägt man zuguterletzt einander tot wie einst im Neandertal. Die Frauen überbieten sich darin, alle Schandtaten nachzuäffen, die bislang den Männern vorbehalten waren. Der Prozeß der Zivilisierung stellt sich im wesentlichen als Enteignung dar: von den Produktionsmitteln, von der Selbstversorgung, von der Unabhängigkeit. Die bürgerliche Freiheit beläuft sich auf das Recht, unnütze Dinge zu kaufen, solange Geld und Kredit reichen. Gutgeschmierte PolitikerInnen machen die Mästung der Elite und die Verdummung des Volkes unter sich aus. Verkünden sie die Ergebnisse, dürfen wir sie im Fernsehen bewundern.

Wackere ErlöserInnen des Volkes, denen die Mittel für eine theologische Laufbahn fehlten, haben es immer wieder mit Revolutionen versucht. Wir aber beknieen unsere LeserInnen von der sogenannten linken Seite: laßt endlich euren feigen, schlappschwänzigen Zweckoptimismus fahren, stopft eure Durchhalteparolen in die Mülltonne, es wird euch zur Ehre gereichen. Schließlich haben sich jene »Umstürze« ein ums andere Mal als Fehlschläge erwiesen. Mal wechselte das Joch nur die Farbe, mal legten die BefreierInnen noch was drauf. Der Machtinstinkt des Menschen ist stark genug, um ihm nachzugeben, sobald einer oder eine an den Schalthebeln steht. Eigennutz geht über alles, Leichen eingeschlossen. Der Zweck heiligt die Mittel. Die Mühle der privat- oder staatswirtschaftlichen Apparatur zwingt dem Menschen ihre Mahlweisen auf. Wer einmal mitmacht, kommt nie mehr heraus.

Die letzten Hoffnungsschimmer auf Umkehr werden von der unaufhaltsamen Mammutisierung der Welt zertreten. Wesentliche Schübe erfuhr sie durch den Imperialismus und die postmoderne »Globalisierung«, zu der man das Mammut wohlweislich verniedlicht hat. Die Welt und ihre prägenden Einrichtungen haben einen Grad der Größe, Verflechtung und Unüberschaubarkeit erreicht, der sie zunehmend unwägbar und unbeherrschbar macht. Wie wollte man unsere Riesenkonzerne, Gipfelkonferenzen, Atomkraftwerke, Zig-Millionen-Städte, Spionage- und Morddienste, Bürokratenheere und das ganze materielle und digitale Verkehrswesen wieder rückgängig machen oder auch nur verkleinern? Nur durch Krieg. Und nach dem Krieg kann dann wieder aufgebaut werden, falls noch ein paar eingekellerte Großmütter und Kindersklaven unverstrahlt geblieben sind.

Nein, sagen wir, laßt uns lieber vorher aus freien Stücken einen Schlußpunkt setzen. Verweigern wir unseren Eliten die Soldaten, die Pizzaboten und alle anderen nützlichen Idioten. Zeugen und gebären wir keine Kinder mehr. Erfreulicherweise haben ja unsere Verhütungsmittel die Ausrottung der IndianerInnen und der mitteleuropäischen Hexen überstanden. Somit spricht nichts dagegen, sich weiterhin miteinander zu vergnügen, solange die Welt noch nicht eingeschrumpft ist.

Hier könnten einige Frauen einwenden, sie hätten doch so gerne ein Kind. Dazu sagen wir: Ihr sitzt einer romantischen Grille auf, ja mehr noch, einem Elefanten der Mütterlichkeit, des sehnlichen Kinderwunsches und der wahren Liebe, der in antiken Stadtstaaten und neuzeitlichen Industrienationen aufgeblasen wurde, damit sich die adelige oder bürgerliche Dame nicht zu Tode langweilen muß. Nun hat sie den Elefanten in ihrem dicken Bauch und streichelt ihn. Später zeigt sie ihm auch die Peitsche oder die erwähnte Nadel. Heute verhätschelt sie ihn, morgen verflucht sie ihn, immer schön im Wechselbad.

Befragt ein paar zufriedene, sogenannte primitive Völker: sie kennen weder das süße Christkind in der Krippen noch den »Stolz« seines Erzeugers, der sich schon die Hände reibt, weil er den Sprößling nach seinem Bilde formen oder aber brechen wird. Müßt ihr unbedingt Kinder haben, dann adoptiert welche. Noch gibt es genug Waisen auf der Welt, viel zu viele. Erzieht sie aber nicht! Schlagt ihnen nur ein paar bewährte Verhütungsmittel vor.

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Zu Jonathans Verblüffung schlug Heikes Initiative fast wie eine Bombe ein. Das lag aber wahrscheinlich nur an glücklichen Zufällen und an Heikes Geschick. Sie hatte Annett, ihrer Schwester, die Email-Adresse eines Redakteurs des noch halbwegs kritischen und parteiunabhängigen Internetportals Dampfbad aus der Nase gezogen. Der Mann war einmal Annetts Liebhaber gewesen. Und siehe da, er war von Heikes Vorstoß begeistert. Allerdings betonte er auch gleich, es werde Ärger geben. Er brachte das Manifest nebst einem Gespräch mit Heike, in dem sie Erläuterungen gab und auch beschrieb, wie sie sich das praktische Wirken des Bundes vorstellte. Daraufhin hagelte es sowohl beim Portal wie in Heikes Computer LeserInnenbriefe. Zustimmung und Ablehnung hielten sich anfangs ungefähr die Waage. Rasch griffen andere Portale oder Blätter die Sache auf, darunter sogar ein vielgelesenes Mainstream-Wochenmagazin, das einen Mordsspaß und eine nicht unbeträchtliche Auflagensteigerung zu wittern schien. Damit lag es nicht schief. Aber so sehr diese Publizität auch den Bekanntheitsgrad des Bundes steigerte, heizte sie doch auch die Stimmung gegen ihn an. Mit seinem Titel »BAM BAM und BUM BUM / Eine Kinderärztin bläst zum Großen Sterben« hatte das Wochenmagazin bereits den Ton und die Richtung der öffentlichen Debatte angegeben, die nun für einige Frühherbstwochen durch Medien, Internet oder Säle tobte. Fernsehauftritte hatte Heike übrigens grundsätzlich abgelehnt, und auch die MitstreiterInnen, die sich rasch einstellten, hielten sich daran. Heike reiste per Eisenbahn durch kleine und große deutsche Städte, um Vorträge zu halten, Diskussionen zu leiten und Interviews zu geben. Private Abenteuer versagte sie sich. Sie telefonierte fast täglich mit Jonathan.

Wie schon angedeutet, kam sie bei ihren Veranstaltungen mit der Argumentation, die aus dem Manifest lugte und die in Jonathans Schriften ausgebreitet war, kaum zum Zug. Meistens hatte sie sich mit gehässigen oder törichten Anwürfen auseinanderzusetzen und des chronischen Personalisierungsdrangs der Leute, darunter natürlich auch der Journalisten, zu erwehren. Schon das Wochenmagazin hatte in seiner erwähnten Titelgeschichte mitzuteilen gewußt, das Manifest trage unverkennbar die Handschrift des Truhner Ex-Tischlers und Ex-Kommunarden Jonathan Blüth. Der gute Mann habe mit seinen ins Internet gestellten Schriften durch Jahre hinweg kaum einen müden Hund hinter dem Ofen hervorgelockt, sehe aber nun, da ihm die fesche junge Generalsekretärin ihre Gunst geschenkt habe, offenbar die Chance, doch noch groß herauszukommen, bevor er das Zeitliche zu segnen habe. So etwas fand Heike infam, sagte dies aber nicht öffentlich. Sie hatte Stärke und Gelassenheit zu bezeigen.

Auf die Reaktion verschiedener Fraktionen des Sozialismus und Kommunismus hätte Jonathan bedenkenlos das neue schlichte Tourenfahrrad gewettet, das ihm Heike zum 65. Geburtstag geschenkt hatte. Schließlich kannte er den Verlauf der sogenannten Gebärstreik-Debatte von 1913. Diese Initiative (der Verhütung unerwünschter Geburten) war von einigen linken Berliner Ärzten ergriffen worden, um den üppigen proletarischen Kindersegen zu drosseln, der ja doch nur künftiges Ausbeutungs- und Kanonenfutter darstelle. Das brachte ihnen von den führenden Sozialdemokraten, Frau Clara Zetkin und Frau Rosa Luxemburg eingeschlossen, den Vorwurf ein, sie wollten dem Klassenkampf die Massenbasis entziehen. Kaum anders argumentierten die Nachfolge-Organisationen in ihren Schimpfkanonaden gegen das BAM-Manifest, wobei sie die naheliegende Frage, warum wahre Millionenheere von gar nicht oder »prekär« Beschäftigten den Kapitalismus nicht schon längst hinweggefegt hätten, elegant umgingen. Die sozialistischen und kommunistischen Kräfte setzten also nach wie vor auf Quantität, womit sie sich als gelehrige SchülerInnen des marktwirtschaftlichen Wertgesetzes erwiesen und nebenbei als ernstzunehmende KoalitionspartnerInnen des Kapitals empfahlen. Einige »anarchistische« Gruppen oder Aktivisten hielten zwar eher die Qualität hoch – aber in diesem Falle die Qualität jener Kinder, die durch »fragwürdige, von oben angestiftete Bremsmaßnahmen« daran gehindert werden sollten, sie außerhalb des Mutterleibes zu entfalten. Denn der Nachwuchs aus dem Proletariat oder aus anarchistischen Zirkeln bringe doch ohne Zweifel für den Widerstand geeignetere Eigenschaften mit als die Brut der korrupten Elite. Hier trafen sie sich wieder mit den Kommunisten. Denn sie fuhren fort: »Wollen Zuberdorf und Blüth am Ende genau diese Brut begünstigen und damit den Planeten kampflos der fröhlich sprießenden Elite überlassen?« Damit hätte sich eigentlich die Frage aufgedrängt, wo die Elite denn eine für ihr Gedeihen unerläßliche Massenkundschaft hernähme, wenn die Völker tatsächlich in den Gebärstreik treten sollten? Sie stellten sie lieber nicht. Nur in einer Versammlung in Oldenburg kommentierte dazu eine offensichtlich solitäre Anarchistin: »Wahrscheinlich setzt die Elite dann auf zweigleisige Inzucht: jede nicht topgesunde Göre kommt in die Kunden-Kiste …«

Selbst die angeblich radikalen FreiheitskämpferInnen warfen sich demnach weniger zu Verfechtern des mütterlichen Selbstbestimmungsrechtes, mehr zu BehüterInnen »des Lebens« auf. Damit konnten sie unzähligen Demokraten, etlichen Bischöfen, einigen neofaschistischen Parteien oder Wehrsportgruppen, der Berliner Bundeskanzlerin und selbst dem französischen Juristen, Staatstheoretiker und führenden Hexenverfolger Jean Bodin (1530–96) die Hände reichen. Er hatte kein Blatt vor den Mund genommen: »Derjenige also, der die Zeugung oder die Heranreifung der Kinder behindert, muß ebenso als Totschläger angesehen werden wie derjenige, der einem anderen die Gurgel durchschneidet.«*

Es war die übliche niederträchtige Umdeutung. Nicht die Leute, die mörderische Verhältnisse in Schutz nahmen oder beschönigten, waren die Schurken – mochten diese Verhältnisse auch Jahr für Jahr für Millionen an toten, kranken, durchängstigten Kindern sorgen. Nein, die Schurken waren vielmehr die Leute, die Millionen von ungeborenen Kindern eben das Schicksal solcher Verhältnisse zu ersparen suchten. Das gab natürlich keiner von den Umdeutern zu. Sie wiesen auch den Verdacht weit von sich, ihre vom Manifest hervorgelockte Aggressivität gelte letztlich dem Sakrileg, den Wert des Menschen als »Krone der Schöpfung« anzuzweifeln und so herabzusetzen. Sie behalfen sich mit Spitzfindigkeiten und Verleumdungen. Sie warfen dem Bund Miesmacherei, Defätismus, Unrealismus, Populismus, Revoluzzertum und weiß der Teufel was vor. Ging ihnen diese Munition aus, war immer noch Heike Zuberdorf da, die sich aufgrund ihrer merkwürdigen Vergangenheit und ihrer Offenherzigkeit prima durch den Schmutz ziehen ließ.

Nach einer Veranstaltung Ende Oktober, auf der sie (in Passau) mit überreifem Fallobst beworfen worden war, redeten Heikes MitstreiterInnen ihr zu, die nächsten drei Veranstaltungen abzusagen und sich erst einmal zwei Wochen Heimaturlaub zu gönnen. Das sah sie ein. Sie ließ sich zwei Tage von Jonathan trösten und verwöhnen; dann setzte sie sich an ihren Computer, um Berge von Emails durchzusehen und zum Teil zu beantworten. Abends drang der Lampenschein aus ihrem Dachzimmer durch die schütteren Bäume und Gebüsche, die auf der Böschung standen, doch noch passierte nichts.

Für den Freitagabend hatten ihre Töchter sie zu einem Kammerkonzert eingeladen, das im Saal des Gymnasiums stattfand. Sie wollten zu Fuß gehen. Als sie zu dritt in den Schein der Laterne traten, die unweit ihres Vorgartentores an der gekurvten Einbahnstraße stand, sprang 50 Meter weiter links ein Motor an. Während sich das schwere, mit zwei Vermummten besetzte Motorrad den drei Frauen näherte, mischten sich Salven aus einer Maschinenpistole in den Motorenlärm. Dann drehte die Maschine auf und bog stadtauswärts in die Hauptsraße. Am Gartentor blieben die durchsiebten Körper der drei Frauen zurück.

Am nächsten Vormittag konnten die Medien in ihren aktualisierten Meldungen sogar von vier Todesopfern berichten, die die »entsetzliche Bluttat« in Truhn gefordert habe. Mit Hilfe einer Blausäure-Kapsel, die ihm vor rund zwei Jahren von Dr. Heike Zuberdorf beschafft worden war, hatte sich der 66jährige Jonathan Blüth am frühen Morgen in seinem Hinterhofhäuschen das Leben genommen. Auf der Hofseite seiner Haustür hatte sich ein angepinnter Zettel gefunden: »Liebe Annett! Ich bin bei Heike. J.«

* Heinsohn/Steiger München 1989, S. 93



A-40 Titelite (2009, → Welskopf)

Hat man Sie elterlicherseits, statt zum Mustafa (»der Auserwählte«), nur zum kritzelnden Fritz oder Hanns gemacht, könnten Sie versuchen, früher oder später wenigstens zum Präsidenten der Reichsschrifttums-kammer ernannt zu werden. Das gelang dem sächsischen Lehrersohn und Dramatiker Hanns Johst 1935. Erst dadurch war Johst, obwohl er mit Johanna Feder eine gut betuchte Dame geheiratet hatte, in die Titelite vorgedrungen, wie ich einmal kalauern möchte. Gemeint ist der bürgerliche Geistesadel. Während es Raubritter durch besonders umfangreiche Beuten (aus heidnischer Hand) zu Feldmarschällen, Bischöfen oder gar Kurfürsten bringen konnten, streben viele GeistesarbeiterInnen einen Doktortitel, einen sogenannten Lehrstuhl oder eben einen Präsidentensessel an, der sie erheblich erhöht. Es ficht sie nicht an, wenn sie gelegentlich bei Montaigne lesen, wo auch immer, sie säßen auf ihrem Arsch.

Bei »Johst« denkt man unwillkürlich an den Tierarzt Edzard Gerriets aus Schortens in Friesland. Ein Reporter hatte den damals 77jährigen 1997 im Zusammenhang mit der umstrittenen Ausstellung von Wehrmachtsfotos aufgesucht, weil Gerriets auf einem davon als 20jähriger Zaungast einer Erschießung serbischer Geiseln durch Wehrmachtskameraden beiwohnt. Der im Landkreis angesehene Tierarzt bestätigte sogar die Echtheit des Fotos. Die Süddeutsche Zeitung nannte er ein neomarxistisches Hetzblatt – schön wär's gewesen! Ansonsten fühlte er sich in seiner Ehre besudelt und betonte, das »Dritte Reich« habe auch seine guten Seiten gehabt. Unterschlug der Besucher einmal seinen Titel, herrschte Gerriets ihn an: »Sie Flegel – Doktor Gerriets bitteschön, Doktor!«

Einen früheren Vorgesetzten dieses geltungssüchtigen Heilkundigen führt sogar Arthur Koestler in seinen fesselnden Erinnerungen (Als Zeuge der Zeit) brav mit Titel an: Dr. Joseph Goebbels. Vor akademischen Würden versagte Koestlers Witz; im ganzen Buch unterschlägt er nicht einen Titel. Als Zahnarzt hätte ich einmal nach seinem Minderwertigkeitskomplex gebohrt. Nebenbei verdanken wir das ungewöhnlich strenge deutsche Titelrecht just den Nazis. Seitdem wird das unbefugte Führen eines Titels mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft. Solche Anmaßung bringt Recht und Ordnung mehr ins Wanken als ein Jahr Kriegführen in Afghanistan, wie Karl-Theodor zu Guttenberg kürzlich erfahren mußte. Nach Vorwürfen, seine (juristische) Doktorarbeit gefälscht zu haben, dankte er 2011 als »Bundesverteidigungs-minister« ab. Seinen Doktorgrad (Uni Bayreuth) verlor er ebenfalls.

Vera Sprosse, gelernte Raumausstatterin, hatte einmal einen Chef mit erlauchtem Kundenkreis. Hatte sie beispielsweise Fragen zum Biedermeiersofa des Herrn Soundso, das sie neu beziehen sollte, korrigierte sie der Chef auch in leergefegter Werkstatt unweigerlich: »Sie meinen das Biedermeiersofa von Herrn Professor Soundso!« Allerdings fährt bekanntlich auch jeder Aufruf unserer revolutionären Linken Legionen von Doktor- oder Professorentiteln auf. Bei Podiumsdiskussionen stehen diese in guter Kamerahöhe auf Schildern, die an gewisse Bretter vor Köpfen erinnern. So halten diese Kämpfer-Innen für mehr Gleichheit beim Einschüchtern und Ausstechen mit, während ihre Schwerter als Pflugscharen dienen.

Als man Vera Sprosse einmal »blanken Neid des Titellosen!« unterstellte, behauptete sie, ihr wäre ein Doktor- oder Professorentitel eher peinlich. Auf keinen Fall würde sie ihn auf ihren Briefbögen, Visitenkarten, Buchklappen hervorkehren. Denn für sie heiße so etwas nur: die oder der hat es nötig. Betrüberlicherweise hat sich selbst ein so bescheiden wirkender Schriftstellerkollege wie Walter Kappacher kürzlich (Dezember 2008) von der Universität Salzburg einen Ehrendoktorhut verpassen lassen. Aber womöglich ziehen nur solche Bekränzungen die prominenten Literaturpreise nach sich. Im Mai 2009 empfing Kappacher den Georg-Büchner-Preis. Sich zu fragen, warum ein unpolitischer Elfenbeintürmer wie Kappacher ausgerechnet einen nach einem Revolutionär getauften Preis erhält, führt nicht weiter – höchstens zurück, denn es ist nicht die erste Verwechslung, die der sogenannten Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt unterlaufen ist. Sie hat derzeit knapp 180 Mitglieder, darunter just Kappacher (seit 2004). Dessen Landsmann Thomas Bernhard stieg 1979 aus, weil ihm diese Akademie gar zu sehr nach einer Anstalt für »Eigenbeweihräucherung« stank, wie er damals öffentlich erklärt haben soll.*

Ich will noch kurz erläutern, warum mir die Titelei gegen den Strich geht. Zunächst maßt sie sich an, die sogenannte geistige Leistung über alle anderen Leistungen zu stellen (die wahrscheinlich kopflos vollbracht werden). Wer aber wollte im Ernst behaupten, eine Glosse oder einen Roman zu schreiben sei schwieriger, als einen Kindergarten hochzumauern oder dessen Dachstuhl zu zimmern? Oder wichtiger? Glossen und Romane haben wir doch eigentlich schon eher zuviele, während wir durchaus noch ein paar Kindergärten gebrauchen könnten. Sollten Titel aber unverzichtbar sein, wäre zu erwägen, solche Leute mit ihnen zu bedenken, die sich darauf verstehen, Fußgängerzonen und Gewerbegebiete unsichtbar zu machen, das nächste Oder- oder Elbehochwasser in die Wolkenkratzer unserer Banken und Versicherungen zu leiten oder Hundekothaufen in Fangeisen zu verwandeln, die nur auf die Schweißfüße von Hundehaltern ansprechen.

Sodann ist es noch immer eine verbreitete, wenn auch überwiegend verhüllte Empfindung, einen Diplom-Ingenieur, einen Doktor Soundso oder sonst einen Akademiker für einen besseren Menschen zu halten als den Menschen ohne Titel. Durch den Titel wächst der Betreffende im Charakter; er schießt zur bedeutenden Persönlichkeit, zum Vorbild also auf. Das ist natürlich lachhaft. Dadurch werden bestimmte, begrenzte, oft durchaus fragwürdige »Leistungen« mit der ganzen Person verquickt, was immer falsch ist. Jeder einigermaßen beschlagene Schriftsteller, der sich nichts vormacht, weiß von seinen Texten, daß sie stets »besser« sind als jener leibhaftige Zeitgenosse, der sie ersonnen hat. Deshalb schreibt er sie übrigens. Im besten Fall gleichen sie das Erschrecken über die eigene Unzulänglichkeit aus, aber sie beseitigen sie nie.

* »Unheil und Brei. Einer Akademie zum 60.«, Junge Welt 29. August 2009, zitiert bei Schrift & Rede 2009: https://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=634
→ Siehe auch in A-1 Tucholsky zur Einschüchterung

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