Montag, 28. November 2022
Nasen Anhang 1—8
ziegen, 15:49h
A-1 Im Reich der Spitzfindigkeiten (2020, →Bamberski)
Für diesen Sommer habe ich mir eine längst überfällige Wiederlektüre von Heinrich Hannovers Wälzer Die Republik vor Gericht verordnet. Das Werk erschien erstmals 1998/99 in zwei Bänden [1]. Ich bereue die Roßkur nicht. Obwohl das Unrecht, das der bekannte linke Rechtsanwalt in diesen Erinnerungen aus rund vier Jahrzehnten juristischen Wirkens versammelt hat, noch keine »Killerviren« kannte, beißt es einen tüchtig ins Gedärm. Zuweilen droht man sogar wie ein Knirps vor ohnmächtiger Wut zu platzen. In der vielgerühmten Demokratie gehöre »das Recht des Stärkeren« keineswegs der Vergangenheit an, stellt Hannover resümierend auf Seite 919 fest. Der Schwache kann weder eigene Prominenz noch Staranwälte in die Waagschale werfen. Er rennt sich den Kopf an kapital- und staatsfrommen Juristen ein, die auf legalem Wege nahezu unangreifbar sind. Wie später auch sein journalistischer Freund Günther Schwarberg in seinen empfehlenswerten Erinnerungen [2], prangert Hannover unermüdlich die herrschende Doppelmoral an. Er scheut sich nicht, von Gesinnungs- oder Klassenjustiz und schlicht von Unmenschlichkeit zu sprechen. 1971 wird die 20jährige RAF-Kämpferin Petra Schelm von Polizisten erschossen – wahrscheinlich hinterrücks. Ihr von Hannover verteidigter Begleiter Werner Hoppe bekommt wegen unbewiesener »Mordversuche« 10 Jahre Zuchthaus. Ihm die Geliebte zu töten, war noch nicht Strafe genug.
Leider fing die Demonstration der Stärke schon gleich inmitten der Trümmerberge der frühen Nachkriegszeit an, als sich Scharen von tatsächlichen oder angeblichen Kommunisten plötzlich vor Gericht genau jenen in eindrucksvollen Richter-Roben steckenden Faschisten gegenüber sahen, die doch eigentlich eben erst von unseren britischen und nordamerikanischen Freunden besiegt worden waren. Unter Willy Brandt, der bis heute fast überall als Friedensengelsgestalt gegeben wird, hörte es noch lange nicht auf. 1967/68 war der Sozialdemokrat westdeutscher Außenminister. In diesem Amt deckte er ein dreistes Gangsterstück, das dem südkoreanischen Geheimdienst nur durch beflissene Zuarbeit des westdeutschen Geheimdienstes gelingen konnte, wie Hannover ausführlich darlegt. Man hatte auf einen Schlag 17 in Westdeutschland und Westberlin lebende Südkoreaner entführt, um sie in Seoul des Kontaktes mit nordkoreanischen Bürgern oder Stellen, somit der Landesverräterei bezichtigen zu können, darunter den von Hannover vertretenen angesehenen Komponisten Isang Yun. Die Entführten wurden mißhandelt und mit dem Tod bedroht. Die westdeutsche Justiz griff tief in die Trickkiste der formalen Logik, um alle Bemühungen auf Freilassung und Rückführung im Keim zu ersticken. Brandt duldete es, weil ihm die »guten Beziehungen« zu dem fanatisch antikommunistischen Regime in Seoul und dem großen Bruder in Washington mehr am Herzen als die 17 gefolterten Leutchen lagen. Mehr zu Brandt unter →Müller, Philipp.
Hannovers verdienstvolle Fleißarbeit, die schon fast einem Kritischen Lexikon zur deutschen Nachkriegsgeschichte gleichkommt, ist im großen und ganzen flüssig geschrieben. Strapazen stellen einige Fälle dar, die er für mein Empfinden zu detail- und belegreich ausbreitet. Ich führe als Beispiele Kampa, Roth/Otto, Raths-Konditorei an. Der Nichtjurist kann ihnen nur noch unwillig folgen. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, es im Haupteil bei den Grundzügen und Ergebnissen des betreffenden Verfahrens zu belassen und die Winkelzüge und Belege in einem Anhang zu geben. Als alter Antiautoritärer befremdet mich außerdem Hannovers Verbeugung vor allen Akademikern. Ob Freund oder Feind, beispielsweise Bundeskanzler Dr. Adenauer, Amtsgerichtsrat Dr. Borchert, der Angeklagte Dr. Hans Modrow, Zeuge Dr. Wolfgang Schäuble – er macht sich nie der Unterschlagung ihres einschüchternden Titels schuldig, »Professor« selbstverständlich eingeschlossen. Aber diese Unsitte teilt der Jurist aus Worpswede (bei Bremen) mit vielen anderen »linken«, gegen die Macht ankämpfenden Memoiren-schreibern, etwa Arthur Koestler. Nur nicht mit Kurt Tucholsky. »Der Titel erstickt jeden Widerspruch und erspart dem Titelträger jede Tüchtigkeit. Er steckt sich hinter den Titel, und das Übrige besorgt dann schon die Dummheit derer, die den Titel anstaunen und ihn um des Titels willen, den sie nicht haben, aber gern hätten, beneiden. […] Der Titel soll den Träger immer wieder an seine eigne Herrlichkeit gemahnen. Es wäre nichts gegen ihn einzuwenden, wenn er nur den Angeredeten auszeichnete; er drückt aber bewußt alle die, die ihn nicht haben. Er ist im tiefsten Sinn undemokratisch.« [3]
Sieht sich Hannover gezwungen, allen Verästelungen eines Falles nachzugehen, hängt es freilich damit zusammen, daß unsere Gesetze wie unsere Richter in der Regel unglaublich »spitzfindig« sind, wie er einmal auf Seite 827 sagt. Dazu gesellt sich dann die unnachgiebige Buchstabengläubigkeit, die in Deutschland spätestens seit Dr. Martin Luther stets vorzügliche Karten hat. Gesetz ist Gesetz, Befehl ist Befehl – man kennt diesen Holzhammer, der auf die unterschiedlichsten Köpfe und Fälle paßt und Einfühlung und Mitleid für heimtückische, von Ausländern eingeschleuste Viren hält. Urteilskritik sei mal unmöglich, schreibt Hannover, mal völlig zwecklos. Meines Erachtens liegt der Grund für diesen undurchdringlichen justiziellen Dschungelverhau in den Institutionen Recht und Rechtsstaat selber. Hannover stellt sie leider in diesem Werk nie in Frage. Sie haben seit den antiken Foren in Athen und Rom eine gefräßige Aufblähung (von Gesetzen und Auslegungen, Gerichtszeremonien und Gesetzeshütern) in Gang gesetzt, die jede Willkür gestattet. Wer am Hebel sitzt, kann das Recht beugen, bis es ihm in den Kram paßt. Die Alternative einer dezentralisierten, schmiegsamen, volksnahen Rechtsprechung deute ich weiter unten an.
Da keine Krähe der anderen ein Auge aushackt, bleiben auch nach Hannovers Ausweis ungefähr 99,99 aller mit Amt oder Titel gesegneten SchandtäterInnen unbelangt. Sie werden allenfalls versetzt oder abgewählt – und ihre NachfolgerInnen reiben sich bereits die Hände. Sie treten als Wagenknecht an und enden auch nur als Merkel. Oder nehmen wir Gerhard Schröder. Meines Wissens hat er es 1998, frisch zum Kanzler gekürt, noch nicht einmal nötig gehabt, sich wort- und tränenreich für die Ermöglichung des Ersten Weltkrieges durch die Sozialdemdokratie oder wenigstens für die Ermordung Benno Ohnesorgs »zu entschuldigen«, der ja just unter der Schirmherrschaft seiner beiden Parteifreunde Willy Brandt und Erich Duensing, dem Westberliner Polizeipräsidenten, erschossen worden war. Schröder legte sich auch ohnedem für die berüchtigte rotgrüne »Enttabuisierung des Militärischen« ins Zeug.
Mancher Verdrossene würde vielleicht darauf pochen, all diese SchandtäterInnen gehörten endlich vor Gericht und von demselben bestraft. Aber das schmeckt meiner oben angedeuteten Rechtsauffassung gar nicht. Strafen bessern nie, und schon gar nicht Leute wie Schröder und Merkel. Auch der Vergeltungsgedanke scheidet unter echt republikanischem Blickwinkel selbstverständlich aus. Vielleicht wäre immerhin eine Wiedergutmachung erwägbar – doch wie sollte sich Merkel denn die vielen Milliarden, die sie bereits den Impfkonzernen[4] und den notleidenden Banken zugeschanzt hat, aus den Rippen schneiden? Wolfgang Jeschke[5] weist mit Bedauern darauf hin, nach der Rechtslage dürfe das auch niemand von ihr verlangen. Bei uns sind amtierende PolitikerInnen nämlich per Gesetz vor Haftungsrisiken geschützt. Der Rubikon-Autor macht sich deshalb für den Vorschlag des Juristen Carlos A. Gebauer stark, diesen Schutz aufzuheben. Das zwänge unsere MandatsträgerInnen, erheblich sorgfältiger »mit unserem Geld, unserer Natur, unserer Gesellschaft« umzugehen. Aber für mich ist das reformistischer Käse. Keine Strafandrohung wird eingefleischte Karrieristen davon abhalten, sich an die staatlichen Futtertröge heranzupirschen; sie wird sie vielmehr beflügeln, die Straffälligkeit durch tausend Schliche und Winkelzüge zu umgehen. Die Muster dafür können sie sich zu einem guten Teil sicherlich bei prominenten Steuerflüchtlingen und Subventions-betrügern besorgen. Nein, was fallen muß, ist der Staat. Das Vertreten und Verwalten und gerade der ganze undurchdringliche Paragraphendschungel, mit dem es sich bewehrt, müssen auf dem Misthaufen der Geschichte landen. Das setzt freilich Verkleinerung, also Schrumpfung statt unaufhörliche Aufblähung unserer Gesellschaften und ihrer Einrichtungen voraus, und dieses heiße Eisen packt so gut wie niemand an.
Ich komme noch einmal auf Hannovers auf- und anregende Erinnerungen zurück. In den 1980er Jahren scheiterte er mit dem Versuch, den SS-Mann Wolfgang Otto wegen Beteiligung an der Ermordung Ernst Thälmanns verurteilen zu lassen. Dieses Buchkapitel beschließt der Rechtsanwalt mit der wohl mindestens teilweise rhetorisch gemeinten »Frage an die Historiker[Innen]«, warum Thälmann zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, um 1940 also, eigentlich nicht freigelassen worden sei (S. 734). Der nach Hitlers Staatsstreich kurzerhand suspendierte Reichstagsabgeordnete und weltberühmte Vorsitzende der KPD war Anfang März 1933 verraten und folglich, noch in Berlin, verhaftet worden. Allerdings dürfte dabei, auf kommunistischer Seite, auch Fahrlässigkeit im Spiel gewesen sein. Jedenfalls kam der grobschlächtige, gleichwohl gern gemütlich grinsende ehemalige Hamburger Transportarbeiter, als Parteichef Stalins »ergebenster Gefolgsmann« [9], nie mehr frei. Vielmehr wurde er ohne Gerichtsverfahren nach über 11jähriger Haft im August 1944 klammheimlich erschossen – wahrscheinlich im KZ Buchenwald, wohin man ihn kurz zuvor aus dem Bautzener Gefängnis geschafft hatte. Er starb mit 58.
In der Tat sollte man ja meinen, der mächtigen sowjetischen Bruderpartei wäre es spätestens nach dem berüchtigten, im August 1939 abgeschlossenen »Pakt« mit den deutschen Faschisten ein Leichtes gewesen, »Teddy« aus dem Knast loszueisen, zumal Sowjetchef Stalin so nett gewesen war, der Gestapo rund 1.000 deutsche und österreichische Emigranten auszuliefern, die im Schoße der Weltrevolution Schutz gesucht hatten [6]. Nach verschiedenen Quellen wollte Stalin aber Thälmann gar nicht haben. Deshalb wurden Rosa Thälmanns wiederholte Vorstöße in der Berliner SU-Botschaft abgewimmelt, und die zwei Dutzend unterwürfigen Briefe ihres Gatten an Stalin blieben durchweg unbeantwortet [7, 8, 9]. Wie es aussieht, waren sowohl Stalin wie Thälmanns Gegenspieler Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht schon bald nach jener Verhaftung 1933 der Ansicht, der populäre KPD-Chef sei im Knast viel besser aufgehoben als in Freiheit, wo er möglicherweise aus der Schule geplaudert[9] oder wieder alles falsch gemacht hätte. Ein Thälmann im Knast konnte immerhin ausgezeichnet für plakative Agitprop-Befreiungs-Kampagnen benutzt werden. So kam er wenigstens weder Ober-Intrigant Ulbricht noch gar dem Sowjetchef in Moskau selber in die Quere.
Diese ernüchternde Sichtweise wird überzeugend von Ronald Sassnings anscheinend letzter Publikation unterstrichen, veröffentlicht 2006 in der thüringischen Rosa-Luxemburg-Stiftung [9]. Der Thälmann-Forscher und Parteihochschullehrer aus der verflossenen DDR spricht abschließend unmißverständlich von Stalins »großer historischer Mitschuld« am Tod Thälmanns, nimmt freilich auch diesen selber nicht bei der Kritik aus. »Als Vorsitzender der KPD trägt er – wie andere auch – eine gewisse Mitschuld an der Machtergreifung Hitlers, da diese durch schwerwiegende Fehler und Versäumnisse ungewollt erleichtert wurde. Thälmann bezahlte dies letztlich mit seinem eigenen Leben.«
[1] Hier beziehe ich mich auf die einbändige Ausgabe Berlin 2005
[2] Günther Schwarberg, Das vergess ich nie, Göttingen 2007
[3] Tucholsky als »Ignaz Wrobel« in: Die Weltbühne, 27. Mai 1920, Nr. 22, S. 637
[4] Nach meinen Informationen orderte die Bundesregierung im Zuge der schrecklichen »Schweinegrippe« von 2009 genau 50 Millionen Dosen – auf denen sie größtenteils sitzen blieb.
[5] https://www.rubikon.news/artikel/die-corona-bilanz-2 vom 16. Juni 2020
[6] So der Darmstädter Soziologe Helmut Dahmer in seinem Artikel »Der Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen« aus dem Oktober 2009, hier bei https://www.scharf-links.de/49.0.html?&tx_ttnews[cat]=27&tx_ttnews[tt_news]=7350&cHash=6519194f2e
[7] Regina Scheer, Artikel über Rosa Thälmann »Im Schatten des Denkmals«, Berliner Zeitung, 14. August 2004: https://www.berliner-zeitung.de/rosa-war-die-frau-von-ernst-thaelmann-ihr-mann-wurde-vor-60-jahren-hingerichtet-die-geschichte-einer-wechselvollen-liebe-im-schatten-des-denkmals-li.6539
[8] Peter Klinkenberg 7/2014 für Anti-SED-Stiftung: https://www.zeitzeugenbuero.de/fileadmin/zzp/pdf/Klinkenberg_Th%C3%A4lmann-Stalin.pdf
[9] Ronald Sassning, Rückblicke auf Ernst Thälmann, Jena 2006, zu Haftzeit und Ermordung bes. S. 91–113
A-2 Haken (Um 2012, →Bamberski)
Mit der Bestimmung, die Justiz habe von der Staatsgewalt unabhängig zu sein, gedachten die sogenannten Väter unseres Grundgesetzes, deren Mißbrauch durch die Staatsgewalt auszuschließen. Nur steht die Justiz dadurch auch machtlos da. Wird also beispielsweise die im März 2007 abgegebene Erklärung des Mannheimer Verwaltungsgerichts, das bereits vier Jahre währende Berufsverbot für den linken Lehrer Michael Csaszkózy sei unzulässig, durch die Stuttgarter Oettingerriege mit der Versicherung kommentiert, das Land werde den C. trotzdem nicht einstellen, können die RichterInnen nur auf Überzeugungsarbeit oder auf sogenannte Machtworte aus Berlin setzen, wo freilich dummerweise Oettingers Parteigenossen am Ruder sitzen. Polizei können sie nicht in Marsch setzen, denn die untersteht der Stuttgarter Landesregierung. Nähmen die Polizisten ihren Landesfürsten Oettinger in Beugehaft, sperrten sie sich die eigenen Gehälter. Damit will ich nicht behauptet haben, wenigstens das Land Baden-Württemberg sei unabhängig. Es hängt vom Wohlwollen etlicher Braukessel- und Waffenschmiede sowie der abonnierten Hockenheim-Ring-Sieger ab. Das Wesentliche am Kapitalismus ist nicht das Recht sondern das Kapital.
Allerdings stellt jene richterliche Parteinahme für einen kritischen Lehrer nur eine rühmliche Ausnahme dar. In der Regel stehen unsere RichterInnen und Staatsanwälte stramm auf der Seite der VerfestigerInnen und nicht der UnterhöhlerInnen des Staates, der sie bezahlt und sie bedeutend macht und ihnen sogar noch im Ruhestand das Verfertigen einträglicher Gutachten zuschanzt. Der für Ermittlung, Verfolgung und Anklage sorgende Staatsanwalt ist dabei ohnehin »weisungsgebunden« der Exekutive zugeschlagen. Ihn weisen Oettingers oder Merkels Staatssekretäre an, das eine zu tun oder das andere zu unterlassen. Und die nicht weisungsgebundenen RichterInnen wissen sich schon davor zu hüten, ihr traditionell gutes Verhältnis zur Staatsanwaltschaft und zur Staatsmacht überhaupt zu trüben. Sie alle sind gut ausgebildete und gut besoldete Fachleute, die ihre Interessen und die besten Chancen, befördert zu werden, ausgezeichnet kennen. In den Vetternwirtschaften westlicher Demokratie spielt dabei bekanntlich das richtige Parteibuch eine wichtige Rolle. Das gilt selbst für unsere »hohen« Bundesgerichte, deren Angehörige stets mit Heiligenschein aufzutreten pflegen. Rolf Lamprecht, für Jahrzehnte Spiegel-Korrespondent bei den obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe, bemerkte dazu in seinem 1995 veröffentlichten Buch* Vom Mythos der Unabhängigkeit: »Die Parteien, die den Staat ungeniert als Selbstbedie-nungsladen behandeln, haben diese Mentalität mittlerweile auf die Dritte Gewalt ausgedehnt. Sie besetzen namentlich die 16 Planstellen der höchsten Instanz, des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe, nach den Riten eines orientalischen Basars.«
Ihre Trickkisten haben unsere DienerInnen Justitias eher aus der Unterwelt als aus Markthallen bezogen. So erheben sie zum Beispiel gar nicht erst Anklage wegen »Beweisschwäche« des Rechtsuchenden (Fall Murat Kurnaz). Sie weisen eine Verfassungsbeschwerde zurück, weil sie »unbegründet« sei (Fall Jürgen Rose). Sie legen Verfallsfristen als Verschleppungsgebot aus, sorgen also, wenn unliebsame Enthüllung oder gar die Bestrafung eines Gesinnungsgenossen droht, durch »Bummelstreik« für »Verjährung«, wie in den Fällen zahlreicher Nazis geschehen, oder wie beispielsweise im Fall des 1987 vermutlich gewaltsam verstorbenen Waffenschiebers Uwe Barschel. Sie empfehlen unter Jagdkameraden, gewisse Akten durch Reißwölfe schützen zu lassen; geben informations- und sensationshungrigen Journalisten das eine oder andere zu verstehen; bringen ein Prosit auf Kanzler Gerhard Schröder aus, weil er gestanden hat, »Koalitionsvereinbarungen« gar nicht erst zu lesen. Schließlich hält er sich sowieso nicht an sie.
Schlagen ihre Bemühungen im Vorfeld fehl, schmettern unsere Justizkräfte im Prozeß alles ab, was die Angeklagten entlasten könnte, während zum Beispiel Vorwürfen, die Polizei hätte gefoltert und so Geständnisse erzwungen, grundsätzlich nicht nachgegangen wird. Über dies alles kann man sich, soweit es nachkriegsdeutsche Rechtspflege angeht, ausgezeichnet in zwei dicken Büchern der Gerichtsreporterin Parnass und des Rechtsanwaltes Hannover unterrichten.** Natürlich macht es nicht an der Staatsgrenze Halt. 1975 verurteilte die britische Justiz die aus Irland stammenden sogenannten Guildford Four für Bombenanschläge, die sie nicht begangen hatten. Sie kamen erst nach vielen Jahren des Leidens und des Kampfes wieder frei, wie in Paul Hills Buch Gestohlene Jahre von 1990 nachgelesen werden kann. 2005, nach knapp 30 Jahren, sah sich Premierminister Tony Blair sogar zu einer offiziellen »Entschuldigung« für den bedauerlichen Justizirrtum veranlaßt. Wahrscheinlich wollte er sich einen Ablaß auf die Höllenstrafe erwerben, die ihn bald erwartet, weil er mit Hilfe der gleichen korrupten und verlogenen Justiz mit Bombern gen Bagdad zog.
Etwas glimpflicher und entschieden vergnüglicher gestal-tete sich der Justizirrtum 1980 im Fall des Spaßvogels Fritz Teufel. Nach fünf Jahren Untersuchungshaft und einer aufwendigen Gerichtsverhandlung beantragte der Staatsanwalt 15 Jahre Haft für Teufel, weil er im Februar 1975 an der Entführung des Westberliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz beteiligt gewesen sei. Daraufhin zog Teufel ein hieb- und stichfestes Alibi aus seiner Tasche. Er hatte zur Tatzeit unter falschem Namen in einer Essener Fabrik gearbeitet. Das Gericht mußte ihn sofort aus der U-Haft entlassen. Teufels Hauptmotiv für deren Erduldung kann ihm gar nicht hoch genug angerechnet werden: Er habe zeigen wollen, »wie ein Angeklagter für definitiv nicht begangene Taten vorverurteilt« werde und »wie das ganze System« funktioniere. Allerdings wußte er damals, man hätte ihm wegen anderer Sachen ohnehin mehrere Jahre aufgebrummt. Das war mit der U-Haft abgegolten.***
Die Regimefrage vernachlässigt, funktioniert es weltweit so: die GesetzeshüterInnen dehnen und beugen und verbiegen das Recht, bis es einem Krjutschkow ähnelt und gut in rebellische Hälse paßt. Krjutschkow, laut Victor Serge »ein robuster Kerl mit Kneifer, allgemein verachtet«, war Gorki unter Stalin als »Sekretär« verordnet worden – von der Geheimpolizei GPU. Krjutschkow heißt, wenn ich nicht irre, Haken – und Faustrecht Tautologie.
* Zitiert nach Friedrich Wolff, »Im Namen des Volkes?«, Ossietzky 20/2012
** Peggy Parnass: Prozesse 1970–78, Ffm 1978 / Heinrich Hannover: Die Republik vor Gericht 1954–95, einbändige Ausgabe Berlin 2005
*** Interview mit Teufel 2010: https://www.tagesspiegel.de/politik/ich-war-am-anfalligsten-fur-die-liebe-1800601.html
A-3 Rückwirkungsverbot (Um 2010, →Bamberski)
In Nummer 21/2008 des Zweiwochenblattes Ossietzky weist Conrad Taler auf zwiespältigen Umgang mit dem sogenannten Rückwirkungsverbot aus Artikel 103 unseres Grundgesetzes hin. Es sei schon gleich nach 1945 gern und ausgiebig in Anspruch genommen worden, nicht dagegen nach 1989, als es darum ging, allerlei ostdeutsche RichterInnen, Hochschullehrer, Bibliothekare von ihren Posten zu entfernen, weil sie dem »Unrechtsstaat« DDR treu geblieben waren.
Nach jenem Verbot darf niemand für Taten bestraft werden, die zum Zeitpunkt der Tat noch gar keine (gesetzlich bestimmten) Straftatbestände waren. Taler führt das Beispiel des DDR-Richters Reinwarth an, dessen Todesurteile wegen Spionage ja nach den damals gültigen DDR-Gesetzen rechtens gewesen seien. Trotzdem argumentierte der Bundesgerichtshof 1995, da Reinwarth mit diesen Urteilen auf unerträgliche Weise die Menschenrechte verletzt habe, könne ihm der Vertrauensschutz des Artikels 103 (»was ich tue beziehungsweise verkünde, verstößt derzeit gegen kein Gesetz«) nicht gewährt werden. Derselbe Gerichtshof habe dagegen einen SS-Richter wie Otto Thorbeck (der noch kurz vor Kriegsende die Widerstandskämpfer Admiral Canaris und Pastor Bonhoeffer hinrichten ließ) 1956 mit der Begründung freigesprochen, schließlich sei er den damals geltenden Gesetzen unterworfen gewesen. Ein krasser, unübersehbarer Widerspruch.
Nun ist es sicher richtig, hier die Doppelmoral zu geißeln, die die gesamte »Abwicklung« der DDR geradezu getragen hat und noch trägt. Aber Talers Rechtsdenken ist falsch. Es gibt ja in der Tat so etwas wie Menschenrecht, Menschenwürde, Moral, die mir die Begehung oder Billigung einer »unerträglichen« Tat auch dann verbieten, wenn sich diese auf ein Gesetz oder auf den berüchtigten Gehorsam Befehlen gegenüber berufen kann. Umgekehrt kennt sogar das Grundgesetz ein »Widerstandsrecht« (Artikel 20) gegen alle, die unsere Verfassungsordnung zu unterhöhlen und zu beseitigen trachten. Hier leitet kein Paragraf, vielmehr Zivilcourage. Der Wurm sitzt in der Institution Recht selber, die notwendig eine oft furchtbare Starre besitzt, weil sie definieren und weil sie entweder Ja oder aber Nein sagen muß. Im Bemühen, alle denkbaren Straffälle zu erfassen, schafft sie immer mehr Gesetze oder richtungsweisende Urteile – die sich immer mehr widersprechen. Denn die Wirklichkeit ist kompliziert, vielfältig und ständig im Fluß. Kein Recht kann ihr jemals auch nur einigermaßen gerecht werden.
Im übrigen verkörpert das Recht jenen unseligen Absolutheitsanspruch, mit dem auch Spießbürgermoral, Staatsbürokratie, Positives Denken, Staatsräson gegen alles Besondere und alles Nichtangepaßte vorgehen. Es duldet nicht, daß einer bei Rot die Straße überquert, unter welchen näheren Umständen auch immer. Es möchte alles und jeden über einen Leisten schlagen – und entsprechend hart trifft es uns. Der Bibel- und Buchstabengläubigkeit sind sicherlich schon mehr Menschen zum Opfer gefallen als dem Wüten von deutschen und italienischen Kampffliegern im Spanienkrieg. Lufthohheit, Deutungsmacht, ein Führer ein Reich ein Recht.
Was mir vorschwebt, wäre ein bewegliches Recht, das neben ethischen Grundsätzen ausschließlich Sonderfälle kennt. Mord ist nicht gleich Mord. Den Einwand, die Alternative zur Institution Recht sei nur Willkür, lasse ich nicht gelten. Sie eignet eher unserer Rechtssprechung und den Erlassen unserer Bürokraten. Kein Indianerstamm benötigte jemals ein Strafgesetzbuch oder Antragsfor-mulare für Hartz IV. Jeder wußte, was gut und böse war, was die Grundfesten der Gemeinschaft erschütterte, was er an Ächtung, Achtung oder Beistand zu erwarten hatte. Vergehen wurden mal vom Betroffenen, mal vom Ältestenrat oder dem im Konsens bestimmten Stammesgericht geahndet. Für mein Empfinden ist ein persönlicher Vergeltungsakt weniger verdammenswert als die staatliche Todesstrafenindustrie in Georgia oder Texas. Diese enthebt mich der Verantwortung und erspart mir ein schlechtes Gewissen.
Ein persönlicher Bezug wäre auch in der Gerichtsbarkeit einer Räterepublik Hörselgau sowohl gegeben wie unabdingbar. Verbote oder Strafen ändern ohnehin nichts – weder den »Täter« noch die Verhältnisse. Die »versachlichte« bürgerliche Rechtsmaschine hält gerade die unbarmherzige Produktion von Waren und Schicksalen in Gang. Sind sich dagegen die Beteiligten eines Gerichtsverfahrens nahe und verantwortlich, bestehen gute Aussichten auf Erörterung, Selbstkritik und Besserung. Gleichwohl wird man stets auch unbefangene Dritte beiziehen, etwa durch Losentscheid. Den Grad der Öffentlichkeit des Verfahrens würden alle Beteiligten gemeinsam festlegen. A & O solcher Gerichtsbarkeit wären Aufrichtigkeit aller Beteiligten und Offenlegung sämtlicher Vorgänge, die zur Klärung und Wiedergutmachung des Vergehens beitragen können. Meine Beobachtungen in anarchistischen Kommunen zeigen mir, daß dieser Weg gangbar wäre. In meinem Roman Konräteslust, Kapitel 20 & 21, wird er illustriert und näher erläutert.
Falls Sie mich für einen Toren halten, war Montaigne ebenfalls einer. In seinem Essay Von der Erfahrung entwickelt der »konservative« Schloßherr Vorstellungen einer dezentralen und schmiegsamen Rechtsprechung als hieße er Michail Bakunin. An den Rechtsanwälten läßt er dabei so wenig gute Haare wie zuvor an den Ärzten. Das Phänomen der »Globalisierung« kannte er freilich noch nicht. Er starb 1592.
A-4 Jäckel zur Justiz (→Bamberski)
Aus »Der Sturz des Herkules«, 2022. Erzählerin ist die Generalsekretärin des Rhein-Oder-Bundes (ROB) Nele Schurznagel. Sie hat gerade vom Umgang mit einem bei Halle verübten konterrevolutionären Anschlag berichtet.
Ich halte es für angebracht, Sie noch mit einigen tiefer schürfenden Gedanken zum Thema Justiz bekannt zu machen. Der thüringische Schriftsteller Heinz Jäckel, damals selber Bürger der Zwergrepublik Konräteslust im Nessetal (bei Gotha), beobachtete 2010 ein sogenanntes »Öffentliches Forum« im dortigen Schloß, bei dem es um einen (angeblichen) Kindesmißbrauch ging. Der beschuldigte Genosse wurde weder »verurteilt« noch »freigesprochen« – der Fall blieb offen. Viele fanden die Verhandlung aber lehr- und hilfreich. Jäckel veröffentlichte anschließend auf zwei Seiten der Berliner Tageszeitung Junge Welt einen an diesem Fall aufgehängten Grundsatzartikel. Daraus im folgenden Abschnitt ein Auszug. Die Namen der Betroffenen sind von Jäckel benutzte Decknamen.
>>An Recht, Rechtsstaat, Rechtspflege, Rechtssicherheit glauben im Grunde nur Einfaltspinsel, die auf die Eindeutigkeit der Dinge bauen. In Wahrheit sind die Dinge natürlich so wenig eindeutig wie der Mensch und die von ihm erfundene Sprache. Wer zum Beispiel Gerlinde näher kannte, ließ sich von ihrem herrischen Zug nicht mehr blenden. Sie wäre ohne Zweifel gern die herausgeputzte Gutsherrin gewesen, hätte diese Rolle aber niemals ausfüllen können. Mit ihrem Draufgängertum übertünchte sie tiefsitzende Minderwertigkeitsgefühle. Ein Stolpern auf dem Hofpflaster ihrer GO [Grundorganisation] konnte sie aus dem seelischen Gleichgewicht bringen. Stieß Anja versehentlich eine Blumenvase um, löste sie einen hysterischen Anfall ihrer Mutter aus. Doch zwei Stunden später, und Gerlinde war die Zärtlichkeit und Fürsorge in Person. Das Dumme war, man wußte nie, welche Seite wann zum Tragen kommen würde. Die Person Gerlinde war unberechenbar. Habe ich dagegen einen Paragraphen, der bestimmt, Totschlag sei verboten und werde mit mindestens fünf Jahren Haft geahndet, scheint die Sache klar zu sein.
Jedoch: stellt auch die Verabreichung von Gift einen Totschlag dar? Und wenn ich das tödliche Gift über Jahre hinweg in Form von Verachtung in das Herz meines Opfers träufele? Gar keine oder nur die Mindeststrafe? Der oben erwähnte schwarze US-Bürger Mumia Abu-Jamal schmort für eine angeblich im Handgemenge vorsätzlich begangene Ermordung eines Polizisten trotz erheblicher Zweifel an seiner Täterschaft seit 27 Jahren unter der Todesstrafendrohung – kein Richter nennt das Unrecht und Folter. Wir sprachen bereits davon, daß auch die Phänomene Gewalt und Gerechtigkeit nicht eindeutig sind. Ein »linker« Vater dreht seiner Tochter, Bodo Ramelow der Republik Konräteslust den Geldhahn zu – wer wollte da von Erdrosselung sprechen? Läßt der deutsche Oberst Georg Klein von seinem behaglichen Platz am Bildschirm aus ungefähr 100 afghanische Zivilisten bombardieren, ist es kein Mord oder Totschlag, weil es für eine gute Sache ist. Zweifel an der Güte verbittet sich »Verteidigungs-minister« Karl-Theodor zu Guttenberg. Ohrfeigen Sie einmal einen abgerissenen Obdachlosen, der ihren schönen Hund beschimpft! Es wird Ihnen nichts passieren. Aber ohrfeigen Sie einmal Guttenberg!
Hier prallt die Buchstabengläubigkeit des gesetzestreuen Bürgers auf die Machtverhältnisse. Es gibt keinen Paragraphen, den ich nicht so oder so auslegen könnte; bin ich aber machtlos, wird sich meine Version kaum durchsetzen. Dieses System der Rechtspflege funktioniert umso besser, je mehr es im Laufe der Zivilisation verkompliziert werden kann. Wissen und Winkelzüge haften magnetisch an den Platinuhren der jeweils herrschenden Elite, während der Indio nur seine Machete hat. Damit ist er dem Dschungel aus Paragraphen, Kommentaren und Ausnahmeregelungen nicht gewachsen. Dieser Dschungel erstickt jedes Bemühen um Gerechtigkeit im Keim, von seiner aberwitzigen Kostspieligkeit einmal abgesehen. Genau deshalb wurde er gepflanzt: er macht die Welt undurchschaubar und verbürgt Unmengen einträglicher Arbeitsplätze, vom Gerichtsdiener und Rechtsberater bis zum obersten Verfassungshüter.
Ein republikanisches Rechtswesen muß selbstorganisiert und egalitär sein wie die Republik auch sonst. Klappt das nicht, klappt die ganze Republik nicht. Ihre Verfassung genügt. Sie benötigt kein Gesetzbuch, denn jeder weiß, was gut und böse ist oder meint es jedenfalls zu wissen: darüber kann man sich verständigen. Während sich Gut und Böse stets gleich bleiben, liegt doch jeder Konfliktfall anders. Deshalb hat eine republikanische Schlichtung biegsam zu sein; sie erfindet das Recht ständig neu. Allerdings unterstellt sie dabei den wohlwollenden, gemeinnützigen Republikaner, während Cäsar, Krupp und Guttenberg den eigennützigen, auf Abwege sinnenden, Ränke schmiedenden, haßerfüllten Bürger unterstellen. Sie ernten, was sie säen. Die Republik benötigt keine Polizei, keine Erzwingungshaft, keine Strafe. Die soziale Ächtung erzwingt genug, falls es nötig sein sollte. Strafe beinhaltet den Vergeltungs- und Sühnegedanken, den freie sterbliche Menschen ablehnen. In eine groteske Welt gepfropft zu sein, ist schon Strafe genug. Der Mensch, der gefehlt hat, soll nicht büßen; er soll es in Zukunft besser machen. Das Gefängnis macht ihn schlechter.
Der einzige Sinn einer Freiheitsstrafe unter republika-nischen Bedingungen könnte der Schutz der Gemeinschaft vor eingefleischten Übeltätern sein, beispielsweise Kinderschändern, Vergewaltigern, Totschlägern. Doch zum einen wird man diese Sorte in der Republik kaum antreffen, sofern diese nicht unablässig von außen mit Gift vollgepumpt wird. Zum anderen ist es in krassen Fällen immer noch besser, dem notorischen Übeltäter in Selbsthilfe das Handwerk zu legen, als ihn einer staatlichen Züchtigungsmaschinerie zu überantworten. Deren Gewaltmonpol wäre das weitaus größere Übel. Es wäre also vorzuziehen, den betreffenden Menschen zu verjagen, zu verprügeln, notfalls auch zu töten. Das hätten die betroffenen RepublikanerInnen persönlich und eigenhändig zu tun. Damit bliebe auch die Verantwortung für ihr Tun (und infolgedessen beispielsweise ein schlechtes Gewissen) bei ihnen. So hielten es viele amerikanische Indianerstämme und viele Völker oder Gruppen vor ihnen. Wir dagegen delegieren unsere Verantwortung an die Züchtigungsmaschinerie und widmen uns dem Frühstücksei nebst Zeitung.<<
A-5 Abschied von Iberien (2021, →Berneri)
Falls Sie es noch nicht wußten: Die Unterlegenen im Spanischen Bürgerkrieg waren (1939) die Franco-Leute. Daraufhin zogen diese es verständlicherweise vor, die Iberische Halbinsel in Scharen zu verlassen, was der anarchistisch geprägten Volksfront nur recht sein konnte. Sie rief sofort die Freie Republik Iberien aus, schaffte das Geld ab, riet den Republikanern, die eigenen und erbeuteten Schußwaffen gut zu reinigen und einzufetten, und teilte die Halbinsel in rund 70 Tinas auf. Die Tinas, auf deutsch Wanne oder Kübel, waren entfernt den nordamerikanischen Countys vergleichbar. Die Algarve, Südportugal, in der sich schon wenige Monate nach der siegreichen Schlacht am Ebro der aus Paris herbeigeeilte Russe Victor Serge niederließ, war zum Beispiel auch eine Tina. Jede Tina hatte einen von den Grundorganisationen (GOs) gewählten regionalen Rat. Darüber gab es nur noch den Republikrat, der stets, schön zentral gelegen, in der ehemaligen spanischen Hauptstadt Madrid saß. Hier winkt leider schon ein großes Problem (das der Größe), auf das ich noch zurückkommen werde.
Wie man sich denken kann, war der Sieg nur geglückt, weil die Volksfront auf die Unterstützung der Sowjetunion bauen konnte. Diese Unterstützung wiederum fußte auf einer Aktentasche, die AnhängerInnen Nestor Machnos, der kürzlich in Paris gestorben war, gleich am Beginn der Kampfhandlungen der Volksfront zugespielt hatten. Die Aktentasche enthielt Fotografien von verschiedenen Dokumenten, darunter ein Obduktionsbericht und ein Sitzungsprotokoll georgischer Bolschewiken. Diese Unterlagen bewiesen: die junge Tifliser Schneiderin und Modistin Ketewan Swanidse war im Jahr 1907 mitnichten an Typhus oder Tuberkulose gestorben, wie es später in allen Nachschlagewerken hieß. Vielmehr hatte der nicht minder junge Genosse Stalin, damals vorwiegend Bankräuber zugunster der Parteikasse, sie vergiftet. Die beiden waren seit gut einem Jahr verheiratet gewesen. Es lag auf der Hand, daß sich Stalin nun, als Staatschef, zähneknirschend ins Unvermeidliche fügte, als ihn UnterhändlerInnen in das Geheimnis dieser Aktentasche einweihten. Er, der Kapitän des Bollwerks des Kommunismus, mußte der ersten nennenswerten anarchistischen Republik auf Erden unter die Arme greifen und ihr auch in der Nachkriegszeit wohl oder übel die Stange halten. Das bescherte Iberien unter anderem einen eher lästigen Sitz in der UNO und einen Höflichkeits-besuch des Genossen Walter Ulbricht, Ostberlin.
Sie ahnen es womöglich schon: mit der Auflösung der DDR und des gesamten Ostblocks um 1990 waren die Tage der so hoffnungsfroh stimmenden Freien Republik Iberien gezählt. Den Abschluß entsprechender Wühlarbeit bildet schon 2003 ein »Luftschlag« der Nato. Damit ist Iberien ins Reich der Westlichen Tauschwertgemeinschaft heimgeholt. Putin läßt es zu. Die in Berlin residierende Schröder-Fischer-Bande hatte mitgewühlt, wie noch zu belegen wäre. Diese Geschichte gedachte ich, beispiels-weise, 2023 aus der Sicht des letzten iberischen Rates für Auswärtiges zu erzählen, der seinen Lebensabend in Abchasien am Schwarzen Meer verbringen darf. Er stammt aus einem Dorf bei Faro, Algarve, just im letzten Bürgerkriegsjahr geboren. Seine Geschichte ist auch ein gramvolles Requiem auf die Katalanin Alba Pedrell, seit 1983 (oberste) Schiedsrätin der Republik. Sie hatte am vorletzten Tag der Republik darauf bestanden, sich anstelle ihres deutlich älteren Genossen aus dem Außen-amt, bei angeblich »freiem Geleit«, zwecks Verhandlungen ins Hauptquartier der von der Nato gesponserten »Rebellen« zu begeben. Sie wurde gedemütigt und heimtückisch ermordet.
Wenn ich nun von diesem Schreibvorhaben Abstand nehme, hat es mehrere Gründe. Zunächst beschlich mich der Verdacht, ich würde mich dadurch in Wiederholungs-gefahr begeben, und das auch noch völlig nutzlos. Immerhin habe ich in 10 zurückliegenden Jahren drei längere »utopische« Erzählungen verfaßt, die just um Freie Republiken kreisen: in Konräteslust, in der Mollowina, auf Pingos. Während mir Konräteslust noch drei Stimmen einbrachte, erzielten die beiden jüngeren Texte null Echo. Das schließt selbst Freunde und Bekannte ein. Man gibt sich Mühe mit hübschen und wahrscheinlich sogar originellen Erfindungen – die Welt scheißt darauf.
Ferner schreckt, ja entmutigt mich, wie bereits angedeutet, das Problem der Größe. Gewiß war die iberische Halbinsel mit rund 30 Millionen bis zum Bürgerkrieg vergleichsweise dünn besiedelt – allerdings nur von der kapitalistischen, parlamentarischen Warte aus verglichen. Für meine Zwecke sind es zuviel. Zwar fiel durch den Bürgerkrieg Blutzoll von fast einer halben Million an, während es ähnlich viele Leute, siehe oben, ins Ausland trieb. Doch den Platz dieser Toten und Geflohenen nehmen jede Wette Antifaschisten aus zahlreichen europäischen Ländern, ja sogar aus Japan ein, die man auch, für den Aufbau, ohne Zweifel benötigt. Aber ich kann mir nicht helfen, 30 Millionen sind zuviel. Freie Republiken müssen überschaubar bleiben.
Als dickste Brocken hat man sicherlich die Großstädte am Hals. Was soll man mit Lissabon, Sevilla, Madrid, Barcelona und so weiter anstellen, die jeweils mehrere Hunderttausend oder gar über eine Million BewohnerInnen haben? Auf die Zertrümmerungen durch den Bürgerkrieg zu setzen, wäre nur eine wenig durchgreifende Verlegenheitslösung. Für mich wären schon Städte mit 10.000 Einwohnern viel zu groß. Soll man die übernommenen Großstädte also eigenhändig zertrümmern, nach dem Sieg? Das wird teuer. Oder soll man sie den Ratten überlassen? Aufschrei der WHO – und die UNESCO schimpft den Republikrat einen Hort der Barbaren, weil er die prachtvollen Schlösser und die prachtvollen Gemälde, die den iberischen Adel zeigen, verkommen lasse. Auch das gehört selbstverständlich zum Problem: die unumgängliche »Einbindung« in die Strukturen unserer verderbten spätkapitalistischen Welt. In der Mollowina habe ich es mehr oder weniger elegant umgangen.
Hier bietet sich eine Abschweifung zu Oskar Maria Grafs angeblich utopischem Roman Die Erben des Untergangs an, der mir, in der Zweitfassung von 1959, erst in diesem Winter untergekommen ist.* Behandelt wird die Reorganisation der Menschheit nach einem verheerenden Atomkrieg. Um es gleich zu sagen, dieses Werk des in New York City gelandeten bayerischen Schriftstellers ist rundum mißglückt. Das Thema einmal ausgenommen, fesselt es von der ersten bis zur letzten Seite durch nichts. Die Sprache schwankt zwischen UNO-Protokoll und Schülerzeitungspoesie; das anfängliche Chaos auf der Erde verläßt den Autor nie, denn dazu hätte er einer Richtschnur bedurft; statt ein paar Hauptfiguren zu profilieren, überschwemmt er uns mit einer Personenflut, die mit der Unterscheidung der Leute auch unsere Anteilnahme verhindert; die geografische Lage der Leute und ihrer »Agrostädte« oder Reiserouten hängt meistens in der Luft – man bekommt einfach kein Bein auf den Boden. Um uns bei der Stange zu halten, durchsetzt er seine langweilende Planlosigkeit mit ein paar Liebesgeschichten und Hinrichtungsszenen der Marke Groschenroman.
Dies alles hängt ohne Zweifel mit Grafs Globalisierungswut zusammen, wie man heute dazu sagen würde. Er will die Welt retten. Ergo bedarf es vor allem erst einmal einer Weltregierung. Dieser Globalisierungswut entspricht wiederum Grafs typisch nordamerikanische Besiedelungsmeise. Er ist alles andere als ein »Stiller«, wie er die buddhistischen ErdulderInnen nennt; er duldet im Gegenteil kein freies Fleckchen auf Erden und keinen Rückschlag in der Nachwuchserzeugung. Den Alten macht er den Mund nach »Verjüngungskuren«, den Agrostädtern nach künstlich erzeugtem Regen wässrig. Übrigens haben seine »Agrostädte« angeblich nie mehr als 20.000 EinwohnerInnen, was natürlich auch schon zuviel wäre. Die EinwohnerInnenzahl der in Nordamerika liegenden Welthauptstadt Peacetown nennt er nie, falls ich es nicht übersehen habe, doch aus Indizien wie ein neues 30stöckiges Regierungsgebäude allein für die Plan-Kommission, »breiten Autostraßen« (Marke Brasilia, nehme ich an) und überhaupt kaum umreitbaren Herden von Bürokraten darf man wohl auf einen kleinen Moloch schließen. Auf Seite 399 teilt Graf befriedigt mit, trotz des Atomkrieges und einer hausgemachten, niederge-schlagenen »Rebellion« in Asien sei man schon wieder bei 450 Millionen Erdbewohnern angelangt. Angesichts »der inzwischen unendlich reich gewordenen, völlig erschlossenen Erde« sei das freilich noch immer viel zu wenig. »So mußte es dem Rat vor allem darum gehen, die furchtbaren Verluste wieder aufzuholen und neue zu vermeiden.« Jene krasse Dezimierung als Chance zur Verkleinerung menschlicher Verhältnisse zu begreifen, kommt dem stämmigen, eher untersetzten Bayern nie in den Sinn. Das hat er vielleicht Robert Merle überlassen (Malevil, 1972), der in der Tat auch der bessere Schriftsteller ist.
Graf erweist sich als treues Kind des Fortschritts-gedankens, der Technikbegeisterung, des Glaubens an Politik. Läßt er den »Hohen Rat« der Welt sich am Buchende für das Provinzielle und die Abdankung erwärmen, mutet er uns eine völlig unglaubwürdige Läuterung zu, die vom Himmel fällt. Lenin machte uns schon das Gleiche weis: ist der Sozialismus erst einmal aufgebaut, werden die bolschewistischen Strukturen absterben. Vom Sachzwang und vom Geschmack an Machtpositionen hat Graf so wenig Ahnung wie von Politischer Ökonomie und Anarchismus. Seine neue Welt ist staatskapitalistisch eingerichtet und bedient sich all der Instrumente der Entfremdung, die man sattsam kennt: Schule, Geld, Polizei, Justiz, Geheimagenten, Lautsprecher, Verkehr (meist per Luftfahrt) ohne Ende. Und auf diesem schädlichen Krempel hockend, redet er uns unverfroren ein, jetzt sei die Menschheit, im großen und ganzen, endlich glücklich.
Sein Grundfehler ist, wie schon angedeutet, die verbohrte Absicht uns vorzuführen, die Befriedung unseres lückenlos besiedelten oder jedenfalls durchforsteten Planeten sei durchaus möglich. Das gelingt ihm selbstverständlich nicht, und so windet er sich in Krämpfen und Wunschdenken. Heute, 60 Jahre nach Grafs mißglücktem Wurf, mit kapitalistischen und bürokratischen Monstern und einer Weltbevölkerung von demnächst acht Milliarden gesegnet, ist jene Befriedung so gut wie unvorstellbar. Ich wüßte auch keinen Schriftsteller oder Wissenschaftler, der sich ernsthaft an einer Lösung dieser gewaltigen Aufgabe versuchte. So popeln die Reformisten der Welt an lächerlichen Verbesserungsvorschlägen herum, die es vielleicht, in der Summe, schon irgendwann einmal richten werden. Das Eingeständnis, das Projekt Menschheit sei gescheitert, fürchten sie ähnlich krankhaft wie Impotenz oder Gebärmutterkrebs. Nur Corona finden sie schlimmer.
Ich erwähne abschließend noch einen dritten Grund, mein Projekt Iberien zu verwerfen: dummerweise habe ich leider ausgerechnet von Spanien und Portugal wenig Ahnung. Selbst von Rafael Chirbes kenne ich bislang nicht eine Zeile. Da war ich nie. Ich müßte mich also unter beträchtlichem Aufwand in alle wichtigen Eigenarten der Iberischen Halbinsel und ihrer BewohnerInnen einarbeiten – und das bei der guten Aussicht, auch weiterhin ignoriert zu werden. Übrigens müßte ich vor allem ganz schnöde Dinge wissen: Wetter, Hausbau- und Heizmaterial, Eßgewohnheiten, Laster, Flüche und dergleichen mehr. Mein Wissen über »den« Spanier (beiderlei Geschlechts) beschränkt sich im Augenblick auf folgendes: Er spricht mit Händen und Füßen und immer schnell; er heiligt die Siesta; er ist gesellig; er schätzt die Folterung von Stieren; leider liebt er auch den Lärm; dafür übt er viel Nachsicht mit Kindern.
Das letzte wäre für meine Zwecke natürlich sehr brauchbar gewesen. Es vergeht kaum ein Tag, wo ich beim Einkaufen oder Spazierengehen nicht die Fäuste in den Taschen balle, weil irgendein Erwachsener seinen kleinen Sprößling gängelt. Das verhält sich »natürlich« schon immer so. Aber neuerdings zischt er auch noch: »Hörst du jetzt endlich auf, an deiner Atemschutzmaske herum zu fummeln!« Wenn ich wüßte, wie ich die in Erfurt, München, Berlin residierenden obersten KinderquälerInnen wirksam beleidigen könnte, ich würde es tun. Aber an denen prallt alles ab.
* hier als dtv-Ausgabe München 1994
A-6 Über die Kunst des Winselns um Gnade
(2012, →Coleen)
Ich habe mein Stück Hunde wollt ihr … bei einem Wettbewerb eingereicht. Man wird vielleicht sagen: na prima – und warum erzählen Sie uns das? Weil ein Wunder geschah: meine Bewerbung wurde mir anderntags vom Sekretariat der Jury schriftlich bestätigt. Das hat Seltenheitswert. Es ist schon viel, wenn man nach fünf oder sieben Monaten auf eine entsprechende Nachfrage zu hören bekommt: »Der Preis konnte leider nicht an Sie vergeben werden. Aber hätten sie das nicht schon den Medien entnehmen können?« Schreibe ich dann zurück, ich besäße weder Zeitungsabonnement noch Fernsehgerät und sei von meinem Hausarzt auch vor dem Internet gewarnt worden, wissen diese Leute wenigstens, daß sie ihren Preis einem Kranken verweigert haben.
Nicht-Literaten ist es vielleicht nicht klar: diese Preisgremien, die über das Schicksal von Kunstwerken und Künstlern entscheiden, sind ganz überwiegend zu ihrem Amt gekommen wie die Amis und die Israelis zu ihren Atombomben: durch Selbstermächtigung. Sie hatten zufällig das Stiftungskapital, weil ein wackerer Verwandter das Dynamit erfunden hatte, oder doch wenigstens das Geld dafür, sich die Mehrheit in den zuständigen Parlamentsgremien oder sogenannten öffentlich-rechtlichen Anstalten zu verschaffen. Einmal am Hebel, haben sie es natürlich auch nicht nötig, ihre unerforschlichen Rat- beziehungsweise Ausschlüsse mit mehr als Phrasen beziehungsweise Schweigen zu begründen. Sie haben es noch nicht einmal nötig, Ausreden wie die sogenannten »Sachzwänge« zu bemühen. Sie kosten beim Überfliegen und Verwerfen der 300 bis 1.000 eingereichten Manuskripte ihre Macht aus, und dabei möchten sie nicht gestört werden, zumal sie noch den Hund Gassi führen müssen. Ich wäre nicht verblüfft, wenn 9 von 10 Mitgliedern unserer Literaturpreisgerichte HundehalterInnen wären. Trifft diese Vermutung zu, erklärt sich auch mein überwältigender Erfolg bei ihnen. »Sie pinkeln ja in jedem dritten Text die Hunde an!« hielt mir einmal bei einer Lesung eine ältere Dame vor. Ich stellte richtig: »Wenn schon, dann die HalterInnen der Hunde, bitte schön!« Es half nichts. Sie fuhr verzweifelt fort: »Was haben Sie denn gegen Hunde? Hatten Sie in ihrer Kindheit traumatische Erlebnisse mit ihnen? Dann hülfe vielleicht eine moderne Verhaltenstherapie. Wissen Sie, der Therapeut führt Sie ganz allmählich an den Hund heran, vom Dackel bis zum Dobermann, und früher oder später werden Sie freudestrahlend erkennen: Der tut mir ja gar nichts, der ist ganz lieb!«
Ich bin mit Hunden aufgewachsen und kann mich von daher nicht über sie beklagen. Im nordhessischen Städtchen Gudensberg, wo wir am Ortsrand wohnten, lag die schwarze Schäferhündin Anka nachts in ihrem Zwinger, um meine dreikäsehohen Träume zu bewachen. Tagsüber tollten wir oft durch die Felder. Mein Argwohn gegen Hundehaltung wurde erst geweckt, als ich mich um 40 mit Philosophie und um 50 mit anarchistischen Kommunen befaßte. Mir dämmerte, hier stimmt etwas nicht. Meine Mitkommunarden ekelten sich vor Befehlshabern und Hierarchien, aber ihren Köter maßregelten und züchtigten sie wie andere Leute ihr Kind. Das war ja bei uns verboten, das Kinderzüchtigen. Also boten sich die Hunde an. Und sie hätschelten ihren Köter auch wie andere Leute ihr Kind. Sie befleißigten sich also der Methode Zuckerbrot & Peitsche, die nach allem, was ich gehört und gelesen hatte, in libertär gestimmten Kreisen verpönt, ja sogar verachtet wird. Hier war es plötzlich hoffähig, daß ein Mitwesen in einem fort entweder um Befehle oder aber um Liebe bettelte. Hier nahm man plötzlich an Sklavenhaltung keinen Anstoß. Hier durften plötzlich vierbeinige Verkörperungen der Unterwürfigkeit Tisch und Bett der anarchistischen Kommune teilen. Freilich kann ich es inzwischen, nach 15 Jahren der rotgrünen Restauration, irgendwo auch wieder verstehen. Die Kommunen kämpfen ums Überleben; sie haben wenig Zulauf; man sollte ihnen nicht auch noch die Hunde wegnehmen.
Um das Machtgefühl zu studieren, das aus Hundehaltung erwächst, genügt es eigentlich, die Gesichtszüge eines Amtsgerichtsdieners oder einer Supermarktverkäuferin zu beobachten, deren dänische Dogge gerade das Hinterbein hebt. Sie dürfen ungestraft jeden Laternenpfahl anpinkeln, den Staat! Sie dürfen ungestraft die Haustür anpinkeln, des Nachbarn! Sie dürfen das deutsche Reinheitsgebot unterlaufen und hinscheißen, wo sie wollen! Sie dürfen das Grundgesetz aushebeln, denn wo ein Rottweiler auf einem Feldweg steht, hat die Freizügigkeit ihre Grenzen. Dafür werden sie selber vom Erwerb eines Waffenscheins befreit. Übrigens hat die Freizügigkeit schon dort ihre Grenzen, wo sich der Wächter des Hauses mit einem Gebell an den Maschendraht wirft, das jedem herzschwachen Rentner drei Tage Lebenserwartung raubt.
Der Lieblingseinwand der HundehalterInnen ist bekannt: Ich will ja nicht sagen, Sie hätten das alles an den Haaren herbeigezogen, aber für meinen Langhaardackel gilt das nicht! Grundsätze, die für alle Mitglieder einer Gemeinschaft gelten, sind den HundehalterInnen scheißegal. Ein Grundsatz ist es zum Beispiel, niemanden zu bedrohen. Was sollen wir aber von einem Menschen halten, der uns mit einem Messer in der Hand entgegen kommt? Sollen wir uns da mit dem Gedanken trösten, vielleicht will er nur Kartoffeln schälen oder Spargel stechen? Nein – ich habe in jedem Falle Angst. Denn jeder öffnungsfähige Hunderachen ist ein Messer. Und das Angstmachen ist der beliebteste Volkssport auf Erden. Macht man nicht mit Hunden Angst, dann vor der Hundegrippe. Ein Mensch, der mit seinem Köter umherstolziert, ob angeleint oder nicht, steht jenen Preisgremien in der Selbstermächtigung um keinen Deut nach. Mir bleibt nur übrig, zu reagieren, ob mit Schweißausbruch, Umweg oder Beschimpfung.
Ich verlasse das schlüpfrige Pflaster der Psychologie und betrete die Volkswirtschaft. Man überschlage einmal, wieviele Indiokinder von dem Geld, das wir Zivilisierten für Hundehaltung ausgeben, 10 Jahre lang ernährt und auf eine höhere Schule geschickt werden könnten? Freilich, den Indiokindern könnte der Futtermulti Mars Incorporated nicht so leicht »Pedigree Pal« verkaufen, noch nicht. Für diesen ist es einträglicher, eine sogenannte Expertin zu kaufen, die in einer auflagestarken Haustierzeitschrift verkündet, diese und jene Hundesorte sei besonders kinderlieb. Die uns alle Vierteljahre erfreuenden Meldungen, Hund Soundso hätte Kleinkind Soundso totgebissen, seien nur Zeitungsenten. Und was ist denn von jenen Menschenversuchen zu halten, die an palästinensischen oder afghanischen Kindern angestellt werden, indem sie vor den Augen ihrer Eltern von den Befreiern ihres Landes erschossen werden? Man sperrt diese Kinder zu diesem Zwecke noch nicht einmal in Tierheime oder Labore ein, das wäre viel zu teuer.
Man wird vielleicht einwenden, wer Hundefutterfabriken boykottiere, mache Tausende von armen Menschen arbeitslos. Das Argument wiegt allerdings schwer, gibt es doch in Deutschland seit jenem unseligen Nachkriegstag, da wir die KZs schließen mußten, nichts Verwerflicheres als die Vernichtung von Arbeitsplätzen. Deshalb macht sich auch die sogenannte »Linkspartei« für fünf Meter breite Offroader und geschickt lackierte Schützenpanzer von Volkswagen stark. Am liebsten würde sie ihre ehemalige Landsmännin Angela Merkel bitten, das nächste milliardenschwere Rettungspaket ins Ozonloch zu werfen. Dadurch würde das Ozonloch endlich deutlich größer, und dem Aufschwung in unseren Hautkrebskliniken stünde nichts mehr im Wege.
Am meisten fürchte ich freilich den Einwand, ich möge gefälligst etwas weniger bissig schreiben, dann machte ich mir auch nicht so viele Feinde, wogegen meine Aussichten, jemals einen Literaturpreis zu erringen, sicherlich sprunghaft anstiegen. Ich fürchte diesen Einwand, weil er kaum zu entkräften ist. Denn die Sache ist, wie sie der Schriftsteller Hans Henny Jahnn einmal vor der Literaturklasse der Mainzer Akademie beschrieb: Niemand könne plötzlich beschließen, wie Hedwig Courths-Mahler zu schreiben. Denn jeder sei auf sein Naturell festgenagelt, so wie der Hund auf sein Fell.
A-7 Die VerbrecherInnen sind mitten über uns (2016, →Gaidzik)
Die Losung »Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen« ist in der sogenannten Linken bekannt und beliebt. Man findet sie auf unzähligen Webseiten und sogar bei der Sozialdemokratie. Sie wurde vor rund 25 Jahren vom damaligen Bundesgeschäftsführer der VVN-BdA Klaus Harbart für einen Aufkleber des Verbandes vorgeschlagen und trat dergestalt sogleich ihren Siegeszug an. Ob Harbart sie irgendwo entlehnte, läßt sich wohl nicht mehr ermitteln, weil er bereits tot ist. Nach manchen Gerüchten stammt die Losung eigentlich von Bertolt Brecht, doch dafür fanden KennerInnen bislang keine Belege. Und selbst wenn es so wäre, verlöre sie dadurch ihre Verfehltheit nicht.
Nach dieser Losung gehört nur das »Kriminelle« geächtet, verboten, bestraft. Das Kriminelle ist das besonders Böse. Alles übrige Böse – dessen Existenz wahrscheinlich sogar Harbart nicht abgestritten hätte – ist normal, ist tragbar. Die Losung greift die äußerst fragwürdige bürgerliche Unterscheidung zwischen der Normalität und dem Verbrechen auf. Diese Unterscheidung hat den Vorteil, zahlreiche wichtige Dinge zu adeln, die nicht minder kriminell als ein Bankeinbruch, aber eben »normal« sind. Zum Beispiel der Besitz einer Bank, um an Brecht zu erinnern. Oder die Verbreitung von Medikamenten und Behandlungsverfahren, die zwar nachweislich wirkungslos / gesundheitsschädigend / tödlich, aufgrund ihres Heilsversprechens aber sehr gut verkäuflich sind. Oder die Terrorisierung des eigenen Sprößlings über Jahre hinweg, einerlei mit welchen Mitteln. Ich bevormunde ihn, erpresse ihn, mache ihm Schuldgefühle, bis er sich nach einigen Jahren aufhängt. Wo wäre der Unterschied zu dem Fall, ich hätte ihn gleich im zarten Knabenalter erschossen? Er liegt in der Qual, die mein Opfer vor seinem »Selbstmord« noch genießen durfte.
Lassen sich Verbrechen und das Leid ihrer jeweiligen Opfer überhaupt messen? Und dadurch – über den Vergleich – vom Nichtverbrechen und Nichtleiden an einer bestimmten Stelle (des Zollstocks oder des Thermometers) abgrenzen? Ich sage: nein. Aber das Gegenteil geschieht. Die geschundenen Häftlinge und die Millionen Ermordeten des deutschen Faschismus sind wunderbar zählbar. Die Leichen liegen alle auf einem Haufen, ein wahrer Berg, das macht etwas her. Welches Schattendasein müssen dagegen die Sklaven führen, die sich der »normale« Imperialismus zwischen 1500 und 1850 allein in Afrika besorgte und die er, wenn nicht schon auf den Schiffen, auf den Plantagen unbedenklich verrecken ließ! Es waren übrigens mindestens 100 Millionen verschleppte Menschen, dabei oft die gesündesten und arbeitsfähigsten, schätzt Gert von Paczensky in seinem ursprünglich Die Weißen kommen betitelten Buch, das erstmals 1970 erschien. Doch es handelt sich eben nur um eine Schätzung. Niemand führte Buch, und der Raub und das Verrecken zahlreicher Sklaven verteilten sich so günstig über etliche Jahrhunderte und Empfängerstaaten, daß sie kaum auffielen und nur wenig Anstoß erregten. »Raten merkt man nicht so«, weiß diesbezüglich jeder Kleine Mann, der sich verschuldet hat. Durch die Tilgung in Raten wird seine Gesamtschuld zwar nicht geringer (im Gegenteil), jedoch erträglicher.
Ich denke auch an das Riesenschweiß- und Blutbad, das der britische Imperialismus allein zwischen den beiden Weltkriegen allein in Asien anrichtete. Diese Fremdherrschaft schloß die Aufstachelung der Völker oder Religionen gegeneinander genauso ein wie die gnadenlose Ausbeutung, das Totprügeln oder Auspeitschen Ungehorsamer und die Demütigung von Eingeborenen, die man noch nicht erschlagenen oder ausgepeitscht hatte. Hat die zivile Öffentlichkeit damals gezetert, die höflichen, stets mit Schirm, Charme und Melone angetanen NordseeinselbewohnerInnen seien »herzlose Mörder, Plünderer und Verschwörer, wie sie die Welt ihresgleichen noch nicht gesehen« habe? Nein, diese Worte richtete Hartley Shawcross, britischer Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, an die Adresse der bösen Nazis. Und alles, was zwecks besserer Abstützung von Hut, Stahlhelm und Doppelmoral zwei Ohren mitbekommen hatte, nickte beflissen. Der schweizer Politiker und UN-Diplomat Jean Ziegler erlaubte sich unlängst die Unhöflichkeit, die Wahrheit auszusprechen. Er bemerkte in einem Gespräch mit der Jungen Welt (16. November 2012): »Laut ECOSOC-Statistik sind vergangenes Jahr 52 Millionen Menschen Epidemien, verseuchtem Wasser, Hunger und Mangelkrankheiten zum Opfer gefallen. Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in wenig mehr als einem Jahr.«
Gegenwärtig überschlagen sich unsere ZentralbankerInnen mit den immerselben, jedoch immer wahnsinnigeren Stützversuchen zur Rettung eben dieses kriminellen Weltwirtschaftssystems. Sein zu erwartender Zusammenbruch wird nach Einschätzung vieler kritischer BeobachterInnen den bekannten historischen »Schwarzen Freitag« in den Schatten stellen. Dann werden die verantwortlichen Herrschaften zusätzlich zu den von Ziegler angeführten Opfern für weitere Hunderttausende von Toten und Millionen von Verzweifelten und Verelendeten gesorgt haben. Das wissen sie auch ganz genau, doch da sie verrückt sind, ist es ihnen egal.
Von Paczensky verwahrt sich in seinem Buch wiederholt* gegen die seit Jahrzehnten, bis heute beliebte »Vereinzigartigung« der faschistischen Verbrechen. Der Ausdruck stammt von mir. Dadurch wolle man nur von den eigenen Schandtaten ablenken. Diese würden sich lediglich durch eine andere Technik von denen des »Dritten Reiches« unterscheiden. »Und durch die Opfer natürlich: Farbige. / Ausrottung en gros, Mord en detail ist das Geschäft der weißen Kolonialmächte durch die Jahrhunderte hindurch – und noch lange, nachdem die Nazis verschwunden sind.« Ob Schwarze, Gelbe, Rothäute, Muslime, Terroristen aller Art – ihr gemeinsamer Zug, der sie zu Freiwild macht, ist der Mangel an der weißen Weste der sogenannten Marktwirtschaft. Man denke nur an jenen »Mord en detail«, den sich Obama und seine Geheimdienstchefs Tag für Tag mit Hilfe ihrer Drohnenpiloten gestatten. Da erfolgt der Todesstoß gleichsam aus heiterem Himmel. Will mir wirklich einer weismachen, einen Juden mit dem Gewehrkolben auf die Wache, dann ins KZ zu stoßen, sei ungleich heimtückischer gewesen? Man denke überdies an die Atombomben, die die Yankees unter scheinheiligen Rechtfertigungsversuchen auf Japan warfen – und an die Atomkraftwerke, die sich die Japaner dann später idiotischerweise selber auf ihre Inseln stellten. An diesen tödlichen Versorgungseinrich-tungen hielten sie auch nach »Tschernobyl« fest, weil sie selber einmal ein paar Kernschmelzen hervorbringen wollten. Vor fünf Jahren, im März 2011, war es soweit: Fukushima. Wieder wurde ein ganzer Landstrich verseucht. Wieder wurde mit allen Mitteln abgewiegelt und beschönigt. Neben den bekannten hauseigenen hatte man auch die bekannten Gefahren durch Erd- und Seebeben in Kauf genommen. Das einzige, wovon die dortigen Verantwortlichen bis heute nichts wissen, ist der Zustand im Inneren der betroffenen Reaktoren. Außen jedoch leiten sie unbekümmert radioaktives Wasser in den Pazi-fik, auf daß die Rate der Krebskranken weltweit tüchtig ansteige. Und so etwas soll kein Schwerverbrechen sein?
Nun drohe ich allerdings, wie mir gerade aufgeht, selber in die Falle des Messens und Verrechnens zu tappen. Der landläufige Einwand gegen mein Beispiel mit dem ins KZ verschleppten Juden lautet schließlich, es habe sich keineswegs nur um einen, vielmehr um sechs Millionen Juden gehandelt. Es ist die Falle des Quantitativen Denkens. Danach soll das von sechs Millionen Verfolgten und Ermordeten angehäufte Leid ungleich entsetzlicher als das Leid des einen Menschen sein, der gerade in einem türkischen Folterkeller oder unter einem VW Touareg stöhnt. Aber diese Sichtweise ist falsch. Sie ist zutiefst unmenschlich, wie jeder spürt, der ein Herz hat. Ein Seitenstück dieser Sichtweise ist die besonders unter halbherzigen »Systemgegnern« beliebte Theorie des Kleineren Übels. Bin nur ich gefoltert oder plattgefahren worden, handelt es sich lediglich um ein Übelchen. Richtig schlimm wird es erst ab 1.000 oder ab einer Million.
Was ich nach alledem von den immer wieder aufgewärmten Bemühungen halte, die NPD, wohl bald auch die AfD zu verbieten, liegt auf der Hand. Verbote haben nicht den geringsten erzieherischen Wert, ja schlimmer noch, sie bewirken bekanntlich oft genug das Gegenteil dessen, was sie, angeblich wohlmeinend, beabsichtigen. Was allein Abhilfe schüfe, wäre die Trockenlegung des ökonomischen und ideologischen Nährbodens, auf dem rohes Gedankengut gedeiht. Aber das ist leicht gesagt; schon bei uns ist er immerhin knapp 360.000 Quadratkilometer groß. Zerrt also bitte nicht den einen oder anderen braunen Sündenbock, vielmehr das gesamte verlogene, sich in einem fort tarnende Staats- und Parteiengebilde namens »Deutschland« vor Gericht. Das gäbe den ersten schönen Mammutprozeß der Weltgeschichte.
Im Ernst: man sollte Deutschland endlich verbieten. Nur stünden wir dann vor dem Riesenproblem der Verkleine-rung aller menschlichen Einrichtungen und Zusammen-schlüsse. Es dürfte, so fürchte ich, unlösbar sein.
* Etwa S. 125, 159, 240 des Fischer-TBs Weiße Herrschaft, 1982
A-8 Mysterien der Luftfahrt (2022, →Harder)
Früher hatte man allerlei Mythen, etwa über den angeblichen Urknall, den Überfall der Japaner auf einen im Hafen von Haweii liegenden Müllhaufen der US-Kriegsflotte, die von Bargeld ausgehende Infektionsgefahr und dergleichen mehr. Heute sind Mysterien der Luftfahrt beliebt. Die folgende kleine Zusammenstellung mag zumindest einen dürren Abglanz der entsprechenden Vorfälle geben.
Die Sache trug sich Ende Oktober 1959 zu. Der 27jährige Kubaner Camilo Cienfuegos befand sich gerade auf einem Nachtflug von Camagüey nach Havanna – jedenfalls angeblich. Dabei verschwand er mitsamt seiner Cessna 310 spurlos über dem Ozean. Er wurde weder bei einer schnell eingeleiteten Rettungsaktion noch später jemals gefunden. Die offizielle Darstellung nimmt einen Unfall an.
Nun war aber Cienfuegos nicht irgendwer. Erst im Januar des Jahres war der blendend aussehende Sohn eines Schneiders als erster kubanischer Guerillaführer an der Spitze von 500 Kämpfern in Havanna einmarschiert. Er galt als beliebt. In der Revolutions-Hierarchie (für empfindliche Gemüter ein schwarzer Schimmel) kam er gleich hinter den Castro-Brüdern und Che Guevara. Allerdings glauben einige BeobachterInnen, er habe, auch von seiner Herkunft her, zu anarchistischen Positionen geneigt und in den Monaten vor seinem Verschwinden auch schon Unmut am streng kommunistischen Castro-Kurs geäußert. Gleichwohl hatte Cienfuegos kurz vor seinem Nachtflug getreulich Fidel Castros Auftrag erfüllt, seinen eigenen Freund Huber Matos zu verhaften, der gerade aus Protest gegen die offizielle, kommunistische Linie von seinem Amt als Militärbefehlshaber der Provinz Camagüey zurückgetreten war. Manche halten deshalb Matos – der geschlagene 20 Jahre im Gefängnis zu verbringen hatte – für den Drahtzieher jenes »Unfalls«, der vielleicht ein Abschuß, aber vielleicht auch ein Untertauchen war. Andere tippen wahlweise auf CIA oder KGB.
Die meisten BeobachterInnen vermuten allerdings, die Regierungsspitze selber habe ihre Hände im Spiel gehabt. Immerhin kamen innerhalb kurzer Zeit nach dem Vorfall nachweislich etliche enge Vertraute Cienfuegos' sowie Zeugen und Beteiligte der Aufklärungskommission auf unnatürliche Weise zu Tode, darunter Cienfuegos' persönlicher Adjutant Hauptmann Cristino Naranjo. Es ist freilich auch möglich, daß falsche Spuren gelegt wurden, um ein schlechtes Licht auf die erfolgreiche Revolution zu werfen. Als Historiker sieht man sich wieder einmal mit einem Küchenmesser bewaffnet dem üblichen Dschungel aus Interessen, Intrigen und Lügen gegenüber. Nebenbei äußert sich so gut wie keine Quelle zu der naheliegenden Frage, ob der Verschwundene allein in der Cessna saß oder nicht, ob er überhaupt einen Pilotenschein besaß und so weiter. Da möchte man fast die Eindeutigkeit loben, mit der die Fassade des »Informationsministeriums« in Havanna ein Porträt zeigt, das höher als das achtgeschos-sige Gebäude selber ist.[1] Es stellt den verschwundenen Genossen Cienfuegos dar. 2015 ist die Kubanerin Yoani Sánchez schon soweit, ihn gar nicht mehr finden zu wollen.[2]
Nach einem Artikel, der im Januar 2017 im Monatsblatt Graswurzelrevolution zu lesen war, hatte sich der Berufsrevolutionär fliegen lassen. Im übrigen behauptet Autor »Coastliner«, laut den Aussagen verschiedener Zeugen, darunter ein ortsansässiger Fischer, seien Cienfuegos und sein Pilot Luciano Farinas in der Bucht von Masio durch einen Sea Fury 530-Abfangjäger der kubanischen Armee abgeschossen worden. Als Insassen des Jägers nennt er Osvaldo Sánchez und Kapitän Torres, »ein Vertrauter Raúl Castros«. Raúls Bruder Fidel habe von einem Sturm gesprochen, während andere Beteiligte heute versicherten, es habe damals klares Wetter geherrscht. Coastliner stützt sich bei diesen Angaben auf eine französische Fidel-Castro-Biografie, nämlich: Serge Raffy, Castro, L'Infidèle, Paris 2003, S. 337 ff. Diese Quelle wird auch in der französischen Wikipedia erwähnt. Allerdings betont das Lexikon, bewiesen sei nichts; die damaligen (kubanischen) Flugzeuge seien doch recht brüchig gewesen.
Der italienische Katholik Enrico Mattei (1906–62), ein hochgewachsener, stets elegant wirkender Mann, war Patriot und Antifaschist, aber auch knallharter Unternehmer und Politiker. Im Oktober 1962 zerschellte er, 56 Jahre alt, mit seinem Privatflugzeug bei regnerischem Wetter in den mit Zypressen und Lorbeerbäumen gespickten Fluren der Lombardei. SkeptikerInnen waren nicht verblüfft, hatte Mattei doch als Chefmanager der staatlichen Erdölgesellschaft Agip/Eni sogar den global führenden Ölkonzernen des Freien Westens das Fürchten beigebracht. Er hatte die algerischen UnabhängigkeitskämpferInnen unterstützt und gute geschäftliche Beziehungen zu SU und China gepflogen. Beim Absturz seiner MS.760 Paris in der Gegend von Mailand kamen auch sein Pilot, Irnerio Pertuzzi, und der Time-Life-Journalist William McHale um. Offiziell waren zunächst, wenn nicht das Wetter, »technische Defekte« schuld. Später wurde teils unverblümt von einem Anschlag auf die Maschine gesprochen, so 1986 von Ex-Ministerpräsident Fanfani. Um 2000 strengten Angehörige Matteis und jenes US-Journalisten in Pavia einen Prozeß gegen den Bauern Mario Ronchi an, der als Augenzeuge der Presse gegenüber zunächst von Anzeichen einer an Bord erfolgten Explosion gesprochen, dann jedoch den Schwanz eingezogen hatte, nachdem er offensichtlich bestochen worden war. Dieses Verfahren wurde 2003 »mangels Beweisen« eingestellt.
Drastischer noch ist die Sache mit dem Journalisten Mauro De Mauro, der 1970 den Filmregisseur Francesco Rosi zum »Fall Mattei« mit Recherchen unterstützen wollte. Anscheinend war De Mauro in Palermo, Sizilien, stationiert, wo er nun Geschäftspartner von Mattei befragte. Mitte September jedoch war De Mauro plötzlich verschwunden. Seine Leiche tauchte nie auf. Der geständige Ex-Mafioso Gaspare Mutolo behauptete 1994, der lästige Journalist sei damals entführt und umgehend erdrosselt worden. Diese und viele andere Angaben finden sich bei der Buchautorin Regine Igel.[3] Ihr Buch läßt sich auch fast als LbZ jener zwei Jahrzehnte der »Strategie der Spannung« in Mitteleuropa lesen, als Lexikon beseitigter Zeugen. Dabei werden die unerwünschten Zeugen auffallend oft mit Hilfe fingierter Autounfälle aus dem Verkehr gezogen. Hätte es um 1880 keine wackeren Pioniere mit Interessen der schnelleren Fortbewegung oder schnelleren Profitmaximierung gegeben, wäre das Auto gleichwohl erfunden worden, nämlich von Geheim-diensten oder anderen kriminellen Organisationen, eben als Zeugenbeseitigungsgerät.
Der US-Politiker (der »Demokraten«) Nick Begich, geboren 1932, gilt inzwischen seit genau 50 Jahren als verschollen. Er war zuletzt Kongreßabgeordneter für Alaska. Am 16. Oktober 1972 wurde ihm ein Inlandsflug von Anchorage nach Juneau zum Verhängnis. Der Flug fand im Rahmen des Kampfes um die Wiederwahl Begichs in den Kongreß statt. Neben dem Piloten Don Jonz, 38, befanden sich Wahlkampfhelfer Russel Brown, 37, und der Kongreßabgeordnete aus Louisiana Hale Boggs, 58, an Bord. Auch von ihnen sowie von der Cessna 310 fehlt bis heute jede Spur. Begich wurde zwar wiedergewählt, sogar mit absoluter Mehrheit, doch das war natürlich gegenstandslos, weil der 40 Jahre alte Mandatsträger trotz vieler Gebete nicht wieder auftauchte. Den Sitz übernahm sein unterlegener Konkurrent Don Young von den »Republikanern« als Sieger einer Nachwahl. Das Flugzeug der vier Männer war überprüft, das Wetter für Sichtflug eher ungünstig. Der Pilot und Eigner der Cessna galt jedoch als erfahren.[4] Normalerweise wäre er, bei knapp 1.000 Kilometer Strecke, nach drei bis vier Stunden in Juneau angekommen. Der letzte Funkkontakt fand schon bald nach dem Start statt. Möglicherweise stürzte die Maschine – nicht als erste in diesem riesigen unwegsamen Staat – in eine bewaldete Schlucht oder in ein Gletscher-gebiet. Eine aufwendige Suche über Wochen hinweg blieb erfolglos.
Begich hinterließ, neben seiner Frau, sechs Kinder. Von diesen heißt eins auch wieder Nick. Nach einigen Internet-Quellen behauptete Nick Begich junior später öffentlich, es sei wichtiges Beweis- beziehungsweise Vergleichsmaterial beseitigt worden. Nun darf der Junior sicherlich als befangen gelten, zumal er sich, als Forscher und Autor, mit mahnenden Schriften über Parapsychologie, psycholo-gische Kriegsführung (auch aus dem Weltall heraus) und Bewußtseins- und Gedankenkontrolle hervorgetan haben soll, die auf Wikipedia-Niveau unter den bekannten Holzhammer-Begriff »Verschwörungstheorie« fallen. Andererseits ist der Sohn natürlich nicht der einzige, der Unheil wittert, da es dafür naheliegende Gründe gibt. So soll Begich senior, ursprünglich Lehrer, dann Bauunternehmer, unliebsamer Vertreter der Rechte der Eingeborenen Alaskas gewesen sein. Vor allem aber war der mitverschollene Boggs ein bekannter Gegenspieler Präsident Nixons und früher, 1963/64, Mitglied der Warren-Kommission zur »Aufklärung« des Attentats auf Präsident John F. Kennedy gewesen. Boggs soll die amtlich bevorzugte »Einzeltäter-Theorie« zumindest zeitweise abgelehnt haben.
Laut Isabel Goyer[4], immerhin Chefredakteurin des anscheinend renommierten Magazins Plane & Pilot, wird die Vermutung, Boggs sei Ziel eines Anschlages gewesen, 2020 auch im Podcast Missing in Alaska des Journalisten Jonathan Walczak vertreten. Sie selber hält nach wie vor einen wetterbedingten Absturz, etwa wegen Vereisung, für am wahrscheinlichsten. Dennoch betont sie, Walczak habe zahlreiche Anhaltspunkte für einen Bombenanschlag geliefert, die man kaum übergehen könne. So führe er beispielsweise Entkräftungen der Behauptung ins Feld, die Überlebens-Ausrüstung in der Cessna sei mangelhaft gewesen. Ferner habe er eine echte Komödie ausgegraben. Danach hatte das FBI um 1995 mit einem niedrigrangigen Mafioso aus Tucson, Arizona, zu tun, Jerry Max Pasley, der den Beamten, offenbar im Gefängnis, von seiner Tatbeteiligung an einem Anschlag auf Begichs Flugzeug erzählte. Erstaunlicherweise hatte dieser Gangster gut ein Jahr nach dem Verschwinden der vier Männer Pegge Begich geheiratet, die Witwe des Kongreßabgeordneten. Die Ehe hielt nicht lang. Inzwischen ist Pasley gestorben.
Begichs mehr politisch motivierten Widersacher Young, immerhin ein Nutznießer des Unglücks, scheint keiner auf der Liste zu haben. Jedenfalls kann man auch ihn nicht mehr befragen, da er soeben, im März 2022, mit 88 verschied.
Nun will ich den buchstäblichen Fall Ustica streifen. 30 Jahre nach dem Blutbad witterte sogar ein italienischer Staatspräsident Unheil. Es gebe »Spuren einer Verschwörung«, erkühnte sich Giorgio Napolitano 2010 zu erklären, vielleicht sogar eine »internationale Intrige«, und dies gelte es in Erinnerung zu rufen. Was war geschehen? Im Sommer 1980 war eine italienische Linienmaschine (Itavia-Flug 870) unweit der Insel Ustica, Sizilien, ins Mittelmeer gefallen; alle 81 Insassen kamen um. Ursache sei entweder ein Bruch der Douglas DC-9 wegen Materialermüdung oder eine in der Maschine explodierende Bombe gewesen, hieß es sofort. Dummerweise wurde später das Wrack geborgen. 1999 stellte der hartnäckige Untersuchungsrichter Rosario Priore in einer Anklageschrift unmißverständlich fest, die Angelegenheit sei zielstrebig verschleiert worden. In Wahrheit hätten sich damals im angeblichen »Unglücks«-Gebiet mehr als ein Dutzend »Kampfflug-zeuge« verschiedener Nato-Staaten und Libyens getummelt. 2013 sprach der römische Kassationshof, laut Michael Braun[5], eindeutig von einem Abschuß durch Nato-Kampfflieger. Und wie kamen die auf diese menschenfreundliche Idee? Nach der am meisten bevorzugten Theorie sollte eine Tupolew Tu-134 abgeschossen werden, in der Libyens Oberhaupt Gaddafi zu einem Staatsbesuch nach Polen unterwegs war; durch eine Verwechslung habe die Rakete dann aber die ähnlich gebaute italienische Linienmaschine mit den 81 Insassen erwischt. 2013 wurden sogenannte Entschädigungen zugebilligt. Von diesen, je nach Quelle, 100 oder 110 Millionen Euros (aus italienischer Steuerschatulle) haben die 81 Pechvögel des Fluges Nullkommanichts.
Wer für runde Todesopferzahlen schwärmt, könnte einwenden, tatsächlich seien es um 100 Pechvögel gewesen. Während der aufwendigen und zielstrebigen Vernebelungsarbeit diverser PolitikerInnen, Behörden und Geheimdienstleuten – die selbstverständlich »der Aufklärung« dienten – kam es nämlich sehr wahrscheinlich zu ungefähr 15 bis 20 vorsorglichen Zeugenbeseitigungen, wie sogar in Florence de Changys Buch über MH 370 zu lesen ist (S. 443–46). Die französische Journalistin führt eine Bilanz der Verantwortlichkeiten im Fall Ustica an, die ihr italienischer Berufskollege Andrea Purgatori 2014 im Monatsblatt Le Monde diplomatique zog.[6] Danach hatte Italien die Verletzung seines Luftraumes erlaubt und in der Folge alles vertuscht. Die USA seien zumindest Zeuge, wenn nicht Komplize gewesen. Der Abschuß selber ging wahrscheinlich auf das französische Konto. Doch sämtliche beteiligten Staaten, Libyen eingeschlossen, hüllten sich nach wie vor in Schweigen, stellte Purgatori abschließend fest. Als Witz nebenbei versichert De Changy, derselbe Kollege, Purgatori, habe bereits zwei Tage nach dem Unglück, 34 Jahre früher also, aufgrund von Insider-Hinweisen im Corriere della Sera gemutmaßt, die Linienmaschine sei durch eine eigentlich auf Gaddafi gemünzte Rakete vom Himmel geholt worden. Um diese »Verschwörungstheorie« zu zertrümmern, legten sich über Jahrzehnte ganze Hundertschaften aus kaltschnäuzigen Vertuschungskünstlern und Killern ins Zeug.
Ein ähnlicher Reißer war das bis zur Stunde ungeklärte Verschwinden von MH 370, das im Frühjahr 2014 die halbe Welt in Atem hielt. Eine Boeing 777 mit 239 Menschen und einiger Fracht an Bord war (am 8. März) auf ihrem planmäßigen Nachtflug von Kuala Lumpur, Malaysia, nach Peking schon bald nach dem Start nicht mehr ansprech- und auffindbar. Nun begann ein wochenlanges Verwirrspiel, das unter Geheimdienstlern Desinformation heißt. Um von der Wahrheit abzulenken und alle Empörten zu beschwichtigen, arbeitet man also emsig mit Gerüchten, Falschmeldungen, Trugspuren und so weiter. In diesem Fall wurde ein rätselhafter Umschwenk der Linienmaschine nach Süden erfunden, in die Weiten des Indischen Ozeans, wo trotz aufwendigster, australisch geleiteter Suche nie etwas Handfestes aus dem Wasser gezogen wurde. Die höchstwahrscheinlich zurechtfrisierten Notsignale, die den Südkurs erhärten sollten, hatten die Briten mit Hilfe der Londoner Firma Inmarsat geliefert. In Wahrheit dürfte die nordwärts fliegende Riesenmaschine schon 90 bis 120 Minuten nach dem Start ihr Ende in vietnamesischen Gewässern gefunden haben: durch Notlandung oder Abschuß. Dort benötigte man jedoch Muße zur Trümmerbeseitigung, wovon auch einige Zeugenbeobachtungen sprachen. Zur Erklärung des Schwenks und des ausgedehnten Ausflugs nach Süden bevorzugten die malaysischen und australischen PolitikerInnen oder Behörden die Mutmaßung auf »erweiterten Pilotensuizid«. Das klingt bereits wie ein Witz, wenn man Verschwunden, das 2021 erschienene, umfangreiche Buch Florence de Changys, noch gar nicht zur Hand genommen hat.[7] Übrigens versichert die Autorin, hauptsächlich Hongkong-Korrespondentin für Le Monde, Paris, grundsätzlich seien Selbstmorde von diensthabenden Piloten »sehr selten«. Häufigste Unfallursachen seien technisches Versagen oder (irrtümliches) militärisches Eingreifen, doch genau die würden auch häufig vertuscht. Schließlich möchten weder die HerstellerInnen noch die Aufsichtsorgane ihr Gesicht und ihre Umsätze einbüßen. Den Ehrverlust mutet man dann lieber den sowieso schon mausetoten Piloten zu.
Es ist nicht immer bequem, der französischen Journalistin zu folgen, hat sie sich doch durch einen wahren Dschungel an Fakten, Lügen und Theorien zu kämpfen. Ich hätte manches abgekürzt, aber das ist vielleicht Geschmack-sache. De Changys Gründlichkeit hat freilich den Vorteil, das Märchen vom Abstecher in den südlichen Indischen Ozean mit 100- und das Märchen vom Amok laufenden Piloten mit 98prozentiger Wahrscheinlichkeit vergessen zu können. Für den Südabstecher reicht eigentlich schon eine Parallele zu 9/11, die De Changy wohlweislich vermeidet. Damals, 2001 in New York City und Washington, D.C., soll es bekanntlich einigen »Terroristen«, die Riesen-maschinen gekapert hatten, gelungen sein, die Luftabwehr des Giganten des Militarismus und der Scheinheiligkeit USA mit ein paar Teppichmessern in der Hand auszuhebeln. Was nun Indischen Ozean und Chinesisches Meer angeht, hält es De Changy für nahezu unmöglich, mit einem fetten Passagierflugzeug dem äußerst dichten Spähnetz der Yankees zu entgehen. Mit Diego Garcia und U-Tapao lagen zwei US-Militärstützpunkte, übrigens mit ausreichend langer Landebahn versehen, ganz in der Nähe. Zur Verschwindens-Zeit waren sogar sehr wahrscheinlich zwei AWACS der USA in der fraglichen Luft. Das sind fliegende Spionage- und Einsatzzentralen. Doch die Yankees ließen sich nie dazu herab, irgendwelche Radar- oder Satellitenbilder aus der Unfall- oder Tatzeit zur Verfügung zu stellen, obwohl sie dadurch doch vielfach geäußerte Verdächtigungen auf Faulspiel hätten entkräften können. Sie taten einfach so, als besäßen sie solche Aufzeichnungen nicht. Der nächste Witz.
Nachdem sie zahlreiche Theorien von Dritten erschüttert hat, wagt De Changy ein eigenes »Szenario« vorzustellen, das sie zugleich für das naheliegendste und wahrscheinlichste hält. Die Frachtpapiere von MH 370 wiesen mehrere Mängel oder Lücken auf. Kuala Lumpur gilt ohnehin als bekannter Schmuggelplatz. Demnach könnte sich ein wertvolles US-Spionagegerät im Frachtgut befunden haben, das Peking nur zu gern entgegen genommen hätte. Die Yankees bemerkten den Diebstahl jedoch und bedrängten die Boeing mit den bereits erwähnten zwei AWACS-Flugzeugen, wodurch sie auch den Funkverkehr ihres Opfers lahmlegten. Schließlich riefen sie aber einen Jäger herbei, weil sich die Piloten nicht zu einer Zwischenlandung auf einer US-Base bereit gefunden, vielmehr gehofft hatten, noch rechtzeitig den rettenden chinesischen Luftraum zu erreichen. Nun, im Grenzgebiet Vietnam/China, schoß der Jäger die Boeing ab. 239 Leichen wegen eines ausgefeilten elektronischen Spielzeugs. Möglicherweise seien es aber auch die Chinesen selber gewesen, weil da fremde Maschinen in ihren Luftraum eingedrungen waren.
Für mich hat dieses »Szenario« lediglich eine Schwachstelle, nämlich die Piloten der geopferten Linienmaschine. Mit De Changy probeweise angenommen, sie lassen sich auf die Vorwände eines Zwischenhalts in U-Tapao (Thailand) ein, warten 20 Minuten, bis Agenten das Spionagegerät aus der Fracht gerettet haben – und setzen den Linienflug, mit Verspätung, einfach so fort ..? Stumm machen konnte man sie ja schlecht. Man durfte ihnen noch nicht einmal die Augen zubinden. Aber hätten sie dann nicht, ob in Peking oder in Kuala Lumpur, von diversen Ungereimtheiten ihres Fluges berichten müssen, »höhere Gewalt« eingeschlossen? Das wäre für die Yankees ziemlich peinlich geworden.
De Changy übergeht diese Schwachstelle – die hoffentlich kein Denkfehler von mir ist. Dafür läßt die Französin keinen Zweifel, wer dem mutmaßlichen Drahtzieher aus Washington beigestanden hat. Es ist vor allem die übliche Brüderschaft: Australien, Singapur und Großbritannien. Die Briten steuerten wahrscheinlich die schon erwähnten gefälschten, in den Indischen Ozean führenden Notsignale bei. Was Malaysia angeht, ist es laut De Changy im Laufe des Unglücks und der Vertuschung »zu einer geradezu sensationellen Annäherung« zwischen ihm und den USA gekommen (S. 62). Vermutlich hat Washington diese Annäherung gut bezahlt. Nebenbei scheint Malaysia von Hause aus ein ähnlich korrupter Landstrich zu sein wie etwa die sprichwörtliche Bananenrepublik. Oder wie Kiew.
Andernorts erwähnte ich kürzlich Michael Schneiders Lob einer neuen »fulminanten« Studie seines geringfügig jüngeren Kollegen Kees van der Pijl: Die belagerte Welt. Aber etwas früher (deutsch 2018) legte der Niederländer das Buch Der Abschuß vor. Es bezieht sich natürlich auf ein Aufsehen erregendes Boeing-Unglück, das nur wenige Monate nach dem fernöstlichen Vorfall in der Ostukraine stattfand: MH 17. Erneut war also Malaysia beteiligt, aber den Löwenanteil der Passagiere dieses Linienfluges von Amsterdam nach Kuala Lumpur stellten just NiederländerInnen. Im ganzen hatte die Maschine 298 Personen an Bord. Sie wurde, am 17. Juli 2014, sehr wahrscheinlich abgeschossen. Von Überlebenden ist nichts bekannt. Die vielfältigsten Beschuldigungen und Hintertreibungen blühen bis zur Stunde. Nach dem Ausholen über der Indischen See will ich mich jedoch auf ein paar Waschzettel-Sätze zu Van der Pijls Arbeit beschränken. »Auf der Basis bisher unveröffentlichter Dokumente der niederländischen Regierung und gehackter E-Mails des damaligen NATO-Kommandeurs General Philip Breedlove trägt das Buch aussagekräftige Indizien zusammen. Es behauptet nicht, die wirklich Verantwortlichen zu identifizieren, belegt aber, dass die neuen Herren der Ukraine das größte Interesse, das ausgeprägteste Motiv und die beste Gelegenheit hatten, den Absturz herbeizuführen.«
Sehen wir zum Abschluß einmal sträflich von den leiblichen und seelischen Kosten all dieser »Mysterien« ab, bleibt immer noch das liebe Geld. Gegenwärtig beträgt der Listenpreis einer Boeing 777 mindestens 300 Millionen Dollar. Für die getürkte oder aufrichtige Suche nach MH 370 werden, laut De Changy (S. 74), um 10 Millionen Dollar geschätzt. Kommen die ganzen Pressekonferenzen, Untersuchungsausschüsse, Agentenspesen, Versicherungs-gelder, Entschädigungszahlungen, Gerichts-, Artikel- und Bücherkosten und vieles mehr hinzu. Sagen wir insgesamt, für diese sechs Fälle, drei Milliarden. Dafür können Sie die Malediven (ungefähr 1.000 Inseln im Indischen Ozean), die ja angeblich vom »Klimawandel« gefährdet sind, hydraulisch um mehrere Meter über den Meeresspiegel heben. Aber Sie können die drei Milliarden selbstver-ständlich auch in Schokoladeneis und Smartphones anlegen, falls Sie ein gutzivilisierter Mensch sind.
[1] https://www.loc.gov/resource/highsm.06143/
[2] »Ich möchte dich nicht mehr finden, Camilo«, Generación Y,
28. Oktober 2015: https://generacionyde.wordpress.com/2015/10/28/ich-mochte-dich-nicht-mehr-finden-camilo/
[3] Terrorjahre. Die dunkle Seite der CIA in Italien, München 2006,
S. 74–82
[4] »1972 Cessna 310C Alaska Disappearance of Hale Boggs and Nick Begich«, https://www.planeandpilotmag.com/news/pilot-talk/2020/09/21/1972-cessna-310c-alaska-disappearance/, 22. März 2020
[5] »Zusammenbruch des Lügengebäudes«, https://taz.de/Flugzeugabsturz-von-Ustica-1980/!5074320/, 29. Januar 2013
[6] »Ein mysteriöser Flugzeugabsturz vor 34 Jahren«, https://monde-diplomatique.de/artikel/!297499, 11. September 2014
[7] The Disappearing Act, London 2021, hier deutsche Ausgabe Verschwunden, Berlin 2022
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