Montag, 14. November 2022
Die Reise nach Fort Lashermink

Ursprünglich 2018, stark gekürzt, neuer Umfang (ohne Notenblätter der einbezogenen sechs Lieder) 33 Druckseiten


Ohne Zweifel brachte mir unsere denkwürdige Reise nach Lashermink eine wunderbare Adoptivtochter ein. Julia Rosenfield heißt sie seitdem. Allerdings nahm uns das Abenteuer auch einen wichtigen Weggefährten und zertrümmerte eine kleine Band, die damals womöglich die reizvollste Musikgruppe im ganzen sogenannten Wilden Westen war, die Top Ekas … Richtig, wir hatten uns einfach nach der Hauptstätte unseres Wirkens genannt. Damals, 1884, zählte das Städtchen Topeka am Kansas River und Oregon Trail, seit 1861 Sitz der Regierung von Kansas, noch keine 30.000 EinwohnerInnen. Aber es hatte die Piano-Bar zu bieten – und in der saßen wir. Es gab kaum ein Wochenende, an dem wir dort nicht auftraten und Beifall einheimsten. Das Piano wurde von unserem Leiter und Arrangeur Steve Crockett gespielt, einem stets bedächtig, manchmal sogar schläfrig wirkenden rotschopfigen Kleiderschrank, der sich ansonsten mit Unterricht und Klavierstimmung über Wasser hielt. Ich selber, Ed Rosenfield, ein Küstersohn und gelernter Stellmacher, blies wahlweise Horn oder Querflöte. Ich war mit Abstand der Kleinste und der Älteste. Blieb noch unser überzeugender Sänger Sandy, ein Halbblut, das es auch auf Banjo oder Gitarre schon zur Meisterschaft gebracht hatte. Sein Bariton ließ jedes zweite Herz schmelzen. Knapp 1,80, schlank, athletisch, hatte Sandy zwar eine Hakennase, aber nicht das blauschwarze Haar seiner Cheyenne-Mutter, vielmehr dunkelbraunes, etwas krauses, das er jetzt, mit 30, kurz trug. Sein Vater war ein weißer Trapper gewesen, der sich dem Stamm seiner Indianerbraut angeschlossen hatte. Beide Eltern waren dem kleinen Sandy von den Yankees weggeschossen worden. Und das hatte er mit 30 noch lange nicht vergessen.

Eigentlich war Sandy »Little Half« genannt worden, die kleine Hälfte. Als er 1864, im Gegensatz zu seinen »gemischten« Eltern, das berüchtigte Sand-Creek-Massaker überlebte, war er knapp 10. Von daher nannte er sich später nach dem Ort des Geschehens, dem Big Sandy Creek in Colorado. Im Laufe der Wirren von Flucht und Verfolgung geriet Sandy zu den nördlichen Nachbarn, den Oglala, also auf Sioux-Gebiet. In einer Gruppe unter Häuptling Rollender Fuchs wurde er aufgenommen und adoptiert. Er lernte rasch Lakota, tat sich als Krieger hervor und war (1876) sogar an dem berühmten Phyrrussieg der vereinigten Cheyenne/Sioux über die Custer-Soldaten am Little Bighorn River beteiligt. Während sich die Leute von Rollender Fuchs bald darauf, das Reservat verschmähend, in den Bighorn Mountains verschanzten, sattelte Sandy auf Cowboy um. Er wollte seinen Horizont erweitern. In diesem Rahmen lernte er Banjo spielen. Ferner hatte er teilweise mit Anarchisten aus Chicago, zuletzt jedoch mit dem eher unpolitischen Pianisten Crockett in Topeka zu tun. Steve überzeugte ihn von seinem Gründungsvorhaben »Top Ekas« und besorgte ihm sogar eine astreine neue Gitarre. Im Frühjahr 1884 bestand unsere Band bereits seit drei Jahren. Hin und wieder grasten wir umliegende ländliche Tanzschuppen ab. Aber dann eröffnete uns Sandy nach dem musikalisch untermalten Sonntagsfrühschoppen in der Piano-Bar, vor uns läge eine ziemlich ausgedehnte Tournee durch die Prärie. An deren Ende könne er endlich wieder einmal seinen inzwischen betagten Wahlvater in die Arme schließen, den »Rollenden Fuchs« also. Da runzelten wir zwei anderen natürlich erst einmal die Stirn. Wir verspeisten an unserem Stammtisch gerade eine erstklassige gebackene Forelle, denn die zählte zu unserer Sonntagsgage. Der Koch hatte sie persönlich aus einem Eisloch gezogen, behauptete er. Nun quetschte Steve zwischen den Gräten hindurch: »Was du nicht sagst, Sandy ..! Die Prärie soll ja auch von schmackhaften Forellen nur so wimmeln, und auf jeder dritten Bodenwelle steht ein Klavier, nicht wahr ..?«

Sandy umriß uns die Sache. Mitte der Woche habe ihn ein alter Genosse aus Chicago aufgesucht. Sie hätten dort kürzlich ein schönes dickes Ding gedreht. Sie seien bereit, den Löwenanteil der Beute (im ganzen rund 27.000 Dollar) in den Abwehrkampf der Oglala-Lakota-IndianerInnen aus den Bighorn Mountains zu investieren, von deren Bedrängnis sie durch indianische, auch Sandy wohlbekannte Freunde erfahren hatten. Die Yankees, so setzte man den Genossen auseinander, verstärkten dort gegenwärtig ihren Stützpunkt, Fort Lashermink. Die Soldaten durchkämmten bereits die Wälder. Das könne nicht hingenommen werden. Nun reifte in Chicago die Idee, den Zaster beziehungsweise die davon erworbenen Schußwaffen mit Hilfe einer »Tournee« einer großartigen dreiköpfigen Band aus Topeka unbeschadet in die Bighorn Mountains zu befördern. Wie sich verstehe, gingen die Spesen auf Rechnung der Chicago-Boys – im Moment hätte man ja Geld im Überfluß …

Steve war verwirrt genug, um zum Piano zu gehen und sein Lied Ahnung anzustimmen, obwohl es gar nicht im Frühjahr, vielmehr im Herbst spielte. Wahrscheinlich lag auch ein gewisser Spott in dieser Einlage. Aber nach einer guten Stunde hatte uns Sandy sowohl von der Mission wie von seinem Planwagen-Plan überzeugt. Naheliegender-weise verdonnerten sie mich, den Stellmacher, die Wagen zu besorgen und herzurichten. Ich tat es. Sandy besorgte die Gäule. Ende Mai war es so weit: Wir zerrten Steves privates Klavier aus seiner Wohnung und hievten es auf den ersten Planwagen, wo es dann auch meistens stehenblieb. Diese Aktion wurde sogar vom örtlichen Korrespondenten des Kansas City Evening Stars verfolgt, wollte er doch landesweit und exklusiv über die bevorstehende ungewöhnliche Sommerfrische der Top Ekas berichten. Gottseidank schnüffelte er nicht zu neugierig in unserem Gepäck herum. Für das Klavier hatte er sogar den Zeichner des Blattes aus der Redaktion mitgebracht. Steve mußte gleich daran Platz nehmen.

In der Folge diente uns der erste Planwagen, auch Klavierwagen genannt, während der ganzen Tournee als Bühne, ansonsten zum Schlafen. Traten wir irgendwo auf, pflegten wir einfach die Plane auf einer Längsseite hochzurollen. Die anderen Planen verstellten wir für den Auftritt mit großen Pappen, die die Akustik sowohl veredelten wie verstärkten. Mikrophone und Lautsprecher kannten wir damals bestenfalls vom Hörensagen. Der zweite Planwagen war randvoll mit nützlichen Gütern beladen, wie sie nur zu gern von Indianern eingetauscht wurden, etwa Kupferkessel, Messer, Scheren, Wolldecken. Freilich gedachten wir sie gar nicht zu tauschen; es waren Geschenke. Das banden wir aber wohlweislich keinem auf die Nase. Erst recht behielten wir das Versteck der Kisten mit nagelneuen Schußwaffen für uns. Denen diente just der Berg aus Kesseln und Decken als Tarnung. Das war unser »Gefahrengut«.


Um es gleich zu sagen, gab es in politischer Hinsicht durchaus Meinungsverschiedenheiten in der Band, die sich am Ziel der Reise sogar noch zuspitzten. Aber sie verhinderten weder die Reise noch die gemeinsame grundsätzliche Solidarität mit den Ureinwohnern Nordamerikas. Es war eher eine moralische, keine militärstrategische Frage. Sogar Sandy glaubte nicht mehr wirklich daran, der Untergang der PrärieindianerInnen lasse sich noch abwenden; nur hatte er von uns Dreien den größten Grund, die weißen Eroberer zu hassen.

Was mich anging, hielt ich mich grundsätzlich am liebsten aus allen Handgemengen oder Schlachten heraus. Das Raufen lag mir einfach nicht. Ich dachte jedoch, wenn es den Fuchs-Leuten ein Bedürfnis war, nicht kampflos unterzugehen, sollte man sie unterstützen. Davon abgesehen, lebten die umzingelten IndianerInnen auch ohne feindlichen Beschuß im Elend und wären für jede Wolldecke und jeden Dollar dankbar, den man ihnen zusteckte. Für Steve lag die Sache noch einfacher. Er verabscheute Politik, hielt alle Menschen für Lügenbolde oder wenigstens SelbstbetrügerInnen und bedauerte jeden, der sich nicht in die Musik oder sonst eine künstlerische Betätigung retten konnte. Auch diesbezüglich stand es in den Bighorn Mountains sicherlich nicht zum Besten. Schließlich wußte er durch Sandy, welcher mageren Eintönigkeit die Sioux mit ihren Sprechgesängen, Handtrommeln und Fünf-Loch-Flöten unterlagen. Vielleicht konnte er ein paar Indianerkindern als Musik-Pädagoge Gutes tun. Man darf aber nicht denken, er habe zwei linke Hände besessen, die sich lediglich für das Klavier eigneten. Er stammte von einer Ranch und schoß zum Beispiel dreimal besser als ich. Unser Oberschütze war natürlich Sandy. Er konnte zudem wie der Teufel reiten.

Wegen der ziemlich schweren Fracht und dem unwegsamen Gelände fuhren wir dreispännig. Wir merkten freilich bald, unsere sechs wuchtigen Zugpferde fraßen uns fast die Haare vom Kopf. Das überwiegend versengte, harte Präriegras glich einer Striegelbürste, und die wenigen Ufergebüsche, die wir streiften, waren bereits von anderen Viechern abgeerntet worden. Es stimmt schon, die Prärie hat auch ein paar gefällig wirkende, oft blau blühende Blumen zu bieten, etwa den Rittersporn, oder den Dotted Blazing Star: auf lateinisch Liatris punctata, eine fransige lila Aster mit walzenförmigem Blütenstand. Als Küstersohn wußte ich solche Dinge. Aber dergleichen Schönheiten wurden von unseren Gäulen nicht angerührt; eher wären sie tot umgefallen. So mußten wir in den Ortschaften, wo wir auftraten und campierten, oft Hafer zukaufen. Andererseits, an Geld fehlte es uns Abgesandten des Anarchismus ja nicht. Deshalb hatte Sandy sogar seinen Wunsch durchgesetzt, auch noch ein feuriges (und teures) Reitpferd mitzuführen. Es sollte bei Notfällen der Benachrichtigung oder der Verfolgung dienen. Meistens saß Sandy auch ohne Notfall auf dem gescheckten Mustang, weil er dessen Sattel den harten Kutschbänken oder den Fell-Lagern an Deck des ersten »Prärieschoners« vorzog. Streckenweise stapften die jeweiligen beiden Fuhrmänner auch zu Fuß durch die erwähnte Striegelbürste, die Leinen von der Seite aus haltend. Zwar hatte ich Planwagen mit einer sogenannten Federung aufgetrieben, aber auch diese Neuerung war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Nach einem halbem Tag auf dem Kutschbock glich man einem fahrlässigerweise durchgeklopften Rindersteak. Ab Ende Juni kam noch die Sommerhitze hinzu.

Da die Top-Ekas-»Konzerte« nicht angekündigt waren, hielt sich der Zulauf in Grenzen. Wer sich kurzfristig freimachen konnte, war jedoch dankbar für die Abwechslung, die sie boten. Schon der kleine Treck mit sieben Gäulen und bald auch einem zugelaufenen kleinen, blonden Mädchen stellte ja eine gewisse Attraktion dar. Julia bekam meistens die dicksten Münzen in ihren Hut, wenn wir nach der Vorstellung »Kollekte« machten. Ja, die Jagd nach Gold … Die Leute hatten natürlich gesehen und gehört, wir drei Musiker waren offensichtlich keine Stümper. Wie sich versteht, hatten wir viel Blues und Ragtime im Programm, aber auch umgearbeitete Choräle und drei Kunstlieder von dem Deutschen Hugo Wolf. Manche Stücke stammten von uns selber. Was mich anging, bastelte ich seit Monaten an dem Eingangsthema eines Trios für Horn, Violine und Klavier von Johannes Brahms herum. Von diesem Werk, op. 40, geschrieben 1865, besaß ich eine vollständige Ausgabe der Noten. Ich gedachte mein Lied Hört ihr das Horn zu nennen. Ich war ja selber ein halber Deutscher. Mein Vater war in der Gegend von Königsberg aufgewachsen. Man schimpfte ihn aber zu häufig einen jüdischen Halsabschneider, da machte er sich aus dem Staub. In Wahrheit tat er keiner Fliege etwas zuleide. Von ihm hatte ich, neben der musischen Neigung, meine Raufunlust, wie man vielleicht schonend sagen könnte.

Unsere Tour ging ungefähr nach Nordwesten. Den ersten nennenswerten Ärger hatten wir in dem Nest Hastings. Unsere beiden Wagen standen, in stumpfem Winkel zueinander, am Ortsrand unweit eines Brunnens unter dem einzigen hohen Baum, der in Hastings auszumachen war. Der Platz war staubig, notfalls jedoch zum Tanzen geeignet. Der Baum war ein Hickory, meinte Steve zu mir, »prima hartes Holz«. Sandy hatte die glückliche Idee, für den Auftritt sein eingerolltes Lasso über den untersten Ast des Hickorys zu hängen, weil er für ein bestimmtes Lied einen Lynchmord zu unterstreichen dachte, der darin angeprangert wurde. Unsere Coltgürtel legten wir selbstverständlich vor den Auftritten ab; schließlich wollten wir weder Helden markieren noch Strolche provozieren. Die Coltgürtel lagen dann jenseits des schräggerückten Klaviers auf unseren Lagerstätten, unter denen wir ohnehin schon unsere Flinten verborgen hatten. So auch in Hastings, wo sich rund 50 Einheimische vor der mobilen Bühne eingefunden hatten. Sie nickten mit, tauschten Bemerkungen aus und klatschten auch zuweilen Beifall.

Das besagte Lied war freilich noch gar nicht dran, als Sandy, zwischen zwei Stücken sein Banjo nachstimmend, plötzlich die Ohren spitzte und den zweiten Planwagen, den sogenannten Gerümpelwagen also, ins Auge faßte. »Warte mal!« raunte er Steve zu. Er schob sein Banjo aufs Klavier und schwang sich auch schon vom Wagen, wobei er geistesgegenwärtig gleich sein Lasso vom Hickoryast zog. Ein Messer hatte er sowieso stets im Stiefel. Dann glitt er rasch durch die vorderen Zuschauerreihen zum zweiten Wagen mit der auf beiden Längsseiten geschlossenen Plane. Vorn und hinten waren die Planen so verzurrt, daß noch ein Durchstieg oder Ausguck blieb. Kaum hatte Sandy von der Deichsel aus ins Innere gespäht, als ihm unter großem Gepolter irgendein bartstoppeliger Strauchdieb, der sogar noch den Griff von einem unserer Kupferkessel umkrallte, fast ins Gesicht sprang. Der Bursche landete glücklich auf dem Platz und nahm Reißaus. Er konnte ja nicht wissen, daß er's in Sandy mit einem überragenden Krieger, insbesondere Lassowerfer zu tun hatte. Prompt ließ dieser das Lasso pfeifen und brachte den Flüchtenden zu Fall. Der Kessel polterte noch eine Pferdelänge über den harten Platz, während der Strolch mit einer Hand seine knollige Nase, mit der anderen Sandys Lasso rieb, in dem seine beiden Beine staken.

Sandy zeigte sich großmütig, weil ihn sein vortrefflicher Lassowurf bereits genug befriedigte. Er ging zu seinem Opfer, befreite es vom Lasso und half ihm sogar auf die Beine. Dann nickte er zu dem fortgerollten Kessel und sagte:

»Nimm ihn, du Sohn einer räudigen Hauskatze, und verpiß dich!«

Wie sich versteht, sagte er das, als indianisch geprägter Mann, so unaufgeregt, daß es weder für das staunende Publikum noch für Steve und mich auf der Bühne deutlich hörbar war. Das Bild, das sich uns bot, war jedoch unmißverständlich: der Räuber raffte den Kessel auf und drückte sich um die nächstgelegene Hausecke. Daraufhin johlte das Publikum – während Steve und ich erleichtert aufatmeten, weil der Dieb offensichtlich nicht bis zu den Waffenkisten vorgedrungen war. Sie bargen fast 100 ziemlich neuartige, übrigens deutschstämmige Repetier-gewehre (Paul Mausers M 71/84, Röhrenmagazin für 10 Schüsse) und kiloweise Munition.


Im Südwesten von Nebraska kamen wir durch Sidney, das immerhin 1.000 EinwohnerInnen aufwies. Es regnete aber, und deshalb war unser dortiger Auftritt nur mäßig besucht. Ich hatte den Pfarrer einer baptistischen Kirche mit Engelszungen überredet, uns das Gotteshaus für unsere schnöden Unterhaltungszwecke zur Verfügung zu stellen. Es war eine Art Baracke mit freistehendem Glockengerüst. Wir schleppten unser Klavier hinein. Bei diesem Konzert trat Julia in unser Leben. Es war zunächst eine ziemlich schmerzliche Begegnung – für mich. Der Vorfall berührte mich noch auf dem Nachtlager und beim Frühstück so sehr, daß ich qualvoll das Gesicht verzog, sobald ich dieses neunjährige blonde Mädchen in Gedanken vor mir sah. Beim Konzert hatte es ganz hinten auf einer Truhe gesessen, offensichtlich ohne Begleitung, und unsere Darbietung mit großen Augen verfolgt, von denen schwer zu sagen war, ob sie zu einem Hochzeits- oder eher zu einem Beerdigungsgast gepaßt hätten. Aus der Nähe sah ich dann, sie waren grau. Ansonsten trug das Mädchen ein kleingeblümtes Kleid, das ihm wohl bis zu den Knöcheln ging, jetzt freilich, auf der Truhe, etwas hochgerutscht war. Vermutlich hatte das weiße Mädchen durchaus braungebrannte Beine. Ich war in der Pause an der Truhe vorbeigeschlendert und hatte der kleinen Besucherin in aufmunterndem Tonfall verraten, gleich ginge es mit einem flotten Stückchen weiter, zu dem man ohne weiteres das Tanzbein schwingen könne.

»Oder tanzt du etwa nicht gern ..?« fügte ich im Weiterschlendern schon fast über meine Schulter hinzu.

Sie hatte sich eigentlich über die Ansprache gefreut, aber jetzt wurde sie beinahe schlagartig gleichzeitig rot und blaß.

»Kann nicht!« erwiderte sie leise, gleichwohl trotzig. Dann wandte sie ihren Blick nach innen. Das war eine deutliche Abweisung.

»Warum solltest du nicht tanzen können?« gab ich in jenem munteren Tonfall zurück.

Sie sah noch für einen Augenblick durch mich hindurch, dann nickte sie auf ihren linken Stiefel, der wie der andere auf den Dielen stand, und sagte kurzangebunden:

»Hab' nen Klumpfuß.«

Ich blickte erschrocken hin. Tatsächlich, der linke Stiefel glich dem rechten keineswegs; er war unförmiger und auch höher, weil er nur mit einem vorderen Teil der Sohle auf den Dielen stand. Und ich hatte es übersehen!

Ich schüttelte meinen Kopf, teils über mein Mißgeschick, teils über diese haarsträubende Mißbildung eines sonst gut gewachsenen, ja geradezu bildhübschen Mädchens, und äußerte mit rasch zusammengerafften unverfänglichen Worten mein Bedauern. Sie biß ihre Zähne zusammen und schwieg. Um diese Betretenheit zu bannen, hakte ich mit den üblichen Fragen nach: wie sie denn heiße; ob sie auch bei der Drallen, die unserem Sänger unablässig schöne Augen machte, in die Schule ginge, und dergleichen. Die Dralle hatte sich als Schulleiterin vorgestellt.

Meine Zuwendung schien Julia recht gut zu tun. Diesen Namen verriet sie mir. Ich erfuhr zudem, sie lebe bei einer Pflegemutter, die Damenschneiderin sei und sich »natürlich« in den Kopf gesetzt habe, aus dem behinderten Pflegetöchterchen gleichfalls eine Damenschneiderin zu machen. »Dabei brauchst du deinen Fuß nicht, mein Schwälbchen!« äffte sie die Pflegemutter nach. Sie lerne jetzt schon sticken und nähen und helfe bereits in der Werkstatt mit. »Sie zwingt mich dazu!« schloß sie wütend.

Steve rief bereits vom Klavier her nach mir. Wir mußten weitermachen. Ich dachte einen Augenblick nach und entgegnete:

»Sagte sie 'Schwälbchen' ..? Fliegen ist vielleicht zu viel verlangt, Julia. Aber wie wär's denn mit Reiten? Besitzt du ein Pferd? Leider nicht? Na, dann zwingst du sie halt, dir eins zu kaufen, als einzige Damenschneiderin von Sidney verdient sie doch Geld genug!«

Ich zwinkerte, riß mich los und verwandelte mich wieder in den routinierten Bläser einer auswärtigen Band. Als ich bei Konzertende zum wiederholten Male zu der Truhe neben der Eingangstür blickte, war sie verschwunden – Julia.


Von dem Regen, der uns in den Schoß der Kirche getrieben hatte, waren am nächsten Morgen noch nicht einmal Pfützen übriggeblieben. Der Himmel war wieder blau. Eigentlich mußte man ja dankbar sein, wenn es in der Prärie einmal anhaltend regnen sollte. Aber das hätte Steve den Ritt auf unserem feurigen Schecken vergällt. Er hatte sich das Reitpferd auserbeten, weil er vom Rücktransport des Klavieres Kreuzschmerzen hatte. Im übrigen hatten wir inzwischen erkannt, die Versorgung mit Trinkwasser war bei einer Präriereise nicht gerade kinderleicht. Sofern überhaupt vorhanden, zeigten Gewässer oder Wasserlöcher in der Regel eine faulige oder alkali- und urinhaltige braune bis schwarze Brühe, die man besser nicht zu sich nahm, schon gar nicht ungekocht. Quellbäche waren seltener als Goldgruben. In den meisten Siedlungen gab es immerhin Brunnen, an denen wir unser Trinkwasserfaß (vor allem für die Gäule) und unsere Feldflaschen auffüllen konnten. Die Feldflaschen hatten uns Sandys Chicagoer Genossen neben den Schußwaffen besorgt. Wir hatten sogar noch ein Dutzend im Gerümpel-wagen liegen, um sie Sandys Leuten beziehungsweise denen von seinem Häuptling Rollender Fuchs zu verehren. Hin und wieder dachte ich mit Bangen an unsere zündende Fracht. Bislang hatten wir Glück gehabt.

Um Mittag erblickte Steve, der inzwischen vorausritt, über einer Bodenwelle zur Rechten die Wipfel von einigen Zitterpappeln. Das deute auf Bodennässe hin, rief uns der Farmersohn zu, und so war es auch. Die Pappeln standen an einem Fluß. Dessen Wasser wirkte sogar einigermaßen einladend. Der Sweetwater River konnte es allerdings noch nicht sein; er kam erst in Wyoming aus den Bergen. Längs des Ufers zockelnd, machten wir bald darauf an einer seichten Stelle Halt, tränkten die ausgeschirrten Pferde und ließen uns dann ein paar Schritte höher zur Rast nieder. Wir sahen ein paar Kähnen oder Flößen zu, die vorbeikamen, wobei wir uns auch nicht scheuten, Lindas Fernrohr einzusetzen, das die Dralle – so hieß sie nämlich – Sandy bereitwillig »ausgeliehen« hatte. Auf diese Art käme er vielleicht wieder einmal bei ihr vorbei, dürfte ihr Hintergedanke gewesen sein. Während wir Kaffee kochten und im selben Feuerchen Speck für unser Fladenbrot rösteten, erörterten wir unter anderem die Frage des Badens. Wir waren mehrheitlich eher wasserscheu. Plötzlich zuckten wir aber einträchtig zusammen, starrten wie ein Mann zum Gerümpelwagen und tasteten bereits nach unseren Colts. Aus dem Wagen hatte es gedröhnt!

Wir sahen uns entgeistert an. »Nicht schon wieder!« sagte Steve in normaler Lautstärke, um dann flüsternd und mit einem Nicken zum Wagen fortzufahren: »Ed kommt von links, Sandy von rechts! Ich bleibe hier und gebe euch notfalls Feuerschutz.«

Wir nickten, erhoben uns geräuschlos, zogen unsere Colts und nahmen den Gerümpelwagen in geduckter Haltung von den Seiten her in die Zange.

Als ich in Höhe der Deichsel eingetroffen war, polterte es erneut im Wagen, diesmal unweit des vorderen Schlupfloches. Sekunden später ließ sich eine helle, kindliche, durch die Planen etwas abgedämpfte Stimme vernehmen:

»Nicht schießen, Onkel! Ich ergebe mich.«

Schon flog ein Ding in den Staub neben der Deichsel, das selbst von der Feuerstelle aus ohne Fernrohr als Zwille zu erkennen war: ein kurzer, gegabelter Ast mit einem roten Gummiband an den Enden der Gabel. Wir staunten nicht schlecht. Ich starrte mit verkniffenen Augen zum Schlupfloch, entspannte mich schließlich und sagte:

»Na gut, du Erdferkel, dann komme mal schön aus deiner Höhle geklettert!«

Das Ferkel gehorchte. Zwar steckte es in einer kurzen Lederhose, war aber trotzdem weiblicher Natur – ein kleines, blondes Mädchen. Als es neben der Deichsel stand, merkte jeder, es hinkte. Ich hatte Julia selbstverständlich sofort erkannt. Sie wirkte etwas verlegen. Aber sie schien auch frech zu sein. Sie schnupperte unerwartet, heftete ihren Blick zielsicher auf Steve, der das Feuer und den gebratenen Speck hütete, und platzte heraus:

»Oh Mann – was hab' ich für 'nen Kohldampf!«

Ich kicherte und bedeutete ihr mit einem Wink meines Colts, sich in Bewegung zu setzen. Als sie das befolgte, sah man natürlich wieder ihr Hinken. Unser aller Gefühle waren sicherlich sehr gemischt. Jetzt steckte auch Sandy seinen Colt ein. Dann fischte er einen Teller aus dem Klavierwagen, überreichte ihn Steve und ließ sich mit unbewegtem Gesicht wieder, wie schon ich, auf seinem Platz am Feuer nieder. Steve füllte auf und nickte Julia ermunternd zu, wenn er auch lieber ungläubig seinen Kopf geschüttelt hätte. Sie bedankte sich artig und aß. Als der Teller leer war, reichte ich ihr auch noch Wasser, das ich in meinen leeren Kaffeebecher gefüllt hatte. Später sollte sie ihre eigene Feldflasche bekommen.

Während sie trank, erkundigte sich Steve, wie sie es verdammt noch mal bewerkstelligt habe, sich unbemerkt in unseren Gepäckwagen zu schmuggeln. Er legte dabei eine gewisse Bewunderung in seine Stimme, und das schien Julia erneut zu gefallen. Sie grinste sogar ein wenig. Nach ihrer Darstellung hatte sie die Lage noch am Abend ausgekundschaftet und sich gesagt, wenn sie sich nachts in den Wagen stehle, würden mindestens die Pferde unruhig. Deshalb habe sie sich gegen morgen am nördlichen Ortsrand an der Straße versteckt und auf den Treck gewartet. Der Schneiderin hatte sie einen Zettel hinterlassen. Als der Gerümpelwagen die Ausreißerin, an zweiter Stelle, passiert hatte, sei sie von hinten aufgesprungen und vorsichtig in die Kessel und Decken geschlüpft. Sie hatte auch einen Rucksack mit Wäsche und Nähzeug dabei. Nur an Proviant und Wasser habe sie nicht gedacht. Gleichwohl sei sie einmal bei einem Zwischenhalt, bei dem die Männer an der Treckspitze irgendetwas erörterten, aus dem Wagen geschlüpft, um im hohen Gras zu pinkeln. So drückte sie sich aus. Sie hätte gebetet, der Treck setze sich nicht unversehens in Bewegung – ohne sie. Der liebe Gott habe ihr geholfen. Aber es gebe auch einen bösen Gott. Der schicke Moskitos, Klapper-schlangen, Klumpfüße, Schulbücher und noch viele andere Plagen. Sei es nicht so ..?

Wir mußten ihr recht geben, also nickten wir …

Nachdem sich Steve von seiner Verblüffung erholt hatte, wollte er von der jungen Frau wissen, was sie nun für Pläne habe?

Sie wollte mitfahren. Wenigstens für eine Zeitlang. Und sie wollte reiten lernen. Mit der entsprechenden Geste vom Feuer weg fügte sie hinzu, Pferde gebe es hier ja genug.

Wir sahen uns kopfschüttelnd an. Hinken hin, hinken her, das Mädchen schien recht aufgeweckt zu sein. Sicherlich hatte auch keiner von uns Lust, Julia am Schlawittchen zu packen und auf dem Schecken in stundenlangem Ritt nach Sidney zurückzuschaffen.

»Immerhin hat sie ja den Zettel auf den Küchentisch gelegt«, sagte Steve zu Sandy, dem er noch die meisten Vorbehalte gegen die Aufstockung des Trecks durch ein kleines Mädchen zutraute. »Falls sie uns nicht angeflun-kert hat! … Von daher ist es eher unwahrscheinlich, daß uns der Town-Marshall wegen Kindesentführung jagt …«

»Ich lüge nicht!« rief Julia erbost und warf meinen leeren Trinkbecher Steve vor die Kniee. »Wenn ihr das glaubt, kann ich auch gleich wieder gehen!«

Ich kicherte. Sollte sie nur mal gehen, mit ihren kurzen und auch noch ungesunden Beinen, 15 Kilometer ..!

In der Tat hatte sie nicht gelogen, wie mir die Damenschneiderin Wochen später bestätigte. Sie hatte Julias Zettel sogar aufbewahrt. »Muß für eine Weile verreisen, liebe Mama, mach' dir keine Sorgen! Julia.«

Da ihn Steve fragend ansah, nickte Sandy. »An mir soll es nicht liegen. Sie wäre nicht der erste Mensch, dem ich das Reiten und Lassowerfen beigebracht hätte.«

Steve lächelte und sagte zu Julia: »Du bist aufgenommen. Kannst du schon schwimmen?«

Julia strahlte, wegen der Aufnahme, obwohl sie die Frage verneinen mußte.

»Dann bringt dir Sandy auch das gleich bei!«

Wir lösten die Runde am Feuer auf. Wir hatten uns bereits darauf geeinigt, das vorhin erwogene Bad mit einem Wäschewaschen zu verbinden. Wir stanken ohnehin schon wie Ziegenböcker, war zu befürchten. Wir zogen uns aus und ließen unsere Hemden, Strümpfe und Unterhosen zusammen mit anderen Kleidungsstücken, die wir aus dem Klavierwagen holten, kurzerhand in der Seichte fallen, um sie darin zunächst einmal einzuweichen. Wegen der Strömung beschwerten wir sie mit einigen dicken Kieseln. Dann gingen wir ins Wasser.

Wie ich verstohlen aus den Augenwinkeln sah, schien es Julia wenig auszumachen, sich ebenfalls zu entkleiden beziehungsweise plötzlich drei nackte Männer um sich zu haben. Erstaunlich genug, bei der Pflegetochter einer Damenschneiderin. Ihren verunstalteten linken Fuß – verkrümmt, verdreht, die Ferse hochgebogen – gaben wir selbstverständlich vor zu übersehen. Aber das kannte Julia vermutlich schon; ich spürte es. Nicht ihre Nacktheit: ihr Klumpfuß war ihre wunde Stelle, sozusagen ihre Blöße. Beim Reiten störte er nicht weiter, wie unser neues Kind bald erfahren sollte; aber bevor man ihn beim Baden oder Schwimmen im Wasser verstecken konnte, mußte man erst einmal hineinkommen. Das war eine Klippe, die Julia erst später, nach mehreren Jahren, einigermaßen überwand.

Einige weitere praktische Fragen des Trecklebens, die nicht aufgeschoben werden konnten, klärten wir nach dem Baden beim Wäschewaschen. Am wichtigsten war die Frage des Nachtlagers. Wir konnten unser einziges Kind ja schlecht in den überfüllten Gerümpelwagen stecken, wo vielleicht Gespenster lauerten oder eine Munitionskiste hochging. Andererseits war es im Klavierwagen nicht merklich weniger eng. Steve hatte aber die großartige Idee, mit Hilfe einer Pferdedecke, einiger junger, am Flußufer abgeschnitten Eschenstämmchen und Seilen zum Binden ans Planengestänge, im Bug des Klavierwagens eine Art von Hängeboden einzuziehen. Im Ergebnis lag unser blondes Kind quer über zwei schnarchenden Männern und ein- bis vierkopfhoch unmittelbar unter der gewölbten Plane. Zum Hinaufklettern fand sich eine Strickleiter.

Als Julia dieses Lager probeweise erklomm, sich oben ausstreckte und räkelte und dann wieder aufsetzte, um ihre (noch gestiefelten) Beine baumeln zu lassen, war sie sichtlich begeistert. Sie meinte, jetzt sei sie fast in die Fußstapfen ihrer »richtigen« Mutter getreten; es sei wie eine Bühne. Darauf kam Steve aber erst spätabends zurück, als wir allesamt in den Fallen lagen – Julia übrigens todmüde. Was sie damit gemeint habe? Sie erklärte kurz, ihre Mutter sei Schauspielerin in Saint Louis, Missouri, gewesen. Von daher hätte sie auch (sie, die Tochter) ihren Namen – »von Shakespeare, dem Stückeschreiber«, sagte sie stolz. Leider sei aber ihre Mutter einer schweren Krankheit erlegen, als Julia noch kaum laufen konnte. Deshalb sei sie zu ihrer Tante in Sidney gegeben worden, »dieser alten Schraube« … Das heißt, so richtig laufen gelernt hätte sie eigentlich nie, denn mit dem schlimmen Fuß sei sie bereits auf die Welt gekommen … Naja, es gebe sicherlich auch Schlimmeres … Damit war das Mädchen eingeschlafen.


Als wir am nächsten Tag auf Scottsbluff zuhielten, kam Wind auf. Schon schickte sich der blaue Himmel an, schwefelgelb zu werden. Es war am frühen Nachmittag. Die Pferde wurden unruhig. Die Kutscher, gegenwärtig Steve und ich, kniffen die Augen zusammen, da zunehmend Staub durch die Luft wirbelte. Sandy, der hinter den Treck zurückgefallen war, kam jetzt im Galopp zu uns geprescht und stieß mit einem Nicken nach vorn hervor: »Wirbelstum! Das kann übel werden. Wir brauchen eine Deckung!«

Das Schwefelgelb am Himmel hatte sich bereits in andere Farben verwandelt, die immer unheimlicher, im ganzen dunkler wurden. Wolkenfetzen jagten hindurch. Die Windstöße, die in unsere Gesichter und Wagenplanen schlugen, wurden minütlich heftiger und dichter. Steve und ich fluchten wie echte Fuhrknechte. Julia, die neben Steve auf dem Kutschbock des Klavierwagens saß, hatte ihre Stupsnase schon in seinem Rücken vergraben. Er scheuchte sie mit dem Argument ins Wageninnere, sie möge Sandy Lindas Fernrohr hinausreichen. Sie tat es, und wie sich versteht, blieb sie gern drin.

Sandy suchte vom Sattel aus die Gegend ab. Ringsum war Prärie, hatten wir doch den North Platte River längst verlassen. Es gab hier nur Bodenwellen. Sandy schwankte auf seinem Schecken bereits wie ein Matrose im Mastkorb. Nach einer Weile rief er gegen die Sturmböen an, da vorn, in der Anhöhe, klaffe so etwas wie ein Loch; vielleicht sei es ein Steinbruch. Er liege gegen den Wind. Steve gab mir ein Zeichen und trieb seine drei Gäule an, obwohl sich diese lieber unter dem Wagen verkrochen hätten. Übrigens waren die Zugpferde jeweils pfeilförmig eingeschirrt; das Leitpferd hielt die Spitze.

Das neue Ziel lag ungefähr eine halbe Meile entfernt. Da wir vom Trail ausscheren mußten, betete ich, die Wagenachsen mögen halten, während wir, die Insassen, dem Sturm trotzend, über Stock und Stein rumpelten, streckenweise sogar flogen. Steve betete dafür, die Planen mögen halten, denn er dachte an unser neues Pflegekind und an sein altes Klavier. Die Präriehunde am South Platte River würden sich schieflachen, wenn es weiße und schwarze Tasten in ihre Baue hagelte. Wir waren Musiker, keine Panther, Kojoten oder Schlangen, und der Sturm brachte uns jetzt bei, wie man ordentlich faucht und pfeift und heult und das Gerümpel in meinem Wagen zum Klappern bringt. Als wir die halbe Strecke bewältigt hatten, schlugen uns auch die ersten Regentropfen ins Gesicht, wie Fäuste. Dafür sah man kaum noch die Hand vor Augen, so finster wurde es. Sandy brüllte jedoch, es sei tatsächlich ein Steinbruch, und feuerte uns zum Durchhalten an. Sein Schecke stieg wie beim Rodeo. Die Zugpferde keuchten mit dem Sturm um die Wette.

Als wir mitsamt den Gäulen halbtot in den Steinbruch torkelten, schien uns fast ein windstiller Hafen zu empfangen, so deutlich war der Unterschied. Die kaum sichtbaren Steilwände schirmten uns ab. Sie umgaben den Platz ungefähr hufeisenförmig. Aus Angst vor Steinschlag hielten wir wohlweislich im Zentrum an. Um die Pferde konnten wir uns zunächst nicht kümmern, weil es auch im Steinbruch heftig regnete. Sandy band nur den Schecken an irgendeinen Baumstamm von dem er hoffte, er flöge nicht in Kürze weg. Immerhin deuteten der Baum und ein paar Gebüsche, die wir erahnten, darauf hin, daß der Steinbruch schon seit längerem außer Betrieb war.

Wir versammelten uns im nahezu finsteren Klavierwagen, schälten uns aus den klatschnassen Kleidern und warfen sie kurzerhand durch die Schlupflöcher nach draußen. Dann rieben wir uns mit Handtüchern halbwegs trocken. Julia hatte das bereits getan, wie sie uns versicherte. Sie lag auf Steves Schlafmatte (Strohhäcksel in Büffelfell eingeschlagen) unter mehreren Wolldecken und klapperte trotzdem mit den Zähnen. Hoffentlich hatte sie sich keine Lungenentzündung geholt. Die Wagenplane schien noch dicht zu sein. So krochen wir Männer ebenfalls unter Decken. An Feuer war selbstverständlich nicht zu denken, obwohl wir stets einen Korb mit trockenem Holz an Bord hatten. Ich halluzinierte bereits von heißem grünem Tee, den ich viel lieber als Kaffee trank. Das war immer noch besser, als wenn ich von meiner klugen Topekanischen Gefährtin, einer kinderlosen Hebamme, oder Sandy von der Schulleiterin aus Sidney halluziniert hätte. Allerdings hatte er nicht unrecht, als er nach einigen Minuten das schwere Atmen oder Seufzen im dunklem Wagen etwas unvermittelt unterbrach, indem er lakonisch verkündete:

»Linda hat uns gerettet.«

»Ach«, gab Steve knurrend zurück. »Durch Telepathie ..?«

»Nein, durch ihr Fernrohr.«

Da konnte Steve natürlich schlecht widersprechen.

Nach rund einer Stunde hörte es sich so an, als habe der Regen aufgehört. Auch unser Planwagenhimmel wurde allmählich wieder heller. Sandy spähte nach draußen. Der Baum mit dem angebundenen Schecken sei noch da. Die Felswände tröffen wie kleine Wasserfälle. Es gebe aber einen Überhang, wo man vielleicht halbwegs im Trocknen sitzen könne.

Wir zogen uns an und versorgten zunächst die Pferde. Wir schirrten die Zugpferde aus, weil wir ohnehin im Steinbruch zu übernachten gedachten. Wahrscheinlich war es schon nach 18 Uhr. Die Pferde waren abzureiben, für ihren todesmutigen und treuen Einsatz zu loben und mit viel Hafer zu füttern. Zum Saufen gab es genug Pfützen. Julia ließen wir schlafen. Sie gesellte sich nach einer weiteren Stunde zu uns, als wir unter dem Überhang am Feuer saßen, auf dem bereits der Wasserkessel sang. Zwar rieb sie noch ihre Augen, meinte jedoch, sie fühle sich fieberfrei. Da waren wir erleichtert genug, um ihr spontan einen großen Becher mit heißer, wenn auch gezwungener-maßen milchloser Schokolade zu spendieren.

Allmählich wurde es unter dem Felsüberhang geradezu gemütlich. Wir ließen uns Bohnen mit Speck schmecken, ertrugen geduldig Julias brennende Fragerei nach unseren früheren Reise-Abenteuern, wenn nicht gar -Heldentaten, und lachten über den höhnischen Ruf irgendeiner Eule, die über den Steinbruchkamm strich. Mit der Abenddämme-rung verschob sich die Gemütlichkeit allerdings ins Feierliche und Andächtige. Es war vielleicht kein Wunder; schließlich war man wieder einmal nur um Haaresbreite dem Tod von der Schippe gesprungen. Der Himmel war klar – und im Westen rötlich. Da wir weder die Rocky Mountains noch die dort absinkende Abendsonne sehen konnten, forderte Steve Julia auf, uns das mutmaßliche Aussehen der Abendsonne zu beschreiben.

Sie dachte nicht lange nach. »Ein roter Ball ist sie. Die Riesen aus dem Felsengebirge spielen gern mit ihr Fußball. Keiner von ihnen hat Klumpfüße. Manchmal verhakt sich ihr Ball in den Wipfeln der Fichten, dann machen sie lange Gesichter.«

Während mein angebliches Mondgesicht schmunzelte, hakte Steve nach: »Und dann? Können sie sich den eingeklemmten Ball nicht wiederholen? Sie sind doch groß genug!«

Jetzt wurde Julia doch ein wenig verlegen. Sie kratzte sich hinterm Ohr. Schließlich erwiderte sie lächelnd:

»Ich glaube nicht. Die Sonne ist zu weit weg. Draußen im Weltall ist sie.«

Steve nickte anerkennend und sprach der Schulleiterin von Sidney, Julias Lehrerin, insgeheim ein fettes Lob aus. Er war selber streckenweise Schulmeister gewesen. Nach einer Weile sagte er versonnen:

»Manchmal steht die rote Abendsonne wie zum Greifen nahe am Horizont. Man schätzt dann, 10 Kilometer im Galopp, und man habe sie erreicht und könne sie vielleicht noch am selbem Abend umrunden. In Wahrheit ist sie immer rund 150 Millionen Kilometer von uns entfernt. Somit dürfte sie beträchtlich größer sein, als sie zuweilen auf uns wirkt. Nur ist sie eben weit weg … Wenn ich mich recht erinnere, ist sie 1,4 Millionen Kilometer dick, was dem 109-fachen Durchmesser unserer Erde entspricht. Sie soll eine riesige Gas- oder Plasmakugel sein. Ein Abreiten ihrer Oberfläche dürfte sich übrigens kaum empfehlen, denn diese ist 6.000 Grad Celsius heiß.«

Julias offener Munde zeigte ihm, der Unterricht in Sidney hatte sich nicht in Details verloren. Inzwischen waren die Sterne herausgekommen, und im Trichter des Steinbruchs glitzerten ein paar davon. So kramte Steve weiter in seinem »astronomischen« Wissen und fuhr schließlich fort:

»Der uns zweitnächste Stern, nach der Sonne, ist Proxima Centauri – schon 4,2 Lichtjahre von uns entfernt. Weißt du, was das heißt, Julia? Das sind ungefähr 37 Billionen Kilometer. Kannst du dir das vorstellen?«

Sie war ehrlich genug, um mit dem Kopf zu schütteln.

»Ja«, sagte Steve, »das übersteigt unsere lächerlichen irdischen Maße. Dabei ist es nur ein Klacks! Tatsächlich hat das Universum noch ganz andere Entfernungen zu bieten; vielleicht ist es sogar unendlich. Aber auch das kann sich kein Sterblicher vorstellen, Unendlichkeit … Im Grunde ist dies alles verflucht rätselhaft, das irdische Geschehen eingeschlossen. Die einen werden Präriehunde, die anderen Sergant oder Colonel in der Army. Hier kommt ein Wirbelsturm, dort nicht. 1.000 Tote, 10.000 Obdachlose, und eine Menge Waisenkinder – so welche wie Sandy und du, meine liebe Julia. Ich bin kein Wai-senkind – warum nicht?«

Er hatte sich wohlweislich gehütet, auch die fragwürdige Austeilung von Klumpfüßen anzuführen. Vielleicht kam sie früher oder später von selber darauf. Vielleicht fand sie in Steves Beklagung der in der Welt herrschenden Willkür einen Trost.

Sandy schien Gedanken lesen zu können. Er hatte sich nicht in Steves Vortrag eingemischt, stieß aber nun mich an, der neben ihm saß, und erkundigte sich, ob ich nicht, vorm Schlafengehen, ein besinnliches Lied auf Lager habe, das irgendwie tröstlich stimme. Er werde auch gern die Gitarre aus dem Wagen holen.

Ich lächelte, dachte eine Weile nach und nickte dann zustimmend. Nachdem Sandy, mit der Gitarre, wieder erschienen war, griff ich, der Bläser, mutig in die Saiten und stimmte ein schlichtes altes Lied aus der Heimat meiner germanischen oder jüdischen Vorfahren an. Julia fand, es war herzergreifend. Ich hatte nur die Übersetzung der Anfangszeile mitgeteilt, die ja auch den Liedtitel enthielt: »Guter Mond, du gehst so stille in den Abendwolken hin …«

Vom Rest des Liedes erfuhren meine Kollegen erst, als sie im Wagen lagen und Julias Atemzügen lauschten, die anzeigten, sie schlief bereits. Denn nun kicherte ich unvermutet und versicherte ihnen dann, das Lied vom stillen Mond sei ein durchaus trauriges Lied. Dessen angenommener Sänger habe an Einsamkeit und unstill-barem Liebesverlangen gelitten und dem Mond sein wundes Herz ausgeschüttet.

»Hoffentlich ergeht es dem Kind einmal besser«, fügte ich noch seufzend hinzu. Dann überließ ich meine Mitstreiter ihren Gedanken – oder ihren Träumen.

Viel bedeutender war natürlich unser Programm-Bestandteil Kosmologie. Das Lied stammte von Steve.


Als letzte Ortschaft vor dem Indianerlager wollten wir Casper besuchen. Das Städtchen lag am North Platte River, zudem am Fuße der Rocky Mountains. Gegen Topeka war es geradezu winzig; gleichwohl hatten wir gehört, es gebe dort eine imposante Music Hall, in die zur Not die ganze Einwohnerschaft hineinpasse, 500 Köpfe. Außerdem winkte Casper neuerdings Bahnanschluß. Es hatte schon jetzt verschiedene Werkstätten, Läden, Sündenpfuhle und einen Wasserfall zu bieten, weshalb es die Schaulustigen, Trapper und Glücksritter von halb Wyoming zu sich saugte. Heute soll es schon Großstadt sein. Dagegen ist von Geographen zu hören, der Durchmesser unseres Planeten habe sich in Millionen Jahren bis zur Stunde um keinen Zoll verändert.

Wir hatten noch etwa 15 Kilometer bis zur Stadt zu bewältigen, als Sandy, der vorausgeritten war, in scharfem Galopp zurückkehrte. Es war um Mittag. In den wenigen schlaffen, völlig unbewegten Gebüschen, die den staubigen Fahrweg begleiteten, dösten ein paar Wiesenstärlinge oder Elstern, während Julia in Steves Rücken, im Klavierwagen, ein Schläfchen abhielt. Ich schloß mit dem Gerümpel-wagen bis zu Steves Kutschbock auf, weil ich annahm, es gebe Neuigkeiten. Nun hielt Sandy den Schecken vor unseren Zugpferden an, deutete mit Lindas Fernrohr hinter sich und eröffnete uns, ein ganzes verfluchtes Fähnlein Soldaten komme auf uns zu.

»Haben sie dich gesehen?«

»Ich fürchte, ja.«

»Besitzen sie ebenfalls ein Fernrohr?«

»Ich glaube, nein.«

Steve und ich nahmen es ziemlich gefaßt, weil wir allesamt mit solchen Zwischenfällen durchaus gerechnet hatten. Da mußten wir durch. Was wir vor bald drei Wochen allerdings noch nicht gewußt hatten: wir führten ein ausgerissenes, am Ende sogar gestohlenes Kind mit uns! Deshalb kratzten wir uns unter den Hutkrempen und sahen uns ratsuchend um.

Erfreulicherweise wurde eine Bodenwelle, die ungefähr 150 Meter zu unserer Linken lag, von zwei oder drei Felsbrocken und sogar einer verkrüppelten Kiefer geziert, die vielleicht etwas Schatten spenden konnte. Wir sahen uns an, nickten und riefen Julia aus dem Schlaf. Als sie sich neben Steve auf den Bock schob, erläuterten wir ihr die Lage. Sie wurde augenblicks hellwach, weil sie eine riesige Bewährungsprobe witterte. Ich schärfte ihr ein, sich wie ein guter Indianer zu verhalten, nämlich sich nicht zu verraten. Dann bat ich sie um ihre Feldflasche, die sie, wie alle, am Gürtel baumeln hatte, und schüttelte die Flasche. Da sie fast leer war, füllte ich sie bedächtig aus meiner eigenen Flasche nach. Schließlich ließ ich mir von Sandy das Fernrohr geben und reichte es ebenfalls an Julia weiter:

»Damit bist du über die Vorgänge, die hier stattfinden, gut im Bilde. Achte aber darauf, daß das Ding nicht in der Sonne aufblinkt! Verstanden?«

Julia nickte begeistert und trabte, leicht hinkend, zu ihrem Versteck.

Wir rangierten die Wagen wieder in Kette, gaben den Pferden Wasser und tranken auch selbst ein paar kräftige Schluck. So täuschten wir eine kleine Mittagspause vor. Nach fünf Minuten trudelte auch das Fähnlein Soldaten bei uns ein. Es sah nach einer berittenen Streife aus. Es waren genau 10 Gemeine, geführt von einem Major, wie wir unschwer erkannten, im ganzen also 11. Da hätten wir bei einer Schießerei vermutlich den Kürzeren gezogen, obwohl unser Treck geradezu von Waffen starrte, wenn man jene mitzählte, die seit drei Wochen unterbeschäftigt in den Kisten des Gerümpelwagens dümpelten.

Der Major war ein stattlicher Mann, dessen gewichster schwarzer Schnauzbart ringsum in schneidige Gesichtszüge überging. Nachdem er seinen Leuten mit der Hand einen Halt signalisiert hatte, hielt er seinen Fuchs an, schimpfte auf die Hitze und schob sich erst einmal den Hals seiner Feldflasche unter den Schnauzbart. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken durch den Bart, um die Tropfen abzuwischen, und erkundigte sich in kumpelhaftem Tonfall nach unserem Woher und Wohin.

Ich lüftete meinen Hut um zwei Millimeter, indem ich ihn lediglich antippte. »Händler aus Kansas, Major. Dachten, wir könnten mit den verfluchten Inds ein paar hübsche Geschäfte machen.«

Da ich den mißtrauischen Blick des Majors auf Sandy sah, winkte ich ab: »Nur ein Halbblut, Major, dumm wie Bohnenstroh, versteht auch kein Wort Englisch, außer money! Der Kerl führt uns.«

Es war dem Offizier anzusehen, die Sache gefiel ihm nicht. Deshalb sagte er sich wahrscheinlich, er müsse andere Saiten aufziehen. »Hier wird viel geschmuggelt, meine Herren!« stellte er drohend fest. »Dürften wir die Ware einmal sehen? Mit anderen Worten: Die Planen hoch, ihr Strolche!«

Es war wohl an der Zeit einzuschreiten. Das Klavier für die Unterrichtung der Indianerjugend in christlicher Kirchenmusik hätten sie uns vielleicht noch durchgehen lassen; die Waffenkisten dagegen kaum. Sie hätten ja den ganzen »Gerümpelberg« in unserem zweiten Wagen sofort mit Vergnügen auf den Fahrweg geschaufelt. So zog Steve ein zusammengefaltetes Papier aus der Brusttasche seines karierten Flanellhemdes und reichte es dem Major mit den Worten aufs hohe Roß hinauf:

»Vielleicht erübrigen sich weitere Inspektionen und Unhöflichkeiten, Herr Major, wenn ich Sie hiermit um Nachsicht für unser kleines Versteckspiel bitte …«

Der Offizier nahm das Papier unwirsch entgegen, entfaltete es – und nahm innerhalb von 20 oder 30 Sekunden die Blässe von unbeschriftetem Papier an. Während er sich bereits straffte, reichte er dem rothaarigen Fuhrmann dessen gewichtigen Ausweis zurück; dann salutierte er und stieß beflissen hervor:

»Wir bitten vielmals um Verzeihung, Colonel. Wir wünschen Ihnen selbstverständlich viel Erfolg. Können wir Ihnen noch irgendwie behilflich sein?«

Steve winkte gutmütig ab. »Konnten Sie ja nicht wissen, Major … Nein, im Moment sind wir gut versorgt. Aber vielleicht kommen wir später auf Ihr Angebot zurück. Sie sind ja wohl in Fort Lashermink zu finden ..? Na, prima. Sie können abtreten.«

Darauf beeilte sich der Major, seinen Salut zu bekräftigen, während er seinem Fuchs schon im selben Atemzug die Sporen gab, wobei er vermutlich einige Verärgerung abließ. Seine 10 Gemeinen trotteten belämmert hinter ihm her. Sie waren um einen Spaß gekommen und wußten noch nicht einmal, warum.

Das Wunder wirkende Dokument bestand aus einem echten Briefbogen des Washingtoner Hauptquartiers der US-Army und einer Fälschung auf demselben. Sandys alte Genossen hatten uns auch damit ausgestattet. Es wies ein echtes, Steve zeigendes Porträtfoto auf, und stellte fest: »Colonel William Hicks ist für den diesjährigen Sommer in geheimem Auftrag in den Staaten Kansas, Nebraska und Wyoming unterwegs. Falls er es wünscht, ist ihm alle erdenkliche Hilfe zu leisten, soweit sie nicht gegen die Verfassung der USA verstößt.« Folgt Datum und Unterschrift (General).

Wir machten noch ein paar müde Scherze, während wir dem Trupp nachblickten. Als er von einer Bodenwelle verschluckt worden war, zeigte sich prompt Julias blonder Schopf über den Felsbrocken. Ich winkte sie herbei. Das befolgte sie. Allerdings war ihre Gangart über ihr bekanntes Hinken hinaus etwas merkwürdig. Während das Fernrohr hinter dem Bund ihrer Lederhose stak, verbarg sie ihre Hände, die wahrscheinlich etwas anderes hielten, hinter ihrem Rücken. Wir waren gespannt.

Julia machte vor uns auf dem Fahrweg Halt, nickte in Richtung des abgezogenen Militärs und sagte großspurig: »Die wären wir los. Das habt ihr gut gemacht, Männer!«

Das war nun eher großmütig gesagt – die Männer schmunzelten. »Danke sehr«, verbeugte ich mich.

»Und wie habt ihr das gemacht ..?«

Steve winkte ab. »Wir haben ihm meinen alten Militärpaß unter den Schnauzbart gehalten, hast du ja gesehen. Das genügte ihm. Ich war nämlich einmal Leutnant gewesen, mußt du wissen, man sollte es kaum glauben …«

Julia staunte in der Tat. »Ein richtiger Offizier? Dann kanntest du früher keine Furcht?«

Steve sah sie stirnrunzelnd an, weil er nicht genau wußte, ob sie ihre Frage ernst meinte, aber dann handelte sie bereits. Sie warf ihm das längliche Ding, das sie in ihrem Rücken verborgen hatte, jäh vor die Füße – und weidete sich köstlich daran, daß er instinktiv zurückwich.

Es war eine Klappersschlange. Ungefähr armlang, überzeugte sie jeden Militär durch die Tarnfarbe Hellbraun mit großen, dunkleren Flecken darin. Zu unserer Beruhigung wirkte ihr Kopf noch breiter und flacher als gewöhnlich; offenbar war sie von jemandem erschlagen oder zertreten worden. Wir äugten fragend auf Julias Schnürstiefel.

Sie nickte und sagte in all der Lässigkeit, die sie ihrem Triumphgefühl abringen konnte: »Ich war kaum um die Felsen gebogen, da scheuchte ich sie unerwartet auf. Sie griff mich sofort an, aber ich wußte auch sofort, was zu tun war. Ihr seht es ja …«

Wir verstülpten im Verein die Lippen, wiegten unsere Hüte, die voller Anerkennung waren, und sparten nicht mit unverhohlener Bewunderung. Sie war noch nicht einmal überzogen. Solche erfolgreichen Abwehren versehentlich aufgescheuchter Klapperschlangen gelingen selbst gestandenen Cowboys oder Indianerhäuptlingen nicht immer. Dann sind sie erst einmal gebissen und vergiftet. Wir verrieten Julia freilich nicht, daß Sandy eine Kräutermischung mit sich führte, aus der sich im Notfall ein Aufguß für Schlangenbißwunden bereiten ließ. Todesfälle durch Klapperschlangen kommen ohnehin selten vor. Das geschwollene, verfärbte Fleisch des Opfers schmerzt nur teuflisch. Übrigens sind die Klapper-schlangen eher in der Dämmerung und nachts auf der Jagd, aber sie sonnen sich zuweilen. Vielleicht hatte das Julias Opfer gerade getan.

»Hat sie wenigstens noch geklappert, bevor sie ihren Rachen aufriß?« wollte Steve von Julia wissen.

Sie dachte etwas verlegen nach. »Ich glaube, nicht. Es ging zu schnell.« Dann hellte sich ihre Miene auf: »Vielleicht bin ich ja zufällig gerade zuerst auf ihre Klapper getreten … mit meinem gesunden Fuß …«

Ed und Steve lachten: das war Galgenhumor … Allerdings wirkte die kurze, elfenbeinfarbige Schwanzrassel, in der die zwischen ihnen liegende Schlange auslief, noch unversehrt. Steve wußte, das »Instrument« bestand aus beweglichen Hornringen. Vielleicht konnten sie Julia für die Band daran ausbilden: Percussion …

Prompt fragte sie: »Und was machen wir jetzt mit ihr? Muß man sie begraben?«

Während ich kicherte, verdrehte Sandy seine Augen, was er sich hin und wieder gestattete. Dann bückte er sich, hob die Schlange auf und warf sie durchs Schlupfloch in den Klavierwagen. »Die gibt's nachher zum Abendbrot!« sagte er und klopfte Julia erstmals die Schulter.

Nach dieser Begegnung mit dem berittenen Fähnlein Soldaten wußte ich plötzlich, wie mein Lied vom Horn aufzuzäumen sei. Es konnte nur ein Spottlied werden.


Die Music Hall in Casper war gut besucht. Sie bot, wie jeden Samstag, Tanzmusik. Steve und ich zwängten uns an einen der Tische auf der Galerie, die an den beiden Längsseiten der großen Tanzfläche eingebaut worden war, denn vorläufig hatten wir nicht vor zu tanzen. Dazu fanden wir die Musik zu interessant. Sandy und Julia hatten wir bei den Wagen gelassen, Wache schieben. Die beiden machten sich ohnehin nicht viel aus Tanzvergnügen. Erfreulicherweise gab es unter der Decke des hohen Saales etliche Oberlichter, die zumindest einen Teil der Schweiß-, Alkohol- und Tabakfahnen absaugten, die über der Tanzdiele wallten. So konnte man die Vorgänge auf der Bühne halbwegs gut verfolgen, ohne gleich Lindas Fernrohr zu bemühen.

Die Musik der siebenköpfigen, dreifarbigen Platte River Shuffle Band hatte einen enormen, ganz ungewöhnlichen Schmiß. Wie wir nach dem Konzert erfuhren, war der Bandgründer, ein weißer Saxophonist, vor einigen Jahren aus New Orleans ans Felsengebirge verweht worden. Er fand ein paar MitstreiterInnen und machte mit ihnen zunächst die Musik, die er eben aus Louisiana gewohnt war. Doch dann stießen Liz und Chiyoko zu ihnen, zwei »Marimbinas«, wie sie bald genannt wurden. Die Marimba ist ein Schlaginstrument mit liegenden Klangstäben, die mit Filzklöppeln angeschlagen werden. Durch Kalebassen, die unter den Klangstäben angebracht sind, werden die Schwingungen der Stäbe, also die Töne, verstärkt. Die schwarze Liz spielte die tiefe, die gelbe Chiyoko die hohe Marimba. Das stimmte auch ungefähr mit den Gestalten der beiden jungen Musikerinnen zusammen. Während die stämmige Liz einen üppigen Busen über ihren fast dumpf dröhnenden Klangstäben wippen ließ, war die zierliche Chiyoko, eine Japanerin, dürr wie Präriegras. Dennoch hüpften beide Weibsbilder streckenweise wie von der Tarantel gestochen an ihren Instrumenten umher, ohne sich erkennbare Fehlschläge und Mißtöne zu leisten. Es war ein Feuerwerk aus Musik. Durch die beiden Marimbas – erläuterte uns später Liz – hatten sich sowohl ein Klavier wie auch ein Baßinstrument (Baßgeige oder Tuba) erübrigt. Aber sie ersetzten sie keinewegs; sie schufen eine neue Farbe. Sänger der Gruppe war ein Schwarzer, der über eine betörende, geradezu einschmeichelnde Bariton-stimme verfügte. Er spielte zudem eine Westerngitarre, mit Stahlsaiten. Ein spanischstämmiger Weißer machte an seiner Flamencogitarre den entscheidenden Rythmus. Die restlichen Instrumente waren, neben dem Saxophon, eine Querflöte und Percussion.

In einer Pause verließen wir die Galerie und schlenderten zur Bühne. Fast alle MusikerInnen hatten sich durch eine Seitentür nach draußen begeben, aber Liz war noch da, weil sie in einem großen Koffer irgendetwas suchte. Steve sprach sie an und bekundete sein Interesse an den Marimbas. Sie erklärte bereitwillig, es gebe auch große Marimbas über fünf Oktaven oder mehr für die tiefen und die hohen Töne in einem. Sie würden mitunter von Musikern gespielt, die in jeder Hand zwei Klöppel hielten und auf diese Weise mit vier Klöppeln gleichzeitig oder nahezu gleichzeitig spielten; das finde sie allerdings »affig«, jedenfalls überflüssig. Steve verkniff sich ein Schmunzeln, weil sie selber ja sozusagen auch aus dem Urwald stammte. Obwohl kräftig gebaut, hatte sie an ihrer Marimba durchaus geschmeidig gewirkt. Sie lachte offensichtlich gern, ließ weiße Zähne und selbst ihre Augen blitzen, die deutlich dunkler als ihre Haut waren. Ihr schwarzes Kopfhaar war fransig; es hing ihr bis über die Schultern.

Die Klangstäbe ihrer Marimba waren zweireihig-chromatisch angeordnet, wie beim Klavier. Steve bat sie um einen Klöppel und schlug ein paar Phrasen mit Blue-Notes aus einem bekannten Stück an, ohne sich zu verhauen. Sie war verblüfft und meinte, eigentlich lasse nur seine Klöppelführung zu wünschen übrig. Ob er Berufsmusiker sei?

»Mehr oder weniger schon«, nickte Steve.

»In dieser Gegend?«

Er zwinkerte und sagte: »Leider nur besuchsweise … Ich spiele Klavier bei den Top Ekas aus Kansas. Derzeit tingeln wir durch die Prärie. Wir haben zwei Planwagen, wissen Sie? Und ein Klavier.«

Ihre Verblüffung hatte sich offensichtlich gesteigert. »Durch die Prärie? Und dann noch mit Klavier ..? Wo stehen denn eure Wagen?«

»Unten am Fluß, auf der Wiese gleich neben der Gerberei.«

»Kann man da mal vorbeikommen?«

Selbstverständlich bejahten und begrüßten wir das. Am nächsten Tag tauchte sie in Begleitung des Saxophonisten und des Sängers gegen 11 bei uns auf. Die Bitte der drei, ihnen ein paar Kostproben der Top-Ekas-Musik zu Gehör zu bringen, weitete sich in kurzer Zeit zu einem kleinen Freiluftkonzert aus, weil sich zunehmend auch andere Einheimische von unserer Darbietung anlocken ließen. Um 12 klatschten bereits mehrere Dutzend Leute Beifall, wenn die drei Musiker aus Kansas ein Stück beendeten und sich artig verbeugten – außer mir. Ich verbeugte mich inzwischen nicht mehr, sondern blieb auf meinem Faltschemel sitzen, um mich gleichsam, anstelle des Hornes, an meiner rechten Wange festzuhalten. Ich hatte meinen Mitstreitern bereits nach dem Frühstück eröffnet, nachts hätten mich Zahnschmerzen befallen. Sandys Gebot folgend, kaute ich wie ein mümmelndes Kaninchen in einem fort Salbeiblätter, doch es schien nicht so richtig anzuschlagen. Um halb eins streckte ich die Waffen. Ich ließ mir von einem Einheimischen den nächsten Bader nennen, steckte reichlich Geld ein und eilte die Böschung zur Mainstreet hinauf.

Ich hatte Glück im Unglück, wie die anderen nach gut einer Stunden sahen. Der Bader war zu Hause gewesen und hatte mich um einen eiternden Backenzahn sowie 8 Dollar 50 erleichtert. Da ich sowieso schon beim Geldausgeben war, hatte ich in einem Store für Farmer und Trapper auch gleich noch ein Geschenk für Julia erworben. Dies alles erzählte ich nach meiner Rückkehr durch meine schlechten Zahnreihen gepreßt, weil ich noch auf den blutigen Propfen in meiner neuen Backenzahn-lücke beißen mußte.

Die meisten Schaulustigen hatten sich inzwischen verlaufen. Die drei MusikerInnen von der Konkurrenz saßen aber noch an der Feuerstelle. Das Päckchen für Julia, ordentlich in irgendein altes Plakat eingeschlagen, hatte fast unauffällig unter meinem angelegten Arm geklemmt. Jetzt überreichte ich es Julia. Obwohl sie gleichfalls leidend war, wie ich, war sie beim Auswickeln gespannt wie ein Flitzebogen. Aber dann hatte sie doch Mühe, eine gewisse Enttäuschung zu verbergen.

Es war irgendein luftiges helles Textilstück. Als sie es wie zum Staubausschütteln fallen ließ, erinnerte es sie an die sogenannten »Untergardinen«, die ihre Pflegemutter in Sidney an den Fenstern hatte. So etwas konnte sie natürlich am wenigsten gebrauchen. Sie zog ein Gesicht, als hätte sie meine Zahnschmerzen übernommen, und knurrte:

»Is'n das ..??«

Ich lächelte nachsichtig und überlegen. »Es ist ein Moskitonetz. Man kann es über oder vor einem Bett, am besten sogar vor einem Hängeboden anbringen. Dann hat man vor den Viechern die ganze Nacht Ruhe, weil sie nicht durch die engen Maschen dieses feinen Gebildes schlüpfen können.«

Ihr Gesicht hellte sich rasch auf. »Tatsächlich? Das ist ja eine Wolke!«

Damit umhalste sie mich und knutschte mir die gesunde Wange.

Besucherin Liz war jetzt klar, warum die braungebrannten Beine und Arme des Kindes so mit Pusteln übersät, so zerstochen waren. Offenbar zog sie Mücken an. Steve bestätigte es. Bislang sei es für Julia noch halbwegs glimpflich abgegangen, weil sie sich, ihr zuliebe, stets gehütet hatten, in nächster Nähe von Tümpeln oder auch nur Brunnen zu campieren. Nun aber dieser üble Fluß! Er nickte hinter sich. »Wir fanden auf die Schnelle keine bessere freie Stelle. Jetzt ist der Platz okay ..!« schloß er und sah die schwarze Marimbina wieder an, übrigens ziemlich unverfroren. Sie lächelte verständnisvoll …

Als sich die Gäste am spätem Nachmittag vorerst zurückzogen, hatte man, von Band zu Band, ein paar weitreichende Verabredungen getroffen. Darauf komme ich in Kürze zurück. Julia nahmen sie mit, weil sie dem Kind die Stadt zeigen wollten, insbesondere die Hausecke am Hotel Zum Berglöwen, an welcher der Eismann mit seinem Handwagen stand.

Ich schüttelte mißbilligend meinen Kopf, als wir den vier Personen nachblickten. Wir saßen an der erkalteten Feuerstelle. »Ausgerechnet Eis! So ein Gift für die Zähne! Ich sage euch, wir haben diese Frage – nämlich der Zahnpflege – bislang sträflich vernachlässigt!«

Sie konnten mir schlecht widersprechen. Sandy pflegte immerhin seine Salbeiblätter zu kauen und hin und wieder mit angespitzten oder am Ende zerfaserten dünnen Zweigen in seinen Zahnreihen zu stochern oder zu wienern. Ich selber begnügte mich mit gelegentlichem Stochern. Der einzige von uns, der die neuartige Zahnseife und eine Bürste aus Schweineborsten besaß, war Steve, aber er griff immer nur danach, wenn er sich rasierte, und das war in der Regel alle drei Tage. Oder vor einem besonders wichtigen Auftritt. Oder vielleicht in Zukunft, wenn ein Stelldichein mit einer gewissen Marimbina bevorstand …

»Jedenfalls sollten wir ab sofort wenigstens Julia zur regelmäßigen Zahnpflege anhalten«, fuhr ich fort. »Oder meint ihr nicht?«

Sie meinten doch und nickten zustimmend.

Ich tastete nach meiner geschwollenen Backe und sah an mir herunter. »Ich meine, bei mir selber kommt es ja nicht mehr so darauf an … Ich liege sowieso bald in der Kiste. Aber dieses Kind! Neun Jahre ist sie erst, stellt euch das vor. Doch sie hockt bereits auf unseren Zugpferden, als hätte sie der Große Geist persönlich dort angegossen. Habe ich nicht recht?«

Sandy und Steve nickten beide, ja sie lächelten sogar einträchtig.

Im übrigen steckte man auch in den Mücken nicht drin. Wer wußte schon, ob so ein winziger Quälgeist Julia nicht bereits den Todesstoß versetzt hatte oder es in Kürze täte. Der Bader hatte auf meine entsprechende Frage behauptet, die Mücken wählten ihre Opfer nach der ihnen genehmsten Ausdünstung. Wer zum Beispiel gern schwitze und stark nach Milchsäure rieche, habe die Viecher sofort auf dem Hals. Infizierten sie einen dann auch noch beim Stechen und Blutsaugen mit todbringenden Erregern, etwa der Malaria, habe man doppeltes Pech. Dagegen sei der Mensch, auch der weiße, bislang machtlos. Es helfe nur, an Gott zu glauben und ihn durch eifriges Beten gnädig zu stimmen. Heute sei Sonntag! Ob ich am Vormittag wenigstens in Caspers neuer schöner Kirche gewesen sei? wollte der Bader mit einem neckischen Zeigefinger-schütteln von mir wissen …

Ich zeigte ihm einen Vogel. Für Steve war der Tag ein Anlaß, den Mückentanz zu schreiben.


Die Entfernung zwischen Casper und Fort Lashermink betrug ungefähr 60 Kilometer. Das Zeltdorf der Oglalas um Rollender Fuchs lag ziemlich genau auf halber Strecke, wenn auch in einem Waldtal des Vorgebirges gut versteckt. Es umfaßte rund 450 Personen, 162 Ponys und mindestens 70 Hunde. Die deutlich größeren, edleren und besser genährten Pferde der Neuankömmlinge aus Kansas wurden, wie auch ihre beiden Planwagen, zumindest von den Indianerknaben sichtlich bestaunt. Die Indianer-männer beschränkten sich auf ein kaum merkliches anerkennendes Nicken. Die Weiber, soweit sie überhaupt zu entdecken waren, hielten ihren Blick zum Boden gesenkt. Das hatte Julia bald spitzgekriegt, wie sie mir verriet: hier hatten die Frauen nicht viel zu melden. Sie hielten sich meistens stumm im Hintergrund. Selbst im Tipi der eigenen Familie wagten sie den Mann kaum anzusehen, sei er selbst ihr Gatte oder ihr Bruder. Essen taten sie erst, wenn die Männer gegessen hatten. Ob Häuptling oder nicht, der Mann war Chef.

Einige Frauen tauten immerhin etwas auf, nachdem die Gäste auf dem Dorfplatz feierlich begrüßt worden waren und Häuptling Rollender Fuchs die »Bescherung« eröffnet hatte. Es ging um die Fracht des Gerümpelwagens. Jetzt zerrten zwei Weiber mitunter in zwei verschiedene Richtungen am Bügel eines Kupferkessels, oder ein anderes Weib ließ eine Schöpfkelle unter seinem buntbe-stickten weiten Rock verschwinden. Wie sich versteht, wurden die Holzkisten, die zuletzt zum Vorschein kamen, sofort von jungen Männern ins Tipi ihres Häuptlings geschafft. Als Julia verwundert fragte, was denn in diesen Kisten sei, winkte Steve ab:

»Jede Menge Bibeln und Gesangbücher! Rollender Fuchs wollte unbedingt welche haben.«

Zwar quittierte sie diese Auskunft mit Stirnrunzeln, doch gleich darauf wurde sie abgelenkt, weil Schöne Lippe zu Sandy trat, um ihn mitsamt der beiden Gespanne zum vorgesehenen Standplatz zu führen. Schöne Lippe war gleichsam ein Stiefbruder von Sandy. Sie waren, als Knaben, im selben Tipi aufgewachsen und hatten demselben Geheimbund angehört. In ihren jeweiligen Bünden oder Bruderschaften pflegten die durch und durch kriegerisch gestimmten Siouxmänner einerseits wie Pech und Schwefel zusammen zu halten; andererseits wetteiferten sie wie die Besessenen um die Palmen des Ruhmes, die bei Gefechten, Jagd- oder Diebeszügen (nach Pferden) oder bei Rennen (mit Pferden) winkten. Das Sammeln von Feindberührungen (»Coups«) oder Skalpen hatte inzwischen stark nachgelassen, kraft der Einschnürung durch die Weißen.

Der Standplatz für die Gäste lag am Beginn einer großen Pferdekoppel, die sich im Osten, zur Prärie hin, ans Zeltdorf anschloß. An ihr waren wir bei der Ankunft bereits vorbeigekommen. An ihrer Längsseite, parallel zum Weg, rieselte ein Quellbach, der ausgezeichnetes Wasser führte. Wie sich zeigte, war er sogar mückenfrei.

Die Indianerjungen hatten den Bach etwas weiter unterhalb der Koppel gestaut, um eine Badestelle zu erhalten. Allerdings war sie für Julia tabu, weil sie für das ganze weibliche Geschlecht tabu war. Die Weiber hatten noch weiter unterhalb ihre eigene Badestelle. Die Weiber pflegten auch separat miteinander zu plaudern, wetteifern, spielen. Als Julia über diese Geschlechtertrennung noch nicht ganz im Bilde war, versuchte sie einmal, sich unter das Lassowerfen einer Handvoll Knaben zu mischen. Sie schickten Julia vom Platz. Bald darauf bekamen sie freilich mit, welche Fertigkeiten das blonde Mädchen sowohl im Lassowerfen wie im Reiten bewies – und staunten Bauklötze. Aber eine Einladung gewährten sie Julia trotzdem nicht. Hätten sie sich das heraus genommen, hätten ihnen ihre großen Brüder die Ohren auf Pfeillänge gezogen. Andererseits mußte Julia anerkennen, die ganze Zeit, die sie in diesem Waldtal verbrachte, immerhin 10 Tage, wurde sie von nicht einem Indianerjungen, wegen ihres Hinkens, scheel angeguckt oder gar gehänselt. Diese Sitte hatten die Knaben in Sidney für sich gepachtet gehabt.

Der Platz, wo die Siouxjungen mit ihren Lassos zunächst nach Baumstümpfen, dann nach verwirrt kläffenden Kötern warfen, war auch der Schießplatz. Hier standen Scheiben oder gar Strohpuppen für Pfeile oder Kugeln. Der Schießplatz lag oberhalb der Tipis auf einer ausgedehnten sonnigen und daher trockenen Terrasse, die dann in Wald überging. Ein Winkel dieser Terrasse diente auch als »Scheißplatz« – wie sich versteht, war dieser auch wieder streng nach Frauen und Männern getrennt. Aber Klohäuschen hatten die Sioux nicht. Sie ließen ihre Ausscheidungen trocknen, häufelten sie von Zeit zu Zeit und schütteten Erde darauf. Den Hintern wischten sie sich mit Grasbüscheln ab, wie Julia beobachten konnte. Sie nahmen also kein Papier – wo hätten sie das auch hernehmen sollen?

Der Schießplatz war bereits nach unserem Ankunftstag täglich für etliche Stunden von Dutzenden von Kriegern belegt, die mit erstaunlich fabrikneu wirkenden Feuerwaffen bemüht waren, ihre Treffsicherheit zu verbessern. Die Chefs dieser Übungen waren Sandy und eigentlich Steve. Sie zeigten den Kriegern auch, wie die Waffen zu zerlegen und zu reinigen seien. Nebenbei erwähnt, wurde das Waldtal selbstverständlich rund um die Uhr bewacht. Die ersten Vorposten standen bereits weit oben am Berg, sodaß sie auch die Prärie im Auge hatten.

Ich mußte Steve auf dem Schießplatz zunächst vertreten, weil er eine wichtige Mission in Casper zu erledigen hatte. Die Sache war die. Wir hatten am dortigen Flußufer ein gemeinsames Freiluftkonzert der beiden Bands ins Auge gefaßt. Sandy hatte nämlich gewußt, mit der Böschung des Schieß- und Scheißplatzes verfüge das Waldtal beinahe über eine Art Griechisches Theater. Vorausgesetzt, die Shuffles hätte Lust dazu, könne man am Fuße der Böschung glatt einen originellen großen Auftritt hinlegen. Und in der Tat, sie hatte Lust. Als Steve ergänzte, sie seien im Augenblick recht flüssig und könnten den Shuffles pro Nase 50 Dollar für dieses Gastspiel zahlen, hatten die MusikerInnen aus Wyoming gleich noch mehr Lust, denn soviel bekamen sie in Caspers Music Hall bei weitem nicht. Daneben könnten uns die Kollegen gern die Kutsche berechnen, die sie für die An- und Abreise mieten mußten, hatte ich hinzugefügt. Allerdings hätten wir, die Top Ekas, erst mit Rollender Fuchs zu sprechen, das sei unum-gänglich. Man müsse sich also noch einmal verständigen, ob der Auftritt genehmigt sei. Als Termin für den Auftritt hatten wir den kommenden Freitag ins Auge gefaßt.

Tatsächlich dachte Rollender Fuchs nicht lange nach: er genehmigte das Vorhaben. Er bat sich lediglich strenge Verschwiegenheit der MusikerInnen aus Casper aus. So kam es, daß Steve mich trotz meiner bekannten friedfertigen Grundhaltung beim Abendbrot vor dem Klavierwagen zu seinem Vertreter bestimmen und am Mittwoch in der Frühe den Schecken satteln mußte. Man ahnt natürlich, es war ihm nur lieb. Liz hatte uns die Adresse der Wohnung aufgeschrieben, die sie sich neuerdings, in Casper, mit Chiyoko teilte. Als Steve dort am späten Nachmittag auftauchte, war er, vom Ritt her, zwar etwas zermürbt, aber noch immer leidlich gut rasiert. Wie es der Zufall so wollte, war Chiyoko gerade in der Stadt unterwegs. Deshalb kam er Liz bereits beim Nachmittagstee nahe genug, um das Geld für eine Übernachtung im Hotel Zum Berglöwen zu sparen: Liz lud ihn in ihr Zimmer ein.

Am Donnerstag begleitete Steve die Mietkutsche der Platte River Shuffle Band ins Oglala-Lager. An der Pferdekoppel eingetroffen, setzten wir gleich eine erste gemeinsame Probe, damit auch die Besprechung des Programms an. Schon hier fanden sich etliche Zaungäste ein, denen zum Teil der Mund aufstand. Solche merkwürdigen und üppigen musikalischen Geräusche hatten sie noch nie gehört. Es mag im Zeltdorf den einen oder anderen Kundschafter oder Medizinmann gegeben haben, dem schon einmal ein Banjo spielender Cowboy über den Weg gelaufen war – aber diese Klangorgie der insgesamt 10 ausheimischen MusikerInnen war ihnen jede Wette fremd. Dafür zollten sie Steves Anleitungen auf dem Schießplatz vorbehaltlos Anerkennung.

Am Freitagabend stellten wir die beiden Planwagen unweit der Böschung sozusagen am Fuß des Schießplatzes auf. Nun feuerten wir Töne ab. Unser dreiteiliges Programm dauerte wohlweislich nur eine knappe Stunde. Den ersten Teil bestritten die Top Ekas vom linken, den zweiten die Shuffles vom rechten Wagen aus allein. Zuletzt spielten die vereinigten Bands ein verhältnismäßig langes packendes Stück (15 Minuten), das der Shuffle-Saxophonist eigens für diesen Anlaß gleichsam über nacht komponiert und dann, mit Hilfe seiner Leute, auf ein Dutzend Notenblätter kopiert hatte. Er hatte es in einem afrikanisch gefärbten Stil geschrieben, den man etwas später in Kuba Mambo nannte. Stark »zerhackt«, wie es manche auch vom Tango sagen, riß diese Musik derart mit, daß man normalerweise mit ihrer Hilfe eine ganze Ponyherde in einer Stunde von Casper bis Topeka hätte treiben können. Die Indianer-Innen aber hockten mit geweiteten Augen auf der Böschung und zuckten bestenfalls mit ihren Fußzehen. Am Ende der Vorstellung klatschten sie immerhin brav – vermutlich von Sandy und Schöne Lippe eingefädelt.


Spätestens am Sonntag erhob sich die Frage, wie es nun weitergehen sollte. Die Shuffles – in deren schwarze Marimbina sich unser Bandleader offensichtlich verliebt hatte – waren bislang noch nicht abgereist, weil sie sich bei den IndianerInnen, im Gegensatz zu Julia, einstweilen pudelwohl fühlten. Der Schießunterricht war im wesent-lichen abgeschlossen. Und da Steve sowenig wie ich Lust hatte, an Bärenjagden oder Kriegszügen teilzunehmen, konnten wir eigentlich eine letzte Pfeife mit Rollender Fuchs schmauchen und den Heimweg oder sonst einen Weg antreten. Wir liebäugelten sogar schon mit dem Gedanken, die Shuffles in den nun freien »Gerümpel-wagen« zu packen und dann noch eine Zeitlang vereint, mit zwei Bands, durch die Gegend zu gondeln. Wir hatten erst Mitte August, das Wetter war geeignet. Aber es sollte etwas anders kommen.

Wie wir am Montagvormittag von Sandy und Rollender Fuchs persönlich auf dem Schießplatz erfuhren, war in der Nacht ein nördlicher Vorposten mit schäumendem Pony im Zeltdorf eingetroffen. Die Fuchs-Leute hatten nämlich einen Gewährsmann unter den »zahmen« Indianern, die vor den Palisaden Fort Lasherminks lagerten, um Aufträge, Schnaps oder Abfälle zu erbetteln, und eben dieser Mann, den man auch Spion nennen konnte, hatte dem Posten die brandneue Nachricht gesteckt, am Sonntag in der Frühe sei eine Waffen- und Munitionsfuhre im Fort eingetroffen, die im Kern aus dem neuartigen Sprengstoff bestehe, Dynamit genannt. Die Yankees hätten die ganze Fuhre in ihrem »Pulverturm« eingelagert und gleich die Wachen an demselben verdreifacht. Als Rollender Fuchs diese Lage Sandy bald nach Morgengrauen in seinem Tipi umrissen hatte, war das Halbblut der Top Ekas sofort Feuer und Flamme gewesen. Schließlich lag damit auf der Hand, was zu tun war. Man hatte lediglich den Pulverturm, der »geschützt« inmitten des Forts lag, hochgehen zu lassen, und schon wäre man die rund 700 Militärs, die in Lashermink stationiert waren, auf einen Schlag los, falls man es richtig anstellte.

Als Steve und ich von Sandy etwas eingehender über den Plan des beabsichtigten nächtlichen Überfalls ins Bild gesetzt worden waren, schwiegen wir erst einmal etliche Minuten lang. Wir saßen inzwischen bei den Ponys am Bachufer. Schließlich schüttelte ich meinen Kopf:

»Die Sache behagt mir ganz und gar nicht, Sandy. Es wäre ja glatter Massenmord. Dazu ein heimtückischer, möchte ich einmal behaupten. Nein, so etwas kann ich nicht gutheißen.«

Steve kannte Sandy. Er wußte, unser Halbblut würde nicht sofort aufbrausen, aber nach einer Weile würde es mich eine Memme nennen und mir mit leiser, klirrender Stimme alle Schandtaten an den Kopf werfen, die die Weißen schon in Nordamerika begangen hatten – soge-nannte Massaker eingeschlossen. Dem wollte Steve lieber zuvorkommen, wie er mir später verriet.

»Du spielst dein 'Honighorn', wie es unsere roten Freunde nennen, richtig, Ed, aber ich glaube, du denkst falsch«, sagte Steve. »Erstens denkst du nur in Massen, und zwei-tens denkst du nur in Waffen. Beides ist unangemessen.«

Er fischte noch einmal nach geeigneten Argumenten, indem er angestrengt in den Bach blinzelte, dann fuhr er fort: »Wenn ein Kind in einem Bach ertrinkt, ist es für alle Beteiligten nicht angenehmer als ein Schiffsunglück, bei dem gleich tausend Leute hopsgehen. Jeder Mensch ist einmalig, und der Tod ist immer schrecklich. Durch die 'Quantifizierung', wie manche Philosophen dazu sagen, wird der Tod nicht schrecklicher. Er behält auch bei 10.000 Opfern dieselbe Qualität, eben das Leben Auslöschende, das uns so erschreckt … Eine andere Frage ist, warum einer sterben muß. Das Schiffsunglück wäre womöglich unvermeidbar gewesen, wegen Sturm; dagegen war die oft grausame, viele Tode bringende Eroberung des nordamerikanischen Kontinents durch weiße Goldsucher, SiedlerInnen und Soldaten keineswegs unvermeidbar. Man hätte auch auf sie verzichten können … Und damit zum zweiten Punkt, den Waffen. Man überschätzt sie meist. Viele Verheerungen unter den Ureinwohnern richteten die Weißen ja keineswegs an, indem sie sie kurzerhand erschossen. Sondern viele Opfer starben erst nach Wochen oder Monaten, nachdem das Abschlachten der Bison-herden und Wälder, die Verseuchung mit Pockenviren, die großmütige Austeilung von Branntwein ihre Wirkung getan hatten. Auch das ist Massenmord, Ed, wenn man es schon so nennen will. Es fällt nur weniger auf.«

Nach einer Weile scharfen Nachdenkens sah ich auf und lächelte teils verlegen, teils versöhnlich. »Du hast nicht ganz unrecht, Steve. Aber du wirst auch verstehen, wenn ich mit solchen krassen Gegenschlägen nichts zu tun haben möchte.«

Ich nickte über die Pferdekoppel zu unseren Wagen, wo Julia ein falbes Zugpferd derart sorgfältig und behutsam striegelte, daß man am liebsten mit ihm getauscht hätte. Die Pferde waren von Anfang an in das blonde Kind vernarrt gewesen. Wenn sie zukünftig nur seine Stimme hörten, bekamen sie bereits Glanz in den Augen. Julias Duft – den die Mücken nicht leiden konnten – brachte die prallen Bäuche der Zugpferde fast zum Schmelzen. Nun fuhr ich fort:

»Vor allem muß ich darauf bestehen, Julia aus der Sache heraus zu halten. Sie muß vorher verschwinden. Die Sache kann ja schiefgehen, und dann haben wir am nächsten Tag eine Kolonne von Yankees auf dem Hals, die das Zeltdorf mit Kanonen zusammenschießen. Davon abgesehen, früher oder später droht so ein Strafgericht sowieso. All diese Gewalttaten ziehen immer nur neue Gewalttaten nach sich.«

Steve nickte, erwiderte aber einstweilen nichts. Er wartete auf Sandys Stellungnahme.

»Ihr habt beide gut gesprochen, meine Freunde«, sagte Sandy bedächtig. »An dem Kriegsplan rüttelt das nicht. Ich halte auch an meiner Beteiligung fest, denn Schöne Lippe wurde bereits für die Hauptrolle bestimmt, weil er hier der beste Bogenschütze ist. Wie ihr wißt, ist er auch mein Stiefbruder. Ich will ihn unterstützen und seinen Rückzug decken. Euch dagegen schlage ich vor, rechtzeitig vor der Unternehmung – die bereits morgen beginnen soll, nämlich mit unserem Abritt nach Lashermink – abzureisen. Begleitet die Kutsche unserer Kollegen nach Casper und wartet dort auf mich. Am Mittwoch gegen Abend werde ich mit dem Schecken bei euch eintreffen. Seid ihr einverstanden?«

Wir waren es.

Wir fuhren gleich nach Mittag. Vorher rauchten wir mit Rollender Fuchs und einigen anderen Stammesältesten die Pfeife und überreichten dem Häuptling als Abschieds-geschenk einen Kranz aus Blumen, den Julia kunstvoll mit Hilfe von Draht gebunden hatte. Rollender Fuchs war gerührt und setzte ihn gleich auf. Selbstverständlich dankte er uns noch einmal für »all das Gute«, das wir seinen Leuten bereits entgegen gebracht hätten. 2.000 Dollar Bargeld, die ein Medizinmann des Dorfes hütete, zählten dazu.

Anderntags lösten sich 54 ausgesuchte Krieger vom Dorf. Dieser Abschnitt meiner Erzählung stützt sich natürlich nur auf verschiedene Berichte, die ich später empfing. Die Krieger ritten die besten Ponys, die vorhanden waren. Fort Lashermink lag in einer Flußschlaufe. Ringsum hatten die Yankees auf ungefähr 300 Meter Breite den Wald abgeholzt, damit sie ein schönes Schußfeld hatten. Das würde allerdings im nächsten Morgengrauen eher den Angreifern zugute kommen. Den »zahmen« Indianern, die in einer Bucht des Waldrandes in einigen schäbigen Zelten oder Hütten hausten, hatte der Gewährsmann der »Füchse« dringend empfohlen, sich um Mitternacht unauffällig zu verdrücken. Sie würden also auch nicht im Wege sein. Der Plan ging folgendermaßen.

Nach dem Anritt, der äußerst umsichtig zu erfolgen hat, verbergen sich die Krieger ringsum im Wald. Im Grunde bestehen die Angreifer lediglich aus Schöne Lippe und Sandy. Sie schleichen sich kurz vor Sonnenaufgang von Osten her bis zu einer bestimmten Stelle am Fluß vor. Etwa in Höhe des Wachturms, der dem Pulverturm am nächsten liegt, wächst dort ein kleines Gebüsch am Ufer. Hier verbirgt sich auch Sandy. Der Fluß ist an dieser Stelle keine sieben Meter breit. Nun schwimmt oder taucht Schöne Lippe, nur mit Lendenschurz bekleidet, geräuschlos zum anderen Ufer, wo sich fast unmittelbar die Palisade und der besagte Wachturm erheben. Dann wirft Sandy mit Hilfe seines Lassos ein schmales Bündel über den Fluß, das einen Bogen, drei Brandpfeile, zwei Messer und eine Schachtel mit Zündhölzern enthält. Möglicherweise hören die beiden Wächter auf dem Turm einen kleinen, dumpfen Aufprall, aber wegen der Nacht und des Palisadenschattens können sie nichts erblicken, was ihren Argwohn entfachte. So schlurfen sie wieder zu ihren Schemeln, um wie zuvor zu plaudern, zu dösen oder zu saufen. Nun zieht Schöne Lippe das Lasso ein und wirft es ungefähr zwei Pferdelängen vom Wachturm entfernt über eins der Pfostenenden, die in der Palisade unregelmäßig herausstehen. Es hält. Das Bündel auf dem Rücken, steigt er wie eine Katze ein …

Tatsächlich gelangen Einstieg und Brandstiftung wie geplant – nur beim Rückzug Schöner Lippes gab es gewisse Komplikationen, die für das einzige Todesopfer der Angreifer verantwortlich waren.

Sandy war ihm natürlich mit den Augen gefolgt, als er die Palisade erkletterte, das Lasso umhängte und nun, sich in den Hof hinablassend, von der Palisade verschwand. Sandy sollte ihm Feuerschutz geben, sofern und sobald es erforderlich war. Das war das einzige, was er tun konnte. Beim Angriff selber konnte er seinem tollkühnen Stiefbruder nicht helfen.

Es war eine einzigartige Meisterleistung. Schöne Lippe löste das Lasso von der Palisade und schlang es um seine Hüfte, denn er brauchte es später noch. Die beiden Messer trug er mittlerweilen quer zwischen den Lippen. Er spähte unablässig umher, während er zur Tür des Wachturms schlich. Erfreulicherweise stand sie offen. Bei jeder Stufe der hölzernen, quadratisch im Turm eingebauten Wendeltreppe tastete er zunächst mit den Zehen vor, ob sie auch nicht knarren würde. Als er sich nach ungefähr fünf Minuten der Ausgangsluke näherte, wurde der Überfall, den er vorhatte, nahezu unwägbar. Schließlich wußte er nicht, wo die beiden Trottel von Soldaten sitzen oder stehen, vielleicht auch liegen würden. Für genauere Feststellungen hatte er selbstverständlich keine Zeit. So konnte er nur raten, auf seine blitzschnelle Auffassungs-gabe – und auf seine Beidhändigkeit bauen. Es gelang ihm. Bevor die beiden Wächter brüllen oder gar schießen konnten, hatte er sie, je ein Messer in der Hand, nahezu gleichzeitig erstochen.

Der Rest war vergleichsweise ein Kinderspiel. Schöne Lippe hängte zunächst sein Lasso außen an den Turm – dadurch wußte Sandy nebenbei, er hat es geschafft. Dann setzte er die drei entzündeten Brandpfeile ab, und zwar auf das Holzschindeldach des etwa 40 Meter entfernten Pulverturms und zwei beinahe an ihn stoßende Strohdächer. Die Flammen und die Alarmschreie oder -Schüsse aus den benachbarten Wachtürmen schlugen fast gleichzeitig hoch. Pferde wieherten auf. Keine zwei Minuten später setzten auch die Explosionen aus dem Pulverturm ein. Trümmer flogen durch die Luft; in der Flußschlaufe tobte das Inferno.

Schöne Lippe hatte genug gesehen. Er schwang sich über die Fensterbrüstung und ließ sich an seinem Lasso zum Ufer hinab. Doch dabei geschah das Mißgeschick. Von irgendwo kam ein brennender Balken geflogen, der ausgerechnet am Flußufer dicht vor Schöner Lippes Nase niederging. Der Balken traf ihn keineswegs; er beleuchtete ihn aber. Dadurch bekamen die Wächter vom nächsten Turm mit, was dort gespielt wurde und begannen damit, den nackten Mann am Fuß der Palisade unter Beschuß zu nehmen. Sie verfehlten ihn zwar, doch inzwischen hatte sie Sandy von seinem Gebüsch aus aufs Korn genommen, um Schöne Lippe zu decken. Einen von den beiden Wächtern traf er sogar. Der andere aber traf ihn. Erst dann wurden beide Wächter von den Druckwellen des hochgehenden Dynamits vom Turm in den Fluß gefegt. Das überlebten sie nicht.

Schöne Lippe war mittlerweilen seinerseits durch den Fluß getaucht. Er konnte sich zunächst nicht um seinen Stiefbruder kümmern, weil er sich bedeckt halten mußte. Er schlich bis zum Waldrand und reihte sich dort in der Postenkette der 52 übrigen Krieger ein. Sie umlief das gesamte Fort. Im ganzen gelang es in den nächsten 10 Minuten ungefähr drei Dutzend Soldaten, dem Inferno der Flammen und Detonationen oder dem grotesken Gebrüll ihrer Offiziere zu entrinnen. Sie liefen in ihren sicheren Tod, denn dafür war die mit nagelneuen Repetiergewehren ausgerüstete Postenkette eingerichtet worden. Büchsen-licht gab es ja jetzt genug. Ungeachtet der Rauchpilze war der Himmel über dem Fort grellrot, und im Osten schickte sich nun auch die Sonne an, über die Bodenwellen der Prärie zu steigen.

Ich nannte es später im Gespräch mit Steve und Liz die abschließende Grausamkeit. Wir wußten, die »Füchse« hatten bereits zu Hause beschlossen, die Flüchtenden erbarmungslos wie die Hasen abzuknallen, weil sie nicht einen Augenzeugen der Unternehmung wünschten. Das verhaßte Fort sollte gleichsam wie von Geisterhand vom Erdboden verschwinden. Deshalb durchkämmten sie, nach weiteren 10 Minuten, bei ihrem Abzug auch noch einmal die umliegenden Wälder. Überlebende Soldaten gab es nicht. Die Yankees kennen wahrscheinlich bis heute lediglich widersprüchliche Gerüchte über die Täter und den Ablauf des Überfalls.

Was unsren feurigen Schecken angeht, traf er anderntags durchaus pünktlich bei den beiden Planwagen, die wieder am Fluß standen, in Casper ein. Nur wurde er nicht von Sandy, vielmehr von dessen Stiefbruder geritten. Schöne Lippe hatte außerdem noch sein eigenes Pony als Handpferd dabei, für den Heimritt. Er blieb lediglich ein knappes Stündchen.

Günstigerweise sprach der kühne Bogenschütze leidlich Englisch, weil er gleichfalls, wie Sandy, zeitweise als Cowboy gearbeitet hatte. Nachdem er uns die erfolgreiche Unternehmung in Lashermink umrissen hatte, sagte er: »Meinem geliebten Bruder war nicht mehr zu helfen. Der Wächter hatte ihn ins Herz geschossen. Bevor wir abzogen, bargen wir Sandys Leiche und banden sie auf sein treues Pferd. Er wird eine würdige Bestattung bekommen. Unsere Kinder und Kindeskinder werden sein Andenken bis in alle Ewigkeit tragen – solange es auf Erden noch Indianer-Innen gibt.«

Er erhob sich von seinem Faltschemel und schickte sich zum Aufbruch an. »Ihr erinnert euch an den schönen Blumenkranz, den uns eure Tochter Julia gewunden hat? Wir werden Sandys Grabstätte damit schmücken.«

Damit grüßte er mit flacher Hand und schwang sich auf sein Pony.


Mit Sandy war auch die Band gestorben. Mich drängte es nun zu meiner Gefährtin nach Topeka zurück. Ich begnügte mich für den Heimweg mit drei Pferden. Zwei davon hatte ich gekauft; das dritte war der Schecke – den nun nicht mehr Sandy, vielmehr Julia ritt, das hinkende neunjährige Waisenkind. Bei mir sei ihr sowieso immer am wohlsten gewesen, hatte sie mir gestanden. Ich wollte sie adoptieren. Wir ritten in Sidney vorbei, und »die Schraube« sperrte sich nicht lange, als ich ihr ein paar Hundert-Dollar-Scheine unter die Nase hielt.

Wir übergaben ihr außerdem Lindas Fernrohr, mit der Bitte um Rückerstattung. Sandy erwähnten wir mit keinem Wort.

Die beiden Planwagen nebst Gespannen gingen in die Hände der Shuffles über. Die MusikerInnen nahmen Steve als achtes Mitglied auf. Wie er mir schrieb, kaufte er sich bald darauf ein Akkordeon. Bei seiner Begabung brachte er es sicherlich auch auf diesem Instrument zu hinreichender Meisterschaft. Ob er mit Liz Kinder zeugte, ist mir bislang nicht bekannt. Ich halte es allerdings für eher unwahr-scheinlich, schickte er mir doch nach ungefähr einem Jahr die Noten seines womöglich besten Liedes: Wird eins geboren.


Neben schon andernorts angeführten Quellen, darunter Royal B. Hassricks Sioux-Studie, waren mir zwei Bücher von Dee Brown nützlich: Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses und Im Westen ging die Sonne auf (original The Westerners).
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