Donnerstag, 10. November 2022
Die Sicherheitsnadel

Für Heinrich Böll war sie wichtig genug, um sie (1957) bereits auf der ersten Seite seines Irischen Tagebuchs vorzustellen. Das irische Volk, dem Armut weder als Schande noch Ehre gelte, habe dieser Nachfolgerin der alten keltisch-germanischen Fibel offensichtlich zu der ihr gebührenden Beliebtheit verholfen: »… wo der Knopf wie ein Punkt gewirkt hatte, vom Schneider gesetzt, war sie wie ein Komma eingehängt worden; als Zeichen der Improvi-sation förderte sie den Faltenwurf, wo der Knopf diesen verhindert hatte. Auch als Aufhänger für Preisschildchen, als Hosenträgerverlängerung, als Manschettenknopf-Ersatz sah ich sie, schließlich als Waffe, mit der ein kleiner Junge durch den Hosenboden eines Mannes stach …« Später weist Böll zudem auf die vielgenutzte Möglichkeit hin, etliche Sicherheitsnadeln, die in einer weiteren Sicherheitsnadel schaukeln, als Reserve mit sich zu führen, etwa unter dem Mantelkragen versteckt.

Ich selbst fahre im Hochsommer nie ohne Sicherheitsnadel Rad. Wegen der Hitze auf ein Hemd verzichtend, lege ich mir lediglich ein Handtuch um die Schultern, was den Sinn hat, dieselben vor Sonnenbrand zu schützen. Da mir das Handtuch jedoch aufgrund des Fahrtwindes wegflöge, pflege ichs unterm Kinn mit Hilfe der Sicherheitsnadel zu verriegeln. Der Mensch hat unzählige Arten des Riegels erfunden, aber die Sicherheitsnadel dürfte unser Riegel mit dem größten Anwendungsbereich sein. Ich sah sparsame oder faule Frauen, die ihre Fenstergardinen daran aufhingen, und im Umkleideraum eines Hallen-bades, es war im Winter, ertappte ich einmal einen älteren Mitbürger, der den ausgeleierten Gummizug seiner langen Unterhose gestrafft hatte, indem er ihn an zwei Stellen gefaltet hatte. An diesen Stellen staken zwei Sicherheits-nadeln in dem Gummizug.

Die noch heute gebräuchliche Form der Sicherheitsnadel wurde von dem US-Mechaniker Walter Hunt erfunden, Patenterteilung 1849. Allerdings hatte man schon seit der Bronzezeit Kleidungsstücke oder -teile durch Fibeln zusammengehalten, wie ja Böll bereits angedeutet hat. Ihr Name geht auf lateinisch fibula = Spange, Klammer zurück. Diese vielgestaltigen »Gewandschließen« wurden oft, wie Broschen, als Schmuckstücke gearbeitet. Sie gingen den Riegeln namens »Knöpfen« voraus. Sinnt man darüber nach, ergibt sich bereits allein bei Kleidungs-verschlüssen eine erstaunliche Vielfalt. Ich nenne aus dem Stegreif Schnürsenkel und andere Bänder, Druck- oder Manschettenknopf, Reißverschluß, Miederhaken, Klettverschluß. Doch nichts von diesen Kurzwaren erreicht die Breite des Einsatzfeldes einer Sicherheitsnadel auch nur annähernd, um nicht zu sagen, -nähend. Unsere Mütter schlossen dereinst unsere Windeln mit ihr, und hatten wir alle Kinderkrankheiten glücklich überlebt, um ins Schlachtfeld ziehen zu dürfen, legten uns die Schwestern in den Lazarettzelten die Verbände ebenfalls mit Hilfe der Sicherheitsnadel an, falls wir noch nicht gleich »gefallen« waren.

Heute wird die Aufrechterhaltung des weltweiten kriege-rischen Geschehens durch die regelmäßige Abhaltung von Sicherheitskonferenzen sichergestellt. Auf denen schaukeln dann die Namensschilder oder Ausweishalter ihrer TeilnehmerInnen an Sicherheitsnadeln. Früher trug ich eine Anti-Atomkraft-Plakette mit Hilfe der hinten angeschweißten Sicherheitsnadel auf der Brust, aber die mußte ich unlängst durch einen aufgenähten Blauen Stern ersetzen: »Mutti, schnell in den nächsten Hausflur, da vorn kommt ein Blauer!« Gemeint bin ich, der Ungeimpfte.
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