Dienstag, 8. November 2022
Der Raub der Warzenschweinchen

Im Grunde verdankten die TubohmerInnen ihre Befreiung unseren Warzenschweinchen. Ich lebte damals auf Tamsa. Die beiden kleinen Südseeinseln Tubohm und Tamsa waren von jeweils rund 150 Leuten bewohnt. Wir hatten aber wenig Kontakt, weil uns immerhin sieben Kilometer trennten. Die Kanufahrt war beschwerlich, und bei stürmischer See sogar gefährlich. Bei unserem letzten Besuch auf Tubohm hörten wir außerdem merkwürdige Dinge. Unlängst sei ein riesiges Schiff vor Anker gegangen, und nachdem es wieder verschwunden war, hätten ein paar Leute den Täuberich zum »König« ausgerufen. Seitdem sei das Klima auf Tubohm nicht mehr sonderlich angenehm. Wir mußten dann aber einem Unwetter zuvorkommen und erfuhren deshalb keine Einzelheiten mehr. Die wurden uns erst ein paar Wochen später nach der Warzenschweinchenernte donnernd nachgereicht.

Der Täuberich, ein hochgewachsener, muskulöser Kerl um 40 mit kühn zurückgebundener schwarzer Mähne, hatte sich wohl schon immer für etwas Besonderes gehalten. Das drückte sich auch in seinem Taubenschlag aus. Er hielt sogenannte Brieftauben, weil er unbedingt mit soundsovielen Nachbarinseln »korrespondieren« mußte. Nur nicht mit uns auf Tamsa; wir konnten ohnehin nicht lesen. Wir benötigten auch keinen »König«. Dafür besaßen wir als einzige Bevölkerung in der ganzen Inselgruppe Warzenschweinchen. Nur ein bestimmter waldiger Winkel der Insel Tamsa hatte den für diese unterirdisch wachsenden Pilze geeigneten Boden aufzuweisen. Wir nannten sie Warzenschweinchen wegen der holprigen Haut. Sie hatten meist Kartoffelgröße. Jahrzehnte nach der Sache mit dem Überfall versicherte mir ein französischer Schiffsarzt, sie schmeckten noch köstlicher als Trüffel. Falls Ihnen das was sagt. Leider pflegten die listigen Knollen von Jahr zu Jahr nach unergründlichen Gesetzen in ihrem Waldboden umherzuwandern. So hatten wir eigens ein Dutzend Ziegen dazu abgerichtet, sie schnüffelnd zu finden und dann an der betreffenden Stelle mit den Hufen zu scharren. Daraufhin gruben wir die Knollen aus.

Genau einen Tag nach Abschluß der jüngsten Ernte liefen wir am Strand zusammen und rieben uns die Augen: ein richtiges kleines, auch ruderbares Segelschiff näherte sich. Es war der Täuberich mit Gefolge. Schon wateten rund zwei Dutzend Leute an Land. Sie hielten teils Macheten, wie sie zum Roden benutzt wurden, teils irgendwelche, uns unbekannten eisernen Stöcke in den Armen. Nachdem sie sich uns gegenüber aufgebaut hatten, trat der Täuberich feierlich vor und erklärte uns, aus »staatspolitischen und steuerlichen Gründen« wünschten sie die vollständige diesjährige Warzenschweinchenernte an Bord zu nehmen.

Wir meinten zunächst, uns verhört zu haben. Aber Täuberich fackelte nicht lang. Nach kurzem Wortgefecht rief er »Schluß jetzt!« und verlieh seinem Begehren Nachdruck, indem er unvermutet sein Donnerrohr sprechen ließ, wie wir es später nannten. Darauf brach einer von uns jäh zusammen – tot, wie sich zeigte. Es war Lem, der Vater meines Busenfreundes Rufus. Jetzt lernten wir das Zittern kennen. Im übrigen blieb uns natürlich keine andere Wahl, als den Piraten die gewünschte Ernte auszuhändigen. Es waren sieben große Henkelkörbe voll. Daraufhin zog das Schiff aus Tubohm wieder ab.

Lem wurde mit allen Ehren bestattet und beklagt. Neben der Trauer war selbstverständlich auch die Ratlosigkeit groß. Das Phänomen der Herrschaft oder der Piraterie war uns zu jenem Zeitpunkt nahezu neu – was droht da, wie verhält man sich da? Immerhin ging uns im Laufe der Erörterungen auf, unter uns müsse ein Spitzel sein, also ein Verräter. Die Erntezeit für unsere Warzenschweinchen war nämlich in jedem Jahr etwas verschieden, und da sich diese seltenen Erdfrüchte, die wir alljährlich in einem prächtigen Dorfschmaus vertilgten, kaum länger als eine Woche halten, war rasches gezieltes Zuschlagen erforderlich. Demnach mußte Piratenkönig Täuberich bestens im Bilde gewesen sein.

Die Jugendlichen auf Tamsa, allesamt Bewohner des Hauses der Jungen, pflegten sich zusätzlich in kleinen »Clubs« zusammen zu tun. Ich gehörte zum Adlerclub, der damals von Mura geleitet wurde. Eben sie machte uns auf die für Tamsa doch etwas ungewöhnliche Meise des Persides aufmerksam. Nach unserem letzten Besuch auf Tubohm hatte er sich überraschend ebenfalls als Taubenfreund entpuppt. Anscheinend hatte ihm der Täuberich drei Tauben abgetreten, die er nun – der ungefähr 30 Jahre alte Persides – in einem eigens gezimmerten kleinen Schlag auf dem Dach des Hauses der Mittleren hielt, in dem er wohnte. Aber wir Clubmitglieder hatten uns naturgemäß mehr für Adler als für Tauben interessiert. Persides, in seinen Bewegungen etwas linkisch, galt als schüchtern, ja sogar als bedauernswert. Vielleicht suchte er sich durch seinen neuen Taubenschlag ähnlich hervorzutun wie der Täuberich auf Tubohm, der allerdings ein eher stattliches Mannsbild war. Nach diesem Hinweis von Mura marschierten wir gleich zum Haus der Mittleren, stiegen aufs Dach – und siehe da, die Bevölkerung des Taubenschlages war um ein ganzes Drittel geschrumpft: von drei auf zwei Tauben. Lesen konnten wir nicht, aber zählen schon.

Leider zeigten sich andere BewohnerInnen des Hauses der Mittleren überfragt, wann der beträchtliche Bevölkerungs-rückgang wohl eingetreten sei. Wir vermuteten freilich stark: am Vortag des Überfalls, der Lem das Leben und uns anderen sämtliche Warzenschweinchen gekostet hatte. Damit lagen wir nicht falsch, wie ein »Gespräch« des Adlerclubs mit Persides noch am selben Tag erwies. Keine 20 Minuten, und Persides gestand, der neue »König« habe ihm einen hohen Posten in Aussicht gestellt, wenn er, der Spion, erst einmal drei Ernten verraten habe und wenn erst die ganze Insel Tamsa besetzt und dem »Königreich« einverleibt sei. Na prima. Wir und unsere abgerichteten Such-Ziegen hätten dann, unter anderem, für Täuberichs Warzenschweinchen-Schmaus zu fronen gehabt – möglicherweise unter einem Statthalter namens Persides. Daran glaubte er wohl selber nicht. An Persides Unvermögen zu lesen oder zu schreiben wäre es aber nicht gescheitert. Der Täuberich hatte seinen drei wegge-schenkten Tauben einfach rote Bändchen um einen Fuß gebunden, das genüge vollauf. Also hatte Persides die erste Taube pünktlich abgeschickt.

Meinen Busenfreund Rufus bat Persides inständig, ihm den Tod seines Vaters zu verzeihen. Das habe er nie und nimmer gewollt. Und das nahmen wir ihm durchaus ab. Er war eben etwas beschränkt. Jener Schiffsarzt meinte später, nach meiner Schilderung hätte der Persides in Frankreich als »Schwachsinniger« gegolten und wahrscheinlich in einer Irrenanstalt gesessen. Das mag schon sein. Wir lebten freilich nicht in Frankreich, sondern auf Tamsa. Hier hatte unsere Fürsorge auch »Schwache« wie Persides einzuschließen. Schließlich konnte er ja nichts für die ungünstige Ausrüstung, mit der ihn die Natur oder irgendwelche kosmischen Riesen geschlagen hatten, seine etwas knollige Nase eingeschlossen, die sie in Paris vermutlich als »Warzenschweinchen« verspottet hätten. Was wollen Sie also mit so einem »Schwächling« oder »Missetäter« machen? Das Wort »Strafe« kam in der Sprache unserer Inselgruppe gar nicht vor. Den Lem konnte selbst Reue nicht mehr lebendig machen. Und Persides gab ja seine Verfehlung zu, stand künftig unter starker Beobachtung – da drohte wohl kaum eine Wiederholung.

Ganz im Gegenteil! Wir gedachten den Spieß mit Hilfe des Persides beziehungsweise des Geschenks vom Täuberich umzukehren!

Das war Muras Idee gewesen. Zwar leidet Taubenpost an einer gewissen Einseitigkeit, weil die Beförderung einer Botschaft immer nur aus der Fremde in den Heimatschlag erfolgen kann. Man muß also die Brieftaube erst einmal zum Absendeort bringen, falls man gern eine Botschaft empfinge. Aber Persides hatte ja noch zwei Tauben aus des Täuberichs Heimatschlag. Ergo würden wir dem Täuberich nach der nächsten Warzenschweinchenernte eine gleichsam todsichere Falle stellen. Er würde sich mit seinen Gefolgsleuten verwundert durch unser merkwürdig leer und still wirkendes Dorf bewegen – und dann würde es von allen Rundhausdächern und Palmenwipfeln Giftpfeile auf die frechen Eindringlinge hageln.

Genauso kam es auch, wie sich in etlichen Geschichts-büchern nachprüfen läßt. Wir segelten damals noch am selben Tage mit dem Schiff des Täuberichs nach Tubohm und erklärten die Insel für befreit. Das wurde mit Jubel aufgenommen. Wie lange der vorhielt, steht auf einem anderen Blatt.
°
°