Freitag, 4. November 2022
Der Klavierhimmel funktioniert
Um 2000

Der Chef sieht mich an und nickt zur Kaminecke. Dort haben wir in Kopfhöhe den Wickler des Schnurzugs gesetzt. Ich löse die Schnur. Unterdessen blicken mein Chef und die Dame des Hauses gebannt zur Salondecke, wo der bis dahin gebündelte Klavierhimmel schaukelt. Nun entfaltet er sich, während ich vorsichtig Schnur nachgebe, bis er in eleganter, leicht gewellter Ausladung über dem spiegelnd schwarzen Bösendorfer-Flügel zur Ruhe kommt. Der Klavierhimmel funktioniert.

Mein Chef ebenfalls, denn er läßt sich sein Aufatmen nicht anmerken. Aus »gecrashter« Seide genäht, scheint sich mit unserem Klavierhimmel die Haut eines Pfirsichs unter der beigen Salondecke zu kräuseln. Meinem Chef winkt ein Scheck über rund 700 Euro aus ihm. Die Dame des Hauses drückt ihr Entzücken durch einen geschmackvollen Aufschrei aus und ruft dann nach »Debbi«, um sie erneut auf den Klavierschemel zu komplimentieren. Für ihre 19jährige Magerkeit trägt Tochter Deborah die Nase erstaunlich hoch. Während sie hämmernde Kadenzen aus Liszts Faust-Sonate wiederholt, schlendern wir zu dritt durch die Zimmer und Geschosse der alten Jugendstilvilla, die sich zum Lobpreis der 450 Euro, die hier ein Quadratmeter Erde kostet, südlich von Darmstadt über der Bergstraße erhebt. Dabei halten der Chef und seine Stammkundin immer wieder inne, um ihre Ohren zu spitzen. Jedesmal nicken sie sich einverständig zu: es klingt jetzt viel gedämpfter! Das nämlich war der Zweck der Erfindung.

Ich trotte hinter den beiden her, sage mir, Einbildung sei auch eine Bildung, und lasse meine Blicke über allerlei alte Bekannte schweifen: Sofas oder Sessel, die ich eigenhändig bezog. Allerdings sind sie mit sogenannten Hussen (Häusern) bekleidet. Es handelt sich um abnehmbare und der Reinigung fähige Schonbezüge, die recht schwierig zuzuschneiden und zu nähen und entsprechend teuer sind. Hier stehen sie den eigentlichen Bezügen der vielen erlesenen Polstermöbel an Kostbarkeit kaum nach. Und da doppelt mehr hermacht, ließ die Dame des Hauses auch die Hussen noch verdoppeln. Solange die mächtigen Bäume in ihrem Bergpark draußen noch kahl sind, weisen all die Sofas und Sessel die Hussen mit der winterlichen Ausstrahlung auf. Die anderen, die fürs Empfinden der Dame des Hauses den Sommer atmen, liegen frisch gereinigt in der Wäschekammer, um ihrer Wiederaufer-stehung an Ostern entgegen zu sehen.

»Laßt sie doch!« hatte sich der Chef die Hände gerieben, als er seinen Leuten den Hussen-Auftrag erläuterte. »Davon leben wir schließlich. Am besten, ich schlage ihr demnächst auch noch Hussen für gute und für schlechte Laune vor …«

Das war ohne Zweifel hübsch gescherzt. Jetzt finden wir uns wieder unter dem neuen Klavierhimmel ein, um unser Werkzeug zusammen zu räumen. Debbi hat sich bereits zurückgezogen. Der Deckel des Flügels steht schräg. Auf dem Couchtisch liegt das Darmstädter Echo. Zum Weihnachtsfest hatte das Blatt wie immer einen Spendenaufruf erlassen, um ein paar arme alte Leute mit warmen Socken und einer Dauerwurst erfreuen zu können. Ich wüßte sie unter einem schönen Klavierhimmel zu bewirten. Wenn sie mal müßten, könnten sie dies, mit den Beinen baumelnd, auf dem Rand eines echten Bösendorfers tun.


Bekanntlich zählt die Stille zu den gefürchtesten Zustän-den der Welt. In Büros, Läden, Gast- und Werkstätten pflegt man sich ihrer bevorzugt mit Radios zu erwehren. Da wird dem empfindsamen Polsterer sogar sein Preßlufttacker zum Schutz und Schirm. Mit der wahllosen verblödenden Dauerbeschallung haßt der Polsterer den Zwangsanschluß an jenen »lärmenden Betrieb, den sie hinterher Geschichte nennen«, wie Ernst Kreuder (1954) in seiner Odenwaldmühle schrieb.

In vielen zähen Kämpfen gelang es mir immerhin, den Lärmpegel unseres Werkstattradios deutlich zu senken. Habe ich eine längere Handnaht zu machen, hole ich mir aus der Schreinerei – wo er über der Kreissäge hängt – den Bügel mit den knallroten Plastikmuscheln an den Enden und stülpe ihn über meine Ohren. Meine Mitgesellen werfen sich vielsagende Blicke zu. Sind sie sämtlich wegge-rufen worden, quittiere ich dies mit einem erleichterten Hieb auf die Aus-Taste unseres Werkstattradios. Jetzt können mir Werkzeug und Werkstoff ihre Melodien vorsingen. Mein leicht gekrümmter, zierlicher Tapezierhammer spielt Specht. Eine zu teilende Bahn Nessel wird zur Ratsche. Während sich in der Hofkastanie die übliche Rasselbande aus Spatzen tummelt, eignet sich unser Schuster-Dreifuß als Triangel. Von einem verstorbenen Sattlermeister hieß es, er habe seinen Stiften eingeschärft, wenn draußen einer am Fenster vorbeigehe, dürfe er nicht merken, daß sich hier eine Werkstatt befinde. Taucht jedoch ein Mitgeselle wieder auf, faßt er garantiert nach 20 oder 30 Sekunden gequält schnuppernd zunächst das Werkstattradio, dann mich ins Auge: »Was liegt denn hier wieder für eine bleierne Stille in der Luft!« – »Was hast du denn gegen Stille?« frage ich einmal zurück. Mein Kollege erwidert maulend, das sei doch, als ob man tot sei.

Immerhin erhärtet er damit einen Befund des kanadischen Klangforschers Murray Schafer. Nach dessen Buch Klang und Krach (1977) genießt die Stille in der modernen Literatur einen ziemlich schlechten Ruf. Die meisten Figuren/Menschen empfinden sie als unangenehm oder gar bedrohlich. Die Stille haucht sie bereits mit der Leichenstarre an. Das Seitenstück der Stille ist ersichtlich die Weile oder das Verweilen. Jeder Stillstand aber kommt unter die Räder unseres hochgerüsteten Fortschritts. Werde ich selber auf Montage befohlen, werde ich vom Igel zum Hasen gemacht. Ob im Firmenwagen, beim Kunden im Wohnzimmer oder auf einer Rohbaustelle: Radio SWF 3, Regenbogen, FFH sind immer schon eher da.


Als Raumausstattermeister, Restaurator, Schmeichler ein As, hat mein Chef den entsprechenden zahlungskräftigen Kundenkreis. Die Bergstraße ist dafür das geeignete Pflaster. In jeder zweiten Villa sitzt ein hohes Tier. Als die 17jährige Tochter eines Merck-Managers (Pharmazie), die bei klarem Wetter die Türme des Wormser Doms hätte zählen können (sechs), vom Grufti-Ruf ereilt wurde, schwärzte sie eigenhändig ihre Zimmerwände, fand aber erst Ruhe, als wir auch die Heizkörper umlackierten und schwarze Innenjalousien anbrachten. Die Fensterscheiben zu streichen, wäre lohnkostengünstiger gewesen. Ein Dr. Soundso, der nach Feierabend bevorzugt in einem von mir restaurierten Napoleon-III-Armlehnstuhl aus Nußbaum sitzt, ist Vizepräsident der Frankfurter Bundeszentralbank, wohnt allerdings im Grünen. Da heißt es sich vorher stets kämmen, denn auch dort hängen Überwachungskameras.

Der Erfindungsreichtum meines Chefs erweist sich gleichermaßen verblüffend am Werkstück wie auf Kunden-fang. Jetzt hat er mit Maler P. eine gemeinsame »Vernis-sage« auf dessen verwunschenem Mühlengrundstück ausgeheckt. So karren wir am gewählten Juniwochenende mit unseren Lieferwagen Antiquitäten und Dekorationen im Wert von rund 100.000 Euro in den Odenwald, um damit des Malers Bachufer, Kräutergarten, Hofpflaster, Scheune zu verzieren. Während sich ein zebraartig bezogenes »Hirschsofa« vom Bootssteg aus auf die gelben Teichrosen zu stürzen droht, schaukeln in den Eschen bunte Kissen und Tapetenbahnen wie Papageien. Unter der Hoflinde demonstriert Geselle R. die »Pikierung« eines Stuhlpolsters mit Roßhaar. Die an der Landstraße aufgefädelten Limousinen der steinreichen Kunden lassen gerade noch die Lokalpresse vorbei.

Der eher stümpernde Maler entpuppt sich als begnadeter Tenor, in dessen Atelier das Klavier nicht zufällig auf dem Podest steht. Von einem geschulten Gast begleitet, zieht er nun mit betörendem Silberklang die Müllerinnen oder Monde aus dem Schubert. Alle Rotkehlchen werden vor Neid ganz gelb. Unsere Chefin schlägt ihre Augen dankbar zum Abendhimmel, weil Gott an diesem Tag nicht eine Träne der Rührung vergoß. Er segnete ausgefallene Geschäftsideen schon immer.
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