Dienstag, 25. Oktober 2022
Bott 8 Bott mistet aus
ziegen, 13:00h
Der scharfe Geruch im Stall der jungen Mastschweine war kein Vergnügen. Dann mußte Bott beim Ausmisten auch noch über einen Leichnam stolpern. An der Schnauze des schwarzgefärbten »Waldecker Weideschweins« waren ein paar geronnene Blutfäden zu sehen. Bott hatte bereits mitbekommen, die Schweine zankten sich gern und gingen dabei nicht gerade zimperlich vor. Allerdings konnte er keine Bißwunde entdecken. Vielleicht hatte das Schwein an Herzschwäche gelitten. Da fällt einer, der gar zu sehr »gestreßt« oder »gemobbt« worden ist, irgendwann wie von selber um.
Bott rief Lothar herbei. Der musterte das tote Schwein nur kurz und zuckte die Achseln. »Da weiß man wenigstens, wofür man die Prämie zahlt.«
Lothar war selber angeschlagen. Sein rechter Arm war vergipst und ruhte in einer Schulterschlinge. So nahm er den Strick, den er Bott dann zuwarf, mit der linken Hand vom Balken. Er nickte auf das Schwein und bat Bott, den Strick um die Haxe zu knoten.
Bott verstand. Kurz darauf schleiften sie den rund 80 Kilogramm schweren Versicherungsfall mit vereinten Kräften durch den Stallgang auf den Hof. Jule war offenbar schon im Bilde, denn sie kam mit dem kleinen Stalltrecker angefahren. Sie wälzten das tote Schwein in die Schaufel. Während Jule die Schaufel anhob, stieg Lothar hinten auf. So fuhren die beiden über den abschüssigen Hof Richtung Pumpenhäuschen.
Gut Gestecke – auf dem mittleren e betont – lag südwestlich von Besse am Hang des Langenbergs. Botts Anfahrt betrug nur vier Kilometer. Durch den Saugraben, der auf der Höhe nahe Umbachs Försterei entsprang, verfügte Gut Gestecke über eine gute Wasserversorgung. Der Bach speiste den Gutsteich und tränkte auch die Rinder auf den umliegenden Viehweiden. Das Pumpen-häuschen gehörte zur gutseigenen Kläranlage, die Lothar – wie seinen gesamten Bioland-Hof – nach ökologischen Gesichtspunkten betrieb.
Der Container, der am Pumpenhäuschen stand, pflegte auf Anforderung von einer sogenannten Tierverwertungs-anstalt abgeholt zu werden. Bott verfolgte von der Stalltür aus, wie Lothar den gewölbten Deckel zurückzog. Jule hatte inzwischen die Schaufel hochgefahren. Jetzt kippte sie ihre Ladung ab. Das Poltern im leeren Behälter bescherte Bott ein etwas mulmiges Gefühl. Denn mit wievielen Menschen, die als Abschaum galten, war man nicht schon auf diese Art verfahren?
Bott versuchte sein Unbehagen zu verscheuchen, indem er seinen Blick über die herbstlichen Hänge gleiten ließ, an denen Hagebutten und erste gelbe Blätter aufleuchteten. Das Leben ging gnadenlos weiter. Nur waren die Einwände nicht so leicht abzustreifen wie das verklumpte Stroh von der Forke.
Botts Gastspiel als Knecht war sicherlich kein Deckchen-sticken, dafür aber mit einigen Annehmlichkeiten verbunden, die er später schmerzlich vermissen würde. Das tägliche Mittagessen in der großen Diele des Gutshauses zählte dazu. Es wurde federführend von Lothars Frau Maria gekocht, einer gebürtigen Elsässerin; Lothars Mutter sorgte jedoch für den gebührenden hessischen Einschlag. Weiter saßen Lothars asthmakranker Vater (»der alte Wilhelmi«) und natürlich Jule mit am Tisch, die bei Lothar ihre Lehre absolvierte. Die Größe der Runde wurde vor allem vom Nachwuchs der Wilhelmis ausgemacht. Vielleicht war es ihrer erfreulichen musischen Neigung geschuldet, wenn sich Lothar und Maria Kinder wie die Orgelpfeifen leisteten. In Marias Bauch reifte derzeit Nr. 6 heran.
Tatsächlich stand in der Diele auch ein gutes Klavier. Die älteren Kinder besuchten durchweg die Waldorfschule in Kassel-Wilhelmshöhe, wo sie unter anderem von Marianne aus der Emsmühle unterrichtet wurden. Zwar schmeckte Bott die Anthroposophie weniger als das Essen, doch beides entzog sich seinem Einfluß. Er hatte von Marianne ebenfalls etwas gelernt: wie müßig es ist, mit Gläubigen über ihren Glauben zu diskutieren.
Heute gab es grüne Soße und Bratkartoffeln zum Fleisch. Jule war die einzige, die das Fleisch nicht anrührte. Dafür stand noch Käse auf dem Tisch. Obwohl das gekochte fasrige Fleisch vom Rind stammte, kam Bott wiederholt der pralle Leib des gestorbenen Schweines in den Sinn. Freilich verdankten sich die Braten und Würste der gutdeutschen Küche nicht jenen Leichen, die im Container enden. »Schlachtvieh muß ausbluten«, hatte der Metzger in Besse Bott ziemlich erschöpfend erklärt. Man kennt ja die Bilder. Schlächter in weißen Gummistiefeln waten vor weißgekachelten Wänden durch das Blutbad, das sie Tag für Tag ungerührt anrichten. Trotzdem wurde Bott auch beim heutigen Mittagessen nicht schlecht.
Wie zur Buße, tauchte er gegen Ende der Mittagspause in den Stall der Sauen. In diesen Herbstwochen, da Bott dem invaliden Lothar für rund fünf Stunden täglich unter die Arme griff, warf auch fast jeden Tag irgendeine Sau Ferkel – ob 7, 11 oder 15, sie waren in allen Stadien vorhanden. Manche existierten allerdings gar nicht mehr, weil sie von ihrer Mutter versehentlich plattgedrückt worden waren. Wer das Ausmisten versah, klaubte diese vierbeinigen Pechvögelchen auf, um sie auf die Miste zu schmeißen. Gegen die Ratten legte Lothars Vater regelmäßig Gift. Bott gingen dabei immer griffige Zahlen der UNO durch den Kopf; zum Beispiel sterben jährlich weltweit 10 Millionen Kinder aufgrund von Krankheit, Hunger oder Gewalt, bevor sie fünf Jahre alt werden. Anderen zu kurz gekommenen Ferkeln – an den Zitzen immer wieder abgedrängt – wurde Lothar zum Verhängnis. In solchen Fällen stellte Lothar nach kurzer Musterung der Lage fest: »Dieses da hat keine Chance.« Schon griff er sich das schmächtige Ferkel aus der Bucht, nahm es an den Hinterläufen und schlug es einmal kurz und kräftig gegen die Stallwand. Dann landete es ebenfalls auf der Miste.
Im Moment gab sich Bott der Komik hin, die unter Ferkeln herrscht. Die älteren stöberten im Stroh, flitzten ruckartig hin und her, balgten sich wie Möpse. Die jüngeren setzten den Zitzen der sich grunzend räkelnden Sau zu als gelte es, ihre Mutter im ganzen zu verschlingen. Waren sie alle vollgesogen, bildeten sie in der Ecke, wo die Rotlichtlampe hing, den berüchtigten Ferkelhaufen. Sie drängelten und keilten sich ineinander, wobei die Ecke für ihre zunehmende Aufgipfelung sorgte. Wären sie 50 statt nur 15 Ferkel gewesen, hätten sie auf diese Art die Buchtwände überwinden können, um sozusagen über Bord zu gehen. Die lustigen Winzlinge ahnten nicht, wie bald sie von eben diesem Schicksal ereilt werden würden – in acht oder zehn Monaten vielleicht. Ungefähr 100 Kilogramm »Lebendgewicht« sollten sie dem Schlachter präsentieren.
Bott wurde ein wenig weh ums Herz. Er griff sich ein geflecktes Ferkelchen aus der Bucht, das ihm besonders zerbrechlich und schutzbedürftig vorkam. Auf einer Hand in Brusthöhe gehalten, ragte es kaum über seine Fingerkuppen hinaus. Da es weder quiekte noch Bott das Flanellhemd näßte, schloß er auf ein furchtloses Gemüt. Bott strich ihm bewundernd und dankbar den Kopf, zupfte an seinen verstülpten Ohren und rühmte seinen unterentwickelten Schwanz, der einem verkohlten Streichholz ähnelte. Das Ferkel schien sich tatsächlich wohlzufühlen, denn es begleitete Botts Liebkosungen mit dünnem Grunzen. Vermißte es weder den Ferkelhaufen noch seine Mutter? Kannte es keinen Trennungsschmerz?
Wenn ja, war das sogenannte Geburtstrauma an ihm vorübergegangen. Darwins Großvater Erasmus hatte es erstmals in Band I seiner Zoonomia beschrieben. Danach lassen sich die bekannten Symptome der Angst bereits unmittelbar nach der Geburt beobachten: Erblassen, Zittern, Atemnot, Entleerung von Blase oder Darm. Nur der Schweißausbruch fehlte in Darwins Liste. Möglicherweise stellte das Schwitzen eine spezifisch menschliche Domäne dar, während Darwin ausschließlich von Tierjungen sprach. Weder die Ziegen der Kommune Emsmühle noch die Schweine und Kühe der Wilhelmis zeigten verschwitzte Züge. Am Gutsbach hatte Bott kürzlich ein braunes Wiesel mit weißer Kehle ertappt, das erschrocken Männchen machte; aber nach Schweißausbruch hatte es auch nicht ausgesehen.
Aus dem Erleben jener Symptome entstehe im Neugeborenen der Angstaffekt, der nichts anderes als »die Erwartung unlustvoller Sensationen« sei, hatte der Urdarwin erläutert. Doch nach Forschern wie Freud, Erich Fromm, H. E. Richter stellte sich die Sache inzwischen unerbittlicher dar. Immerhin war mit dem Enkeldarwin Gott gestorben, der doch vielen Menschen ein erheblicher Trost gewesen war. Um es mit einer fast paradoxen Wendung zu sagen, die Bott bei Wolfgang Schmidbauer belustigt hatte: in der Trennungsangst haben wir »die Mutter aller Ängste« zu sehen. Was aber bedeutete es für einen Säugling, radikal von Mutter oder Amme getrennt zu werden? Er ging jämmerlich zugrunde. So lauerte in aller Angst durchaus mehr als die eine oder andere »unlustvolle Sensation« – nämlich der eisige Anhauch des Nichts. Da hat so mancher zartbesaitete Zeitgenosse die Wahrheit des Sprichworts zu erfahren, der Ängstliche sterbe tausend Tode.
Bott schüttelte sich und warf das gefleckte Schweinchen auf den Ferkelhaufen zurück. Dann erklomm er den großen Fendt-Schlepper, um zur Gerätehalle hinüber zu fahren.
Lothar hatte die meisten Äcker noch pflügen können, bevor er sich den Arm brach. Das Pflügen hätte sich Bott auch nicht zugetraut. Jetzt spannte er die Walzen an die vordere und die Kreiselegge an die hintere Hydraulik des Fendts, verließ den Hof und fuhr auf einem gepflügten Acker, der zwischen dem Obstgarten des Gutes und dem Waldrand am Hang lag, immer rauf und runter. Während die Walzen die aufgeworfenen Schollen gleichsam zu bändigen hatten, sorgte die Kreiselegge für deren Zerkrümelung. Dadurch wurde der Acker fürs Aussäen des Wintergetreides vorbereitet. Allerdings gab es bereits Schlepper, die alles in einem Aufwasch erledigten. Lothar hatte ihm neuste Prospekte gezeigt. Sie verfügten am Heck über eine doppelte Hydraulik, sodaß der Kreiselegge gleich noch die Drillmaschine folgen konnte. Bott hatte Zülch beim Bier gefragt, wo das alles enden sollte. Bei Schleppern von der Größe eines Gutshauses?
»Nein«, hatte Zülch entgegnet. »Bei Äckern, die sich im Jahreslauf um eine fest installierte Superbearbeitungs-maschine drehen.«
Jetzt war Bott jedoch ehrlich genug, um sich sein Wohlbehagen einzugestehen. Die fettigen braunen Lehmschollen funkelten in der Sonne. Die Luft roch nach geräucherten Schinkenhöckern, Pilzen, Walnüssen. Der 150-PS-Dieselmotor des Fendt-Schleppers schnurrte wie ein Luchs. Der Schlepper war auch hervorragend gefedert. Man konnte sich einbilden, über Besse ins Kasseler Becken zu entschweben – sozusagen in den Mutterschoß.
>>Jule ist der Ansicht, einem Menschen, den es vorm Schlachten graust, dürfe auch das Ergebnis nicht schmecken, nämlich der Braten. Jule ernährt sich streng vegetarisch.
Ich werde mich hüten, das Für und Wider des Fleischgenusses zu erörtern. Aber Jules Logik greift doch ein wenig kurz. Zum einen leben wir in einer hochdifferenzierten Gesellschaft. Selbst in anarchistischen Landkommunen – ich kenne eine persönlich – wird arbeitsteilig vorgegangen. Der macht mir Schuhe; ein anderer Stühle. Beide dürfen Betrachtungen von Montaigne oder Hölderlin-Gedichte lesen, obwohl sie keinen Schimmer davon haben, wie so etwas gemacht wird. Zwar sind wir alle Produzenten von Kot, werden aber nicht alle für die nächste Kläranlage dienstverpflichtet. Komplexe Gesellschaften kommen ohne Delegierung schwerlich aus. Während Gott den Papst zwischen sich und seine Schafe schaltet, vertritt mich der Metzger in Besse vor Schwein oder Rind.
Zum anderen liegt in Jules strengem Vegetarismus die Anmaßung, die Tiere aus aller übrigen Natur herauszuheben. Woher nimmt sie das Recht, der Petersilie, die dann gehackt in der grünen Soße schwimmt, oder der gefällten Pappel am Saugraben draußen weniger Daseins-berechtigung, Lebensfreude, Schmerzempfindlichkeit zuzubilligen als einer Sau? Dahinter steckt natürlich der unselige Fortschrittsgedanke, der in großer Klarheit von einer am Boden krauchenden Flechte bis zu unserer vernagelten Birne führt. Rudolf Steiner vertrat ihn auch.
In Wahrheit sind wir befangen und müßten uns deshalb jeden Urteils enthalten. Wir sind einer Existenzform verhaftet, von der wir noch nicht einmal wissen, ob sie eine von zweien – die andere könnte zum Beispiel im Nichtsein bestehen – oder eine von Millionen ist. Das heißt aber auch, es hilft nichts, gegen den Anthropozentrismus zu wettern. Der Mensch kann sich auf den Kopf stellen: er hat keinen anderen Maßstab als sich selbst. Die Verrenkungen unserer vielen Naturphilosophen und Bioethiker wirken deshalb nur lächerlich. Es geht nicht darum, sich den Kopf über den Glücksanspruch der Tomate zu zerbrechen, aus Läusen Rechtsempfinden zu melken oder ein Jauchefaß voll Mitleid über einem plattgefahrenen Igel auszugießen. Sondern auf ein möglichst gedeihliches Miteinander kommt es. Da genügt die Beobachtung, daß die Dinge, Wesen, Naturkräfte offensichtlich schädlich bis verheerend auf uns zurückschlagen, wenn wir sie allein unter dem Aspekt maximaler Verwurstung betrachten. Die Hochwasser an Mulde und Elbe sangen erst kürzlich das Lied davon.
Gewiß haben schrankenlose Ausbeutung und unersätt-licher Raubbau viel mit kapitalistischer Warenproduktion und deren Tauschwertdenken zu tun, das keine Eigenarten und keine Grenzen mehr duldet. Aber auch dieser Hut ist altbekannt. Nur die Medien schwenken ihn alle paar Wochen, als sei er vom Himmel gefallen. Seit Jahrzehnten schwelen die Skandale um Nutztierhaltung und verseuchte Futter- oder Lebensmittel unter dem Wirtschaftswunder-teppich. In der DDR blieben sie gleich im Keller. Was die industrielle Fleischproduktion angeht, deckte Upton Sinclair bereits 1906 die Unerbittlichkeit der riesigen Chicagoer Schlachthöfe auf, nämlich in seinem damals durchaus vieldiskutierten Roman Der Dschungel. Im Dschungel hat sich denn auch die Empörung verlaufen.
Die rapide zunehmende Vergeßlichkeit zählt zu den wichtigsten Zügen des vergangenen Jahrhunderts. Natürlich hängt sie mit der ständigen Beschleunigung des befremdlichen »Wertschöpfungsprozesses« und des Lebenstempos überhaupt zusammen. Pauschal gesagt, sorgt dieser Prozeß für Zerstörung und Verwüstung. Er nährt auch Krebs, Magersucht – Altersdemenz. Statt sich des Schnitzels zu enthalten, sollte man vielleicht eher das tägliche Trommelfeuer aus angeblichen Neuigkeiten meiden, das uns zu Vollidioten macht.<<
Botts Mitarbeit auf Gut Gestecke klang gleichsam vegetarisch aus; die letzten Tage waren nämlich überwiegend der Apfelernte gewidmet. Die Wilhelmis hatten unglaublich viele Sorten angepflanzt. In den Farben ging das vom kalten Rot der Pfaffenhütchen bis zum blassen Gelb der Strohhalme. Die Bäume waren jung und kurzstämmig. So pflückte Bott bei seinen knapp 1,80 von unten, während sich Jule den Spaß machte, von der hochgefahrenen Schaufel des Fendt-Schleppers aus zu pflücken, wobei auch die Kiste gleich neben ihr in der Schaufel stand.
Jule hatte darum gebettelt, den Fendt fahren zu dürfen. Sie war noch nicht sonderlich geübt auf dem Mammuttier. Da er ihre Begierde durchaus nachvollziehen konnte, ließ er sie gern gewähren. Prompt vergaß Jule, den Klotz anzuspannen, bevor sie zum Obstgarten fuhren. Bott erinnerte sie daran. Der Klotz war ein Quader aus Beton, der nach Bedarf an die vordere oder hintere Hydraulik gespannt wurde, um als Gegengewicht zu dienen. Bei Jules Apfelernte von der hochgestellten Schaufel aus empfahl sich dies umso mehr, als das Gelände abschüssig war. Dafür mußte Bott zugeben, er selber wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, statt einer Leiter den Frontlader zu nehmen.
Bott hatte sich bereits mit Zülch darüber unterhalten, wodurch das Glücksgefühl beim Schlepperfahren eigentlich ausgemacht werde. Am Geschwindigkeitsrausch konnte es ja nicht liegen. Während Ruths Golf GTI auf ungefähr 230 Stundenkilometer kam, durften landwirtschaftliche Schlepper auf der Straße höchstens 60 fahren. Auf dem Acker krochen sie. Aber welche Kraft und welche Größe! Solche Ungetüme gebändigt zu haben und somit zu beherrschen, führte verständlicherweise zu Genugtuung und Stolz, war man selber doch nur ein Zwerg.
»Richtig«, hatte Zülch gegrinst. »Bübchen möchte nicht mit Puppen spielen; es möchte einen Kran bedienen.«
In der Tat waren moderne Schlepper unter anderem auch Kräne. Wer an dem entsprechenden Knüppel oder Schalter die Richtung verwechselte, konnte mit dem Frontlader des Schleppers mühelos den Dachstuhl der Scheune lüften. Bott erzählte Zülch eine Episode von seinen Anfängen auf Gut Gestecke.
»Ich hatte lediglich einen Rundballen Stroh auf der Gabel. Ich schlug das Lenkrad jäh nach rechts ein, um zwischen Jauchegrube und Kuhstall hindurch zu kommen. Dummerweise hatte ich den Ballen nicht abgesenkt. So hob der Fendt das eingeschlagene rechte Vorderrad und wäre um ein Haar zur Linken in die Jauchegrube gekippt, weil die Last mit Macht dort hindrängte. In diesem Fall hätten 65.000 Euro in Lothars Jauchegrube gelegen – von mir einmal abgesehen.«
Zülch schmunzelte. Als Snookerspieler wußte er natürlich, die Meister fallen nicht vom Himmel. Wie Bott ein paar Tage später bei seiner gegenwärtigen Frühstückslektüre feststellte, wußte es Wilhelm Genazino auch. Dessen Roman Fremde Kämpfe von 1984 kreist um den überwiegend arbeitslosen Werbegrafiker Wolf Peschek, der sich auch als Hehler gestohlener Lederjacken versucht. Einmal hockt er zerknirscht am Zeichentisch und sagt sich, der brennende Wunsch, etwas zu können, sei offenbar noch nicht das Können selbst. Als Hehler scheitert er auch.
Ein schrilles Klingeln ließ Bott zum Gutsteich blicken. Zwar versperrte das Apfellaub ihm die Sicht, doch von Kennern werden Na- wie Literatur gleichermaßen mit den Ohren gelesen. Der Rufer war der Raubwürger, der auf den Erlen und Eschen am Teichufer oder auf der Stromleitung gern seinen Ansitz nahm. Das sprach durchaus für die Wirtschaftsweise der Wilhelmis, denn im Vergleich zum Neuntöter mußte der größere Raubwürger bereits als Rarität gelten. Es verblüffte Bott nebenbei immer wieder, daß ein Würger – der beispielsweise Libellen oder Mäuse verschlingt – so schön sein durfte. Der Vogel war schlicht und edel gekleidet in Schwarz-Weiß-Grau. Allerdings war George W. Bush, der im Auftrag der nordamerikanischen Ölscheichs gerade dem Irak an die Kehle ging, ebenfalls stets tadellos gekleidet. Bott hatte gelesen, jeder Maßanzug, den sich der feine Präsident von Georges de Paris anfertigen lasse, koste ihn 3.000 Dollar. So viel hatte Bott seit der »Jugendweihe« nicht einmal für Bekleidung überhaupt ausgegeben.
Zum Hof hin war der Gutsteich von einem Zaun abgesperrt, damit die beständig vorhandenen Kleinkinder der Wilhelmis nicht im Teich ertränken. In diesem Frühjahr war der morsche Staketenzaun durch einen Maschendrahtzaun ersetzt worden. Jule hatte Bott von dieser Aktion erzählt. Während sie mit dem Rundspaten die Löcher für die Pfahlspitzen bohrte, habe sie sich gefragt, wer wohl die hölzernen Pfähle mit dem Vorschlaghammer einzuklopfen hätte. Da Lothars Vater mit seinem Schwerbeschädigtenausweis nicht in Frage kam, blieben nur Lothar oder Jule. Doch dann sei Lothar mit dem Fendt aufgetaucht. Am Frontlader saß die Schaufel – als Presse offenbar auch bewährt. Kaum hatte Lothar sie auf dem ersten Pfosten abgesenkt, war dieser auch schon ins Erdreich gedrückt. Um die Flucht und die gleiche Höhe einzuhalten, hatten sie eine Schnur gezogen – und es sei in der Tat wie am Schnürchen gegangen. »So kam ich vielleicht um einen Muskelkater herum!« freute sich Jule.
Jetzt betteten sie Apfel für Apfel wie rohe Eier in die Stiegen aus Pappe, während eine andere Presse in der Emsmühle Fallobst in Maische verwandelte. Um abzustreiten, daß viele technische Erfindungen ohne Zweifel ihre guten Seiten hatten, war Bott nicht engstirnig genug. Bei Schreibmaschine und Dusche schienen ihm die Vorzüge sogar zu überwiegen. Auch der »Rollator« war eine überaus erquickende Erfindung. Zumal im Stadtpark, an dem ein Altenheim lag, wimmelte Gudensberg seit einigen Jahren von hübsch lackierten Gehwagen. Man konnte sich sogar wundern, warum diese so naheliegende Erfindung von Krücken auf vier Rädern nicht schon im Mittelalter gemacht worden sei. Aber wer weiß; vielleicht war sie nur in der Romantik in Vergessenheit geraten.
Wie sich versteht, wären die Bulldozerräder, die Ruths Golf GTI zum Kinderspielzeug machten, so oder so auf die Menschheit gekommen. Jetzt erstickten sie das Kleintierleben in unseren Äckern – wie selbst Lothar eingeräumt hatte – oder machten ganze palästinensische Häuser platt. Das unlösbare Problem lag in dem reißenden Zug, der dem Fortschritt innewohnt. Was anwendbar war, wurde auch angewandt. Es war ein selbstherrlicher imperialer Zug, der immer weniger gestattete, einzelne Ausgestaltungen zu erwägen. Das Wägen hatte zu viel von Besinnung oder gar Beschaulichkeit, sagte sich Bott beim geruhsamen Abschrauben der Äpfel – Birnen gab es leider nicht. Ginge es nicht immer schneller, weiter und höher mit dem Menschen hinaus, könnte er womöglich seiner Verwundbarkeit und letztlich seiner Hinfälligkeit gewahr werden. Hier fand Bott auch die Erklärung für den postmodernen Sportskanonenwahn, den Zülchs ehemaliger Mitstreiter Fischer inzwischen als deutscher Außenminister repräsentierte. Erst kürzlich war Fischer als Bundestagswahlkämpfer durchs nahe Korbach gejoggt.
»Bett- wie Fitnessern sitzen die Ängste im Nacken!« knurrte Bott vor sich hin. Jule ließ ihn knurren. Sie hatte in ihrer Schaufel schräg über ihm lediglich etwas von »Mitessern« vernommen. Wahrscheinlich schimpfte er auf die Maden.
Von Fischer zu den Ferkeln im Sauenstall war es nicht weit. Bott wunderte sich über Lothars Ausübung des Christentums. Las Lothar die Schwächlinge aus, indem er sie an die Stallwand schlug, konnte ihm der liebe Gott ohne weiteres eine »Wettbewerbsverzerrung« vorwerfen. Das war ähnlich amüsant wie »Lebendgewicht« für den Schlachter. Ferkel Joschka dürfte sich allerdings erneut durchsetzen, wie die Prognosen standen. Bott sah die Möglichkeit, in seinem Tagebuch darüber zu schreiben. Doch es kam dann anders.
>>Statt sich viermal täglich die Zähne zu putzen, sollte man sich ebenso oft wundern, daß man noch lebt. Ruth ist von ihrem Besuch in Belgien zurückgekommen. Sie erzählt mir am Telefon, in der flämischen Stadt Torhout sei ein 12jähriger Junge beim Spielen in eine Halde aus Maiskörnern gesprungen. Er erstickte, weil sich der Mais wie Treibsand verhielt. Als ich mir diesen Todeskampf vorzustellen versuchte, fing Ruth zu weinen an.
Das Verhängnis lauert überall. Durch die Bremelbach-straße in Kassel-Wilhelmshöhe fährt ein Bagger, an dessen Ausleger eine schwere Eisenbohle baumelt. Da sich ein Befestigungsbolzen löst, kippt die Bohle zur Seite und erschlägt zwei Fußgänger. Ein Kollege von Umbach, der bei Zierenberg durch den Wald streift, tritt auf ein Wespennest. Dadurch zieht sich der Förster rund 150 Stiche zu, an denen er jämmerlich zugrunde geht. Beim Altstadtfest in Korbach rempeln sich ein Schülertrupp und ein Motorradclub an, beide angetrunken. Im Ergebnis wird Tobias Ropel erstochen, gerade einmal 16 Jahre alt.
Bei solchen Vorfällen übt sich die Bevölkerung gern in Bestürzung. Danach, daß es auf den Straßen des Schwalm-Eder-Kreises Woche für Woche Verkehrsunfälle, Schwerverletzte, Tote hagelt, kräht kein Hahn. Die unzähligen Opfer der Betriebsunfälle unserer – nach Adam Smith – schönen Gesellschaftsmaschine werden in Kauf genommen. Und zwar von den einen kaltblütig und von den anderen aus Dummheit. Bei Meister Euler lag ja das Phänomen des eigenen Totseins auch schon außerhalb des Vorstellungsvermögens.
Des flämischen Jungen eingedenk, drängen sich allerdings Millionen Kinder in Afrika oder Asien auf, die bereits mit drei oder fünf verrecken. Von daher bin ich als Mensch, der zufällig kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Mitteleuropa geboren wurde, beschämend bevorzugt. Hungersnöte, Seuchen und Bombardierungen sind bis heute an mir vorbeigegangen. Selbst die russische Raumsonde, die im November 1996 eigentlich den Mars ansteuern sollte, blieb mir erspart. Da es ihr wegen Antriebsproblemen mißlang, die Erdumlaufbahn zu verlassen, verlor sie zunehmend an Höhe. Während ihres 28stündigen Irrfluges brach der Funkkontakt ab; damit war die Flugbahn von »Mars 96« nicht mehr zu beeinflussen. Insbesondere befanden sich die Bewohner-Innen an der Ostküste Australiens in Angst und Schrecken, hatte es doch zunächst danach ausgesehen, Teile der fast sieben Tonnen schweren Raumkapsel, die 270 Gramm hochgiftigen Plutoniums 238 an Bord hatte, würden eben dort aufprallen. Tatsächlich stürzte die Sonde dann unweit der chilenischen Osterinsel in den Pazifik. Dort tickt das nette Osterei seitdem in rund 6.000 Meter Tiefe.
Was hier fasziniert und erschüttert, ist die absolute Zufälligkeit des Überlebens. Doch die wenigen Greise oder Greisinnen, denen das Verfassen ihrer Memoiren vergönnt ist, sparen dieses Phänomen hartnäckig aus. Sie erwecken den Eindruck, ihr Leben habe sich in undurchkreuzbaren Bahnen abgespult. Sie geben das Besondere für das Allgemeine aus. Ich persönlich bin; ergo ist das Dasein köstlich.<<
Nachdem er von Lothar in seinem Büro ausgezahlt worden war, schnallte Bott den großen Spankorb auf seinen Gepäckträger, den ihm Maria aufgenötigt hatte. Er war zu zwei Dritteln mit diversen Äpfeln gefüllt. Auf diesen erstreckte sich zudem eine mordsdicke Dauerwurst – wie sich versteht, vom Waldecker Weideschwein.
Bott schlug den Feldweg zum Obstgarten ein. Beim Pflücken hatte er auf einer Wiese ein paar fette Schafchampignons ausgemacht, die er sich nicht entgehen lassen wollte. Sie standen noch. Da im Lenkerkorb noch Platz war, schob er sein Rad zum Waldrand hinauf, um nach weiteren Pilzen zu spähen. Er hatte Glück. Er fand zwei hohe Parasolpilze und drei kleinere Exemplare des verwandten Safranschirmlings.
Mit dieser üppigen Ausbeute auf der Landstraße von Besse nach Gudensberg unterwegs, entschloß sich Bott, am Bahnhof vorbeizufahren, um Zülch für den Abend zu einem kleinen Festessen einzuladen. Immerhin war er nicht böse darum, die Ackerei bei Lothar hinter sich zu haben, hatte er doch frühmorgens wie üblich brav die Zeitung zugestellt. Zülch war erfreut. Sie vereinbarten 18 Uhr.
Zülch roch die bratenden Pilze bereits, als er den Kopf bei seiner Schwiegermutter hineinsteckte. Dann erklomm er die Stiege zu Bott hinauf. Die Pilze dufteten wirklich verlockend. Zülch setzte zwei Weinflaschen auf Botts Tisch ab, die auch nicht ohne Feuer waren. Da Bott noch in der Kochnische beschäftigt war, unterhielt sich Zülch mit Selbstbeschimpfung:
»Ich will nicht mit dem Preis dieses köstlichen Weines prahlen, Bott! Ich bin ein Idiot, so viel Geld zu opfern. Weißt du, was wir um 1970 in den Frankfurter Supermärkten gemacht haben? Nein, als DDR-Fuzzi weißt du das natürlich nicht. Wir haben am Weinregal einfach die Etiketten umgeklebt! So wurde aus einem glutvollen Schwarzriesling für sechs oder sieben Mark ein spottbilliger Amselfelder. Die Kassiererinnen hatten ja von Tuten und Blasen keine Ahnung, geschweige denn von Wein!«
»Was heißt wir?« erkundigte sich Bott sachlich, während er mit der dampfenden Pfanne am Tisch erschien.
»Na, die ganze oder halbe WG eben, Lunkewitz, Cohn-Bendit, Mihnchen Rempler, Fischer, Claudia Roth, manchmal auch dein Namensvetter Dieter Bott …«
»Ach so«, nickte Bott und füllte auf.
Auf dem Tisch lagen bereits eine Stange Weißbrot und die Salamiwurst von Gut Gestecke. Die Pilze hatte Bott mit Butter, Zwiebeln, Thymian und etwas zerdrücktem Knoblauch gebraten – mit Salz und Zitrone zerdrückt. Gepfeffert und gesalzen hatte er sie natürlich auch.
Zülch schnupperte durchaus lüstern an seiner Portion. Doch plötzlich erschien Argwohn auf seinem Gesicht, und er ließ sich in Botts rotem Ledersessel zurücksinken. Bott sah ihn fragend an. Zülch erklärte streng:
»Mir ist gerade eingefallen, lieber Bott, daß ich nicht die geringste Gewähr dafür besitze, in deiner Person einen ausgewiesenen Pilzkenner vor mir zu haben. Wie steht denn Gisela da, falls du mir hier einen Knollenblätterpilz unterjubelst statt des Schafchampignons, den du erwähnt hast?«
Bott zeigte ihm einen Vogel. »Die Champignons, Schirmlinge, Birkenpilze sind so bekannt – die kann höchstens ein Esel verwechseln!«
»Und wenn du nun einer bist? Und dich geirrt hast?«
Bott dachte einen Moment nach, bevor er mit süßlichem Lächeln erwiderte: »Dann haben wir Schwein, mein lieber Zülch! Wir werden dem sozialen Kahlschlag der rotgrünen Ministerriege, dem Dritten Weltkrieg oder zumindest der Altersdemenz entgehen.«
»Das ist dein letztes Wort?«
Bott nickte.
Zülch gab sich geschlagen, entkorkte die erste Flasche Wein und schenkte ein.
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