Dienstag, 25. Oktober 2022
Tag für Tag verjährt

Jetzt wäre Lolita Brieger (1964–82) aus der Eifel 58 Jahre alt. David Klauberts ausführliche Darstellung* dieses erst nach 30 Jahren halbwegs aufgeklärten Mordfalles ist geradezu niederschmetternd. Der Fall ist zu gewöhnlich; die Beteiligten sind zu bedauernswert, zu beschränkt, zu gehässig; an diesen abgelegenen ländlichen Tatorten leben zu müssen, kommt bereits in der bloßen Vorstellung einer Verbannung nach Sibirien gleich. Man möchte am liebsten gar nicht mehr viel dazu sagen.

Als »Vertriebene« und »Evangelische« wurden die Briegers im Dorf geschnitten. Gleichwohl gelingt es Lolita, den Sohn eines reichen Bauern für sich zu interessieren. Man ahnt es bereits: Josef K. schwängert sie – und weder sein Alter noch er selber möchten sie und gar noch ein Plag im Hause haben. Aber auch im Häuschen der Briegers (fünf Kinder) herrscht kein Idyll. Lolita flieht vor ihrem rohen Vater und kommt in einem Nachbardorf als Näherin unter. Ihre Vermieterin bezeugt die wiederholten lautstarken Auseinandersetzungen zwischen Lolita und ihrem Besucher Josef. Am 4. November 1982 zu einer Aussprache zum Hof K. unterwegs, verschwindet die 18jährige unvermutet und wird für 30 Jahre nicht mehr gesehen. Man darf darauf wetten, die Eifel lag an jenem Tag, wie so oft, unter bleiernem Nebel. Die DörflerInnen bevorzugen die Annahme, das Mensch habe sich umgebracht oder mit einer Abfindung von Bauer K. versehen in ein holländisches Freudenhaus aufgemacht. Dann, 2011, rollen ein Kriminalhauptkommissar und ein Staatsanwalt aus Trier die Sache wieder auf. Und auch das ist niederschmetternd: Lolitas in einem Plastiksack steckendes Skelett wird nahe am Dorf auf einer Müllkippe ausgebaggert. Ein Kumpel des Josef K., Michael, hatte endlich gesungen. Josef hatte sein Liebchen erwürgt. Jetzt schwieg der 51jährige eisern. Und da ihm das Gericht weder Heimtücke noch sonstige »niedere Beweggründe«, also keinen Mord nachweisen kann, verläßt er den Gerichtssaal im Juni 2012 aufgrund eines inzwischen verjährten Totschlags als freier Mann.

»Wenn das keine Schweinerei ist!« empört sich Lehrer X. vor seiner Klasse. »Darf man denn so einen laufen lassen?« Da meldet sich der Klassenletzte und erwidert seelenruhig: »Darf man durchaus, Herr X. Denken Sie einmal an all die Rüstungsbosse, Pharmaziemanager, Weizenspekulanten, AutomobilherstellerInnen und BerufspolitikerInnen in diesem Land. Die werden nie belangt, obwohl ihre Entscheidungen oder Unterlassungen jährlich weltweit für Millionen Tote sorgen, von vielen weiteren Schäden zu schweigen.« – »Aber das sind doch keine Lustmolche!« – »Sind sie doch, Herr X. Die Sucht, Macht über andere Menschen auszuüben und sie dabei möglichst auch noch zu demütigen, sei schlimmer als jede Krankheit, heißt es in Armin Müllers Tagebuch.** Aber davor versagten leider alle Gesetze der Welt, seufzte der Schriftsteller aus der DDR.«

* »Lolita und Josef«, FAZ, 27. Mai 2012: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/mordanklage-nach-30-jahren-lolita-und-josef-11764849.html
** Ich sag dir den Sommer ins Ohr, Rudolstadt 1989, S. 316

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