Dienstag, 25. Oktober 2022
Siggis Schneisen

Der Westberliner Rentner Siggi Kasulke war kerngesund. Gleichwohl kam er vorzeitig um, denn er hatte die Macht der Printmedien unterschätzt. Ich hatte ihn um 1980 auf einer Demo gegen die Räumung eines besetzten Hauses kennengelernt. Vor seiner Berentung im Finanzamt am Mehringdamm tätig, trieb er sich nun bei den Spontis herum, sobald ihm das häusliche Knobeln zu anstrengend wurde. Er selber wäre natürlich niemals in ein besetztes Haus gezogen. Er hatte eine kleine, düstere Wohnung in Neukölln, 2. Hinterhaus, Erdgeschoß. Schmächtig und knopfäugig, lebte er auch wie ein Mäuschen. Aus doppelten Unterhaltsgründen hatte er sich aufs massen-hafte Lösen von Preisausschreiben und Kreuzworträtseln verlegt. Die erforderlichen frischen Zeitungen und Illustrierten bezog er aus Hunderten von Bahnhofs-papierkörben, während er seine Sachgewinne – ob Seife, Eierkocher, Havelschiffausflüge – auf dem Trödelmarkt zu Geld machte. Das Altpapier hortete er als Brenn- oder Dämmstoff. Es stapelte sich in seiner verschimmelten Hinterhofbude bald bis zur Decke. Da ihn die Zeitungs-stapel allmählich beengten, hievte er kurzerhand allerlei Einrichtungsgegenstände, vom Schirmständer bis zum Schrankkoffer, auf sie. Von den Fenstern ließ sich nur noch ein Oberlicht öffnen. Der Ofen war längst eingemauert. Schneisen vom Klo und vom Ausguß her mündeten in der Zimmermitte in einer Bucht, die Siggis speckigem Canapé und einem alten Küchentisch Platz bot. Daran aß und rätselte er.

Ich hatte damals ein Auge auf ältere Menschen geworfen, weil mich, den 30jährigen, plötzlich Todesängste befallen hatten. Ein Psychologe mutmaßte später, dahinter habe die Trennung von meiner Geliebten D. gesteckt. Ich selber neige inzwischen eher zu der Diagnose »Neurasthenie«. Wie auch immer, bei Siggi merkte ich bald, daß ich jedesmal auf Granit biß, wenn ich die Frage der Sterblichkeit anschnitt. Wir spielten gelegentlich Schach miteinander, und als es mir einmal gelungen war, seinen König aufs Kreuz zu legen, fing ich wieder damit an. Er aber winkte unwirsch ab und knurrte, der Tod interessiere ihn frühstens, wenn er gestorben sei. Das fand ich immerhin witzig. An jenem Novemberabend saßen wir bei ihm in der Bucht. Sein von Zeitungsausschnitten oder Schachfiguren übersäter Tisch wurde wie immer von links durch die Tischlampe, von rechts durch den rotglühenden Heizstrahler beschienen. »Siggi, Siggi«, ermahnte ich ihn zuweilen mit besorgter Stimme, »wenn du nicht besser aufpaßt, wird der verdammte Strahler umkippen! Er fällt gegen den nächsten Zeitungsturm, setzt ihn in Brand, und schon steht halb Neukölln in Flammen!«

An Weihnachten klingelte ich vergeblich an seiner Wohnungstür, obwohl wir verabredet waren. Auch mein Klopfen an die Hoffenster brachte ihn nicht zum Vorschein. Ich ging zur Hauswartsfrau. »Ach – der Kasulke ..? Ja, mein Gott, diesen Verrückten haben sie vorgestern aus dem Haus getragen, auf einer Totenbahre. Ein Polizist meinte zu meinem Mann, man habe ihn mit einer Schädelwunde am Fuß eines zusammengebrochenen Zeitungsstapels gefunden. Wahrscheinlich sei ihm der Staubsauger auf den Kopf gefallen, der neben ihm in Trümmern lag. Kasulke hatte ihn wohl oben auf dem Stapel abgestellt. Ha, ha - er brauchte ihn ja sowieso nicht mehr. Wie wollen Sie denn in so einem verstopften Dreckloch noch Staub saugen!?«
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