Dienstag, 11. Oktober 2022
Bott 5 Auf Demontage
ziegen, 12:06h
Im Zugball herrschte mäßiger Betrieb. Bott befaßte sich an Tisch 1 mit den Kugeln, wobei ihm Gisela von der Bar aus zuweilen einen Kommentar zuwarf. Sie versah in dieser Woche den Frühdienst, der von 10 bis 17 Uhr ging. Die Arbeit belief sich im wesentlichen darauf, die mit bunten Kugeln gefüllten Tabletts auszugeben und Getränke zu servieren. Bott nahm sich vor, Gisela in Kürze ein Blitzspiel vorzuschlagen, denn sie hatte genug Arbeitspausen und dazu, wie es aussah, gute Laune. Beim Blitzspiel wurde lediglich um eine Rote gespielt, bevor man daranging, die Farben abzuräumen. Die Rote wurde zu diesem Zwecke in Höhe der Pink unmittelbar an die Seitenbande gelegt; der Anstoß erfolgte wie immer vom »D« aus. Botts Heraus-forderung zerschlug sich jedoch, weil plötzlich Giselas Gatte neben ihm stand. Es war gegen drei. Zülch stellte mit leicht verknitterter Miene fest:
»Günstig, daß du da bist. Könntest du für einen Augen-blick mit nach oben kommen? Ich brauche den Ratschlag eines erfahrenen Handwerkers.«
Bott zuckte die Achseln und ging mit Zülch zur Innen-treppe. Im Oberstock eingetroffen, überließ ihm Zülch den Vortritt:
»Die zweite Tür links bitte!«
Dort mußte Giselas Zimmer liegen, falls sich nichts geändert hatte. Doch es hatte sich etwas geändert. Giselas breites Bett war von Kleidern und Wäsche überhäuft. Ringsum an den Wänden lehnten die Einzelteile eines größeren Möbelstücks; offenbar handelte es sich um einen neuen Kleiderschrank. Die Verpackungen der Einzelteile hatte Zülch in einer Ecke auf Giselas Eichentruhe gestapelt. Giselas bisheriger Kleiderschrank war weg. Zülch hatte ihn am Vormittag abgeschlagen und hinters Haus auf Gudensbergs einzigen Bahnsteig geschleppt; schließlich benötigte er in Giselas Zimmer Platz für den Aufbau des neuen Schrankes.
Bott wandte sich in der Tür um und sagte: »Na und ..?«
Zülch nickte ins Zimmer und erwiderte lauernd: »Du bist doch längere Zeit als Raumausstatter tätig gewesen? Bau ihn mal auf!«
Sie standen jetzt nebeneinander an der Tür. Bott blickte seinen Busenfreund mit verkniffenen Augen an, als habe er sich verhört. »Hast du dein Architektur-Diplom verlegt? Diesen Bahnhof nie saniert? Ich glaube, du hälst mich zum Narren.«
Zülch schüttelte seinen Kopf. »Ich schaffe es nicht allein, lieber Bott.«
Nachdem er Zülch noch eine Weile angeglotzt hatte, winkte Bott unwirsch ab und schalzte mit den Fingern. »Also los mal – die Bauanleitung her!«
»Es gibt leider keine«, erwiderte Zülch mit feinem Lächeln.
Bott schluckte. Zülch erläuterte ihm, er habe die einzelnen Pakete, die Gisela um Mittag von einem Fritzlarer Möbelhaus geliefert worden waren, vergeblich nach der üblichen Bauanleitung durchsucht.
»Na gut«, winkte Bott erneut ab. »Zeige mir mal die Beschläge. Das kriegt man auch so hin.«
»Es gibt leider keine.«
»Was denn – die Beschläge fehlen auch?«
»So ist es. Kein Scharnier, keine Dübel oder Verschlüsse, nicht eine Schraube …«
Bott ließ sich mit einem Kichern in Giselas Armlehnstuhl sinken, dessen Sitz er vor rund einem Jahr eigenhändig neu gepolstert hatte, und sah Zülch erwartungsvoll an.
Zülch berichtete. Selbstverständlich hatte er sofort zum Telefon gegriffen, um die vermißten Dinge anzumahnen. Allerdings wußte er bereits, daß Gisela in dem Fritzlarer Möbelhaus ein preisgünstiges Auslaufmodell ergattert hatte. Es gab nur noch ein weiteres Exemplar dieses Schrankmodells im Machtbereich des Möbelhauses, nämlich das unverpackte Ausstellungsstück. So verblüffte es Zülch wenig, als ihm der zuständige Verkäufer mitteilte, Zülch möge sich ein wenig gedulden, man müsse den Satz Beschläge erst bei der Lieferfirma anfordern. Auch die Bauanleitung habe sich in dem Ausstellungsstück leider nicht finden lassen. Man werde sofort telefonieren und auf Express-Lieferung dringen. Spätestens übermorgen halte Zülch die Sachen in Händen.
»Wo liegt denn diese Möbelfabrik?« fragte Bott nicht ohne Vorahnung.
Zülch grinste, ging zur Eichentruhe und deutete auf ein Schildchen, das auf der Wellpappe klebte.
Bott beugte sich vor. Das Schildchen war in englischer Sprache und in kyrillischer Schrift abgefaßt, wimmelte von Druckfehlern und nannte verschiedene rätselhafte Namen, deren Bezug recht unklar blieb.
»Offenbar irgendwo zwischen Oder und Ural?« zwinkerte Bott zu Zülch hinauf.
Zülch nickte. »Das sehe ich auch so.«
»Na prima!« lehnte sich Bott zurück. »Du darfst gespannt sein, was es nicht mehr gibt: die Schränke, die Beschläge – oder gleich die ganze Möbelfabrik? Von den Transport-wegen einmal zu schweigen. Hast du Pech, müssen wir uns Giselas Beschläge notdürftig in sämtlichen nordhessischen Baumärkten zusammensuchen!«
Zülch nickte.
»Hast du es Gisela schon gesagt?«
»Ach woher!« schnaubte Zülch. »Meinst du, dann hättest du sie in dieser guten Laune hinter dem Tresen gesehen? Sie wiegt sich natürlich in dem Glauben, wenn sie um 17 Uhr heraufkomme, könne sie ihre Klamotten in ihren schönen neuen Kleiderschrank einräumen. Toben wird sie!«
Bott kratzte sich hinterm Ohr, während sein Blick über die ausgepackten Schrankteile und den Berg aus Kleidern und Wäsche auf Giselas Bett glitt. Schließlich nickte er auf den Berg und erkundigte sich ähnlich lauernd wie Zülch vor wenigen Minuten: »Wäre es nicht eine Chance, wieder einmal für ein paar Nächte gemeinsam in einem Bett zu schlafen? Nämlich in deinem ..?«
Zülch setzte sein verknittertes Gesicht wieder auf; dann nickte er allerdings versöhnlich. »Ehrlich gesagt, daran habe ich auch schon gedacht.«
Zwei Tage später fuhr Bott mit dem Bus nach Fritzlar, weil er wegen einer Urkunde aufs Amtsgericht mußte. An die Busscheiben schlug Aprilregen. Vor Werkel führte die Landstraße über die Ems. Das Flüßchen war auch in diesem Frühjahr über die Ufer getreten, sodaß die Wiesen unter Wasser standen. Trotzdem gab es nicht einen Storch. Das traditionsreiche Storchennest in Werkel – auf dem hohen Stumpf einer abgestorbenen Weide angebracht – war seit vielen Jahren unbesetzt. Dafür hatten vermutlich die neue Autobahn und die moderne Landwirtschaft gesorgt, die aus Vogelrevieren Rollfelder für Riesentraktoren machte.
Neben der Ems mündete unweit von Felsberg auch die Schwalm in die Eder. Daher der Name Schwalm-Eder-Kreis. Homberg war die Kreisstadt. Fritzlar war – bei rund 15.000 Einwohnern – nicht kleiner und konnte zudem eine nahezu einzigartige Altstadt vorweisen, weil es weder unter den Bomben des Zweiten Weltkrieges noch an den Waschbetonköpfen der Baudezernenten aus den 60er Jahren zu leiden hatte. Frau Rinninslands Verkündung, der langgestreckte Marktplatz stelle Fritzlars schöne Seele dar, hatte Zülch mit der Bemerkung gekontert, dann müsse es sich bei dem benachbarten Dom um Fritzlars Klumpfuß handeln. Aber selbst die Fußgängerzone war aus den genannten Gründen erträglich. Westlich des Markt-platzes erhob sich mit dem mächtigen Hochzeitshaus das größte noch erhaltene Fachwerkgebäude ganz Nordhessens. Es stammte von 1590. Hätten Bott und Ruth van Ginnecken heiraten wollen, hätte letztere sogar die Mittel dazu gehabt, das rauschende Hochzeitsfest in diesem Prunkbau auszurichten, wie es vor ihnen – im späten Mittelalter – die schwerbetuchten Fritzlarer Pfeffersäcke und Zimtzicken getan hatten. Doch im Prunkbau war inzwischen ein Heimatmuseum untergebracht.
Als sich der Bus dem Fritzlarer Gewerbegebiet näherte, hatte Bott eine Idee. Da das Amtsgericht noch für gut zwei Stunden geöffnet hatte, stieg er kurzerhand aus, um einmal einen Blick auf Giselas Kleiderschrank zu werfen. Das Möbelhaus war von der Bushaltestelle aus nicht zu übersehen, und auch nach dem Schrank brauchte Bott nicht lange zu suchen, wies dieser doch zwei eher ungewöhnliche »Falttüren« auf. Sie werden mit Hilfe eines an der Mittelnaht angebrachten Griffes auf- und zur Seite geklappt; Bott kannte das Prinzip von Erfurter Straßenbahntüren her. Im Schrank sorgt ein Schwenkarm aus Metall für die Führung. Die beiden Schwenkarme zählten ebenfalls zu den von Zülch vermißten Beschlägen.
Erfreulicherweise stand der Schrank in einer der zahlreichen Seitengassen des Möbelhauses. Bott konnte ihn in Ruhe mustern, ohne von einem Verkäufer belästigt zu werden. Der von den beiden Falttüren flankierte Mittelteil des Schrankes zeigte über drei Schubladen eine Spiegeltür. Der ganze Schrank war aus Astkiefer geschreinert. Die einzelnen Leisten waren durchaus eben und sorgfältig miteinander verleimt. Die Flächen gefielen trotz der lebhaften Maserung durch eine Art Waldbienenhonigfarbe. Der Schrank roch auch gut. Bott steckte nämlich ausgiebig seinen Kopf hinein, um sich die Art und den Sitz der Verbindungsstücke einzuprägen, die sie womöglich in den Baumärkten aufzutreiben hatten. Im ganzen konnte Bott an Giselas Geschmack nicht zweifeln; der Schrank machte sich in ihrem Zimmer sicherlich gut.
Bott spannte den Schirm auf, weil es noch immer regnete. Bis zum Amtsgericht hatte er nur eine knappe Viertel-stunde zu gehen. Es lag am Ostrand der Altstadt mit Blick zur Eder hinab. Im Liebreiz stand es dem ehemaligen, von ihm geschluckten Gudensberger Amtsgericht nicht nach. Für Bott wirkten diese 60 oder 90 Jahre alten Amtsgerichtsgebäude, die es in fast jeder Stadt gab, wie Festungen oder Gefängnisse, was sich ja in der Tat mit keinem geringen Ausschnitt ihres Wirkungskreises deckte. Südwind vorausgesetzt, vollendete sich diese Aura in jedem Herbst mit Hilfe der jenseits der Eder gelegenen Hengstenberg-Fabrik. Da ratterten von früh bis spät die Traktor-Gespanne mit Weißkohlköpfen über die Waage der weithin bekannten, berüchtigten Sauerkonserven-fabrik.
Als Bott das klobige Amtsgericht mit der gewünschten Urkunde im Rucksack wieder verlassen wollte, kam er zufällig an der Zimmertür seines Direktors vorbei, was ihm erneut eine Idee eingab. Er ging die paar Schritte zurück und klopfte bei dem Mann.
Er war in Botts Alter. In der Ecke des langgestreckten Raumes hinterm Schreibtisch sitzend, hatte er nicht unfreundlich aufgeblickt. Bott blieb in Türnähe vor einem riesigen Konferenztisch aus Eiche stehen, an dem zwei anarchistische Landkommunen vom Umfang der Emsmühle ihre Fusionsverhandlungen hätten führen können. Bott stellte sich über die Länge des Tisches hinweg vor. Er habe zufällig im Haus zu tun gehabt, vielleicht könne ihm der Herr Richter mit einer kleinen juristischen Auskunft dienen. Der Herr Richter deutete einladend auf einen Armlehnstuhl am Kopf des riesigen Tisches. Bott nahm Platz und trug seine Frage vor.
In Mecklenburg war kürzlich gegen zwei Männer aus der neofaschistischen Szene verhandelt worden, die mit ihren Springerstiefeln einen Obdachlosen totgetreten hatten. Der Umstand, daß sie dabei betrunken waren, wurde ihnen strafmildernd angerechnet. Diesen Strafmilderungsgrund habe Bott schon immer ziemlich befremdlich gefunden. Wer nach einer Flasche Bier greife – und in der Folge nach vielen Flaschen Bier – wisse doch genau, was er tue. Die enthemmende Wirkung von übermäßigem Alkoholgenuß sei allgemein bekannt. Daraus einen strafmildernden Grund der »Unzurechnungsfähigkeit« zu machen, lade doch förmlich zum übermäßigen Alkoholgenuß ein. »Schwebt Ihnen also etwa vor, Ihre Schwiegermutter zu erschlagen«, hob Bott seine Hände über den mattierten Eichentisch, »sind Sie gut beraten, vorher einen halben Kasten Bier zu trinken. So kommen Sie glimpflich davon.«
Der Direktor hatte Bott aufmerksam zugehört. In seinem prüfenden Blick schwang sogar ein gewisses Erstaunen mit.
»Sind Sie Journalist, Herr Ott?«
»Nein. Ich bin gelernter Polsterer. Aber ich hatte schon immer eine Neigung zur Philosophie – was bedeutet, Ungereimtheiten aufzudecken.«
Der Direktor lächelte leise und nickte. »Sie sind kein dummer Kopf, Herr Ott. Die Bestimmung des Paragraphen 323 a StGB, wonach man in solchen Fällen lediglich für den vorsätzlich oder fahrlässig eingegangen Rausch, nicht aber die in diesem Zustand rechtswidrig begangene Tat bestraft werden kann, ist in der Tat heikel. Entsprechend ist sie unter Juristen durchaus umstritten. Allerdings bin ich als Richter auf Familienangelegenheiten und Betreuungsfälle – früher Vormundschaften – spezialisiert; im Strafrecht – und seiner Praxis – kenne ich mich wenig aus. Wenn ich nicht irre, gewährt jene Bestimmung einigen Spielraum; so spricht sie von Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Es kommt also auf den konkreten Fall an. Und freilich: auf die mit dem Fall betrauten Richter ebenfalls. Unsere Vorurteilslose fallen mal so, mal so, wenn ich einmal Tucholsky zitieren darf. Immerhin herrscht Konsens, den von Ihnen angeführten Strafmilderungsgrund – Sturzbesoffenheit also, proletarisch gesprochen – im Wiederholungsfall nicht mehr anzuwenden.«
Bott beugte sich vor. »Im Wiederholungsfall? Der Obdachlose hatte nur ein Leben. Er ist tot!«
Der Direktor sah ihn fest an, hob seinerseits die Hände. »Ich kann Ihnen nicht widersprechen, Herr Ott. Aber ich kann Ihnen auch keine nützlichen Auskünfte mehr geben. Möglicherweise erfahren Sie beim Staatsanwalt mehr. Ich bitte Sie deshalb, mich zu entschuldigen. Ich habe zu tun.«
Bott nickte beschwichtigend, dankte dem Direktor im Aufstehen für sein Entgegenkommen und zog sich auf den Flur zurück.
Am oberen Ende der steilen Eingangstreppe lag der Durchguck in die Pförtnerloge. Sie war schon wieder leer. Niemand interessierte sich dafür, ob er außer seinem gefährlichen Stockschirm vielleicht im Rucksack einen Weißkohlkopf und eine Pulle mit Kümmelschnaps oder Benzin mit sich führte. Man lebte eben in der Provinz.
»So ein Scheißhaus!« blökte Zülchs Stimme noch einmal zwei Tage später aus Botts Telefon. »Sie vertrösten mich von einem Tag auf den anderen! Sollten wir da nicht mal hinfahren und die Feuerlöscher überprüfen?«
Offenbar meinte er das Möbelhaus. Bott war ohnehin davon überzeugt, die vermißten Beschläge seien längst in Zloty oder Rubel verwandelt worden. So lobte er Zülch, seine Idee decke sich schon fast mit Botts eigenem Plan. Er legte ihn dar, wobei er sich bemühte, Zülch bei seinem handwerklichen und sportlichen Ehrgeiz zu packen.
Zülch war rasch gewonnen. Eine halbe Stunde später hielt er in seinem zerbeulten Renault-Kastenwagen vor dem Haus seiner Schwiegermutter. Im Heckraum lag ein roter Plastikkoffer, der normalerweise Zülchs Hilti-Schlagbohrmaschine enthielt, die mit rund 500 Euro nebenbei teurer als Giselas neuer Kleiderschrank war. Bott stellte seine große Werkzeugtasche aus schwarzem Leder daneben und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
»Gut sieht man heute wieder aus!« nickte Zülch ihm zu, während er die Kupplung kommen ließ.
Bott steckte in einem weinroten Kittel, den er noch von seiner Zeit bei Euler her besaß. Auf der Brusttasche prunkte – schwarz auf weiß – das warenrechtlich geschützte große R, das für »Raumausstatter« stand. Am Untermarkt bremste Zülch schon wieder. Bott verschwand in Gudensbergs einziger Raumausstattung Wilke & Rühmling. Er pflegte Wolfgang Rühmling von Zeit zu Zeit bei Polsterarbeiten auszuhelfen. Als Bott wieder aus dem Laden kam, hielt er genau den gleichen Kittel, wie er ihn trug, noch einmal in der Hand. Er warf ihn auf den Rücksitz. Zülch gab Gas.
Bott nutzte die knapp 10 Kilometer bis Fritzlar, um Zülch die zu erwartende Lage im Möbelhaus sowie im Kleiderschrank haarklein auseinander zu legen. Dann besprachen sie ihre Vorgehensweise. Alles kam auf Reibungslosigkeit und Geschwindigkeit an. Je schneller, desto besser.
»Hast du die Stoppuhr?« fragte Bott.
Zülch nickte und hob sein Handgelenk. Seine Armbanduhr besaß eine Stoppvorrichtung.
Bott klappte die Sonnenblende herunter, um sich den dunklen Schnurrbart anzukleben, den er aus seiner Kitteltasche gezogen hatte. Dann schob er sich eine Brille, die nur Fensterglas enthielt, auf die Nase und sah Zülch erwartungsvoll an.
Zülch pfiff durch die Zähne. »So solltest du mal bei deiner neuen Flamme in Kassel aufkreuzen! Sagtest du nicht, sie macht Comics?«
Von dem geliehenen weinroten Kittel einmal abgesehen, begnügte sich Zülch selber mit einer grünen Basketballmütze, die seinen auffälligen Mittelscheitel verbarg. Zülch hatte das Möbelhaus noch nie betreten.
Sie parkten zwei Straßen weiter und gingen, je einen Koffer schleppend, zu Fuß zum Möbelhaus. Die Dame an dem halbkreisförmigen Empfang, der zugleich Kassenschalter war, sah nur flüchtig auf, als die beiden Handwerker auf die Innentreppe zustrebten. Die Schlafzimmermöbel standen im 2. Stock. Durch dessen breiten Hauptgang schlenderten Dutzende von Möbelsuchenden. Als Bott in den ihm bereits vertrauten Nebengang einbog, fluchte er unterdrückt, weil der einzige Anwesende im Gang gerade die rechte Falttür von Giselas Schrank prüfte, indem er sie ausgiebig hin- und herbewegte.
»Frechheit siegt!« raunte Bott über seine Schulter zu Zülch, der sich in seinem Fahrwasser hielt.
Nachdem er seinen Werkzeugkoffer fast auf dem Schuh des Kunden abgesetzt hatte, erklärte Bott mit seinem gewinnendsten Lächeln: »Das tut mir aber leid! Dieses Ausstellungsstück müssen wir Ihnen jetzt vor der Nase wegschnappen! Die Serie ist ausverkauft.«
»Ach so«, maulte der Mann und trollte sich.
Zülch hatte den Schrank bereits von der Wand gerückt, seine Stoppuhr betätigt und den Kreuzschlitzschrauben-zieher aus Botts Werkzeugkoffer gezogen. Im Nu waren die oberen Verriegelungen gelöst, sodaß sie das Verdeck abnehmen konnten. Dann schraubten sie die dünnen Rückwände aus Hartfaserplatten ab.
Nach rund drei Minuten lagen die Seitenteile mit den Falttüren auf dem Teppichboden. Während Bott die Scharniere und Griffe der Türen abschraubte, demontierte Zülch den Mittelteil des Schrankes. Jeder geerntete Beschlag landete in Zülchs rotem Hilti-Koffer – der selbstverständlich leer gewesen war. Alle geplünderten Schrankteile lehnten sie ordentlich an die Wand.
Nach elf Minuten beugten sie sich über das dreiteilige Fußbrett, um auch hier die Verriegelungen auszubauen. Plötzlich durchfuhr es Bott heiß. Aus den Augenwinkeln heraus sah er einen Verkäufer auf sie zukommen. Er trug sein Namensschild mit dem Möbelhauslogo am Revers.
Der Mann gab sich kumpelhaft. »Was macht ihr denn da?« erkundigte er sich stirnrunzelnd.
»Was denn«, sagte Bott, ohne sich im Schrauben zu unterbrechen. »Hat man Sie nicht informiert? Das Ding kommt nach Kassel.«
»Nach Kassel? Warum denn das? Zu wem denn?«
»Raumausstattung Euler, Friedrich-Ebert-Straße«, erwiderte Bott wie aus der Pistole geschossen. »Sie können ja mal in Ihrer Verwaltung nachfragen.«
Der Mann rieb sich das wohlrasierte Kinn und nickte. »Ja. Ich muß ohnehin noch ein Fax rausschicken.«
Darauf entfernte er sich ohne sonderliche Eile.
»Feuer!« raunte Bott, während er die Fußstücke an die Wand lehnte. »Nur noch die Schubladengriffe abschrauben, dann haben wir's!«
Zülch atmete aus. Selbst für seinen in Snookerkreisen berüchtigten Stoizismus war dieser geschniegelte Möbelhauslakei eine echte Prüfung gewesen.
Nachdem die Schubladengriffe im Hilti-Koffer lagen, drückte Zülch die Stoppuhr. »Keine 15 Minuten! Das müßte fürs Guinness Buch der Rekorde ausreichen.« Sie traten den Rückzug an.
Bevor sie in den Hauptgang bogen, spähten sie nach Verkäufern. Die Luft war rein. Sie mischten sich unter das Publikum.
Als sie sich mit ihren Koffern dem halbkreisförmigen Empfangstresen näherten, zuckte Bott jäh zusammen, weil die Dame gerade den Telefonhörer abnahm. Jetzt kommts! dachte er schicksalsergeben.
Die Dame nickte ihnen routinemäßig zu, ohne sich im Telefonieren zu unterbrechen.
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