Montag, 26. September 2022
Glück und Pech des Leon Pfleider

Als der Nordhesse Leon Pfleider, geboren 1994, vor knapp fünf Jahren auf Korsika buchstäblich ins Gras zu beißen hatte, erregte er offenbar noch mehr Aufsehen als zwei Jahre zuvor mit seinem Kinodebüt. Ich habe den Film nie gesehen. Aufgrund verschiedener Aufzeichnungen von Wettkampfpartien des Iren Alex Higgins (1949–2010) ist mir allerdings bekannt, der Mann war einer der begnadesten Snookerspieler, die wir je hatten. In dem Film hatte Pfleider den jungen, aufstrebenden Higgins zu geben, der schon mit 23 die Profiweltmeisterschaft gewonnen hatte. Der Nordhesse, ein hübscher Schlanker um 1,80, spielte seinerzeit für Hofgeismar in der deutschen Bundesliga. Zu den größten Leistungen des Filmregisseurs zählt Doris Mühl das Geschick, Pfleider so großmäulig, ja größenwahnsinnig handeln zu lassen, wie Higgins zeitlebens gewesen sein soll. In Wahrheit sei Leon ein vorsichtiger, behutsamer Charakter gewesen, versichert Mühl. Als Frau, die zumindest streckenweise seine Geliebte, ansonsten seine treue Mentorin, Gefährtin und Mitkommunardin war, muß sie es ja wissen. Videos, die Pfleider im Wettkampf zeigen, bestätigen diesen Eindruck. Ehe er sich zu einem langen Ball entschließt, vergehen oft zwei Minuten. Aber meistens versenkt er ihn. In Hofgeismar hieß er mit Spitznamen Leon Zauder. Und so einer wird dann – mutmaßlich, nur mutmaßlich! – von einem aalglatten Schürzenjäger um die Ecke gebracht …

Doris Mühl, rund 10 Jahre älter als der Snookerspieler und Reiter Pfleider, hat soeben ein Buch mit dem hübschen Titel Leon Pfleider oder Ein Match zuviel vorgelegt. Nun mag sie, im Gegensatz zu Higgins, keine begnadete Stilistin sein, aber an Spannung läßt ihr Werk kaum zu wünschen übrig. An der Kasseler Albert-Schweitzer-Schule (ASS), einem traditionsreichen Gymnasium, war sie einst Pfleiders Französischlehrerin gewesen. Sie lebte zunächst in einer nahegelegenen Kommune, der Villa Locomuna am Tannenwäldchen, genannt »Lok«. Als der Film über Higgins einschlug und ihrem Lieb- und Schützling eine Menge Kohle einbrachte, widerstanden die beiden sowohl den Verlockungen einer filmischen oder sportlichen Profilaufbahn wie des bekannten High Lifes. Sie machten vielmehr einen alten Traum wahr und gründeten eine neue Kommune. Rund 25 Kilometer westlich von Kassel waren nämlich Schloß und Gut Brosch zu haben. Das Anwesen liegt unweit des Städtchens Wolfhagen am Flüßchen Erpe. Wolfhagen hat sogar eine Bahnverbindung nach Korbach und Kassel zu bieten. Die Kommune, derzeit knapp zwei Dutzend Köpfe, befaßt sich hauptsächlich mit Pferdezucht und Jagd und frönt daneben verständlicherweise dem Snookerspiel. Das kleine Kino Cinema in Wolfhagen suchen die Kommunarden nur selten auf.

Mühl betont, trotz seines zögerlichen Naturells habe es Leon nie an Mut und Gradlinigkeit gefehlt. In diesem Zusammenhang erwähnt sie seinen Bruch mit dem Elternhaus. Pfleider stammte von einem Gutshof bei Spangenberg, wo er schon als Knirps ein eigenes Pony besessen hatte. Später habe er sie – die deutlich ältere Französischlehrerin, die in einer »Kommune« lebte – einmal im Herrenhaus vorgestellt. Seine »Alten« seien entsetzt gewesen. Das kränkte Leon wiederum genug, um mit den Eltern zu brechen und damit nebenbei auch auf ein fettes Erbe zu verzichten. Insofern sei ihm der Geldsegen durch den Higgins-Film keineswegs unlieb gewesen. Dann erwarb er das erwähnte Anwesen, überführte es freilich sofort in Vereinseigentum.

Anfang 2017 werden Doris und Leon schwankend. Sie bekommen Besuch von einem Filmemacher, der in der korsischen Hauptstadt Ajaccio lebt, also nicht etwa in Paris oder London. Der beleibte Koop unterbreitet ihnen ein Spielfilmprojekt, das ihnen gefällt. Eine Produktionsfirma hat er bereits dafür gewonnen. Und da die Kommune durchaus eine neue Geldspritze gebrauchen könnte, »beurlaubt« sie Leon sozusagen für das geplante Projekt. Er und der offenbar ziemlich bekannte Schauspieler Paul Vestoux sollen die Zugpferde spielen: ein um 1890 aus Frankreich entwichenes Ganovengespann. Der Streifen wurde nie vollendet, errang jedoch als Fragment inzwischen Kultstatus. Zur Filmzeit soll es in den korsischen Bergen bei Ajeccio einen mittleren Goldrausch gegeben haben. Die Ganoven gedenken zunächst mitzuschürfen, lernen aber noch rechtzeitig einen Zeitungsverleger und Drucker kennen, der ihnen einen durchtriebenen Plan eingibt. Habe ich Mühl richtig verstanden, gelingt es ihnen, einem ganzen Bergdorf weiszumachen, der Zug für Gold sei bereits abgefahren; der moderne Mann von Welt investiere in Banknoten, also in diesem Fall in Franc-Scheine. Die hatte selbstver-ständlich der Zeitungsverleger gedruckt. Er sorgte auch gleich für die Plakate, die Paul und Leon in dem Goldgräbernest aushängten. Ihre Agentur Soundso zahle auf Gold sage und schreibe 15 Prozent über dem amtlichen Wechselkurs. »Keine Bange«, hieß es da sogar, »unsere Agentur macht immer noch einen kleinen Gewinn bei diesem Geschäft, weil sie beste Beziehungen zur Nationalbank und zu allen wichtigen Finanzplätzen des Planeten hat.« Es liege ihr fern, die Goldwäscher über den Tisch zu ziehen, die schließlich, im Interesse der Nation, vor Ort die Bärenarbeit leisteten. Am kommenden Sonntag stünden zwei Vertreter der Agentur ab 10 Uhr mit ihren Goldwaagen im hiesigen Saloon. Die errechneten Geldbeträge würden sofort und selbstverständlich restlos ausgezahlt.

Prompt stopfen sich die Schürfer die druckfrischen Banknoten in ihre Hemden und Westen, während ihre Nuggets in den Koffern der beiden Agenten verschwinden. Kaum gefüllt, suchen Paul und Leon mit einer Kutsche, die sie zum nächsten Bahnhof bringt, das Weite. In der Tat war die Bahnstrecke von Bastia nach Ajeccio damals, um 1890, gerade gebaut und eröffnet worden. So keucht die Dampflok mit all den Nuggets, all den Neugierigen – und dem halben Drehstab gen Westküste. Was Paul und Leon angeht, werden sie sehnsüchtig vom Zeitungsverleger und dessen Tochter Liz erwartet. Jedoch, sie kommen nie in Ajeccio an – jedenfalls nicht gemeinsam.

Man muß dazu wissen: um jene Verlegertochter war nicht nur im Drehbuch ein Konkurrenzkampf zwischen den beiden Ganoven entbrannt. Liz wurde von der Serbin Mara Lostella gespielt. Mühl behauptet, im Gegensatz zum Drehbuch habe Lostella dem deutschen Snooker-As und Reiter bereits vor dem Streich im Goldgräberdorf ihre Gunst geschenkt. Sie – Mühl und Pfleider – hätten zur Drehzeit mehrmals miteinander telefoniert und seien auch schon vorher stets aufrichtig zueinander gewesen. Sie habe deshalb keinen Zweifel an Leons Affäre, habe sie ihm auch niemals krumm genommen. Lostella selber habe sie stets abgestritten – möglicherweise Vestoux zuliebe.

Ich gebe zu, Pfleiders Filmpartner bis zu meiner Lektüre des Mühlschen Buches lediglich dem Namen nach gekannt zu haben. Die zahlreichen Abbildungen im Internet zeigen einen eher schmallippigen Schönling, der mich offenbar nicht nur von seiner Erscheinung her an einige Krimis mit Günther Ungeheuer erinnert, gestorben 1989. Vestoux scheint als hochmütig, rechthaberisch, zynisch zu gelten. Am heftigsten sei der Schürzenjäger in sich selber verliebt. Gegenwärtig geht er stramm auf die 40 zu.

Pfleider wurde keine 24. Seine zerschmetterte Leiche wurde zwischen zwei Dörfern in einer Schlucht unterhalb der Bahnstrecke gefunden. Man hatte ihn rasch vermißt und den Zug sogar vorübergehend angehalten. Die Aufregung war groß. Die Vermutungen überschlugen sich. Nur hatte angeblich niemand den Sprung oder Sturz des beliebten Deutschen beobachtet. Bei diesem Buchkapitel fühlte ich mich an den süddeutschen Fußballstürmer Fritz Balogh erinnert, siehe weiter oben. Auch er fiel oder sprang aus einem Zug. Niemand wollte es gesehen haben. Mühl zitiert (und übersetzt) wiederholt die damaligen Berichte der französischen Blätter aus Ajeccio, Nizza, Paris und so weiter. Wie sich versteht, hatten sich die französischen Kriminalbeamten beeilt, von einem »wahr-scheinlichen tragischen Unfall« zu sprechen – Beweise dafür legten sie nie vor. Die Presse beziehungsweise deren Gewährsleute hielten einen Selbstmord für nahezu unwahrscheinlich, vermieden allerdings auch die Spekulationen über einen aus Konkurrenzgründen verübten Mord. Die entsprechenden Unterlassungs- oder Verleumdungsklagen des entsprechenden Hauptver-dächtigen wären einfach zu kostspielig. Vestoux hat Geld wie Heu.

Bei ihrem Versuch, Beteiligte per Email oder telefonisch zu befragen, hat sich Mühl verständlicherweise eine Menge Körbe geholt. Aus den restlichen Auskünften schließt sie, daß Vestoux von der ersten Drehminute an schlecht auf Pfleider zu sprechen war. Die Spannungen und Zusammenstöße häuften sich, owohl Pfleider seine gesamten gruppendynamischen Kenntnisse aus der Kommune aufbot, um dem unleidlichen Filmkumpel Brücken zu bauen. Auch darüber hatte sich Leon mit Doris telefonisch beraten. Die Affäre mit Lostella hält Mühl für vergleichsweise nebensächlich. Manche gesellschaftlichen Außenseiter würden vor allem wegen ihres Erfolges, ja oft schon allein aufgrund ihres andersartigen, nämlich sanftmütigen oder kooperationsbereiten Naturells gehaßt, merkt sie auf etwas komisch wirkende diplomatische Weise an.

Sie selber werde womöglich noch einige Jahre benötigen, um ihre Schuldgefühle Leon gegenüber in den Griff zu bekommen, schreibt sie am Schluß. Schließlich hatte sie ihm zugeraten. Hätte sie ihm abgeraten, wäre er »nie und nimmer« nach Korsika gefahren. Das sei das einzige Sichere an diesem Fall.
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