Montag, 12. September 2022
Bott 3 Schnee von gestern

In der steilen Schloßgasse verwünschte Bott die Bürger-Innen, als sei er in der Tat der zürnende »Herr des Morgengrauens«, der zu Astrids merkwürdigen Kose-namen zählte. Während die BürgerInnen nämlich behäbig in ihren Betten schnarchten, hatte sich Bott durch ihre noch nicht vom Schnee befreiten Gehwege zu kämpfen. Dabei lag er schon über der Zeit. Auf der Straße, wo erst zwei oder drei Wagenspuren zu sehen waren, herrschten kaum bessere Verhältnisse. Immer wieder stand ihm ein geparktes schneebedecktes Auto im Weg. In seiner Vorstellung verwandelten sich diese weißen Blechhaufen in eine Lawine, die den Obermarkt mit Autowracks überschwemmen und das ganze Städtchen heillos verstopfen würde. Jeder gäbe ein Königreich für einen Bernhardinerhund.

Beim alten Scheuermann war zwar ebenfalls nicht gefegt, doch konnte er als entschuldigt gelten. Bott zog seine Zeitungskarre ohne Halt an Scheuermanns Gartentor vorbei. Erst nach einigen Schritten stutzte er, hielt inne und blickte über den morschen Staketenzaun zurück. Auf dem verschneiten Weg zu Scheuermanns Haustür waren Fußstapfen zu sehen. Sie mußten frisch sein, denn noch am Abend hatte es geschneit. Da in der Nähe eine Straßenlaterne brannte, waren sie gut zu erkennen.

Die Sache gab Bott zu denken, weil Scheuermann seit gestern als »Reise« gemeldet war. Solche Veränderungen teilte ihm das Homberger Pressehaus auf dem Packzettel mit. Scheuermanns Röhre am Gartentor hatte also einstweilen leer zu bleiben. Vielleicht war der hagere Greis zu seiner Schwester nach Köln gefahren, was er hin und wieder zu tun pflegte. Zülch hatte diese Schwester einmal erwähnt. Sonst wußte Zülch so gut wie halb Gudensberg, daß der alte Scheuermann seit dem Verlust seiner geliebten Pferde wie der Dachs in seiner Höhle hauste. Er ließ sich auf niemand mehr ein. Bott hatte ihm einmal angeboten, die Briketts in seinen Keller zu schippen, doch selbst das hatte Scheuermann abgewehrt. Gewiß mochte sich gelegentlich ein Versicherungsagent oder ein Zeuge Jehovas an die Tür von Scheuermanns winzigem baufälligem Häuschen verirren. Aber die Fußstapfen wiesen nur in eine Richtung – nur zur Haustür, nicht zum Gartentor zurück. Bott traute selbst einer harten Nuß wie Scheuermann nicht zu, einen Werber für vollautomatische Entsafter oder für die Mitgliedschaft im ADAC im Keller einzusperren.

Bott schüttelte unwirsch den Kopf, wodurch er sich auch wieder in Bewegung setzte. Was sollte schon sein? Bei Scheuermann war bestimmt nichts zu holen. Außerdem mußte Bott sich sputen. Die letzte Zeitung hatte spätestens um 6 Uhr 30 im Kasten zu stecken, so stand es in seinem Vertrag. Häuften sich die Beschwerden der Abonnenten, wurde man von der Vertriebsleitung schriftlich »abgemahnt«. Mit der dritten Abmahnung durfte man seinen Hut nehmen.

Vom Obermarkt her gerechnet, lag Scheuermanns Häuschen auf der rechten, talwärts gewandten Seite fast am Ende der Schloßgasse. Dort hörten die Häuser auf. Ein runder spitzbedachter Sandsteinturm, der früher als Gefängnis gedient hatte, markierte gleichzeitig den Aufstieg zur Burgruine und Botts Wendestelle. Allerdings war es ihm zu einer lieben Gewohnheit geworden, den Gefangenenturm jeden Morgen auch seinerseits zu markieren, bevor er die Schloßgasse auf der Bergseite wieder zurückging. Er schlug sein Wasser an ihm ab. Hatte es geschneit, büßte das Bollwerk dadurch ohne Zweifel an Autorität ein. Die Leute würden sich aber sagen, es war ein Hund. Nicht der Herr des Morgengrauens, sondern ein Knecht des Pressehauses.

Bott zog seine Handschuhe wieder an und machte sich auf den Rückweg. Von jenseits des Obermarktes her, wo er wohnte, winkten ihm eine warme Dusche und heißer Tee. Seine Tour umfaßte ungefähr 200 Abonnenten. Um sie zu bedienen, brauchte er in der Regel keine anderthalb Stunden. Da er vom Nachtzuschlag profitierte und zudem die Sonntagsausgabe austrug, kam er im Monat auf rund 450 Euro netto. Davon konnte Bott leben. Allerdings mußte man dazu schon anspruchslos sein und außerdem bei Zülchs Schwiegereltern für ein Spottgeld wohnen. Er zahlte nur 50 Euro Miete.

Auch seinen Posten als Zeitungszusteller verdankte er Zülch. Ottmar Zülch war von Hause aus Architekt. Einmal hatte er in Kassel die Leitung eines Baus inne, wo auch Bott zu tun hatte, nämlich als Geselle des Raumausstatter-meisters Euler, mit dem er sich bald darauf recht handfest überwarf. Auf dieser Baustelle hatten sich Bott und Zülch kennen und schätzen gelernt. Während sich Bott nach dem Zusammenstoß mit Euler nach einer Alternative umsah, hängte auch Zülch seinen Beruf an den Nagel. Er hatte inzwischen den Gudensberger Bahnhof gekauft, um darin einen Snookersalon einzurichten. Leider konnte der Salon nur Zülch und seine Frau Gisela ernähren, sonst hätte Zülch seinen Busenfreund Bott nur zu gern beteiligt. Aber dann ergab sich die Sache mit der Austrägerei. Zülchs Tante Helene gab ihren Posten auf, da sie seit längerem kränkelte. Bott übernahm die Tour und kroch bei Zülchs Schwiegereltern unter. So war Bott vor einigen Jahren nach Gudensberg gekommen. Frau Rinninsland betonte immer gern, von ihrem Städtchen aus sei es »nur einen Katzensprung« bis nach Kassel, nämlich kaum 15 Kilometer, aber Bott sprang so gut wie nie. Er vermißte keinen Großstadttrubel.

Bott überquerte den Obermarkt. Hier und dort waren schon Fenster erleuchtet. Der Bäcker schabte Schnee von den Scheiben seines Lieferwagens; sein Gruß war munterer als der von Bott. Talwärts begrenzte das stattliche Fachwerkgebäude mit der Apotheke im Erdgeschoß den Platz. Astrid hätte diese Apotheke um ein Haar gekauft; sie war bis vor wenigen Monaten darin beschäftigt gewesen. Zum Berg hin wurde der Obermarkt von der Stadtkirche abgeschlossen. Gleich hinter ihr stieg der Schloßwald an. In Ermangelung eines Schlosses jedoch wurde die Stadtkirche angestrahlt. Bott fand sie eigentlich nicht störend; dem bräunlichen Licht gelang es allerdings, sie Abend für Abend zum Schandfleck des Obermarktes zu machen.

In der Gasse In den Schirnen hatte Bott seine letzten Zeitungen auszutragen. Dort wohnte er auch. Er hatte die Reihenfolge von Tante Helenes Tour von deren Wohnung in der Hundgasse auf das Haus der Rinninslands zugeschnitten. Die Gasse In den Schirnen verlängerte die Schloßgasse auf der Ostseite des Obermarktes. Auch sie verlief noch abschüssig. Die Häuser, die ihr zumeist den Giebel zeigten, standen dicht gedrängt. Ihren Namen hatte sie von zwei fensterlosen Räumen mit Tonnengewölben, die unter der Plattform des Kirchhofs lagen. Zwei Türen führten auf den Markt. In diesen »Schirnen« hatte die Fleischergilde dereinst ihre Ware kühl gehalten. So kamen die MarktgängerInnen stets zu einem frischen Braten – falls sie genügend Dukaten besaßen. Zülch hatte eine andere Nutzung der verriegelbaren Schirnen vorgeschlagen. Sie seien der ideale Aufenthaltsort für jene Architekten und PolitikerInnen, die für den Kahlschlag unweit des Gudensberger Untermarktes verantwortlich waren. »Dunkelhaft!« hatte Zülch erbost genickt. »Bei trocken Brot und Wasser – mindestens ein Jahr.«

Zülch bezog sich auf ein Viertel, das vor dem Kahlschlag überwiegend von einem großen Gutshof eingenommen worden war. Er selber hatte sich in seiner Kindheit auf den dortigen Heuböden noch den beliebten Doktorspielen hingegeben. Oder er hatte Scheuermann angebettelt. Das Gut hielt etliche dickbäuchige Kaltblüter, die in ihrer Gutmütigkeit noch nicht einmal ein Küken zertraten, sofern sie es nur rechtzeitig sahen. Auch Scheuermann war verhältnismäßig leicht zu erweichen. Er beugte sich dann aus dem Sattel oder vom Kutschbock, um Zülch oder sonst einen Knirps zu sich emporzuheben – wahre Höhepunkte in Zülchs Kindheit. Neben dem hünenhaften Kutscher thronend, durften sie die Welt zu Pferd erobern, jedenfalls bis zum Hoftor. Scheuermann war der Pferdeknecht des Guts gewesen. Um 1970 warfen die Gutsbesitzer das Handtuch und verkauften. Das Viertel wurde sofort plattgemacht. Dann entwuchs dem Kahlschlag die übliche waschbetonierte Einkaufs- und Behördenburg. Für Zülch und Bott nahm sich diese steingewordene Gräßlichkeit in Gudensbergs Altstadt ungefähr wie ein Haufen Pferdeäpfel auf einem Billardtisch aus.

Bott verstaute seine Zeitungskarre unter der Vortreppe und klopfte seine Schuhe an der ersten Stufe ab. Vor der Haustür angekommen, zog er die Schuhe aus, um den kleinen Vorraum auf Strümpfen zu betreten. Dann ließ er sein Freiexemplar der Schwalm Eder Post – kurz die Sepo genannt – auf die Fußmatte vor Rinninslands Wohnungstür segeln und stieg die schmale Holztreppe zum Dachgeschoß hinauf.

Zur Gasse hin lag der Gerümpelboden. Bott dagegen bewohnte den hinteren Giebel, der auf den alten Judenfriedhof blickte. Sein Balkon zwischen den vorspringenden Dachschrägen schwebte schon fast über der Friedhofsmauer. Da der Judenfriedhof in Höhe des Hauses Rinninsland in einem Zipfel auslief, erhob sich der bewaldete Schloßberg annähernd vor Botts Nase. Dadurch genoß er im Sommer den Vorteil, den schon die Fleischergilde zu schätzen gewußt hatte: der Schloßberg schirmte ihn vor der sengenden Mittagssonne ab. Jetzt trug die Balkonbrüstung allerdings eine Schneehaube. Während Bott frühstückte, wurde es allmählich hell. Durch den Spalt des gekippten Fensters konnte er hin und wieder das knappe Trällern einer Kohlmeise oder das hohe, feine Wispern der Goldhähnchen hören, die in den verschneiten Fichten des Judenfriedhofs herumturnten. Bott liebte diese stille Abgeschiedenheit.

Seine Stehlampe brannte noch, weil er beim Frühstück stets las. Kürzlich hatte er wieder einmal nach Arthur Koestlers Erinnerungen Als Zeuge der Zeit gegriffen, die Bott hervorragend geschrieben fand. Neben allen Kniffen des fesselnden Erzählens und einem selten trockenen Witz verfügte Koestler doch über Aufrichtigkeit und Selbstkritik. Seine Schilderungen aus dem spanischen Gefängnis (wo er als Gegner Francos in einer Todeszelle saß) oder aus dem französischen Internierungslager (Vorgeschmack auf das drohende KZ) waren geradezu bestürzende Reißer. Freilich bestach ihn das Buch genauso durch die vielen Lehren, die es ihm erteilte. So las Bott an diesem Morgen mit Verblüffung von der Weltwirtschafts-krise um 1930. Die durch sie ausgelöste Vernichtung von Lebensmitteln in Amerika, als Millionen Arbeitslose in Hunger und Elend lebten, hätten Koestlers Empörung zu einer bis dahin nie erreichten Weißglut gebracht. In Europa sei das Massenelend kaum geringer gewesen. »Und da meldeten die Zeitungen lakonisch, daß Millionen von Tonnen Kaffee ins Meer versenkt, daß Weizen und Schweine verbrannt, Orangen mit Petroleum begossen wurden, um die Marktsituation zu erleichtern

Es war noch keine zwei Monate her, da hatte sich Bott ein großes Foto aus einem Wochenblatt geschnitten. Es zeigte eine Autobahnbrücke bei Morlaix im Oktober 1999, die von französischen Bauern gleichsam mit Blumenkohl-köpfen überschwemmt worden war. In Gummistiefeln stapften zwei Bauern auf den Fotografen zu – grinsend, weil von den 70 Jährchen, die hinter ihnen lagen, ungerührt. Bott fand es schon erstaunlich, daß sich ein derart groteskes und grausames Wirtschaftssystem wie der Kapitalismus schon so lange halten konnte. Offenbar kam es einer Verfehltheit entgegen, die tief im menschlichen Gemüt saß. Kriegslust, Verschwendungssucht, aber auch wieder ein heftiger Entbehrungsdrang zählten sicherlich dazu.

Bott legte Koestlers Buch beiseite, schenkte sich die letzte Tasse Tee ein und überschlug, was er sich für diesen Tag vorgenommen hatte oder noch vornehmen könnte. Hatte er im Zugball die Tische gebügelt und ein wenig trainiert, konnte er vielleicht zu Astrid hinausfahren. Vermutlich waren die Landstraßen bis dahin geräumt, sodaß er das Fahrrad nehmen konnte. Vorgestern hatte ihm Astrid erzählt, neuerdings sei der Eisvogel an der Ems aufgetaucht. Bott hatte den popfarbigen Fischjäger lange nicht mehr gesehen. Mittags konnte er dann ein warmes Essen in der Kommune genießen; sie kochten dort jeden Tag. Vielleicht war die Frau Apothekerin auch für eine vierbeinige Kneippkur in der Badewanne zu haben …

Bott griff zum Telefon. Herbert nahm ab. Astrid sei mit dem Trecker und einer Fuhre Feldsteine nach Kirchberg gefahren. Sie müsse aber bald zurückkehren. So bat Bott ihn auszurichten, Astrid möge ihn im Zugball anrufen. Dann räumte er den Tisch ab, zog eins tiefer seine Stiefel wieder an und verließ das Haus. Der ehemalige Gudensberger Bahnhof lag etwas außerhalb der Altstadt in der Senke. Bott hatte höchstens 10 Minuten zu gehen.

Er schritt geradezu beschwingt aus, obwohl er in der Frühe noch geflucht hatte. Selbstverständlich war der lange vermißte Schnee eine Wohltat. Wieviele Übel wurden doch von solchem Schnee verhüllt, gedämpft oder abgemildert! Die Autos können nur noch kriechen. Das Grinsen der PolitikerInnen auf den Wahlplakaten gefriert. Schneebedeckte Hausdächer spiegeln harmonische Ehen vor. Mülldeponien nehmen den Charme der Alpen an. Wie schön mußte es jetzt an der Ems sein, wo der Schnee ebenfalls allen Unrat verbarg und das Eis die Mär vom Brückenschlag zwischen West- und Ostdeutschland bekräftigte, bevor man einbrach. Während die fuchsroten Ruten der Kopfweiden in der Sonne leuchten, stolziert eine Krähe über die verschneiten Ackerschollen. Astrids kastanienbrauner Schopf erglänzt, weil sie sich bückt, um ihren Geliebten mit einem Schneeball zu empfangen. Sie war rund 20 Jahre jünger als Bott.

Im letzten Abschnitt war die Bahnhofsstraße eine kurze Sackgasse, die sich vor dem zweigeschossigen Bahnhofsgebäude zu einem kleinen Platz ausbuchtete. Hier konnten die Pferdefuhrwerke, ein Opel P 4 und später vielleicht noch ein Borgward Arabella wenden. Die kleine Stichstrecke war um 1960 kaltgestellt worden. In Grifte hatte man Anschluß nach Kassel oder Wabern gehabt. Zülch war als Dreikäsehoch von diesem Bahnhof aus regelmäßig zum Geburtstag seiner Tante Guste nach Wabern gefahren, wo er sich vom Dreikäsehoch in einen Neger zu verwandeln pflegte, weil es bei Guste-Geburtstagen unbedingt »Kalten Hund« gab. Das war ein Kastenkuchen, der nur aus geschichteten, mit viel Schokolade vermörtelten Leibniz-Keksen bestand. Jetzt gehörte dieser Bahnhof Zülch. Statt Gudensberg hieß er nun Zugball, wie der Leuchtschrift über der Eingangstür zu entnehmen war. Hier unternahm man keine abenteuerlichen Ausflüge mehr in die riesige Stadt Wabern, die sogar über eine Zuckerfabrik verfügte. Der längste Weg belief sich hier auf vier Meter, das war die Diagonale eines Snookertischs.

Bott schloß die Tür auf, vertauschte seine Stiefel mit Turnschuhen, ging zur Bar und schaltete die Beleuchtung der vier Tische, dann das Bügeleisen ein. Die vier langgestreckten Lampenschirme über den Tischen erinnerten ein wenig an Sargdeckel. Sonst aber wurde der einfallsreiche und geschmackvolle Umbau des Bahnhofs oft gelobt. Den ehemaligen Fahrkartenschalter hatten Zülch und seine Frau Gisela in die Bar einbezogen. Die Sitzmöbel zeigten viel Chrom und schwarzes Leder. Hohe Farne, dem filigranen Snookersport wohl angemessen, ersetzten die üblichen Palmen. Statt Gardinen gab es Innenjalousinen mit hauchdünnen Lamellen aus Aluminium. Den hellgrauen Teppichboden hatte Bott verlegt. Auch wenn Spiel- und Schankbetrieb herrschte, bestach das Haus durch seine gedämpfte Atmosphäre. Der Kauf dieses Bahnhofs durch die Zülchs war ohne Zweifel ein Glücksfall. Dennoch beharrte Bott stets darauf, die Herren oder Damen, die ihnen den Bahnhof verkauft hätten, gehörten ebenfalls für ein Jährchen in die zugesperrten Schirnen. Für Bott stellte jede stillgelegte Bahnstrecke ein Verbrechen an der Volkswirtschaft und an der Volksgesundheit dar.

Zülch würde erst gegen 10 herunterkommen; dann öffnete der Salon. Botts Aufgabe war es, zweimal wöchentlich die Tische, Queues und Kugeln zu pflegen. Das machte er unentgeltlich, denn dafür durfte er jederzeit kostenlos trainieren, solange die Tische nicht vollzählig belegt waren. Das kam in der Regel nur am Abend vor.

Zunächst galt es, die grünen Tischtücher abzubürsten. Bott führte die kräftige Bürste von der Fuß- zur Kopfbande und fegte den Staub in die Ecktaschen. Als er damit durch war, holte er das erwärmte Bügeleisen und glättete die Tischtücher in der selben Richtung. Zuletzt wischte er das Holz der Banden mit feuchten Tüchern ab. Später machte er das gleiche mit den Queues und den vier Kugelsätzen. Vor allem die weißen Spielbälle waren von den eingekreideten Lederkuppen der Queues verschmutzt. »Queues« wurden die Billardstöcke genannt. Sie klemmten in Leisten an den Wänden. War eine Kuppe zu sehr abgestoßen, ersetzte sie Bott durch eine neue. Die StammspielerInnen besaßen allerdings ihre privaten Queues. Ohne ihr gutes, von ihnen eingespieltes und unablässig beschworenes Gerät oder Glied wären sie sich geradezu amputiert vorgekommen. Mit diesem tröstlichen »Stecken und Stab«, wie es bei David in Psalm 23 heißt, pflegte sie der Herrgott persönlich auf seiner »grünen Aue« zu weiden. Zur bequemen und sicheren Aufbewahrung der edlen Instrumente hatte sich Zülch die vier ehemaligen Gudensberger Gepäckschließfächer zunutze gemacht, die er enger unterteilte und mit entsprechend mehr Schlössern versah. So gewann er 20 Schließfächer für Queuekoffer. Bott hatte Fach Nr. 3, woraus aber nicht auf seine Spielstärke geschlossen werden durfte. Jetzt holte Bott sein Köfferchen hervor und trat an einen der frisch gebügelten Tische. Während er seinen »Stecken und Stab« fast blind zusammenschraubte, befand er sich bereits im Bann jener »grünen Aue«, die von König David immer so fürsorglich mit Blut getränkt worden war.

Der Ausdruck »Training« traf Botts Wirken schlecht. Für ihn stellten die Stunden, da er sich mit seinem Queue und den Kugeln befaßte, eher eine Meditation dar. Sie trugen zu seiner Gelassenheit bei. Da ihm das Ziel wenig bedeutete, durften Botts Wege auf dem grünen Tischtuch oder dem hellgrauen Teppichboden lang, verschlungen oder abschweifend sein, ohne daß ihn Ungeduld oder Ärger überkamen. Es war eine andere Weise des Beobachtens, die ihn vom ehrgeizig trainierenden Spieler trennte. Dieser beutet nur Beobachtungen aus, die ihn »besser« machen können, worunter er die Messerschärfe und die Treffsicherheit eines Automaten versteht. Er käme niemals auf die Idee, sich in die Queuespitze oder eine Kugel zu versetzen. Er sieht keine Anzüglichkeiten in den Löchern, die er unablässig mit roten Kugeln stopft. Er würde die Lampenschirme nicht in die Nähe von Sargdeckeln rücken; er nimmt die Beleuchtung überhaupt nicht wahr. Versenkt er aber zuletzt die Schwarze, hält er sich für unsterblich – für unsterblich gut jedenfalls.

Freilich stellte sich Bott auch technische Aufgaben und freute sich, wenn er sie lösen konnte. Er sagte sich zum Beispiel: Spiele ich Blau mit normalem Mittelstoß an, wird der weiße Spielball Richtung Kopfbande weiterlaufen. Ich möchte ihn aber in der Nähe von Pink plazieren. Dazu müßte er in einem spitzen, nicht in einem stumpfen Winkel von Blau abprallen. Wie erreiche ich das? Indem ich ihn zurückziehe. Stoße ich ihn mit Unterschnitt an, erhält er einen Rückwärtsdrall, der den Winkel nach dem Zusammenprall mit Blau verengt. Dieser Stoß wird mal Rückzieher, mal Zugball genannt. Daher Zülchs hübscher Einfall.

10 vor 10 erschien Zülch auf der Treppe. Sie grüßten sich mit einer Handbewegung. Zülch und Gisela wohnten im Obergeschoß des Bahnhofs. Jetzt ging er zur Bar, um die Espresso-Maschine fertig zu machen. Bald darauf steuerte er mit einem ovalen Tablett in der Hand einen der Clubtische an der Fensterfront an. In der anderen Hand hielt er eine zusammengerollte Zeitschrift, mit der er Bott heranwinkte. »Zweiter Platz für uns!« rief er lächelnd. »Darauf können wir trinken.«

Bott unterbrach sein Spiel und nahm ihm gegenüber Platz. Zülch schob ihm den zweiten Espresso zu. Dann schlug er die Zeitschrift auf und las daraus vor. Es war die jüngste Ausgabe des Billardmagazins Anstoß. Irgendeine Jury hatte die schönsten Snookersalons Mitteleuropas ermittelt und den Zugball auf Rang 2 gesetzt. Der erste Rang war nach Antwerpen gegangen.

Während Bott der Schilderung des Salons folgte, in dem er gerade Zülch gegenübersaß, geriet ihm eine Schneeflocke in den Blickwinkel, die sanft an die Fensterscheibe schmatzte und ihr Dasein aushauchte, indem sie sich in winzige Rinnsale zerteilte. Ein Blick über den Bahnhofs-platz machte ihm klar, daß es wieder zu schneien begon-nen hatte. Etwas wie Reue durchzuckte ihn. »Scheuer-mann«, murmelte Bott alarmiert. »Die Fußstapfen! Sie werden verschwinden.«

Zülch unterbrach sich. »Was ist denn mit Scheuermann?«

»Das wüßte ich selber gern. Vielleicht sollte ich doch einmal nachsehen … Paß auf! Kannst du mir mal eben euer Auto leihen? Es eilt. Ich bin gleich wieder zurück.«


2

Raste ein Autofahrer durch die Schirnen oder die Schloß-gasse, pflegte Bott stets vor Wut zu schnauben. Jetzt war er selber so einer. Doch er bremste bereits, sprang aus Zülchs zerbeultem Renault 4 und riß auch gleich die Fußmatte des Fahrersitzes mit.

Die Fußstapfen waren noch leidlich zu erkennen. Bott stieß Scheuermanns Gartentür auf und benutzte die Fußmatte, um die nächsten beiden Fußstapfen vor dem Neuschnee zu schützen, der jetzt immer dichter fiel.

Bott richtete sich auf. Er konnte an Scheuermanns Häuschen nichts Auffälliges entdecken. Die Fensterläden waren geschlossen. Aus dem Kamin stieg kein Rauch. Auf dem Dachfirst hockte eine aufgeplusterte Amsel. Während Bott über die verschneiten Beete stapfte, weil er die Spur auf dem Gartenweg nicht berühren wollte, bewegte die Amsel ihren Möhrenschnabel um keinen Millimeter. Sie schielte lediglich nach ihm. Wahrscheinlich hielt sie ihn für einen harmlosen Trottel, der die Klapsmühle in Haina oder Merxhausen suchte.

Bott stolperte über einen schief im Grünkohl steckenden Knüppel. Er nahm ihn an sich. Der Hauseingang lag seitlich am Ostgiebel. Bott tauchte unter das Vordach, wo sich die Fußstapfen nur noch in Überresten drängten, weil hier kaum Schnee hingefallen war. Offensichtlich hatte jemand das Haus betreten.

Den Knüppel in beiden Händen, legte Bott sein Ohr an Scheuermanns verwitterte Haustür. Es war nichts zu hören. Er benutzte den Knüppel, um nachdrücklich an die Haustür zu pochen. Drinnen regte sich nichts. Bott gab sich einen Ruck, drehte den Türknauf – die Tür gab nach. Er stieß sie auf und starrte in Scheuermanns düsteren Hausflur. Für VerbrecherInnen oder GesetzeshüterInnen hätte Bott eine ideale Zielscheibe abgegeben.

Er ertastete den Lichtschalter und knipste ihn an. Eine 40-Watt-Birne erfunzelte. Niemand lauerte hier. Bott sah drei Zimmertüren, außerdem in der Flurdecke eine Ausziehluke, die geschlossen war. In den Keller gelangte man offenbar nur von außen, nämlich vom Abhang her. Zwischen den Türen gewellte Bahnen feuchter, vergilbter Blümchentapete. Mitten im Flur stand ein großer altmodischer Koffer. Allerdings wurde er fast vollständig von einem Wintermantel mit Pelzkragen bedeckt, sodaß nicht viel von ihm zu sehen war. Der Mensch, der den Wintermantel hatte von sich gleiten lassen, hatte vermutlich mit dem Rücken zum Koffer gestanden. Die Mantelärmel stützten sich auf die Dielen. Die vorderen Mantelschöße zeigten auf die rechte Tür.

Wie es aussah, diente das Zimmer zum Wohnen und Schlafen zugleich. Es roch muffig. Da die Fensterläden auf dieser Hausseite, die ins Tal blickte, unverschlossen waren, brauchte Bott kein Licht zu machen. Er entdeckte Scheuermann sofort, denn er hatte nichts anderes erwartet: er lag in seinem Bett.

Das Bett stand zu Botts Linken an der Stirnwand. Das Fußende zeigte zu den Fenstern. An der Wand hing ein kleines Kruzifix. Vor dem Bett standen Scheuermanns Winterstiefel, die den abgewetzten Bettvorleger durchfeuchtet hatten. Scheuermanns hoher kantiger Schädel mit dem kurzgeschnittenen weißen Haar ruhte auf dem Kopfkissen. Seine dürren Arme steckten in einem derben grauen Unterhemd. Sie lagen an dem Federbett, das seinen Körper bedeckte. Bott nahm stark an, er mustere einen Leichnam. Bislang hatte er keinerlei Regung an Scheuermann feststellen können.

Bott selber fröstelte. Er betastete Scheuermanns gußeisernen Kohleofen – kalt. Trotzdem ging er zum rechten Fenster, um es zu öffnen. Nicht Scheuermanns Seele sollte entweichen, sondern Botts Beklemmung.

Er stand am geöffneten Fenster und schaute abwechselnd ins Schneetreiben und ins Zimmer. Scheuermanns Kopf sah er immer noch schräg genug, um ihm nicht in die Augen blicken zu müssen, die anscheinend starr auf das linke Fenster gerichtet waren. Das alte Rathaus mit seinem schiefergedeckten Glockentürmchen, das den Untermarkt beherrschte, war nur noch verschwommen zu erkennen. Seit dem Kahlschlag klingelten in dem 150 Jahre alten Gebäude die Kassen einer Bank. Vermutlich hatte man im Schalterraum wegen des Schneetreibens Licht gemacht. Die Kunden hoben größere Geldbeträge ab, weil sie sehr wichtige Anschaffungen zu tätigen hatten. Drei Meter von Bott entfernt lag eine Leiche.

Bott durchfuhr ein Schreck. Woher nahm er eigentlich seine Gewißheit? Vielleicht war Scheuermann nur krank und benötigte dringend Hilfe! Bott gab sich einen Ruck, trat von der Seite her ans Bett und hielt Scheuermann die Brille, die auf dem Nachtschränkchen lag, eine Zeitlang umgekehrt vor die Nase, denn seine wächsernen Lippen waren geschlossen. Doch die Brillengläser beschlugen nicht. Bott legte die Brille zurück und ging wieder ans Fenster.

Scheuermann mußte eine beneidenswerte Aussicht genossen haben. An klaren Tagen konnte er längs des Langenbergs womöglich bis nach Niedenstein blicken. Oder zur Linken am Nenkel vorbei bis ins Waldecker Land. Nördlich des Nenkels lag der Leichenkopf, in dessen Schatten Astrid wohnte. Vielleicht rief sie gerade vergeblich im Zugball an.

Da der Leichenkopf nur dann einem Totenschädel glich, wenn man diese Vorstellung an den Haaren herbeizog, nahm Bott an, es habe dort einmal ein Schwerverbrechen stattgefunden – falls der Name nicht auf das nahe Dorf Gleichen zurückging. In dem alten Pferdeknecht das Opfer eines Raubmörders zu wittern, war sicherlich unangebracht. Hätte er dergleichen erblickt, wäre bestimmt sein Gesicht entstellt. Es wirkte aber sehr friedlich. Diese Schlagzeile der Zeitung, die Bott morgen früh austragen würde, konnte er sich aus dem Kopf schlagen: Zusteller der Sepo deckt Gewaltverbrechen auf.

Bott seufzte, schloß das Fenster und unternahm einen kurzen Rundgang durch Scheuermanns nun verwaiste Höhle. Ein Telefon war nicht vorhanden. Die Küche blitzte nicht gerade, war aber erstaunlich aufgeräumt. In dem Koffer fand Bott einen Stoß Papiere, die offenbar Aufschluß über Scheuermanns letzte Reise geben konnten. Bott nahm sie an sich. Zudem schrieb er sich aus einem zerfledderten, längst überholten Taschenkalender die Kölner Adresse heraus, unter der vermutlich Scheuer-manns Schwester zu erreichen war. Im Mantel eine Brief-tasche, die er ungeprüft zurücksteckte. Er löschte das Flurlicht und verließ das Haus.

Mit etwas verlegenem Lächeln nahm er dieses Mal den Gartenweg. Bei dem Höcker unweit des Tores bückte er sich, zerrte die Autofußmatte frei und klopfte sie am Gartenzaun aus, bevor er Zülchs Renault bestieg. Die Amsel guckte, ob er wieder rasen würde.


3

Bott setzte Zülch nur kurz ins Bild, meldete den Todesfall im Vorbeigehen auf der Behördenburg und ließ sich schließlich in seinen roten Ledersessel sinken, um sich mit einem Imbiß zu stärken und dabei die Unterlagen zu studieren, die er Scheuermanns Koffer entnommen hatte. Das ließ ihn nach dem Essen zum Telefon greifen. Er sprach mit Scheuermanns Schwester, zwei Taxifahrern aus Gudensberg und Kassel, dem Kasseler Büro des Bundes der Heimatvertriebenen und mit einem Hotel in Dresden. Daraus ergab sich folgendes Bild.

Anselm Scheuermann wächst in der nördlichen Bukowina auf, die im Laufe des Zweiten Weltkrieges unter rumänischer, sowjetrussischer und deutscher Besetzung zu leiden hat. 1943 flüchten die Geschwister und werden nach Nordhessen verschlagen. Die Schwester verheiratet sich mit einem Zugschaffner aus Köln. Nach dem Aufweichen des »Eisernen Vorhangs« nimmt der Czernowitzer Lehrer Niklas Bronnen, ein Cousin von Scheuermann, Briefkontakt mit diesem auf. Es kommt zu einem Briefwechsel, in dem beide manchen Trost finden. Der Czernowitzer »Professor« lebt kaum weniger ärmlich und einsam wie der ehemalige Gudensberger Pferdeknecht. Mit Bronnens kargem »Gehalt« ist der Staat Monate im Rückstand. Auch Bronnen verlor die ganze Familie. Er berichtet, wie seine Angehörigen von der deutschen Wehrmacht in die Schweinekoben einer sowjetrussischen Kolchose getrieben worden sind. Dort seien sie schlicht verhungert und erfroren, weil ihnen die Schwarte von Schweinen fehlte. Bronnen selber entging diesem Schicksal nur durch die zufällige Gunst einer jungen Sanitäterin.

Bronnen bestärkt Scheuermann in dem Gedanken, noch einmal die Heimat aufzusuchen, bevor er dazu »nicht mehr rüstig genug« sei. Scheuermann meldet sich zu einer vom Vertriebenenbund organisierten 14tägigen Reise in die Bukowina an, die auf dem Schienenweg erfolgen wird. Seine Schwester kann ihn nicht begleiten, weil sie ihren an den Rollstuhl gefesselten Mann zu umsorgen hat. Bronnen freut sich auf das Treffen mit Scheuermann, der sämtliche Ersparnisse und viel Zeit und Mühe in die Vorbereitung seiner Reise investiert. Als es jedoch so weit ist, kommt er nur bis Dresden.

Dort erklärt er den Betreuern, die Reise gehe anscheinend über seine Kräfte. Er wolle lieber umkehren. Obwohl er beteuert, er sei nicht krank, beharrt er auf seinem Entschluß. Er fühle sich lediglich müde. Jede Begleitung wehrt er ab; er finde schon allein in sein Häuschen zurück. Er übernachtet in Dresden und trifft gegen Mitternacht wieder in Kassel-Wilhelmshöhe ein. Auch dem Taxifahrer sagt Scheuermann, er fühle sich etwas schwach. Der Mann setzt ihn um 0 Uhr 45 vorm Gartentor ab – fünf Stunden ehe sich Zeitungszusteller Bott als Spürhund aufgerufen sah.

Der Taxifahrer will seinem Kunden wenigstens den schweren Koffer ins Haus tragen. Scheuermann wehrt mit dem Hinweis ab, dazu trage der Mann wohl kaum die richtigen Schuhe. »Tatsächlich hätte ich mir in meinen Slippern nasse Füße geholt«, räumte der Taxifahrer am Telefon etwas betreten ein. »Es hatte ja geschneit! Und wer konnte ahnen, daß dieser hagere Greis seinem Sterbelager entgegenstapfte! Er trat so bestimmt auf. Er hatte etwas rührend Halsstarriges – wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Bott blickte auf den verschneiten Judenfriedhof und sah Scheuermanns Federbett vor sich. Viel verstand er nicht gerade. Immerhin war ihm mit Scheuermann erstmals im Leben ein Leichnam begegnet. Aber wußte er jetzt mehr vom Tod als vorher? Das war kaum anzunehmen. Am Tod gab es nichts zu erkennen.

Trotzdem war er mit dem Thema noch nicht fertig. Bei Astrid würde er damit allerdings erfahrungsgemäß nicht landen können. Ging es darum, eine Salbe anzurühren oder Nistkästen für Gartenvögel zu bauen, war sie Feuer und Flamme – bei Metaphysik winkte sie ab. Bott rief sie deshalb an, beruhigte und vertröstete sie. Zülch hatte ihr etwas von einem Kriminalfall vorgemurmelt, dann aber abgelenkt, indem er allgemein Großstädte, insbesondere Antwerpen schlechtmachte. Sie verabredeten sich für den folgenden Tag.

Nach einem Gang um den Schloßberg bereitete Bott sich als Abendbrot ein Pfannengericht und entkorkte eine Flasche Bier. Beim Essen erwog er Marschlinien für sein Tagebuch, das er anschließend hervorholte. Im Ergebnis ging er auf Scheuermann gar nicht ein.

>>Koestler schreibt, mit 14 sei er auf das Problem der Unendlichkeit gestoßen, das ihm noch lange zu schaffen machen sollte. Mir erging es kaum anders. Als Knabe nahm ich an einem Zeltlager der Jungen Pioniere im Harz teil. Am östlichen Dorfrand gab es einen Anger, auf dem ich zuweilen in der Abenddämmerung hockte, um das Verschwinden der Sonne hinter den jenseits gelegenen Wäldern zu verfolgen. Der Sonnenuntergang hatte sich nämlich als angemessene Kulisse für meine Niedergeschlagenheit herausgestellt. Möglicherweise handelte es sich, genauer gesagt, um Selbstmitleid. So hatte ich keinen »richtigen« Vater vorzuweisen. Oder ich ahnte, trotz meines Ehrgeizes – ich war schon zum Gruppenratsvorsitzenden aufgestiegen – den Aufgaben und Positionen, die ich mir anmaßte, leider nicht ganz gewachsen zu sein; hier drohte Überforderung. Vielleicht kam auch eine Zurückweisung seitens des zarten, blonden Knaben Clemens hinzu, in dessen Schlafsack man liebend gern gekrochen wäre. Aber dies alles ist hinreichend beschrieben worden. Hier geht es um Unendlichkeit.

Von Knabenleid erfüllt, sah ich den roten Sonnenball hinter dem Saum der Wälder versinken. Was lag dahinter? Vielleicht das Meer. Dann kamen der Horizont und vermutlich der Mond. Was aber lag hinter diesem? Der Weltraum. Angeblich hatte er noch unzählige andere Sonnen, unzählige andere Milchstraßen, ungeheuerliche Entfernungen zu bieten. Aber was kam dann? Eine riesige Wand – und dann nichts mehr? An dieser Stelle hakte es regelmäßig in mir aus; das war geradezu hörbar. Weiter konnte ich nicht mehr denken. Und das war bestürzend: man fiel in so etwas wie ein Loch, ohne sich von diesem Loch die geringste Vorstellung machen zu können. Denn zu einem Loch gehört ja wieder irgendein Drumherum. Wo aber sollte dieses nun wieder enden? Um mit Koestler zu sprechen, war es eine »unerträgliche Tortur für den Verstand«.

Trotzdem läßt sich noch ein wenig dazu sagen. Beide Fälle muten uns »nichts« zu. Wie es im Loch hinter der Weltraumwand nichts gibt, besagt ja die Rede von der Unendlichkeit des Weltraums, es gebe nichts anderes. Beides übersteigt unsere Vorstellungskraft. Nur muß man leider zugeben: ohne das Nichts geht es offenbar auch nicht. Dringend auf »etwas« angewiesen, können wir dieses Etwas (das Sein) nur behaupten oder leben in Abgrenzung zu eben dem Nichtsein. Das Nichtsein ist natürlich der Tod. Oder »die absolute Kälte des Weltraums«, wie Canetti metaphorisch polterte. Und wir ängstigen uns vor diesem Phänomen, obwohl oder vielmehr weil wir nicht das geringste von ihm wissen. Denn Gefahren, die ich kenne, sind bereits halb entschärft. Legt mir Zülch einen Snooker, weiß ich, was er damit beabsichtigt, und ich kann versuchen, seine finsteren Pläne zu durchkreuzen. Was jedoch sollte ich gegen den Tod tun? Nichts.<<
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